GEIST UND FORM
Verlagslogo
Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Zürich
Der bürgerliche Name von Bô Yin Râ war
Joseph Anton Schneiderfranken
2. Auflage
Die erste Auflage erschien im Verlag
Greiner & Pfeiffer, Stuttgart, 1924
©
Copyright 1958 by
Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Zürich 48
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Switzerland by
Schellenberg-Druck Pfäffikon ZH
INHALT Seite
Die Frage 5
Aussen und Innen 11
Wohnstatt und Werk 17
Form der Freude 27
Des Leides Form 36
Die Kunst des Lebens 41
Originalscan
Dem neuen Menschen!
DIE FRAGE
.Du willst in den Geist gelangen und hast den
Weg zum Geiste nach langem Irren gefunden!
.Und nun fragst du:
.«Was soll mir fürder alle Form, da ich den
Weg zum Inhalt weiß? ‒ »
.Belanglos und allen Wertes bar erscheint dir
die Form; ‒ du glaubst nicht nur, dass formlos
dir das Innerste sich offenbare: ‒ du siehst
bereits in aller Form nur Hinderung!
.Verächtlich erscheint es dir, der Form
noch zu achten; ‒ verächtlich erscheinen dir
alle, die nach Form-Vollendung streben!
.Du selbst glaubst aller Form nun entraten
zu können!
.Du willst dich, auch formlos, dennoch ge
wertet sehen als einen der nach höchsten
Werten strebt!
.Als arge Toren erscheinen dir alle, die daran
5 Geist und Form
Anstoss nehmen, dass du die Form miss
achtest!
.Du fühlst dich hoch erhaben über dieser
Anderen Torheit, und lächelnd fragst du: «Was
soll mir auf dem Wege zum Geiste noch
solche äusserliche Bindung? ‒ Was soll
mir die Form!? ‒ ‒»
*
.Siehe mein Freund: ‒ ich zweifle nicht daran,
dass du den Weg zum Geiste gefunden hast!
.Ich zweifle aber, dass dir gute Führung wer‐
den wird, die du doch nötig brauchst, wenn du
dabei verharren willst, der Form zu spotten!..
.Du glaubst, man müsse deine Lauterkeit
erkennen, müsse deines Strebens Inbrunst
achten, und deines Willens reines Wollen
müsse für dich zeugen...
.Du bist auch gewiss durch solchen Glauben
keineswegs irrig beraten und dennoch wirst du
erkennen lernen müssen, dass du die Form
nicht missachten darfst, ja, dass all dein
Tun erst letzte Wertung erhält durch die ihm
gemässe Form!
.So wie man köstlichen Wein nicht darbieten
6 Geist und Form
wird in geringen irdenen Gefässen, da es den
Wert des Weines missachten heissen würde,
wollte man also ihn kredenzen, so erheischt
schon die Ehrfurcht vor dem Geiste, dass dir
nur vollendetste Form Genüge leiste, sobald
du selbst zum «Tempel des Geistes» werden
willst! ‒ ‒
.All deine Selbstbekundung in der äusseren
Welt wird stetig solcher Ehrfurcht Zeugnis wer‐
den müssen!
.Sobald du den Weg zum Geiste einmal
betreten hast, steht es dir nicht mehr frei,
dich zu gehaben nach deiner Bequemlichkeit
und augenblicklichen Laune! ‒ ‒
.Du hast Verpflichtung, dich selbst nun
umzuschaffen und Ausdruck zu werden dem
Geiste!
.Dich selbst sollst du zu höchster Form
vollenden, und alles was immer durch dein Tun
für andere erfassbar werden mag, soll deine
Formvollendung sichtbarlich bekunden!...
.Nicht durch Verachtung der Form wirst du
Erhabenheit beweisen! ‒
.Ein Tor nur kann sich «erhaben» glauben
über alle Form! ‒ ‒
7 Geist und Form
Der wirklich Erhabene wird stets die Form
beherrschen! ‒
.Es äussert sich solche Beherrschung schon
in alltäglichstem Tun...
.Der Zyniker, der sich in Lumpen hüllt um
seine Bedürfnislosigkeit zu zeigen, ist wahr‐
lich ein kläglicher Geck, solange seiner Arme
Kraft ihm noch ermöglicht, sich durch irgend‐
eine Arbeit soviel zu erwerben, um sich ein
achtbares Gewand zu kaufen!
.Wer sich hingegen selbst zum Tempel des
Geistes wandeln will, der wird alle Mühe auf
sich nehmen, damit er auch in seiner äusseren
Erscheinung schon die Achtung vor sich
selbst beweise...
.Erlaubt es sein Besitz, so wird man ihn
zu jeder Zeit in der gewähltesten und besten
Kleidung seines Landes sehen, und ist er arm,
so wird er dennoch alles aufzubieten suchen,
damit auch seiner Armut dürftiges Gewand
noch allerorten Achtung finde...
.Gewiss läuft mancher durch die Welt, der
alles, was sein Erdendasein ihn erträumen lässt,
nur in den Nähten seiner modisch-schnittgerech‐
ten Kleidung offenbart; ‒ allein die würdige
8 Geist und Form
Gewandung innerlicher Vornehmheit wird sich
noch immer unterscheiden lassen von blossen
Draperien, die ein eitles Nichts umhüllen. ‒
.So aber, wie die Art, den Körper zu beklei
den schon die Achtung eines Menschen vor
sich selbst und vor dem Geistigen, dem er
zum Tempel werden will, beweist, so wird man
auch in allem seinem Tun erkennen können, ob
er zu ehren weiss, was in ihm lebt. ‒ ‒
.Dass «gute Lebensart» auch vielen Men‐
schen wichtig wurde, die durch sie verbergen
lernten, was sie wirklich sind, beweist nur, dass
man ursprünglich ihr nur begegnen konnte
bei solchen, die auch wirklich waren, was sie
schienen! ‒
.Schöpfung der Menschen inneren Wertes,
wird sie auch nicht entwertet, wo sie nur
Maske bleibt, wie Gold nicht seinen Wert ver‐
lieren kann, auch wenn es die feile Dirne als
Schmuckstück trägt...
.Zahlreich sind die selbstgewissen Verächter
solcher «guten Lebensart», die nicht bemerken,
dass in ihr Form geworden ist, was sie selbst
erst mit grosser Gebärde als ethische Forde
rung erstreben! ‒ ‒ ‒
9 Geist und Form
.Sie sehen nicht, dass selbst noch dort wo
solche Lebensform zur «leeren» Form gewor‐
den ist, weil ihr die geistige Durchdringung
fehlt, weit Besseres durch sie bewirkt wird,
als ihre eigene Störrigkeit, die alle schöne
Form als «Lebenslüge» wertet, je bewirken
kann. ‒ ‒ ‒
.Wahrlich, gar oft sind «die Kinder dieser
Welt» nicht nur «klüger», sondern auch bes
ser, als jene, die sich allein bevorrechtet glau‐
ben «Kinder des Lichtes» zu werden!!
.Siehe, ich rate dir: missachte nicht die
Form, ‒ sei es in grossen, sei es in kleinen
Dingen!
.Du sollst gewiss nicht nach Aneignung
«leerer» Formen streben, aber dein ganzes
Leben sollst du formen lernen und nichts soll
dir zu geringfügig sein um all dein Streben dar‐
auf zu richten, es in seiner schönsten und voll‐
kommensten Form zu offenbaren! ‒ ‒ ‒
*           *
*
10 Geist und Form
AUSSEN UND INNEN
.Der du auf dem Wege zum Geiste bist,
wisse, dass dir nichts Ungeformtes sich jemals
offenbaren kann!
.Auch der Geist bedarf der Form, soll er dir
innewerden! ‒ ‒
.Wie nichts in dieser Aussenwelt der For
mung entbehrt, so wird auch in der inneren
Welt nichts wahrgenommen, es sei denn Form
geworden...
.Du sprichst von «leerer» Form!
.Bedenke aber, dass auch die leere Form noch
Offenbarung eines Willens ist, der sich in
ihr einst Ausdruck schuf, so wie das leere
Haus der Schnecke dir noch von dem Tiere sagt,
das in ihm lebte! ‒ ‒
.Was Form geworden ist in dieser Aussen
welt, ist Ausdruck eines Inneren der Aussen‐
welt, das anders dir sich niemals offenbaren
könnte...
11 Geist und Form
.So aber ist auch jede Form der inneren
Welt stets wieder Ausdruck eines Allerinner
sten, das niemals dir vorhanden wäre, würdest
du es nicht als Form in dir erkennen...
.Suche hier in der Aussenwelt in jeglicher
Form das ihr Innere zu erfassen, dessen Aus
druck sie ist!
.So wirst du am besten dich vorbereiten, einst
auch in der Welt des Geistes, in jeglicher
Form die dir allda begegnen mag, das Aller
innerste, dem sie Ausdruck ist, aus ihr
leuchten zu sehen! ‒ ‒ ‒
.Auch alles, was der Mensch an Lebensform
geschaffen hat in dieser Aussenwelt, damit er
leichter in Gemeinsamkeit mit seinesgleichen
dieses Erdenlebens Bürde trage, kann dir zu
hoher Lehre dienen...
.Auch hier entspricht dem «Aussen» stets ein
«Innen», selbst wenn das «Innen» längst
nicht mehr gefühlt wird. ‒
.Suche nach diesem «Innen», und wenn du
es gefunden hast, dann wird dir manche schöne
Lebensform, die dir nur als der Ausdruck
einer Lüge galt, gewiss zu einem anderen
Werte sich erheben! ‒ ‒ ‒
12 Geist und Form
.Auch manches was dir heute töricht noch er‐
scheint in Sitte und Gepflogenheit der Men‐
schen, wird sich dann als Form dir zeigen der
ein weiser Inhalt innewohnt!
.Es wird nicht nötig sein, hierzu erst Studien
zu betreiben, die dich in ferne Zeiten oder
gar zu fernen Völkern führen!
.Du kannst, wo du auch stehen magst, im
Alltag beginnen und in deiner nächsten
Umgebung!
.Hier ist dein sicherster Boden, und Tor
heit nur verachtet ihn um sich in alten Zeiten
und bei fernen Völkern einzuträumen und
dort heimischer zu fühlen! ‒ ‒
.So fand ich Suchende, die hin zum Geiste
strebten, und, ihrer Torheit kaum bewusst,
durch die ‒ Gewandung ihrer Zeit und ihres
Landes sich behindert glaubten...
.Sie fassten es nicht, dass da ein Mensch zum
Geiste finden könne, der in festlicher Gesell‐
schaft sich den Formen der Gesellschaft fügt,
ja der nur dann Behagen fühlt, wenn seine
Kleidung dieser Formen Vorschrift bis ins
Kleinste angepasst erscheint...
.Entsetzen packte sie, wenn einer der in hoher
13 Geist und Form
Bergnatur bei steiler Wanderung vom Geist zu
reden wusste, des Abends dann im Rasthaus an‐
gelangt noch Sorge trug, dass er beim abend‐
lichen Mahle unter festlich Frohgestimmten
auch in einem Kleide sei, das nach der allgemei‐
nen Sitte dort gefordert war. ‒ ‒
.So sah man denn in wildverwegenen Gewän‐
dern sie sich selbst gefallen, und sie gefielen
sich nicht wenig, im Bewusstsein, anderen zu
zeigen, dass sie der Form ‒ nach ihres Eigen‐
dünkels Meinung ‒ längst «entwachsen»
seien. ‒
.Andere kleideten sich in biblische Gewänder
und liefen am hellichten Tage in solcher Mum‐
merei einher, ‒ ein jeder ein «Christus», oder
zum mindesten einer der Apostel, ‒ und keiner
schien zu ahnen, wie wohl jene, deren Maske
sie für sich erkoren hatten, sie verlachen wür‐
den, lebten sie heutigen Tages inmitten
der westlichen Welt. ‒
.Und dennoch waren es auch mitunter sehr ehr
liche Suchende, die wirklich zum Geiste
strebten, trotz all ihrem törichten Tun! ‒
.So geht der Mensch in die Irre, der sich der
Form « entwachsen» wähnt!
14 Geist und Form
.Vermeintlich «frei» von jeder Form, schafft
er sich Formen einer wunderlichen Art, die sich
der Form des allgemeinen Ganzen, wie sie
in jedem Lande in der Zeiten Lauf erwachsen
ist, nicht einen, und dünkt sich selbst ein
weitaus «Besserer» zu sein, als jene, die nicht
seinem eitlen Beispiel folgen. ‒ ‒
.Was hier geschildert wurde, ist vielleicht die
sonderbarste Art des törichten Versuches,
sich aus der Form der Zeit und seines Landes
selbst zu lösen...
.Weit zahlreicher sind jene Sonderlichkei‐
ten, die im Verborgenen blühen. ‒
.Allen gemeinsam aber ist der Wahn, dass
sich der Suchende, der sich dem Geiste nahen
will, mit allem Rechte über alle Form «er‐
haben» fühlen dürfe, besonders aber über jede
Form, die sich in allgemeiner Sitte und Ge‐
pflogenheit des menschlichen Zusammenlebens
offenbart.
.Zuweilen aber wird solche Formverach
tung zum Verbrechen an der menschli
chen Gemeinschaft.
.So: wenn sie die Ehe als abgelebter Zeiten
behindernde Bindung um ihrer Irrtumsmöglich‐
15 Geist und Form
keiten willen verachtet; ‒ so, wenn sie alles zu
entwurzeln sucht, was sich die Menschheit selbst
als Schutzwehr pflanzte, um nicht dem Sturm
misslenkter Triebe und der ungehemmten Lei‐
denschaften zu erliegen. ‒ ‒ ‒
.Weislich hatte man einst die Gefahr erkannt,
die aller Formverachtung innewohnt! ‒
.Gar hurtig lässt sich jetzt fällen, was Jahr
hunderte brauchte und Jahrtausende, um
so zu verwachsen, dass es wahrlich Schutz ge‐
währen konnte! ‒ ‒
.Lange aber wird die Zeit der steten Stürme
währen, auch wenn man schliesslich neu den
Wald zu pflanzen sucht, der ihnen vordem
wehrte...
.So rächt sich jede Missachtung der Form!
Man sieht nur das Äussere und vergisst, dass
es eines Inneren Offenbarung ist! ‒ ‒
*           *
*
16 Geist und Form
WOHNSTATT UND WERK
.Des Menschen Wohnstatt ist gleichsam sein
äusserstes Kleid in dieser Aussenwelt, und
wie seines Körpers Gewandung ihn offen‐
baren kann, so auch die Wohnstatt, die er
sich schuf. ‒
.Ist es in deine Macht gegeben, dir dein eige‐
nes Haus zu bauen, auch wenn ein Anderer,
der in der Kunst des Bauens wohlerfahren
ist, für dich die Form gestaltet, so wird dein
Haus wohl schon von aussen zeigen wer du
bist...
.Aber auch wenn du in Räumen wohnst, auf
deren Gestaltung dir aller Einfluss fehlte, wird
doch die Art wie du die fremden Räume dir zu
eigen machst, dem Kundigen gar viel von dir
zu sagen haben...
.Du wirst ihn nicht täuschen, auch wenn du
die ersten Künstler deines Landes aufgerufen
hast, dir herrliches Wohngerät zu schaffen und
17 Geist und Form
ihre Kunst in deiner Räume Ausgestaltung zu
bekunden...
.Es wird alsbald zu sehen sein, ob nur die
Künstler hier sich offenbaren, denen Auftrag
wurde, schöne Räume zu gestalten, oder ob sie
deines eigenen Wesens Spur zur Richtschnur
nehmen konnten und ihm, als Berufene, Aus
druck schufen. ‒
.Vielleicht ist deine Wohnstatt aber vorge
formt von Früheren die in den gleichen Räu‐
men oder mit dem gleichen Hausgerät einst
lebten? ‒
.Vielleicht erzählt dir jedes Stück des Haus‐
rats von den Menschen die einst vor dir waren
und deren Blut du in dir fühlst? ‒
.Vielleicht sind so die Formen aller Zeiten nun
in deinen Räumen eng vereinigt und manches
schöne Erbstück wurde einst aus fernen Zonen
heimgebracht? ‒
.Auch dann wird deine Wohnstatt immer
deiner Artung Zeugnis sein, denn was sie auch
enthalten mag an alten Dingen und wie sehr die
Patina der Stimmung alter Zeiten noch auf
ihren Formen fühlbar wird: ‒ stets wird die Art,
wie du das Alte nun zu deines Lebens äusserer
18 Geist und Form
Umkleidung machst, den Dingen neue Wertung
geben, die von dir allein nur herzuleiten
ist. ‒ ‒
.Doch glaube nicht, dass schöne Dinge dich
umgeben müssen und mannigfache Kostbarkeit!
.Auch wenn du in Armut lebst und kaum das
Allernötigste dein eigen nennst, wird dennoch
deine Wohnstatt von der Harmonie noch zeu‐
gen die in dir zu finden ist, wie sie desgleichen
auch die innere Verwirrung und die wilde
Unrast widerspiegeln wird, wenn du noch
nicht zur Harmonie gefunden hast...
.Was immer du besitzen magst, stets wird dein
innerer Besitz sich in dem äusseren offen
baren!
.Dein Heim, und sei es noch so eng und arm,
trägt stets die Prägung deiner Seele, zeigt
stets die Form in der du selbst die Aussenwelt
dir zu gestalten weisst! ‒ ‒
.Es wäre arger Irrtum, wenn du glauben soll‐
test, für einen der zum Geiste strebt, sei es ein
eitles Tun, darauf zu achten, dass alles was ihn
hier in dieser Aussenwelt umgeben mag, auch
seiner Liebe teilhaft werde!
.Auch hier ist durch die Ehrfurcht vor dem
19 Geist und Form
Geiste schon geboten, dass deine Heimstatt rein
und schön trotz aller Armut sei; und ward dir
Wohlstand zugeteilt, dass du nichts um dich
duldest, das nicht eines Menschen würdig wäre,
der dem Geiste selbst zum Tempel werden
will. ‒ ‒ ‒
.Du wirst gar sehr darauf zu achten haben,
dass du der Dinge auch bewusst bist, die in
deinen Räumen dich umgeben!
.Nichts ist hier jemals bedeutungslos, und
auch das Geringste darf deiner Aufmerksamkeit
nicht entgehen! ‒
.Die Form die dich umgibt wirkt auf dich
selbst zurück, ‒ auch dann, wenn du sie kaum
bewusst gewahrst. ‒ ‒
.Nie kannst du Sorgfalt genug an deine
Heimstatt wenden!
.Die Arbeit deines Berufes mag es dir un
möglich machen, gleiche Sorgfalt auch dem
Raum der Arbeit zu widmen.
.Dort wird vielleicht dir jede Möglichkeit ent‐
zogen sein, den Raum nach deiner Art zu
formen, und manche harte Arbeit ist an einen
Ort gebunden, der kaum noch «Raum» zu
nennen ist. ‒
20 Geist und Form
.Vielleicht auch ist die Tätigkeit, der du ob‐
liegst, an sich durch Räume nicht umhegt.
.In deiner Heimstatt aber bist du frei und
kannst nach deiner Art sie formen!
.Hier darf dein Auge nichts erblicken, das dir
die Harmonie der Seele stören könnte. ‒
.Die Heimstatt soll dir Zuflucht sein und
dich durch alles was sie bergen mag, zur Freude
stimmen: ‒ zu warmer, reiner seelischer Heiter
keit!
.Auch wenn dich Düsteres vordem umgab
und böse Dinge schwer noch auf dir lasten mö‐
gen, sollst du bei dem Betreten deiner Wohn‐
statt alles von dir schütteln, was dich nie
derdrücken will! ‒
.Hier sollst du wieder zu dir selber kommen
und zu deiner höchsten Höhe! ‒ ‒ ‒
.Hast du die Sorgfalt aufgewendet, die von‐
nöten ist, damit dein Heim in allen Stücken
deiner würdig sei, dann wird der ärmste Haus‐
rat so zu deiner Seele sprechen, dass sie alsbald
sich wiederfinden wird, auch wenn sie in dem
wilden Lärm des Alltags draussen sich gar weit
verloren hatte. ‒ ‒
.Was immer dich in deiner Wohnstatt dann
21 Geist und Form
umgeben mag, wird dich erinnern an dein
bestes Fühlen, wird zu dir sprechen als
deine Welt, und wird dir Ruhe und heiteren
Frieden geben! ‒
*
.Ein jedes Stück, das deine Heimstatt auf‐
erbaut, ist des Menschen Werk.
.Achte darauf, dass auch jedes Stück die edle
Prägung der Menschenwürde trage! ‒
.Der du des ewigen Geistes Stimme in dir
selbst vernehmen willst: ‒ wie dürftest du in
deiner Heimstatt Dinge um dich dulden, die
scheinen wollen, was sie nicht sind, ‒ die das
Gesetz der Form gleichsam verhöhnen! ‒ ‒
.Die Gegenwart ist leider angefüllt mit Dingen,
die man am besten ins Meer versenken würde,
dort wo es am tiefsten ist! ‒
.Fühllos wird jede echte Form, die Aus‐
druck eines inneren Empfindens ist, von ge‐
schäftigen Händen nachgeahmt; aber das
Leben der Form entweicht bei solchem Tun
und was übrig bleibt ist Leiche...
.Man hat vergessen oder nie geahnt, dass jede
Form ein lebendiges Zeichen einer Sprache
ist und etwas zu sagen hat. ‒ ‒
22 Geist und Form
.So häuft man «Leichenteile» zu «Leichen‐
teilen» ohne sich dessen auch nur bewusst zu
sein. ‒
.Die Völker des Ostens wissen es anders,
soweit sie noch nicht durch die Menschen des
Westens verdorben sind. ‒
.Es sei mir erlaubt, hier eine Begebenheit zu
erwähnen um des Beispiels willen.
.Ein grosses Handelshaus Europas sandte
Ware nach dem Orient, die dort auf reichlichen
Absatz stets rechnen konnte.
.Um die Verpackung schöner zu gestalten,
liess man eines Tages neue Entwürfe einer far‐
benfrohen Ornamentik in den Formen östli
cher Kunst verfertigen und glaubte dadurch
gewiss der Ware noch grössere Abnehmerkreise
zu sichern.
.Aber der Kaufherr musste erleben, dass seine
ganze Sendung wiederkam. ‒
.Die Händler des Ostens, die sie vordem stets
begehrten, hatten es abgelehnt, sie in der
neuen Packung anzunehmen.
.Und dies war die Begründung ihrer Weige‐
rung:
.Sie sagten, dass sie ihres Lebens nicht mehr
23 Geist und Form
sicher seien, wollten sie diese neue Packung
auch nur in ihren Läden dulden, denn alle For‐
men die auf ihr zu sehen seien, bedeuteten für
den frommen Hindu ‒ ‒ gröbliche Gottes
lästerungen...
.Würde der Mensch des Westens noch in glei‐
cher Weise Formen zu empfinden fähig sein,
dann wäre wohl vieles in seiner Umwelt, das er
aus seinem Empfinden heraus mit gleichem
Abscheu von sich weisen müsste. ‒ ‒
.So aber weiss er die Sprache der Form nicht
mehr zu deuten, und leidlicher Geschmack der
Anordnung und Farbengebung tut seiner For‐
derung Genüge.
.Doch glaube man nicht, dass ich hier nur von
Dingen rede, die als Schmuck und Zierde be‐
trachtet werden!...
.Der einfachste Tisch oder Stuhl kann das
Leben der Form in sich tragen, so wie auch das
prunkvollste Möbel gleicher Art nur totes
Gerüste sein kann, «verziert» mit «Leichen‐
teilen»...
.Das Gleiche gilt von allem Gefäss und Ge
rät, die auch das einfachste Leben verlangt. ‒ ‒
.Darum sorge dafür, dass dich nur Dinge um‐
24 Geist und Form
geben, die du vor dem Geiste, den du in dir
finden willst, so du ihn einst findest, auch
verantworten kannst!
.Du trägst wahrhaftig dafür Verantwor
tung, dass nichts in deinem Hause sei an
Hausrat oder Zier, das mit der Würde eines
Menschen, der zum «Tempel des Geistes»
werden will, sich nicht vereinen liesse! ‒ ‒ ‒
.Es ist dazu nicht nötig, dass du Bescheid
weisst über Kunst und künstlerische Dinge.
.Gar vieles kann dem Künstler wertvoll sein,
und vieles findest du als alter Zeiten Werk in
den Museen, das dennoch nicht der Menschen
würde Prägung trägt, auch wenn es kündet von
eines Menschen grossem Können. ‒ ‒
.Was dir als Massstab dienen soll, ist anderer
Art!
.Du, der sich dem Geiste einen will, der Har
monie und Klarheit, Licht und Wahrheit
in sich selber ist, wirst nichts um dich dulden
dürfen, das in seinen Formen Disharmonie
verrät, das Unklarheit erzeugt und dich in
einen Schlaf des dumpfen Dunkels lullt!
.Was dich umgibt, muss Formen zeigen die du
selbst als wahr und rein empfindest!
25 Geist und Form
.Verbanne aus deinem Bereiche alles, was Un
wahrheit offenbart in seiner Form, oder was
dadurch unwahr wird, weil es mit deinem eige‐
nen Empfinden nicht zu vereinen ist! ‒
.Vergiss niemals, dass alles was dich umgibt,
auf dich zurückwirkt und dich selber
formt! ‒ ‒
.Du nimmst gewiss nicht jeden Menschen
wahllos auf in dein Heim...
.So lasse auch alles Werk aus deiner Wohn‐
statt draussen, von dem du nicht willst, dass es
von Einfluss auf deiner Seele Formung
sei! ‒ ‒ ‒
*           *
*
26 Geist und Form
FORM DER FREUDE
.Auch deine Freude muss edle Formung
finden, soll sie deiner würdig sein. ‒
.Du liebst es vielleicht, dich in deiner Freude
«gehen zu lassen» und magst nicht gerne
dich dazu verstehen, auch in der Freude auf
Form zu achten? ‒
.Das Beste deiner Freude scheint dir dahin zu
sein, wenn du dich ihr nicht schrankenlos
überlassen darfst...
.Noch kannst du dir keine so recht beglücken‐
de Erdenfreude zur Vorstellung bringen, sobald
dir gesagt wird, dass du auch deine Freude
formen sollst in edelster Form. ‒
.Hier aber bist du in einem Irrtum befangen,
den gar viele mit dir teilen! ‒ ‒
.Glaube nicht, mir sei er wohl immer fremd
geblieben!
.Siehe mein Freund, auch ich habe ehemals
manchen Irrtums lockende Strasse durchschrit‐
27 Geist und Form
ten, die hier auf diesem Planeten Menschen‐
geister ver-führt...
.Wie wäre ich sonst wohl dazu bereitet worden,
denen, die mein Wort erreicht, zu helfen?! ‒
.Wenn ich dir nun rate, auch deine ausgelas‐
senste Freude noch zu formen, so weiss ich,
was das besagen will, und weiss zugleich, dass
ich nur deine Freude mehre, so du mir folgen
magst. ‒ ‒
.Niemals betrügt sich der Mensch so sehr, als
wenn er da vermeint, die rechte Freude müsse
hemmungslos sich wie ein Wildbach ergiessen
können! ‒
.Der Wildbach gibt mir hier ein wohlgeeigne‐
tes Bild, und wenn ich in diesem Bilde bleiben
darf, dann sei daran erinnert, dass auch der
Wildbach nur gefahrlos wird, wenn man ihn
einzudämmen, wenn man seine Strasse zu
formen weiss. ‒
.Wehe aber den Fluren, ‒ wehe der jungen
Saat, wenn er in seiner Frühlingsvollkraft über‐
schäumt und seines naturgebundenen Laufes
Steinbett verlässt!! ‒
.So auch wird deine Freude dir zur Gefahr,
28 Geist und Form
solange sie nicht deine Formung trägt, und
‒ glaube mir ‒ auch ich habe vordem solche
Gefahr gar oft erfahren, so dass ich wahrlich
vor ihr warnen darf!...
.Wie der Lotse die Klippen sehr wohl kennen
muss, bevor er das Schiff gefahrlos durch die
Brandung in den Hafen leiten kann, so ward
auch mir gar wohl bekannt durch die Erfahrung
eines Menschenlebens, was es zu vermeiden
gilt, soll eines Menschen geistiges Ziel ihm end‐
lich erreichbar werden, trotz aller hohen See
der Leidenschaft und allem Sturm der Triebe...
.So gerne du auch in deiner Freude dich «ver
gessen» möchtest, ‒ «dich» vergessen, den du
selber aufgerichtet hast in deiner Vorstellung,
und dem du den Namen gegeben hast, als sei
er wirklich du selbst, ‒ sei wachsam und achte
der Gefahr, der du nur begegnen kannst,
wenn du auch deine Freude zu formen
weisst! ‒ ‒ ‒
.Du wirst zwar bedauern, dass du nicht völlig
dich deiner Freude überlassen kannst, ‒ aber
bedenke wohl, dass alles, dem du dich völlig
überlässt, dich nur zu seinem Sklaven
macht! ‒
29 Geist und Form
.Hier aber sollst du zum Herrn deiner Freude
werden und sie soll deiner Formkraft völlig
unterordnet sein!
.Ich rede hier nicht von den stillen dauernden
Freuden die dein wohlgeformtes Leben dir er‐
spriessen lässt wie allgemach in einem wohl‐
gepflegten Garten Blumen spriessen durch des
ganzen Jahres Lauf. ‒
.Kaum wird es dir entgangen sein bisher, dass
ich vielmehr von deiner Freude rede, soweit sie
zu besonderem Anlass ihr besonderes Recht
erheischt. ‒ ‒
.Gar vielfältig kann solcher Anlass sein und
gar vielfach kann er dir begegnen...
.Bist du dir bereits bewusst geworden, dass
dein ganzes Leben durch dich Formung
finden soll, so wird es dir leicht sein, auch deine
Freude zu formen, sobald du nicht dem
Wahne lebst, dich in der Freude endlich ver
gessen zu dürfen. ‒
.Es sind wahrhaftig nicht die Schlechtesten,
die da zuweilen glauben, dass die Freude ihnen
nur gegeben sei, um sich «vergessen» zu kön‐
nen!
30 Geist und Form
.Wer aber ist es, der so vergessen wird?!?
.Du selbst bist es wahrlich nicht, auch
wenn du im fröhlichen Maskenspiel die dir
fremdeste Maske wähltest!
.Stets wirst du selber es sein, der sich als das
«Ich» dieser Maske fühlt. ‒ ‒
.Was du vergessen willst, wäre wert, dass du
es auch in deinem Alltagsleben vergässest! ‒ ‒
.Du selbst hast es dir zum Tyrannen ge‐
schaffen, und deiner Schöpfung Werk wird dir
so lästig, dass du es gerne wieder vergessen
möchtest, wozu denn deine Freude dich auf
zufordern scheint! ‒ ‒ ‒
*
.Du hast in dieser Erdenwelt dein Erden
kleid gefunden.
.Schon als du ein Kind noch warst, hat man
dir dieses und jenes davon zu sagen gewusst,
was du selber seiest...
.Dich selber glaubtest du genau bestimmt
durch Lob und Tadel, ‒ durch der Erwach‐
senen Wertung deiner kindlichen Daseins‐
äusserung...
.Herangewachsen «wusstest» du, dass du das
Kind einer sehr genau bestimmten Familie
31 Geist und Form
seiest, und all dein Tun ward mitbestimmt
durch solches «Wissen». ‒ ‒
.Dann aber machtest du dich «frei» von aller
Familienbande, «wusstest» dich als Kind deines
Volkes, und aller Wert, den du dir selber
gabst, entstammte deiner Tüchtigkeit, oder
deinem mangelhaften Erfolge in irgend einem
menschlichen «Beruf»...
.Ob du dazu berufen warst, ihn auszuüben,
wusstest du am Ende selber kaum. ‒
.Du bist in ihn «hineingewachsen» und deine
«Aufgabe» siehst du nun darin, ihn so zu «er‐
füllen», dass alle die dir «vor-gesetzt» sind,
oder ein «Urteil» haben, dich nicht «ver
urteilen» und dich keinem «nach-setzen.» ‒ ‒
.Was du so in anderer Augen warst, ‒ als was
du Anderen erscheinen mochtest, ‒ das war
dir und ist dir vielleicht noch heute genaue Be‐
stimmung dessen, was du bist! ‒
.Der Anderen «Wertschätzung» bestimmt
dir deinen eigenen Wert. ‒
.Der Anderen «Bewunderung» lässt dich dir
selbst als wundersam erscheinen. ‒
.Der Anderen «An-erkennung» lehrte dich
allein dich selbst vermeintlich erkennen. ‒
32 Geist und Form
.Der Anderen «Ver-achtung» schien dir so
begründet, dass du selbst dich nur in aller
Heimlichkeit noch achten konntest, und vor
dir selber fürchtest, du seiest nur ein Sklave
deiner Eitelkeit, wenn dennoch sich in dir
etwas «erhob», das gegen die «Ver-achtung»
Anderer sich wild «empörte», weil es aus der
Niedrigkeit, die du dir selber gabst, empor ge‐
langen wollte! ‒ ‒ ‒
.So hast du alles, als was du dich selber
fühlst, von Anderen empfangen, und keines‐
wegs weisst du aus dir selber, wer du bist!
.Es ist wahrlich kein Wunder, wenn du «ver
gessen» möchtest, was nur in den Augen An
derer für dich selber gilt!
.Es ist wahrlich kein Wunder, wenn du zu
vergessen strebst, was Andere ‒ aus dir
machten! ‒
.Dich selbst aber willst du gewiss nicht
vergessen!
.Du gibst nur einer Vorstellung, die Andere
dir eingegeben haben, das Recht, für dich
selber zu gelten. ‒ ‒ ‒
.Siehe, darum rate ich dir: vergiss dich sel
ber nicht in deiner Freude!
33 Geist und Form
.Der, den du vergessen möchtest, da er dich
peinigt, als deine eigene Schöpfung nach An
derer Mass, ‒ den darfst du gewiss verges‐
sen, und du tust gut daran, wenn du ihn als
bald vergessen wirst! ‒ ‒ ‒
.Aber dich selbst sollst du gar hoch er
hoben fühlen in deiner Freude!
.Was immer dir Freude bringt, soll dir ein
Anlass sein, deine formende Kraft zu er‐
proben!
.Du wirst deine Freude verhundertfältigen
können, wenn du es verstehst, sie zu formen
nach deiner Artung Massgerechtigkeit! ‒ ‒
.Du selbst musst das Mass für die For
mung deiner Freude sein, ‒ nicht jenes Ge
spenst, das Andere für dich selber hal
ten! ‒ ‒ ‒
.Der Anderen Form der Freude sollst du
achten, so immer sie irgendwie Achtung noch
verdient, allein sie darf nicht «Vor-Bild» dei
ner Form der Freude werden, es sei denn, dass
sie völlig deiner Artung wäre! ‒ ‒
.Forme, mein Freund, deine Freude nach
deiner eigenen Form, und sei meiner Worte
eingedenk, dass dann nur deine Freude niemals
34 Geist und Form
dich gereuen wird, wenn du sie in Form zu
binden weisst! ‒ ‒ ‒
.Du selbst musst Mass deiner Freude geben,
wenn sie dich nicht täuschen soll! ‒ ‒
.Du selbst bist deiner Freude Folge aller‐
sicherste Gewähr, so du nur alle deine Freude
formen willst nach deiner, dir von Ewigkeit
bestimmten Form! ‒ ‒ ‒
*           *
*
35 Geist und Form
DES LEIDES FORM
.Auf deinem Leidenslager liegst du in arger
körperlicher Not, und allzuschwer erscheint es
dir, in solchem Leide noch danach zu streben,
auch dein Leid zu formen...
.Angstvoll spähst du vielmehr nach äusserer
Hilfe aus, und jedes Tränklein dem du dein
Vertrauen schenkst, erscheint dir weitaus wich‐
tiger als solches Tun...
.In guten Tagen meintest du vielleicht, du
seiest längst schon «über alles Irdische er‐
haben». ‒
.Nun musst du sehen, wie gar sehr du noch
der Erde verhaftet bist. ‒ ‒
.Aber du willst es nicht fassen, dass deine
geistige Kraft dich aus der Verhaftung lösen
könnte, auch wenn sie vielleicht nicht völlig
dich befreit. ‒
.Gewiss, dein armer Leib ist so geplagt, dass
er seiner Sinne kaum noch mächtig ist...
36 Geist und Form
.Du kennst nur noch das eine Flehen: ‒ dass
deinem Leide ein Ende werde...
.Wie Hohn erscheint es dir da, von einer For
mung auch des Leides zu reden. ‒
.Ach siehe: ich weiss dein Leid wahrhaftig zu
empfinden, denn selten nur war ich völlig vom
Leide verschont. ‒ ‒
.So darf ich wahrlich auch vom Leide reden
und von des Leides Überwindung durch die
Form in der man es zu ertragen weiss...
.Ich selbst weiss nur zu gut, wie sehr des Kör‐
pers Leid auf einem Menschen lasten kann und
wie es dennoch durch Formung zu bändigen
ist. ‒
.Es übersteigt fast alle Vorstellung, was durch
geistige Formung bewirkt werden kann, und
wie durch geistige Einstellung das Körper
liche, wie quälend es auch sei, stets noch zu
bezwingen ist. ‒ ‒ ‒
.Was du kaum noch ertragen zu können
glaubst, solange du zeterst mit dir selbst und
haderst mit deinem Schicksal, das wirst du als‐
bald überwinden, so du es willig erträgst,
als sei es mit der dir gemässesten Form deines
Lebens ganz selbstverständlich ver
37 Geist und Form
knüpft, ‒ als könne es gar nicht anders
sein. ‒ ‒
.Wohl dir, wenn du körperliches Leid so ent
werten lernst, dass du es nicht mehr achten
musst!
.Solange du noch deinem Leide dich über
gibst wie ein Sklave seinem grausamen Herrn,
von dem er zitternd der Peitsche Hieb erwartet,
hast du deinem Leide noch nicht die Formung
gegeben, die deiner würdig ist! ‒
.Nur mit «Ver-Achtung» sollst du deinem
Leide begegnen, und nur als sein Verächter
wirst du seiner Herr!! ‒
*
.In gleicher Weise musst du nach Herrschaft
streben, auch bei allem anderen Leide, das dir
begegnen mag!
.Auch seelisches Leid will dich erniedrigt
sehen und über dich herrschen! ‒
.Auch davon weiss ich genugsam zu sagen und
rede auch hier gewiss nicht als einer, der von
ihm fremden Dingen spricht! ‒ ‒
.Ich fand aber viele die ihr seelisches Leid so
sehr liebten, dass sie es kaum von sich lassen
wollten, als es sie von selbst verliess...
38 Geist und Form
.Dieses ist wahrlich nicht die rechte Art, dem
Leide zu begegnen, das die Seele niederdrük
ken will!
.Auch dein seelisches Leid sollst du beherr
schen lernen und in eine Form zu zwingen
wissen, die deiner würdig ist! ‒ ‒
.Solange du noch «grübelst» in dir selbst, um
etwa deines Leides letzten Sinn zu «ergründen»,
gräbst du nur deiner Kraft des Widerstan
des eine Grube!...
.Der «Sinn» deines Leides ist nicht zu ergra‐
ben, denn wahrlich: ‒ nicht eher hat dein Leid
einen «Sinn», als bis du selbst ihm einen gibst,
und nur in diesem Sinne kann es «sinnvoll»
für dich werden! ‒ ‒
.Dein Leid mag bitter zu verkosten sein,
doch sollst du selbst dich nicht durch dein
Leid verbittern lassen! ‒
.Dein Leid mag dir «gross» erscheinen über
alles Mass, doch sollst du selbst deine Grösse
nicht von deinem Leide erborgen! ‒ ‒
.Du sollst deinem Leide keinen Altar errichten
in dir selbst, und sollst es nicht in erhobenen
Händen vor dir einhertragen wie ein Heiligtum!
.So wie du körperliches Leid ver-achten
39 Geist und Form
lernen musst, so wirst du das Leid deiner Seele
verarbeiten lernen müssen: ‒ verarbeiten zu
einer Form die dir dienen muss, dich selber
zu formen! ‒ ‒ ‒
.Auch deinem Leide darfst du dich selbst
nicht überlassen!
.Du musst dich selber über dein Leid er
heben und ihm gebieten lernen!
.Du selbst bist das Bleibende, ‒ dein Leid
aber ist vergänglich, und es ist Lüge, wenn
es dich betören will, an seine Dauer zu glau‐
ben! ‒ ‒
.Lerne dem Leide Schranken setzen, die es
formen müssen nach deinem Willen! ‒ ‒
.Des Unheils Wirkung wird dein Leid nur zei‐
gen, wenn du es nicht zu bändigen weisst! ‒ ‒
.Nur als Überwinder deines Leides aber
kannst du in den Geist gelangen!
.Dich selbst musst du wahrlich höher
werten als dein Leid, denn in dir selber will
sich des Geistes Funkenstrahlenlicht dir
offenbaren! ‒ ‒ ‒
*           *
*
40 Geist und Form
DIE KUNST DES LEBENS
.Willst du den Weg durchschreiten, den ich
in so mancher Rede dir in anderen Büchern
schon zu beschreiben wusste, als einer, der ihn
kennt, ‒ den Weg, der zum Lichte in dir selber
führt, dann wirst du manchem Wahn ent
sagen müssen! ‒ ‒
.Vor allem aber dem Wahne, dass dein Erden‐
leben nun einmal «Bestimmung» sei und so
durchlebt werden müsse, wie es gerade kommen
mag! ‒ ‒
.Wer so sein Erdenleben durchlebt, ist einem
Baumeister gleich, der ohne jeden Plan und
Grundriss Erde ausheben lassen würde um dann
zu bauen, wie immer es werden möge, bis ihn
der letzte Stein am Weiterbauen hinderte. ‒
.Wohl möglich, dass ihm sein wilder Bau ge‐
länge und ein abstruses Gebilde so zustande
käme.
.Weit eher aber dürfte die Voraussicht Recht
41 Geist und Form
behalten, dass eines Tages über seinem Kopf
zusammenstürzen müsse, was er in planlos
törichtem Tun aufeinandertürmte. ‒ ‒
.Sei du nicht einem solchen Toren gleich!
.Was du dein Erdenleben nennst, ist rohes
Material, das allerdings, so wie du es auf
Erden fandest, dir gegeben ist und an dem du
fast nichts oder wenig nur ändern kannst.
.In deine Hand jedoch ist es allein gegeben,
was du in geistiger Form aus ihm erbauen
wirst, und keine Macht der Erde wird dich hin‐
dern können so zu bauen, wie es der «Grund
riss», den deine Seele sieht, von dir verlangt. ‒
.Du wirst mir entgegnen wollen, dass doch
vieles nicht in deine Hand gegeben sei: ‒ dass
dich in vielen Dingen Andere behindern könn‐
ten, ‒ ja, dass die Aussenwelt dir deinen ganzen
Bau in Stücke schlagen könne.
.Ach, lieber Freund, solange du noch solche
Rede führst, hast du noch nicht erkannt, wo‐
von ich zu dir spreche!...
.Dein äusseres Bauen ist wahrhaftig nicht
durch dich allein bestimmt, und deine schön‐
sten Aussenmauern kann man stürzen ehedenn
42 Geist und Form
du die Kuppel wölben konntest über deinen
stolzen Bau! ‒ ‒ ‒
.Dein geistiges Bauen aber kannst nur du
selber stören oder durch Andere stören lassen,
denen du solche Störung erlaubst! ‒ ‒ ‒
.Es ist die Rede hier von dem Kunstwerk,
zu dem dein geistiges Leben werden soll!
.Dein Erdendasein schafft dir täglich neues
Material aus dem du dein geistiges Leben
kunstvoll auferbauen kannst!
.Nie wird es dir an «Steinen» und «Bauholz»
fehlen!
.An dir aber wird es sein, das rohe Material in
solcher Weise zu bearbeiten, dass es sich dem
erhabenen Grundriss anpasst, den deine Seele
in sich selber findet, in ihrem innersten
Schrein! ‒
.An dir wird es sein, den rechten «Mörtel» zu
bereiten, der Baustein an Baustein bindet!
.An dir wird es sein, die «Balken» so zu fügen,
dass sie tragen können!
.Du wirst nichts von dem verachten dürfen,
was dir dein Erdendasein alltäglich zuführen
mag!
43 Geist und Form
.Es ist alles zu deinem geistigen Bau auf
irgend eine Weise vonnöten und wird gute
Dienste tun, so es nur erst durch dich die bau
gerechte Formung fand! ‒ ‒ ‒
.Jedoch kann nichts deinem geistigen Bau
sich einen, das nicht zuvor bearbeitet ist und
in geistiger Weise vorgestaltet! ‒
.Was immer der Alltag dir bringen mag: ‒
stets frage dich selbst, wie es alsbald zu formen
ist um deinem geistigen Tempelbau zu
dienen!
.Alsdann aber gehe sogleich ans Werk und
raste nicht eher, als bis das Rohe seine rechte
Form erhielt! ‒
.Je mehr du in solchem weisen Werk dich üben
wirst, desto leichter wird es dir werden!
.Was dir noch heute kaum möglich erscheint,
wird dir gar bald schon mit geringer Mühe ge‐
lingen!
.Nur musst du Ausdauer zeigen bei solchem
Werk!
.Du darfst nicht etwa heute begeistert be‐
ginnen und dann nach wenigen Tagen schon das
Meiste liegen lassen! ‒
.Was du nicht verarbeitet hast, wird dir
44 Geist und Form
dann im Wege liegen, und so wirst du selbst
dich sehr behindern, auch wenn du zu späte‐
rer Zeit aufs neue beginnen willst! ‒ ‒
.Noch heute, da du meine Worte vernimmst,
suche in deiner Seele innerem Schrein den Bau‐
plan hervor!
.Er ist dort wohlverwahrt und du wirst ihn
finden, wenn du mit aller Ruhe sicherer Ge‐
wissheit suchst!
.Kein hastiges Stöbern wird ihn zutage för‐
dern!
.Hast du ihn aber gefunden, dann gehe als‐
bald ans Werk und bleibe deinem Werke treu!
.Du wirst den Bauplan erst beim Bauen
selbst verstehen lernen, und so es dann nötig
wird, wirst du auch die Einzelpläne finden,
die dir heute noch nichts nützen könnten!
.Allmählich wird deine formende Kraft er
starken und du wirst zum Künstler werden
an deinem Werk!
.Dir kann keine «Schulung» ersetzen, was
dich das Werk allein zu lehren weiss! ‒ ‒ ‒
.Noch bist du nicht entfaltet und weisst selbst
noch nicht, was in dir sich verbirgt!
45 Geist und Form
.Du hast zu dir selbst noch kein Vertrauen
und möchtest Plan und Arbeitslehre lieber von
Anderen empfangen!
.Doch, dein Vertrauen wird dir werden,
wenn du erst sehen wirst, was du in dir trägst! ‒
.An deiner eigenen Arbeit nur nach dem in
dir verborgenen Plan wird es mählich wachsen,
und dann wirst du erkennen, dass dir geholfen
wurde weil du dir selbst vertrautest, auch
wenn du nur die Hilfe und noch nicht die
Helfer gewahrst! ‒ ‒ ‒
.Nur solche geistige Hilfe kann dir von
Nutzen sein! ‒
.Alles was man dir von aussen her sagt,
kann dich nur aus deinem Schlafe zur Arbeit
wecken, ‒ kann dir Anstoss werden, mit
deinem besten Tun zu beginnen! ‒ ‒
.Die Hilfe aber, die du dann bei deinem
Werke brauchst, darf dir nur auf geistige
Weise in deinem Innern werden, so sie dir
wirklich Beistand leisten soll! ‒ ‒ ‒
.Auch wenn du in der Aussenwelt aller Kunst
sehr ferne stehst, ist doch in deinem Innersten
ein Künstlertum in dir beschlossen, das nur an
deinem Werke geistig sich entfalten kann!
46 Geist und Form
.Hier in deinem Innersten, wird man dich
zu hoher Kunst zu leiten wissen: ‒ zur Kunst,
dein geistiges Leben zu gestalten nach des
ewigen Geistes innewohnendem Gesetz! ‒ ‒ ‒
.Von dir wird nur erwartet und verlangt,
dass du alles Rohe, was dir dein Erdendasein
zuführt Tag für Tag, aus eigener formender
Kraft bearbeiten lernen willst um es zur
Form zu gestalten! ‒
.Darum sprach ich dir in diesem Buche in so
mannigfacher Weise von der Notwendigkeit der
Form! ‒
.Behauptest du mit Recht, dass dich im äusse‐
ren Leben vieles hindern kann, dein Leben so zu
formen wie du es gestaltet sehen möchtest, so
muss ich dir dennoch sagen, dass du auch dort
weit mächtiger bist als du vermeinst! ‒ ‒
.Nur wirst du vom Inneren her das Äussere
bestimmen müssen! ‒
.Suche alles, was dir dein äusseres Leben
bringen mag, in geistiger Weise zu verwerten,
indem du es geistig zu formen strebst, und du
wirst manches Hindernis, das dir im äusseren
Leben unüberwindlich erschien, dir gar bald
47 Geist und Form
durch dein weises geistiges Tun aus dem
Wege räumen! ‒ ‒ ‒
.Dein ganzes äusseres Leben wird sich nach
dem Bilde deines geistigen Lebens wandeln,
so du nur alles Äussere dir geistig zu formen
weisst! ‒ ‒
.Gar manche nannte man «Künstler des Le‐
bens» weil sie geschickt und sicher sich den
Fährnissen entwandten, die das äussere Leben
unerfreulich machen können.
.Die Kunst des Lebens aber von der ich dir
rede, wird dir auch dann nicht verloren sein,
wenn du das äussere Leben auf dieser Erde einst
verlassen musst!
.Sie wird dich ihre edlen Früchte hier in die‐
sem Erdendasein schon geniessen lassen und
sie alsdann in reichster Fülle einst in jener
neuen Daseinsart dir bieten, die auf dieses
Erdenleben folgt! ‒ ‒ ‒
.Wahrlich, es ist wert aller Mühen, diese
Kunst zu erlernen, und keinem versagt sie sich,
der ernsten Willens ist, sich selbst und alles
was er erleben mag, in geistiger Art zu
formen! ‒ ‒
48 Geist und Form
.Ihm wird auch alle irdische Form erst ihren
tiefsten Wert offenbaren! ‒
.In aller Form wird er den Geist am Werke
finden! ‒ ‒ ‒
*           *
*
49 Geist und Form
ENDE