DIE EHE
Verlagslogo
KOBERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG AG
BERN
Bô Yin Râ ist der geistliche Name von
Joseph Anton Schneiderfranken
6.Auflage
Erste Auflage: Richard Hummel Verlag Leipzig 1925
Ungekürzte wohlfeile Auflage daselbst 1929
© 1950, 1978, 1986 und 1988
Kobersche Verlagsbuchhandlung AG
3001 Bern
INHALT Seite
Erstes Kapitel
Von der Ehe hehrer Heiligkeit 4
Zweites Kapitel
Von der Liebe 29
Drittes Kapitel
Von der Gemeinsamkeit 59
Viertes Kapitel
Von Leid und Freude 85
Fünftes Kapitel
Von Versuchung und Gefahr 107
Sechtes Kapitel
Vom Zwang des Alltags 137
Siebentes Kapitel
Vom Willen zur Einigkeit 167
Achtes Kapitel
Von der Vererbung des Glücks 199
Neuntes Kapitel
Von ewiger Verbundenheit 219
Originalscan
ALLEN,
DIE DAS GLÜCK DER EHE
SUCHEN!
ERSTES KAPITEL
VON
DER EHE HEHRER HEILIGKEIT
HEILIG dreimal heilig, die Ver
einigung von Weib und Mann
zu engverschmolzener Gemein
samkeit des Erdenlebens! ‒
Heilig der Geschlechter Inbrunst, sich
zu einen! ‒
Heilig das Mysterium des Zeugens
und Gebärens! ‒
Heilig das unsichtbare Band, das
längst Gewordenes vereint, auf
daß es neuem Werden eine Stätte
schaffe! ‒ ‒ ‒
Glückselig Mann und Weib, die solches
fassen, und sich in liebender Vereinung
zu erkennen wissen, so wie der Ur
sprung alles Seins alsMannund
Weibsich selbst erkennt, in ewig
licher Liebeseinung! ‒ ‒ ‒
5 Die Ehe
Glückselig ist das Haus, das Gottes
hehrster Tempel hier auf Erden wird,
da eine wahre Ehe sich in ihm vollzieht,
geschlossen vor dem Angesicht der
Ewigkeit, von Menschen, die um
ihres Menschtums hohe Würde wis
sen! ‒ ‒ ‒
Was hier Erfüllung findet, ist geheim
nisreiches Wunder, Wenigen auf die‐
ser Welt nur kund, und denen selbst
verborgen, die es wirken! ‒ ‒ ‒
Wie so unsagbar töricht klingt es
meinen Ohren, ‒ wie aller Weisheit
wüstenweit entfernt, ‒ so man mir
von „Vollendung” reden möchte, dort,
wo sich Mann und Weib auf ihren Le‐
benswegen meiden, um der vermeint‐
lich höheren Entfaltung ihrer Seelen
willen! ‒ ‒
6 Die Ehe
Teilgestaltung wähnt Vollendung
sich zu schaffen, ‒ jeder Ahnung bar,
daß sie ihr nur erreichbar wäre in Ver
schmelzung mit dem anderen, einst im
Geiste ihr vereinten, nur hier im Er
dendasein körperlich von ihr getrenn
ten Teil! ‒ ‒
Beklagenswert vielmehr der Mann,
beklagenswert das Weib auf dieser Erde,
wenn es dem einen Teile hier in seinem
Dasein nicht gelingt, den ihm gemäßen
anderen Teil zu finden, mit dem ver
eint er erst ein Ganzes bilden würde,
er-gänzt in dem, was seines Einzel‐
poles Eigenschwingung ihm nicht ge‐
ben kann! ‒ ‒
Beklagenswert, wie manches Andere
in dieser Erdenwelt, das gleicherweise
sich behindert findet, die Entfaltung
wirklich zu erreichen, zu der latent
7 Die Ehe
die Möglichkeit sehr wohl gegeben
wäre...
Oft bietet Sehenden in solchen Fällen
sich der Anschein dar, als wolle selbst
Natur sich dieser armen, auf ihr uner‐
löstes, halbes Menschtum nur Ver‐
wiesenen erbarmen, indem sie ihre
schöpferische Phantasie erregt, sich
irgend ein Idol des anderen Geschlechts
im Außerweltlichen zu schaffen, das den
auf Erden hier vermißten Ausgleich
durch den körperlichen Gegenpol, auf
kümmerliche Weise dann ersetzt. ‒ ‒
Wer die Geschichte der Ekstase und der
Mystik kennt, wird unschwer Beispiel
hier auf Beispiel häufen können...
Gewiß wird dann das so Erlebte umge
deutet und als sublimste geistige Er‐
fahrung aufgewertet, allein, was solcher‐
art erfahren werden kann, ist immer
8 Die Ehe
nur aus körperlicher Regung und Er‐
regung zu erklären! ‒ ‒ ‒
Kein Mensch der Erde ‒ mag er Mann
sein oder Weib ‒ der körperlich zur
Ehe tauglich, und nicht durch unerbitt‐
lich hartes Schicksal oder unbehebbar
schweren Grund von ihr sich ausge
schlossen sieht, wird hier auf Erden
schon sein Geistiges in letzter Klar
heit zu erleben fähig, solange er aus
freien Stücken den realen, hier natur
gegebenen Ausgleich der Geschlech
ter flieht! ‒ ‒ ‒
Hier ist nichtsabzuhandeln”, nichts
zu drehen und zu deuteln!!
Keiner derer, die sich selbst auf Erden
zu „vollenden” wähnen, und die Ehe
als Behinderung im Vorwärtsschreiten,
9 Die Ehe
oder gar als etwas zu Vermeidendes
betrachten, kann sein Ziel erreichen, ‒
sei es, daß nur verkappte Eigensucht
ihn zu verblenden weiß, ‒ sei es, daß
religiöser” Wahn ihn zu dem irren
Glauben führt, ‒ hier, wo die Gottheit
sich zutiefst zu ihm herabneigt,
müsse er sich vor des „TeufelsSchlin
gen hüten, um einer „Heiligkeit” teil‐
haft zu werden, die nur als tolle Aus
geburt phantastischer Asketenhirne
Scheindasein genießt, und leider hier in
dieser Scheinwelt wahrlich unheil
bringende Verehrung fand, ja stets
noch findet! ‒
Dem Wüstling wird das heiligste
Mysterium des Menschen nur zum An‐
laß, Nervenreiz zu schaffen, und in Be
friedigung des Reizes: Lust zu suchen.
10 Die Ehe
Er ist ein Verirrter, der die Würde
seines Menschtums nicht erfühlt, und
Heiligstes mit Schmutz besudelt! ‒
Verirrte aber sind nicht minder alle
jene, die auf dem Wege zur Vollkom‐
menheit vorangelangen wollen, ohne
zu erkennen, daß sie des Gegenpols
bedürfen, sollen sie ein Ganzes wer‐
den! ‒ ‒ ‒
Verirrte sind die töricht Überhebli
chen, die gar in ihrer Ehelosigkeit Ge
währ zu haben glauben, daß sie auf dem
rechten Wege seien, und die sich hoch
erhaben wähnen, weil sie, ‒ vermeint
lich um des „Himmelreiches” willen, ‒
auf der Ehe Einung mit dem ande
ren Geschlecht verzichten! ‒ ‒ ‒
Wohl kann zwar auch der Ehelose
seinen Weg zur Vollendung wahrlich
11 Die Ehe
allein durchmessen und sein höchstes
Ziel auf seine Art dereinst erreichen,
auch wenn ihm während seiner Er
dentage niemals die Erfüllung werden
kann, die nur die Ehe ihm erreichbar
machen würde. ‒ ‒
Stets kann er nur als Teil sich Teilvoll
endung zu erringen suchen, und wird im
Erdenleben nie zu jener Klarheit kom‐
men, die nur erreicht wird, wo der Mensch
die neue Einheit eines Ganzen, ‒
aus Männlichem und Weiblichem ver‐
eint, ‒ in einer wahren Ehe schuf. ‒ ‒
Doch wird der Ehelose dann nur sich auf
seine Weise Teilvollendung schaffen
können, wenn wirklich Gründe, die nicht
Menschenwahnwitz erst ergrub, vor
Gott die Ehelosigkeit als nicht ge
wollt bezeugen! ‒ ‒
12 Die Ehe
Weit seltener jedoch als Wahn es will,
sind solche Gründe vor dem Urteil Got
tes aufzufinden...
Keiner möge sich auf sie berufen, der
nicht in tiefster Einkehr mit sich
selbst zu Rate ging, und nicht gewiß
ward, daß er Gottes Stimme, in der
Stille ruhevoller Selbstversenkung, hör
te! ‒ ‒ ‒
Keiner aber möge andererseits Verei
nigung mit einem Gegenpole ande
ren Geschlechts nur aus Begier erstre‐
ben, und bevor er in sich selber sich
belehrt fand, daß solche Einigung nur
dann ihm Heil verheißt, wenn er sich
willig weiß, allein für sie die ewige
Verantwortung zu tragen, ‒ ganz
einerlei, ob auch der andere Eheteil sie
für sich selber tragen will, oder von
solcher Pflicht nichts ahnen mag! ‒ ‒
13 Die Ehe
Der Irrwahn ist alt, daß: „heiraten
gut” sei, „nichtheiraten” aber „bes‐
ser”, ‒ und der ‒ vor solcher Torheit
nicht geschützt ‒ ihn erstmals aus
sprach, hatte wahrlich hohe Einsicht in
gar manche geistige Verborgenheiten, so
daß hier geistiges Gewicht von unge‐
heuerlicher Schwere seitdem auf den
Gewissen aller Nachgeborenen
lastet...
Es ist an der Zeit, daß endlich hier
der Wahn des Weisen seine Macht ver‐
liere!
Es ist an der Zeit, daß endlich nun die
Ehe, die man als „Sakrament”, zu
deutsch ‒ als Mittel, seine Heiligung
sich zu erwirken, ‒ betrachtet sehen will,
obwohl man Ehelosigkeit als unver‐
gleichbar „heiligmäßiger” erklärt, der
14 Die Ehe
Schändung enthoben werde, die darin
ausgesprochen ist, daß man: ‒ das reife
Weib, dem höchstes, heiligstes Erfüllen
seines Weibtums fremd bleibt, höher
stellt, als jede Frau die ihre Mutter
würde zu erlangen wußte, ‒ den ste‐
rilen Selbstling aber, der seine Man
neskraft in sich verzehrt und seines
Blutes Wert der Erde raubt, im Wahn
befangen, über jeden Mann zu stellen
sucht, der hier auf Erden Vater neuen
Lebens wurde! ‒ ‒ ‒
Es ist wahrhaftig an der Zeit, daß sich
die Ehe ihres Heiligsten zu wehren
wisse, wenn man den Zeugungsakt: „Be
fleckung” nennt, so daß man sich nicht
scheut, der alten „Heiden” Wundermär
zu übernehmen, um die Geburt des Gott
erhabensten der Menschen, nach alter
Mythen Weise, einer „Jungfrau” zu‐
15 Die Ehe
zuschreiben, ‒ nicht ahnend, daß die
alten Mythen von der Gottgeburt im
Menschenherzen tiefverhüllte Kunde
geben, ‒ der Geburt des „Gottessohnes”
in der Seele, die nur der Gottesgeist
befruchten kann...
Hoch aller Ehrung würdig ist wahr‐
haftig jene Frau, die Mutter eines
Sohnes werden konnte, dessen lichte
Lehre aller Welt das Heil bereiten wür‐
de, wollte man nach ihr zu handeln sich
bequemen, soweit man sie noch wahrhaft
kennt! ‒
Allein, nicht minder sollte man den Vater
eines solchen Sohnes ehren, denn: wer
den Sohn hier sieht, der sieht auch den,
der ihn erzeugte, da Bluteserbe sich be‐
reits im Dasein finden muß, bevor es
Erbe werden kann! ‒ ‒ ‒
16 Die Ehe
Hier ist die Ableugnung der Zeugung
aus des Vaters Blut nur Ausdruck je‐
ner Mißachtung, die anderenortes auch
die Ehelosigkeit für „heiligmäßiger
erklärt, als Ehe! ‒ ‒ ‒
Ehe” heißt mir freilich nicht: ein
dumpfes, triebversklavtes Beieinander
leben, um gegenseitig seiner Sinne
trübe Glut zu löschen! ‒ ‒
Ehe” heißt mir nicht die Mischung der
Geschlechter, die im Kinde nur das Übel
sieht, das ihre Lust bedroht! ‒ ‒
Ehe” aber ist auch nicht: die unver
antwortliche Zeugung neuen Le
bens, dem die Bedingungen zu se
gensreicher Selbstentfaltung nicht
gegeben werden können! ‒ ‒ ‒
17 Die Ehe
Wahrhaftig: es gibt auf dieser Erde
keinen Lebenszustand, der mehr Be
herrschung seiner selbst, mehr Mit
empfinden mit dem Anderen, mehr
Verantwortungsbewußtsein for‐
dern würde, als die rechte Ehe! ‒ ‒ ‒
Nur, wer hier alle hohe Forderung er
füllt, darf hoffen, daß er auch das Glück
der Ehe finde, das doch so viele suchen,
und so wenige erfahren, da es die
allermeisten heischend ‒ als ihr „gutes
Recht” ‒ erlangbar glauben, statt ein‐
zusehen, daß es der Mensch ‒ wie alles
Glück ‒ sich selber auferbauen, sich
selber schaffen muß! ‒ ‒ ‒
In diesem Buche wird nunmehr von dem
die Rede sein, was wahre Ehe ist, und
was sie fordert.
18 Die Ehe
Ich werde zeigen, daß es zwar unbeirr
bare Bereitschaft, geschulten Willen
und erzogene Kraft verlangt, die Ehe,
wie sie sein muß, aufzurichten, ‒ daß
es jedoch viel leichter ist, die wahr
haft gute Ehe und ihr Glück zu schaf‐
fen, als die vielen unglücklichen Ehen
glauben machen möchten...
Für alle, die noch vor der Ehe stehen,
möge das Folgende zur Vorbereitung
dienen.
Die längst in einer Ehe leben, ‒
sei sie nun glücklich, oder getrübt, ‒
mögen aus meinen Worten wählen, was
ihnen noch nützen kann!
Wer aber vor der furchtbar ernsten Frage
keinen Ausweg sieht, ob er die Ehe, die
er einst in froher Glückserhoffung schloß,
nun lösen soll, da alle Glückes-Mög
19 Die Ehe
lichkeit ihr längst erstorben scheint, der
frage sich nach der Lektüre dieses Buches,
ob er zu solcher Lösung wirklich sich
berechtigt weiß, und ob er die Ver
antwortung dafür auch vor dem An
gesicht der Ewigkeit noch tragen
will?! ‒ ‒ ‒
Gewiß soll unrettbar Zerrüttetes nicht
jedem neuen Glück im Lichte stehen
bleiben!
Gewiß soll man in einem Lebensbunde,
der Enttäuschung an Enttäuschung
reihte, und nun Tag für Tag nur Gram
und Unheil schafft, nicht bis zum letz
ten Fluch verharren!
Allein: ‒ gar manche Ehe wurde unter
Menschen schon gelöst, obwohl sie
keineswegs vor Gott die Schäden
zeigte, die zur Lösung die Berechtigung
gegeben hätten...
20 Die Ehe
Gar oftmals hätte ernster Neubeginn
der Ehe, auch zu neuem und nun dau
erbaren Glück den Grund gelegt, wären
nicht vorschnell alle Brücken zuein
ander abgebrochen worden, da man
bereits nach neuem Glück an eines an
deren Menschen Seite schielte. ‒ ‒ ‒
Wer da hören will, und fühlt, daß
es ihn angeht, ‒ möge hören!
Der aber der Ehe fernbleiben muß, ‒
sei es nun Schicksal, daß sie ihm ver
sagt bleibt, oder werde er durch Pflicht
gezwungen, ehelos zu bleiben, weil er
Verantwortung für eine Ehe niemals
tragen könnte, ‒ ‒ der lege dieses
Buch zur Seite, denn nicht für ihn ist
es geschrieben worden! ‒
Ich schreibe hier für Menschen, die durch
keinen unabänderlichen und vor Gott
21 Die Ehe
gegebenen Grund behindert werden,
die Vollendung in der Einheit einer
Ehe zu erstreben. ‒
Nur diesen gilt, was hier zu Worte
wird!
Wohl sind mir auch die Truggespen
ster irren Fühlens sehr bekannt, die
an dem Heiligtum der Ehe rütteln wie
an altersgrauen Mauern, die man stür
zen müsse, wolle man den Weg zur
Freiheit finden.
Hier aber ist nicht eindringlich ge
nug zu warnen, vor verhängnis
voller Täuschung!
Aus wilder Herdengemeinschaft, in
der sich ‒ kurz und derb gesprochen ‒
jedes Weib noch jedem Mann ergeben
22 Die Ehe
mußte, der es zu bezwingen fähig war,
führte unsagbar weiter Weg den
Erdenmenschen endlich zu dem hohen
Tempel in der Geisteswelt, der einen
Mann dem einen Weibe eint. ‒ ‒ ‒
Die Tierheit ward dem Geiste unter‐
tan, auch wenn sie sich noch immer sträu
ben mag, ihm willig zu gehorchen. ‒ ‒
Und wenn es auch noch heute Millionen
gibt, die nicht auf solcher Stufe stehen,
‒ wenn auch noch ganze Völker in
dem Weibe einzig die Gebärerin und
das Gefäß der Lust erblicken, oder gar
das Arbeitstier, das man erhandelt
wie das liebe Vieh, so daß die Anzahl
Frauen, die der Mann „besitzt”, zum
Zeugnis seines Reichtums wird, wie
seine Herden auf der Weide, ‒ so ward
auf höherer Stufe doch auch längst er‐
23 Die Ehe
kannt, daß nur die Ehe, die das eine
Weib dem einen Mann verbindet,
geistig-göttlichem Gesetz ent
spricht. ‒ ‒ ‒
Wehe denen, die in unbezähmter
Gier die eigene Ehe unterwühlen, ‒
nicht fähig, einen Menschen anderen
Geschlechts zu sehen, ohne seiner zu
begehren! ‒ ‒
Man nenne es nicht „Zufall”, sondern
fühle einen Willen hier am Werke, wenn
die von jeder anderen Geschlechtsver‐
mischung sorglichst reingehaltene
Ehe, aus dem Geschlechtsverkehr
her, unerreichbar bleibt für jene fürch‐
terliche Seuche, die aus kurzer Augen‐
blicke unbezähmter Lustgier: Fluch
und Unheil über Generationen
bringt! ‒ ‒ ‒
24 Die Ehe
Hier zeigt Natur mit aller Deutlichkeit,
was sie, auch schon von sich aus, von
dem Erdenmenschen dieser Tage for
dert!
Wer es auch sei, und welche Gründe
ihn bestimmen mögen, ‒: der Mensch,
der an der Ehe, die das eine Weib dem
einen Mann verbindet, freventlich zu
rütteln wagt, indem er solcher Ehe Bin
dung und Verpflichtung nicht beachtet,
ladet schwerste Schuld auf sich: ver‐
sündigt sich an aller Erdenmensch
heit, und schafft kosmische Verwirrung,
‒ ‒ ganz abgesehen von der unge
heuerlichen Schändung eines Tem
pels, der dort, wo eine Ehe sich voll‐
zieht, im reinen, wesenhaften Geiste
aufgerichtet wurde! ‒ ‒ ‒
Nur hohe Gnade kann den so mit
Frevelschuld beladenen Verbrecher
25 Die Ehe
an der Ehe noch entsühnen, und nur:
wenn selber er die Sühne sucht! ‒ ‒
Doch, nicht viel kleiner ist auch jene
Schuld, die jeder auf sich bürdet, der
sich vermißt, hier eine Form zu spren
gen, die ihm „überlebt” erscheint, da
er sie nicht mit wahrem Leben zu er
füllen weiß! ‒ ‒
Vergeblich bleibt auf dieser Erde alles
Streben, etwa eine neue, bessere Form
der Einung der Geschlechter zu gestalten,
denn: ‒ was die Menschheit in der
Ehe eines Mannes mit dem einen
Weibe zu erringen wußte, gründet
in der Gottheit innerster Gestal
tung! ‒ ‒ ‒
Wer hier zerstören will, was hohe Ein‐
sicht auferbaute, der ist sich nicht der
Folge seines Tuns bewußt!
26 Die Ehe
Ein Sanktuarium des Geistes würde
so vernichtet, an dem Jahrtausende die
Weisesten der Erde bauen sahen!
‒ ‒ ‒
Es müßten kommende Jahrtausende
vergehen, sollte es dereinst erneut
errichtet werden, so dies möglich wäre,
läge es in seinen Trümmern! ‒ ‒ ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
*
27 Die Ehe
ZWEITES KAPITEL
VON DER LIEBE
SO, wie der Ehe heilighoher Bund,
wie ich ihn sehen lehren will, vor
allem in der Liebe sich vollendet, und
ohne Liebe nicht bestehen kann, ‒ so
sei auch hier, vor allem Anderen, nun
der Liebe ein Betrachtungswort geweiht.
Es wird die Rede sein zuerst von einer
Form der Liebe, die zwar im Irdischen
zur Wirkung kommt, doch tief im
Geiste gründet. ‒
Auch im Tiere ist diese Liebe zu finden,
wie in allem, was lebt!
Jedoch, das Tier vermag es nicht, die
Geistbegründung dieser Art der Liebe
zu erfühlen, und so bleibt es beschränkt
auf Trieb und Brunst, ‒ auf dumpfes
Suchen seiner Mutterschaft und Sorge
für denWurf”. ‒
31 Die Ehe
Nur allzuoft ist aber leider auch der
Mensch der Erde ganz in gleicher Weise
seiner Tierverhaftung Sklave: ohne
jede Sehnsucht, sich als Herr und Mei
ster seiner Tierheit zu bewähren...
Erbarmen faßt den Sehenden, erblickt
er solche Schmach an Wesen seiner
Art, ‒ sieht er die jämmerliche Selbst
erniedrigung, die sich genügen läßt an
geiler Lust und viehischem Behagen,
wo Macht gegeben ist, die göttlich
reinsten Freuden zu erleben! ‒ ‒
So mancher aber, der zwar nicht die
tiefsten Gründe allen Daseins offen sah,
jedoch in sich die Ahnung von der Würde
seines Menschtums trug, ward seines
Ekels nicht mehr Herr, sah er den Men‐
schennamen solcherart entweiht. ‒
32 Die Ehe
Er wähnte nun, daß alle Liebe, die der
Tierheit Kräfte auslöst um sich zu er‐
leben, auf gleicher abgrundtiefer
Stufe stehen müsse, und konnte nicht
mehr fassen, daß auch der Tierheit
Trieb dem Geiste Anlaß eigenen Er
lebens werden kann...
Fluchend grollte er dem Schicksal, das
ihn zwang, in seinen Adern „Tierisches
zu fühlen, dem er sich niemals ganz ent‐
winden konnte. ‒ ‒
In solcher Wirrnis qualbefangen, über‐
gab er sich alsdann dem Wahn, daß alle
Liebe, die sich in ihm irdisch-tierhaft
äußern wolle, eine Ausgeburt der Hölle
sei, und seine Seele zu vernichten
drohe. ‒
Wo hätte er auch die Belehrung suchen
sollen, die seiner Selbstqual Auflösung
geschaffen hätte durch Erkenntnis?!?
33 Die Ehe
Die Einen suchten nur sein Wähnen zu
bestärken, da sie selbst im gleichen
Wahn befangen waren, ‒ die Anderen
‒ ‒ verlachten ihn...
Die aber selbst das Glück des seligsten
Gewährens kannten, ‒ das Glück der
Liebe, die dasTierder Gottheit
eint: die alle „Ächtung” von ihm nimmt,
indem sie seine Triebe läutert und zum
Dienste seelischen Erlebens schult,
‒ wußten nur selten über das zu reden,
was ihnen heiligste Erfahrung war.
‒ ‒ ‒
Wo aber wird Belehrung mehr ent‐
behrt, als auf den Wegen durch der
Liebe irdische Gefilde, da allenthalben
giftgeschwängerte Gewächse in den
gleichen gluterfüllten Farben sprießen,
34 Die Ehe
wie jene reinsten Blütenkelche, die in
ihrer Tiefe Tau des Himmels bergen!?
‒ ‒
Man wird nicht lange suchen, will man
Menschen finden, die nur ironisch
bitter lächeln können, hören sie die
Liebe preisen...
Man wird die Ehen leichthin zählen
können, in denen Mann und Weib in
solcher Art die Liebe kennen, wie sie
jede Menschenehe kennen sollte! ‒ ‒
Die Einen glauben, wahre Liebe müsse
sich allein im Seelischen erschöpfen
lassen, und ihre Leiber werden ihnen
gegenseitig fast zum Greuel, da sie eben
doch noch Anderes heischen...
Die Anderen aber glauben ihre Liebe
nur in der Befriedigung der Triebe
zu genießen, bis sie zuletzt in Über
35 Die Ehe
sättigung sich voneinander wen
den. ‒ ‒
Beides ist freilich nicht die rechte Art,
um jene Form der Liebe zu erleben, die
eine wahre Ehe braucht!
Die Liebe, die allhier allein Erfüllung
geistigen Gesetzes schafft, will weder
Geistiges, noch Tierhaftes in ihrer
Auswirkung entbehren.
Das durch die Tiernatur des Erdenmen‐
schen aber einmal nun Gegebene, soll
keineswegs nur tierisch, „viehisch”,
ausgekostet werden, sondern, vom Gei‐
stigen durchdrungen und dadurch ver
wandelt: ‒ selbst ins Geistige er
hoben, ‒ zu Bewußtsein kommen.
So sollen Mann und Weib, in geistig
körperlicher Einung, sich ineinander
36 Die Ehe
nun erkennen, wie Mann und Weib
im Göttlichen vereinigt waren, einst
vor dem „Fall” in diese physisch-sinn‐
liche Erscheinungswelt, ‒ und wie das
Männliche dem Weiblichen erneut ver‐
einigt wird, sobald erst beide Mensch‐
tumsteile die Erlösung sich erwirkten
in der Geisteswelt...
Für diese Worte wird dem geilen Wüst
ling ganz in gleicher Weise das Ver
ständnis fehlen, wie dem Asketen, der
in jeder Regung seiner ‒ durch ihn
selbst allein beschmutzten ‒ Tiernatur,
nur „teuflischeVersuchung wit‐
tert. ‒ ‒
Die aber Ähnliches, wie das, was meine
Worte darzustellen suchen, auch nur
einmal in sich selbst erfahren haben,
37 Die Ehe
werden wahrlich wissen, was die Worte
meinen! ‒ ‒ ‒
Wer aber auch nicht aus Erfahrung
weiß, von welchem heiligen Myste
rium, ‒ erlebbar in der körperlichen
Leibvereinung, ‒ ich hier rede, der wird,
so er nur reinen Herzens ist, erahnen
können, was er dann erst wissen kann,
wenn er es selbst erlebt! ‒
Jegliches Weib, und jeder Mann, wird
nur in diesem, hier auf Erden höchsten,
körpersinnlich-geistigen Erleben
neuer Einheit die Erfüllung finden,
die ‒ ohne jeden schalen Rest an
unbefriedigter Empfindung ‒ erst
völlig jenes heiße seelisch-körper
liche Sehnen stillt, das die Geschlech‐
ter, ‒ wo nicht Tierbrunst nur Befrie‐
38 Die Ehe
digung erheischt, ‒ in Liebe bis zum
Selbstvergessen, zueinander zieht!
‒ ‒ ‒
Doch nur in einer wahren Ehe, die Mann
und Weib in neuer Einheit faßt, und ‒
mindestens dem ernsten, festen Wil
len nach ‒ für beider Lebenszeit ge‐
schlossen wurde, kann sich Geschlechts‐
vereinigung zu solcher Höhe heben,
da hier nur jene Einheitsform im we
senhaften Geiste sich gestaltet fin
det, die so erlebbar wird. ‒
Immer aber wird nur höchste Zucht
der Sinne, höchste Zucht der Phan
tasie, das Unbegreifliche: Ereignis
werden lassen im Erleben! ‒ ‒ ‒
Gewiß ist das Kind jeder wahren Ehe
Ziel und Wunsch!
39 Die Ehe
Und dennoch ist, nach geistigem Ge
setz, das durch die Ehe zur Erfüllung
kommen will, ‒ die Zeugung und Ge
bärung neuen Lebens erst der zweite
Zweck der ehelichen Einung! ‒ ‒ ‒
Ihr erster ist die Bildung einer neuen
Geisteseinheit, in der sich Teil und an‐
derer Teil zu jenem Ganzen ineinander‐
schmelzen, das nur auf geistig-kör
perliche Weise für den Menschen dieser
Erde noch empfindbar ist, ‒ dann
aber auch, in Auswirkung des so Er‐
lebten, ‒ dem ganzen Dasein einen
Kräftezuwachs schafft, den nur das
geistige Ganze spenden kann, und den
kein Teil, wie immer er sich strebend
recken mag, für sich allein erreicht!
‒ ‒ ‒
So ist die Ehe, schon um der in ihr
allein nur möglichen Erfüllung allen
40 Die Ehe
Sehnens reiner geistig-körperlicher
Liebe willen, eine hohe Hilfe auf dem
Wege zur Vollendung, ‒ eine tief
geheimnisvolle Vorbereitung auf
die Rückkehr in das Reich des we
senhaften Geistes, ‒ eine Pforte,
die zu seligstem Erahnen überer
denhaften Lebens alle jene führt,
die willens sind, den Schlüssel zu
gebrauchen, der ihnen hier in diesem
Buche dargeboten wird! ‒ ‒ ‒
Wäre der Erdenmensch nur wesenhafte
Geistgestaltung, so würde wahrlich
alles, was die Ehe ihm erlebnisnahe
bringt, auch nur in seiner Geistgestalt
erlebbar sein.
So aber ist der Mensch, der einst aus sei‐
nem hohen, göttergleichen „Leuchten
fiel, um sich in physisch-sinnlicher Er‐
41 Die Ehe
scheinungswelt nun zu erleben, ‒ ‒
wie er vermeinte: als sein eigener,
seinem Ursprung nicht mehr einge
borenerGott”, ‒ ‒ allhier dem Tie
rischen verhaftet worden, so daß ihm
alles, was er noch im Geistigen emp‐
finden will, nur faßbar wird in leib
hafter Empfindung durch der Tierheit
ihm vertraute Kräfte. ‒ ‒
Und fühlt er sich, ‒ obwohl ihn nur des
Erdentieres Körper trägt, solange er auf
Erden lebt, ‒ in eitlem Wahn dem Tier‐
haften enthoben, so trügt er nur sich
selbst und hindert seine eigene Ent
faltung, vermeintlich „geistiges” Er‐
leben kennend, das ‒ ‒: nur des
Tieresirrgeleitetes Empfinden
ist! ‒ ‒ ‒
Nichts aber schützt vor solcher Irre
leitung tierhaften Empfindens wir
42 Die Ehe
kungsvoller, als die rechte Ehe, in der
die geistig-körperliche Liebe ihre
reinste, höchste Form gefunden hat!
Doch ist die Liebe, die in einer wahren
Ehe alles lenkt und leitet, keineswegs
allein darauf verwiesen, sich ausschließ‐
lich nur in geistig-körperlicher Art
zu zeigen: ‒ gebunden an die Sehnsucht
der Geschlechter, sich zu einen.
Bleibt diese geistig-körperliche Liebe
auch stets Vorbedingung einer ehe‐
lichen Einung, ansonst ein „Ehebund”
zum eklen Spottbild seiner selbst her‐
abgeschändet wird, so überstrahlt doch
auch zu gleicher Zeit die Liebe noch in
anderer Form das Leben zweier Men‐
schen, die sich in der Ehe fanden und um
ihre Zweieinheit im Geiste wissen...
43 Die Ehe
Ich rede hier jetzt von der Liebe ohne
Gegenstand der Liebe: ‒ von einer
Form der Liebe, die des Gegenstandes
nicht bedarf! ‒
Auch sie wird Irdischem nur dann
empfindbar sein, wenn sie durch Ir‐
disches vermittelt wird...
Wenn aber geistig-körperliche Liebe,
wie sie zur Einung der Geschlechter
in der Ehe führt, stets ihren Liebes‐
Gegenstand benötigt, um sich in Ver‐
einungsglut zu fühlen, ‒ ja, wenn selbst
jene Liebe, die das Kind umhegt, und
rückstrahlt auf das Elternpaar, nicht
ohne Gegenstand der Liebe ist, so han‐
delt es sich hier nun um die völlig los
gelöste Liebe, die nichts im Äußeren
begehrt, und auch nicht Gegenliebe
fordert, da sie Erfüllung findet in sich
selbst, wo immer sie im Dasein ist. ‒ ‒
44 Die Ehe
Nicht allzuvielen ist diese Liebe
bekannt!
Nicht allzuoft wird sie im Erdenleben
ausgewirkt!
Und doch ist sie weit häufiger zu fin‐
den, als jene höchste Form der ehe
lichen Liebe, die es vordem zu um‐
schreiben galt!
Schon darum, weil sie durchaus nicht
nur in der Ehe sich allein Erfüllung
schaffen kann...
Es darf jedoch die Ehe, soll sie wahr‐
haft glücklich sein, auch diese Liebe
ohne Gegenstand der Liebe nicht ent‐
behren müssen! ‒
Nicht nur im heilighehren Tempel
ehelicher Lagerstätte, ‒ zu dem die
45 Die Ehe
kleinste, engste, arme Hütte wird, in der
sich Mann und Weib vereint in jener
höchsten Form der geistig-körper
lichen Liebe finden, ‒ wirkt sich das
Leben zweier Ehegatten aus!
Die wahre Ehe ist Gemeinsamkeit des
Lebens in der weitesten Bedeutung
dieses Wortes!
Es läßt sich aber dieses Erdenleben nicht
gemeinsam führen, ohne beiden Teilen
stets auf Schritt und Tritt zu zeigen, daß
sie trotz aller geistig-körperlichen
Einung, doch in der Außenwelt noch
zwei getrennte Teile eines Geistes
Ganzen bleiben, deren jeder von Na‐
tur aus eigenen Gesetzen unterordnet
ist. ‒ ‒
Zwei Eigenleben stehen sich auf solche
Weise gegenüber, und sollen doch in
46 Die Ehe
einem neuen Leben der Gemein
samkeit vereinigt werden!
Sie müssen diese Einung ebenso er‐
reichen, ‒ wollen sie ihr Glück nicht
von sich jagen, wie sie in ihrer geistig
körperlichen Liebe eine neue Einheit
wurden...
Hier aber ist die geistig-körperliche
Liebe nicht mehr tauglich, Einung zu
bewirken, ‒ und so liegt hier die Wur‐
zel jenes Wahnes bloß, der da vom an‐
geborenen „Hasse der Geschlechter
zu orakeln weiß. ‒
Ach nein, meine Freunde, ‒ wahr
lich, solcher Haß ist nicht begründet
im Geschlecht an sich, wenn er zu‐
weilen dort sich zeigt, wo Menschen
im Zusammenleben sich begegnen,
47 Die Ehe
die verschiedenen Geschlechtes sind!
‒ ‒
Stets handelt es sich dann nur um den
Widerstreit erotischen Vereinungs
willens gegen jenen anderen Willen,
der den Teil allein als Ganzes aner‐
kannt, und seines Eigenlebens Norm
allein in Geltung sehen möchte!
Aus solchem Widerstreit kann dann ein
Haß erstehen, den man sehr zu Unrecht
so zu deuten sucht, als sei er schon
naturgegeben im Geschlecht!
Ihn aber zu besiegen ist nur jene Art
der Liebe fähig, die nicht durch einen
Gegenstand der Liebe erst entzündet
wird, und die sich auswirkt, ohne einen
Gegenstand zu suchen, da sie in sich
selbst Erfüllung ist. ‒ ‒
Nur diese Liebe um der Liebe willen
lehrt auch stets die rechte Weise fin‐
48 Die Ehe
den, nach der sich Teil und anderer
Teil in einer Ehe immerdar zu for
men und zu schleifen suchen müssen,
wollen sie in Lebenseinheit zuein
anderpassen! ‒ ‒
Selbst manche sogenannte „Ehe”, die
von der wahren Ehe nur den Namen
borgt, wird oftmals noch zu einer leid‐
lichen Gemeinsamkeit geformt, wenn in
dem einen dieser Ehegatten, oder gar
in beiden, etwas von der Liebe um
der Liebe willen wirkt, ‒ auch wenn
die geistig-körperliche Liebe nie zu
ihrer höchsten Form gefunden hatte, ja
wenn sie selbst in niederen Formen
kaum vorhanden war...
Sprichwörtlich ist die „heiße Liebe”,
die dann später zum „Erkalten” kam!
49 Die Ehe
Doch: ‒ echte Liebe kann niemals „er
kalten”, weil sie nur dort entzündet
wird, wo ihre helle Lichtglut uner
schöpflich reiche Nahrung findet! ‒ ‒
Sie kann zum wilden Feuer werden,
aber niemals, ‒ möge man sie auch
mit allen Mitteln zu ersticken su
chen, ‒ kann sie verlöschen: kann sie
zum Erkalten kommen!
Was solcher Glut der Liebe aber nicht
entspricht, mag sinnlicher Rausch sein,
oder eine künstlich aufgestachelte
Erotik, ‒ mag Freundschaft miß
verstehen, mag Bewunderung,
mag Dankbarkeit vielleicht in „Liebe
fälschen, ‒ ‒ mit echter Liebe aber hat
dann dieses Fühlen nur das Wort ge‐
mein...
Niemand soll sich viel verwundern,
50 Die Ehe
wenn hier Pseudo-Liebe früher oder
später zum „Erkalten” kommt!
Nie aber darf derartig aufgenährtes
Scheingefühl in einem Menschen so zur
Macht gelangen, daß er sich selbst
betört und überredet, als sei der Un
terbau gegeben, eine Ehe aufzurich
ten! ‒ ‒
Unsägliches Unglück würde auch ver
mieden, wollten Mann und Weib, die
sich im Leben irgendwie begegnen, nicht
gleich aus jeder leisen Regung der
Erotik einen Fetisch machen, den sie
ihre „Liebe” nennen!
Es ist naturbegründet, daß zwischen
jedem Mann und jedem Weibe Schwin
gung der Erotik stets vibriert, und sei
auch dieses feine, stetige Vibrieren
51 Die Ehe
unsichtbarer Kräftewellen, ‒ wie
bei allen Menschen seelisch reiner Art,
so leise, daß es im Bewußtsein
völlig unbeachtet bleibt.
Gefahr liegt hier nur dadurch vor, daß
ungefestigte Naturen, deren Phan
tasie nicht ahnt, was Zucht und Herr
schaft eines reinen Herzens heißt,
an solcher leisen Schwingung schon die
Freude der Berauschung suchen, von
sich aus stetig dann die Schwingung
steigern, und nicht eher ruhen, als bis
aus Übersteigerung: ‒ Begehren wird...
Dieses Begehren aber nennen sie dann
Liebe”, und leiten gar das Recht, ein
eheliches Bündnis zu erstreben, aus
solcher Ausgeburt haltloser Phanta
sie-Entartung ab, ‒ um Wüstenweite
ferne jeglicher Oase des Verantwor
tungsbewußtseins, ‒ fast monoma‐
52 Die Ehe
nisch nach Erfüllung des Begehrens
strebend, ‒ um schließlich, nach Errei
chung ihres Zieles, dem einst so heiß
begehrten anderen Teil der so erstreb‐
ten „Ehe” jede Neigung zu entziehen,
da ja längst schon wieder anderes Be‐
gehren lockt...
Ich brauche kaum zu sagen, daß es sich
in solchen Fällen meistens nur um Män
ner handelt, die das Weib begehren,
denn selten nur ist auch die Phantasie
des Weibes so entartet, daß sie das
Weib die gleichen Wege gehen heißt.
Wer anders über Weibesart Bescheid
zu wissen glaubt, der möge sich erinnern,
daß seine Weisheit solchenfalles
sicherlich von ‒ ‒ Männern stammt,
die allzuunverhohlen ihre Wesensart
am liebsten auch im Weibe wiederfinden
53 Die Ehe
möchten, ‒ es sei denn, daß er selber
nur die Dirne kenne, und Dirnenart
in jedem Weibe wittere! ‒ ‒
Gar vielfach aber läßt sich leider auch
das Weib verleiten eine „Ehe” ohne
Liebe anzustreben, um später in die
Klage auszubrechen, daß es „kein Glück
in seiner „Ehe” finde.
Doch schafft das Weib sein Unheil meist
aus anderen Gründen, und vielfach sind
sie weit verzeihlicher als die des
Mannes. ‒
Ehrgeiz, den Mann, den es bestaunt
in irgend einer Leistung, sich vor an
deren zu erringen, ‒ der Wunsch,
versorgt” zu sein, oder dem allzu
strengen Elternhause zu entfliehen,
‒ das sind zumeist die Gründe, die das
54 Die Ehe
Weib bestimmen können, eine „Ehe”
einzugehen, ohne Liebe zu empfinden,
wenn nur die Schwingung der Erotik
soweit steigerbar erscheint, daß sie
ihm einen sinnlich-äußeren Ersatz für
Liebe bildet. ‒
Auf welcher Seite aber auch die Schuld
am schwersten lasten möge: ‒ stets
wird ein solcher „Lebensbund”, der oft
kaum Jahre schlecht und recht noch
überdauert, nur arges Zerrbild einer
wahren Ehe sein! ‒ ‒
Das geistige Gesetz, das unerbittlich
fordert, daß man ihm genüge, wo sich
Mann und Weib zur Ehe einen wollen,
ist nicht zu „biegen” und zu „brechen”,
wie man eine „Ehe” biegt und bricht,
die da in Wahrheit keine ist, und nie‐
55 Die Ehe
mals eine war, wenn solches sich ereig‐
nen kann, ‒ auch wenn die beiden Ehe‐
gatten einstmals glaubten, daß sie die
Ehe eine, und es solange glauben
mochten, bis dann Prüfung dieser Ehe
Unterbau erprobte. ‒ ‒ ‒
Wo darum wahre Ehe werden soll,
dort frage man vor allem nach der wahren
Liebe! ‒ ‒ ‒
Sie ist gar leicht zu erkennen, und
unmöglich wird es ihr, sich zu ver
bergen! ‒ ‒ ‒
Man kann sich aber niemals früh genug
aus Träumen reißen, die eine Pseudo
Liebe hätscheln wollen, und niemals
kann man streng genug sich selber
jedes Tun verweisen, das einen Ne‐
benmenschen, der, gefühlsbetört, in
56 Die Ehe
solcher Pseudoliebe sich gefällt, auch
noch in seinem Wahn bestärken
könnte...
Doch, wahre Liebe ist nicht nur „Ge
fühl”, und nicht im Fühlen läßt sie sich
erschöpfen! ‒
Liebe ist vor allem Kraft! ‒
Wer sie mißbraucht, kann diese gleiche
Kraft im ‒ Hasse kennenlernen!
Dort wirkt sie dann in ihrer Selbst
verzerrung...
Wer aber Liebeskraft in ihrer höchsten
und erhabensten Entfaltung in sich
selbst empfindet, der strahlt Liebe
aus und wird sie sicherlich auch dort
erwecken, wo sie noch im Schlafe ruht,
sobald er fühlt, daß ihm der Mensch be‐
57 Die Ehe
gegnet ist, den ihm sein Schicksal zube‐
stimmte, um in einer wahren Ehe sich mit
ihm zu einen. ‒ ‒ ‒ ‒
Wo beide Teile fühlend voneinander
wissen, daß sie echte Liebe eint, dort
soll wahrhaftig aus der Liebe auch die
Ehe aufgerichtet werden!
Glückselig jede Ehe, die auf solchem
Fundamente baut!
Sie wird durch keinen Sturm, der sie um‐
tost, erschüttert werden, und keine
Brandung kann sie jemals unter
wühlen!
*           *
*
58 Die Ehe
DRITTES KAPITEL
VON DER GEMEINSAMKEIT
AUCH das allerengste Beieinander
leben zweier Eheleute schafft noch
lange nicht Gemeinsamkeit, während
sie dort gar oft besteht, wo Mann und
Weib ‒ sehr gegen Wunsch und
Willengezwungen sind, meist lange
Zeit in äußerer Entfernung zu ver
harren: nur kurz und selten unter glei‐
chem Dach vereint. ‒
Wenn aber auch Gemeinsamkeit nicht
abhängt von der steten Bindung an die
gleichen Räume, so wird doch jede wahre
Ehe Raumgemeinschaft zu erstreben
suchen, wo immer dies mit der gebotenen
Sorge für des Lebens Notdurft, mit den
Pflichten, die Beruf und Stand erheischen,
zu vereinen ist.
Aber ein Anderes ist das Beieinander
leben in den gleichen Räumen, nur weil
61 Die Ehe
man das Alleinsein nicht erträgt: die
Gegenwart des Anderen nicht missen
möchte, ‒ und wieder ein Anderes ist
Gemeinsamkeit! ‒
Gemeinsamkeit ist Einung zweier
Menschen, auch in allem Denken, al
lem Fühlen, allem Handeln!
Sie wird nicht durch das nahe Beiein‐
anderleben etwa erst erzeugt!
Wo innere und äußere Gemeinsamkeit
nicht schon bestand, bevor man Raum‐
gemeinschaft suchte, dort kann das enge
Beieinanderwohnen, statt Gemeinsam‐
keit zu fördern, ihr die grimmigsten
Gefahren schaffen. ‒ ‒
Es ist darum für Alle, die sich in der Ehe
einen wollen, bitter nötig, nach Ge
meinsamkeit, im hier gemeinten Sinn
62 Die Ehe
zu streben, noch bevor sie ihre Ehe
schließen! ‒
Wie vieles Unheil wäre schon verhü
tet worden, hätte man zur rechten Zeit
erkannt, daß diese Forderung sich nicht
umgehen läßt, statt sorglos sich dem
falschen Glauben hinzugeben, daß Ge
meinsamkeit, wie sie vonnöten ist in
jeder wahren Ehe, sich ganz von selbst
im Eheleben finde! ‒ ‒
Das Streben nach Gemeinsamkeit in
allem Denken, allem Fühlen, allem Han‐
deln, wird aber niemals zu Erfolgen füh‐
ren, dort, wo der eine Teil den anderen
stets durch Wort-Turniere überzeu
gen will, daß er nur seiner Ansicht sich
bequemen müsse, um allsogleich „Ge‐
meinsamkeit” mit ihm zu haben...
63 Die Ehe
So kann der eine Teil gewiß den anderen
ermüden, und ihn dann endlich zwin
gen, um des lieben Friedens willen, sich
zu fügen, allein, was so zustande‐
kommt, ist alles andere eher, als Ge
meinsamkeit, und früher oder später
hinkt die böse Folge nach!
Nie kann ein Zwang, ‒ und sei es selbst
der „süße Zwang der Liebe”, ‒ in
einer Ehe die Gemeinsamkeit begrün‐
den, die ihr nicht minder nötig als die
Liebe ist!
Willst du, o Liebender, Gemeinsam
keit zu schaffen suchen, die dich mit dem
geliebten Menschen, dem du in der Ehe
dich vereinen willst, hinfort nun auch
in allem Denken, allem Fühlen, allem
Handeln einen soll, dann wirst du dich
64 Die Ehe
vor allem selbst an straffem Zügel
halten müssen!
Du mußt dich selber in die „hohe Schule”
nehmen, damit du zu Beweglichkeit ge‐
langst und dich auch anderer Gangart
anzupassen lernst!
Bisher warst du dir selbst das Maß
der Dinge!
Ob du vom Elternhause her die Art
des Denkens, Fühlens, und des durch
Beides dann bestimmten Handelns,
übernommen haben magst, die dir nun
eignet, oder ob du selbst dich Schöpfer
der Maximen deines Lebens weißt, ‒
stets bist du nur zu sehr geneigt, dein
eigenes Ermessen sehr zu überwer
ten, und alles, was dir auch entgegen‐
treten mag, durch deine selbstgefärb
te Brille zu betrachten. ‒ ‒
65 Die Ehe
Hier aber steht, mein Freund, nunmehr
ein zweiter Mensch vor dir, dem es
kaum anders gehen mag, und der in
gleicher Weise alles nur durch seine
Brille sehen möchte!
Ihr werdet beide euch entschließen
müssen, eure „Brillen” abzulegen, auch
wenn sie euch bisher die Dinge in den
denkbar schönsten Farben zeigten,
so daß ihr jetzt kaum glauben wollt,
daß man sie offenen Auges auch noch
anders sehen könne...
Ihr werdet aber nicht erwarten dürfen,
daß ihr von heute auf den anderen
Tag euch schon verstehen lernen könn‐
tet, denn: wenn ihr auch die gleichen
Worte braucht, so redet ihr doch stets
von anderen Dingen, weil jeder noch
66 Die Ehe
die Dinge nur nach seiner Weise sieht,
und nur nach seiner Weise sie bezeich‐
nen kann!
Es wird euch ja noch kaum recht glaub‐
haft scheinen, daß wirklich jedes Ding
in jedem von euch beiden anders zu
Bewußtsein kommt!
Noch glaubt ihr, von dem gleichen Ding
zu reden, und redet doch von völlig
Anderem, da jeder nur von seinem
Bild des Dinges redet! ‒ ‒
Hier ist Geduld vonnöten, die sich nicht
erschüttern läßt, wenn man sich einstens
in der gleichen Weise des Betrachtens
finden will!
Es wird hier jeder Teil erst zur Er
kenntnis kommen müssen, daß seine
Art zu sehen, ‒ mochte sie ihm auch
67 Die Ehe
bisher als Norm erscheinen, ‒ keines
wegs die einzige, ihm mögliche Be‐
trachtungsweise darstellt...
Auch wird man nicht allein die Worte
hören dürfen, sondern stets auch zu er‐
fühlen suchen müssen, was der Andere
mit seinen Worten meint, und ob sich
dies auch ganz mit jenen Dingen decke,
die man selbst mit gleichen Worten
meinen würde. ‒
Zu oft nur hört man Menschen bitter
streiten, weil sie Gegensätze zu er‐
kennen glauben, die als unvereinbar
gelten, wo nur das falsch gewählte Wort
den Anschein schafft, als seien Gegen‐
sätze aufzufinden.
Und oftmals glauben Menschen sich durch
eine „tiefe Kluft” getrennt, wo nur die
68 Die Ehe
Nacht der Nichterkenntnis solchen
Trug ermöglicht, weil sie zu sehen hin
dert, daß die scheinbar „tiefe Kluft” nur
ein willkürlich, und mit sehr bezweifel‐
barem Rechte, ausgehobener seichter
Graben ist, den man mit Leichtigkeit
zu überschreiten wüßte...
Mit unbeirrbarer Gelassenheit und
liebevollem Geltenlassen aber, wird
man auch dort zuletzt doch zuein
anderfinden, wo wirklich Gegensatz
besteht: wo wahrhaft eine „tiefe Kluft
für immerdar zu trennen schien, weil
man erst lernen mußte, sie zu über
brücken. ‒ ‒ ‒
Gemeinsamkeit in allem Denken, al‐
lem Fühlen, allem Handeln, schafft jeder
Ehe eine hohe Mauer sicherster Be
schützung!
69 Die Ehe
Ehe verträgt es nicht, daß sie im Außen‐
leben ohne sichere Umhegung bleibe!
Die Lebenseinung zweier Menschen in
der Ehe darf niemals allen Winden,
jedem Wetterwüten, jeder Überflu
tung offenstehen! ‒
Wie immer auch zwei Menschen, die sich
in der Ehe fanden, Geselligkeit und
heiteren Verkehr mit anderen Men
schen suchen mögen, ‒ stets muß die
sichere Umhegung ihnen fühlbar blei‐
ben, und niemals darf der heilige Be‐
zirk, der ihnen nur allein gehört, vor
Anderen eröffnet werden! ‒ ‒ ‒
Auch hier ist, ‒ wie bei jeglichem Ver‐
hältnis menschlicher Verbundenheit, ‒
das Schweigenkönnen eine rechte
„Kunst”, die jeder zu erlernen hat, der
sie noch nicht beherrscht! ‒ ‒ ‒
70 Die Ehe
Was nur die Eheleute selber angeht,
hat niemals laut zu werden vor den
Ohren Anderer, und wenn die Ande‐
ren auch die nächsten Freunde und
Verwandten, ‒ ja selbst die Eltern
wären! ‒ ‒ ‒
Sehr zweifelswürdig bleibt die
Hilfe”, die man vielleicht auf solche
Weise finden mag, ‒ auch wenn die
Menschen, denen man sich so vertraut,
den redlichsten und reinsten Willen
haben, wahre Hilfe darzubieten!
‒ ‒
Weit öfter, als man wirklich Hilfe fin‐
det, wird das Unheil, dem man wehren
wollte, nur genährt, so daß es erst zum
Wachsen und zum rechten Wuchern
kommt, obwohl es anfangs schnell im
Keim erstickt gewesen wäre, hätte man
71 Die Ehe
sich selbst bemüht, es zu ersticken, und
nicht den Anderen vorgeklagt, wie
sehr man schon darunter leide! ‒ ‒ ‒
Doch auch sein Glück soll man für sich
verwahren und nicht in eitler Rede zum
Verströmen bringen! ‒
Auch nicht in Worten soll man es mit
Anderen teilen wollen! ‒ ‒
Es geht nur beide Eheteile an, wenn
sie, als geistgeeintes Ganzes, sich ihr
Glück zu schaffen wußten...
Vor allem aber sei man auf der Hut, den
Neid zu wecken, der ‒ oft nur künst
lich eingeschläfert ‒ sich gar leicht
erwecken läßt, wenn eine redefrohe Zunge
allzusehr ein Eheglück lobpreist! ‒
Man schädigt sonst den Neider, wie
72 Die Ehe
sich selbst, da Neid stets eine Kraft
zur Wirkung bringt, die das verneint,
was Neid erregte, und die sich gegen
Neider und Beneideten in gleicher
Weise richtet, da sie den Wert ver
nichtet sehen will, den der Beneidete
besitzt, der Neider aber nur zu gern
besitzen möchte...
Ist aber schon bei Glück wie Unheil‐
drohung: Schweigen angezeigt, so
schweige man erst recht, wo platte,
widerliche Witzelei und ein im „Hän‐
seln” Anderer sich sielendes Behagen,
die Ehe in den seichten, trüben Tüm‐
pel kläglich-armer Geistverlassenheit
herabzuziehen suchen, um meckernd
ihre Hintertreppenweisheit anzubringen
und in Bierbankblödigkeiten sich genug‐
zutun!
73 Die Ehe
Jeder der dies liest, wird unschwer wis‐
sen, was ich meine...
Nur glaube man nicht, daß solche öde
Witzelei doch wohl zu dulden wäre,
wenn sie Menschen üben, die sich
gewiß nicht vorzuwerfen haben,
daß sie je im Ernst die Heiligkeit
der Ehe angetastet hätten!
Das Heilige darf nie zum Stoff des
schalen Witzes werden, wenn es der
Meltau der Zersetzung nicht berühren
soll, und selbst der gütigste Humor
wird sich hier Zügelung gefallen lassen
müssen, auf daß er nicht zerstöre, was
er nicht zerstören will! ‒ ‒
Heilig bleibt dem Menschen nur, was
er als „heilig” noch empfinden kann:
‒ was stets bewahrt bleibt vor er
niedrigenden Worten, und unan
74 Die Ehe
tastbar aller Lebensäußerung ent
rückt, die nicht mit Ehrfurcht ihm zu
nahen weiß...
Der heilige Bezirk, den nie ein ande
rer Mensch betreten darf, als nur
die beiden Ehegatten, ist aber wahr‐
lich weiter ausgesteckt als ihres Schlaf
gemaches Wände!
Es wird von ihm so manches noch um‐
schlossen, was durchaus nicht an und
für sich schon Verborgenheit erfor
dern würde...
Gemeinsamkeit will manches vor der
Außenwelt verborgen wissen, auch
wenn es nicht die Ehe selbst be
trifft. ‒
Gemeinsamkeit braucht unverbrüch
liches Vertrauen, und fordert, daß man
75 Die Ehe
jederzeit vor dem vereinten Men
schen stehen könne, wie vor sich
selbst! ‒ ‒ ‒
Gemeinsamkeit kennt keinen Spott
und kein Verhöhnen!
Gemeinsamkeit weiß nichts von liebe‐
leerem, überheblichen Verlachen!
Gemeinsamkeit ist stets darauf be‐
dacht, daß man sich gegenseitig schone:
‒ seine Schwächen zu bedecken suche,
und sich Hilfe biete!
Ein Leben in Gemeinsamkeit ist nur
zu führen, wenn beide Ehegatten wis
sen, daß keiner etwas, das er vor sich
selbst gesteht, dem anderen verber
gen muß. ‒ ‒ ‒
Nur so kann die Gemeinsamkeit zu
einer äußeren Schule innerer Voll
endung werden!
76 Die Ehe
Liebe und Nachsicht werden aber we
nig nur vermögen, solange nicht die
absolute Sicherheit besteht, daß dieser
Schule Pforte stetig fest verschlossen
bleibt, und sich nur beiden Menschen
öffnet, die in ihr sich gegenseitig
durch ihr Leben zu belehren suchen!
Es muß erst völlig alle Furcht verschwin‐
den, daß eines Tages unbehütet leichte
Rede Andere von Dingen hören lassen
könne, die man in Gemeinsamkeit be
schlossen glaubte!
Niemals darf die Gefahr bestehen, daß
Anderen zu Ohren kommen kann, was
Ehegatten gegenseitig sich ver
trauten!
So manche werdende Gemeinsam
keit ist schon durch unbedachte Rede
früh vernichtet worden! ‒ ‒ ‒
77 Die Ehe
Gemeinsamkeit erstreckt sich aber end‐
lich auch auf alles Ungemach und Leid,
von dem man seinen anderen Eheteil be‐
troffen findet, auch wenn man selbst nicht
mitbetroffen ist und auch den Anlaß
der Bedrückung nicht in gleicher Weise
wertet, ‒ sei es, daß man den Um
fang seiner Auswirkung nicht kenne,
sei es, daß man anders ihn empfin
den möge.
Hier ist das Tragenhelfen oftmals gar
nicht möglich, aber immer wird das
Tragenhelfen-Wollen möglich sein und
dem von Leid Betroffenen Erleichte
rung gewähren. ‒ ‒ ‒
Man sage sich nicht los von solcher
willigen Bereitschaft, auch wenn man
sicher weiß, daß man nicht helfen kann,
denn schon der Wille, Hilfe darzu
78 Die Ehe
bieten, wird dem Anderen Hilfe bringen
helfen! ‒ ‒ ‒
Auch läßt sich nicht Gemeinsamkeit er‐
halten, solange einer beider Eheteile
bitterlich empfindet, wie er mit seiner
Last, ‒ sei sie nun wirklich, oder nur
in seiner Vorstellung so drückend
schwer ‒ allein zu Berge gehen muß,
und daß der andere Eheteil an solcher
Not kaum Anteil nimmt. ‒
Es ist gewiß nicht mehr als selbstver
ständlich, daß man des Leides Last ge
meinsam trägt, dort, wo das Schicksal
sie auf beider Ehegatten Schultern bür‐
det, allein, sehr oft verkennt auch
tiefste Liebe ihre Pflicht zur Anteil
nahme, wenn sie sich außerstande
sieht, das Leid, dem nur der Andere
verhaftet ist, in gleicher Weise mitzu
tragen oder auch nur zu verstehen..
79 Die Ehe
Suchst du das Glück der Ehe, dann
strebe nach Gemeinsamkeit in allen Din‐
gen dieses Erdenlebens, die gemein
sam sich erleben lassen, und ziehe
diese Grenze weiter, als der erste
Anschein dich bestimmen könnte, sie
zu ziehen! ‒
Es ist für jeden Teil der Ehe ratsam,
daß er auch dort wo ihn des anderen
Eheteiles Angelegenheiten nicht von
allem Anbeginn her interessieren, in sich
Interesse dafür wecke...
Es ist jedoch nicht minder nötig, daß
man den anderen Eheteil für die ihm
fremden Angelegenheiten einzuneh
men suche und ihm den Zugang öffne,
so daß er sie verstehen lerne...
Doch wisse auch, daß jede Seele ihre
eigenen Bereiche hat, die auch der aller
80 Die Ehe
nächsten anderen Seele sich nicht öffnen
können!
Wisse auch, daß oftmals Pflicht gebietet,
gewisse Dinge in Verborgenheit zu hal‐
ten, und ehre dann, vertrauend, was
deinem Miterleben sich entziehen muß! ‒
Du wirst vertrauen können, wenn in
allem, was Gemeinsamkeit verträgt,
das lauterste Vertrauen zwischen
dir und deinem, in der Ehe dir ge
einten Gegenpole herrscht! ‒ ‒
Hüte dich vor der Neugier, die so gerne
dich verleiten möchte, dich in Bereiche
des Erlebens einzudrängen, zu deren
Pforte man den Schlüssel nicht be
sitzt, oder durch Pflicht gehalten ist,
ihn dir nicht darzureichen! ‒
In einer wahren Ehe wird auch dort, wo
sich das eigene, gesonderte Erleben
81 Die Ehe
der Gemeinsamkeit nicht öffnen läßt,
der so Erlebende gewiß den anderen
Teil hinlänglich noch zu unterrichten
wissen, von welcher Art das jeder
Mitteilung Entrückte ist, so daß auch
hier kein Riß durch innigstes Gemein‐
samkeits-Erleben geht...
Wo gegenseitiges Vertrauen herrscht,
dort wird sich niemals Argwohn zu er‐
heben suchen, auch wenn nur ganz im
Allgemeinen angedeutet wird, um was
es sich bei jenen Dingen handelt, die
nicht ausgesprochen werden können,
oder die durch Schweigepflicht der
Mitteilung entzogen bleiben müssen, ‒
und wahre Liebe wird gewiß nicht wei
terforschen wollen, wo sie erfühlt, daß
ernste Gründe die Verhüllung for
dern...
Doch treibe man auch nicht mit Dingen,
82 Die Ehe
die sich nicht in Worte fassen lassen,
oder die Verpflichtung ein für allemal
dem Wort verwehrt, unnötige und
künstliche Geheimniskrämerei, um so
die Neugier stetig wach zu halten, oder
gar sich selbst mit einem Nimbus des Ge‐
heimnisvollen zu umgeben!
So handelt ärgste Torheit nur, und sol‐
ches Handeln straft sich selbst durch
Folgen, die gewiß sehr weit von seiner
eitlen Absicht liegen...
Wenn wirkliche Gemeinsamkeit be‐
stehen und erhalten werden soll, dann
muß man ehren, und zuweilen auch ver
ehren können, was der Andere ‒ auch
wenn er gerne davon reden würde, so
er könnte ‒ verborgen halten muß!
‒ ‒ ‒
Dann aber läßt man sich an dem ge
83 Die Ehe
nügen, was man sich gegenseitig offen‐
baren kann, und wahrlich: es wird mehr
sein als genug um einer Ehe auch im
innersten Erleben beider Teile die Ge
meinsamkeit zu sichern, die sie braucht,
da ohnehin noch keine Seele hier auf
Erden restlos alles auszusprechen
wußte, was in ihr Erlebnis war! ‒ ‒ ‒
*           *
*
84 Die Ehe
VIERTES KAPITEL
VON LEID UND FREUDE
ES gab noch niemals eine Ehe, die –
allzeit jedem Leid entrückt
nur Freuden kannte.
Leid und Freude mischen dieses Er‐
denlebens ‒ nicht jedem bekömmlichen
‒ Trank, und doch ist es an uns: die
Art der Mischung zu bestimmen, auch
wenn wir leider nicht verhindern können,
daß sich nun einmal Leid mit Freuden
mischen muß!
Besonders aber in der Ehe wird es tief
bedeutsam sein, wie weit sich unsere
Kraft bewährt, das Leid zu mindern
und die Freude zu vermehren...
Gewiß bleibt Leid stets Leid, auch wenn
so manches Wort uns trösten möchte,
als könne Leid sich selbst in Freude
wandeln.
Hier weiß das Wort der Rede nur von
87 Die Ehe
Aufeinanderfolge: ‒ von Leid-Ver
drängung durch der Freude Wieder
kehr!
Allein, wir haben Macht, der Freude
Wiederkehr zu fördern, ‒ wir haben
Macht, der Erde Freuden zu vermeh
ren!
Es ist gewiß nicht nötig, daß man einen
Menschen etwa lehre, Leid zu schaffen,
‒ und auch wenn nie ein Mensch dem
anderen Leid bereitet hätte, wäre
wahrlich Leid genug auf Erden anzu‐
treffen, denn alles, was in dieser Außen
Welt: Erscheinung bildet, hat Da-Sein
nur durch Leid: ‒ vermag sich nur im
Da-Sein zu erhalten, indem es seinet‐
wegen Anderes leiden läßt...
Nur dort, wo Güte: ‒ träumendes
88 Die Ehe
Verlangen, Mitleid: ‒ Wahnwitz
zeugte, kann sich des Erdenmenschen
Denken so ver-messen, daß es die
Weise findbar glaubt, das Leid aus
dieser Außen-Welt, ‒ in der es Folge
ihrer Raum verdrängenden und Eigen‐
Raum verschließenden Struktur ist, ‒
zu verbannen. ‒ ‒
Wo immer Außen-Welt den an sich
homogenen Raum zerstückelt, dort
ist Leid, ‒ und Menschenmacht ver‐
möchte dann nur dieses Leid zu tilgen,
wenn sie imstande wäre, alle „Außen”‐
Welt für immer zu vernichten, womit
jedoch zugleich auch alle „Innen”‐
Welt Vernichtung fände...
Ist aber diese äußerste der „Außen”‐
Welten, die wir, in tierverhafteter Ge‐
staltung, durch den Tier-Sinn wahrzu‐
89 Die Ehe
nehmen uns gezwungen fühlen, auch
erfüllt von Leid, und sind auch weite
unsichtbare Reiche dieser „Außen”‐
Welt noch ganz in gleicher Weise ‒
manche sogar mehr ‒ dem Leide aus‐
geliefert, da auch dort noch alles Da
Sein nur besteht in Raum-Verdrän
gung und in Eigen-Raum-Verschlie
ßung, so stehen doch dem gegenüber
unzählbare „Innen”-Welten, in denen
alles Sein, ‒ dem homogenen Raume
keineswegs etwa entrückt, ‒ sich
gegenseitig öffnet und durchdringt,
so daß hier jede Möglichkeit des Lei‐
den-Könnens völlig fehlt. ‒ ‒ ‒
Nie aber läßt sich eine Welt vom Leid
befreien, die nur bestehen kann durch
Leid, ‒ und alles Mühen Einzelner,
durch Da-Seins-Unterdrückung und
Verzichtleistung auf Da-Sein, dieser
90 Die Ehe
Erde Leid zu mindern, bleibt ergeb
nislos: ist nur des Mit-Leids tröstende
Betäubung...
In diesem Erdenleben ist des Menschen
ganze Macht darauf allein beschränkt,
daß er zwar dieser Erde Leid ins Un
gemessene und niemals Nötige zu
steigern fähig ist, ‒ doch ebenso ver
mag, das Leid zurückzudrängen in die
urgegebenen Bereiche, aus denen es nicht
lösbar werden kann, wenn diese „Au
ßen”-Welt ‒ und mit ihr jede „Innen”‐
Welt ‒ bestehen bleiben soll, und wahr‐
lich „sollen” sie bestehen! ‒ ‒ ‒
Es kann sich jeder Mensch von vielem
Leid befreien, das er in törichter Ver‐
blendung selbst sich schuf, ‒ und
vieles Leid kann er vermeiden, macht
er nur Gebrauch von seiner Kraft!
91 Die Ehe
In gleicher Weise aber hat er Macht,
gar manches Leid von seinen Neben
menschen abzuwenden!
Wo immer Menschen sich begegnen
mögen, dort wird es ihnen Pflicht, ihr
eigenes wie des Nebenmenschen
Leid zu mindern! ‒ ‒
Wenn aber Menschen, die sich nie im
Leben sahen, niemals wiedersehen wer‐
den, hier ein Pflichtgebot erkennen
müssen, so gilt es heiliger und bin
dender fürwahr noch für die innigste
Vereinung zweier Menschen, die in der
Ehe eine neue Lebenseinheit bilden,
um sich gegenseitig durch Er-gänzung
zu vollenden! ‒ ‒ ‒
Und wo ist leichter Leid von seinem
Nebenmenschen abzuwenden, als hier,
wo Weib und Mann in einem Leben der
92 Die Ehe
Gemeinsamkeit von allen Leidgefahren
wissen, die ihnen gegenseitig und ge
meinsam drohen können!? ‒ ‒
Die Ehe kann ein Born der Freude
sein, ‒ man kann sie aber auch zu
einem Pfuhl des Leides wandeln!
Wer nicht des anderen Eheteiles Glück
in seiner Ehe als sein höchstes Ziel er‐
strebt, der wird gar leicht sich um sein
eigenes Glück betrügen, ohne es zu
ahnen! ‒ ‒
Wer aber wirklich in der Liebe ist, der
wird weit eher selber leiden wollen,
als daß er je den anderen Eheteil im
Leide sehen könnte. ‒ ‒ ‒
Es wird ihm nichts beschwerlich fallen,
wenn er weiß, daß er des anderen Tei‐
les Leid dadurch vermindern kann...
93 Die Ehe
Nun aber ist es keineswegs damit
getan, daß man sich nur darauf be‐
schränke, allem Leid zu wehren, dem
man wehren kann! ‒
Erst dort ist höchste, schönste Menschen‐
pflicht erfüllt, wo man das Leid des
Anderen durch Freude, die man in sein
Leben bringt, verdrängt!
Wo aber läßt sich schöner noch, als in
der Ehe, solche Liebespflicht erfüllen?! ‒
Es sind im Leben einer Ehe viele Dinge
aufzufinden, die der Freude Anlaß wer‐
den können, sich zu äußern und ein
großes Leid im Keime zu ersticken...
Doch ist es hier vonnöten, daß man zu
erfühlen suche, was der Andere er
sehnt: was er als Freude zu empfin
94 Die Ehe
den weiß, denn allzuleicht kann hier
auch bester Wille irren, wenn er dazu
verleitet, nur das eigene Empfinden und
Ersehnen als das allgerechte Maß der
Dinge anzusehen. ‒ ‒
Was dir gewißlich höchste Freude
wäre, kann deinem Gegenpole kaum
beachtsam scheinen, und seine Freude
mag vielleicht nur dort erstehen, wo
dein Empfinden völlig unberührt ge‐
blieben wäre...
Wie aber dem auch sei, und wie gar sehr
du auch „daneben greifen” magst, so
darfst du doch in keinem Falle eine
Kränkung” darin sehen, daß dein Be‐
streben nicht zum Ziele führte, weil deine
liebevoll erdachte Freude für den An‐
deren nicht als solche aufgenommen
wurde! ‒ ‒
95 Die Ehe
Soll dir Erfahrung wirklich Nutzen
bringen, dann wirst du mit dir selbst zu
Rate gehen müssen, um am Ende zu er‐
kennen, daß du verabsäumt hattest, dich
in anderes Empfinden einzufühlen,
denn wenn auch innigste Gemein
samkeit euch beide eint, so bleibt doch
jeder von euch beiden noch in seinem,
ihm nur eigenen Empfindungs-Leben,
und dessen Ablaufsrhythmus wird be‐
stimmen, was er, im jeweils sich erge‐
benden Moment, als Freude werten
kann...
Suche also nicht dich selbst, in deinem
Willen, Freude für den Anderen zu
bereiten! ‒
Wer sich stets Freude schaffen will, der
suche stetig seine Freude darin: Ande‐
ren auf ihre Weise Freude zu bereiten!
‒ ‒ ‒
96 Die Ehe
Vergeblich aber wirst du Freude
spenden wollen, solange du noch
Zweifel hegst an deiner Kraft, die
Freude zu erzeugen! ‒
Nie darfst du etwa glauben, daß dir
nicht gelingen könne, was dir, aus
irgend einem Grunde, leider oftmals
nicht gelang!
Du mußt dich selber aber erst zur Freude
stimmen”, bevor du dem mit dir ver‐
einten Menschen Freude bringen willst!
‒ ‒
Nur, wer im Überflusse „hat”, kann
Freude überfließen lassen in den An
deren! ‒
So suche denn vor allem eine Quelle
steter Freude in dir selber zu erschür‐
fen, so daß du unabhängig wirst von
97 Die Ehe
allem äußeren Geschehen, und nicht der
Freude Anlaß erst von außenher er
warten mußt, auch wenn du solchen
Anlaß, wo er sich auch immer bieten
mag, stets nützen sollst! ‒
Du wirst jedoch am besten jene Freude
übertragen können, für die du keinen
Grund im Außenleben anzugeben weißt!
Durch solche Freude wirst du mehr be‐
glücken können als durch jede andere
Art der Freude, die von außenher ver‐
anlaßt wird! ‒ ‒ ‒
Vergesse aber trotzdem auch die klei
nen Freuden nicht, zu denen jeder Tag
dir ja so manchen Wink und Hinweis
bringt!
Achte nichts als zu gering, wenn es dir
98 Die Ehe
dazu dienen kann, auch nur die aller
kleinste Freude zu bereiten! ‒ ‒
Oftmals gebar die kleinste Freude
schon ein großes, lang ersehntes
Glück! ‒ ‒ ‒
Im Leben einer Ehe gibt es täglich „tau‐
send” Möglichkeiten, kleine Freuden
zu er-finden, die gegenseitige Be
glückung bringen, und sei es auch für
kurze Augenblicke nur...
An keiner solchen Möglichkeit darf man
vorübergehen, ohne sie zu nützen! ‒ ‒
Wo immer du das Glück in einer Ehe
dauernd heimisch weißt, dort wirst du
auch bemerken, daß man sehr erfinde‐
risch die kleinen Freuden zu gestalten
sucht, zu denen jede Stunde neuen An‐
laß bringt...
99 Die Ehe
Der gute Gärtner wird in seinem Blüten‐
garten auch die allerkleinsten Blüm‐
lein niemals übersehen, mögen sie auch
recht bescheiden scheinen, neben jenen
hochgestielten Farbenwundern, deren
Beet sie rings umfassen.
So aber ist auch in der Ehe: selbst der
kleinste Freuden-Anlaß nicht bedeu
tungslos, und darf nicht übersehen
werden, will man des ehelichen Blüten‐
gartens schönste Harmonie gestalten!
‒ ‒ ‒
Ist aber Ehe einer Zweiheit wahre Ei
nung, und muß Leid ertragen werden
im Verlauf des Lebens, das oft nur in
Vereinung zweier Willen noch ertrag‐
bar ist, ‒ so bleibt auch Freude zu er‐
streben, wie sie die Zweiheit dann nur
100 Die Ehe
schaffen kann, wenn sie Verschmelzung
fand in neuer Lebenseinheit. ‒ ‒
Hier ist dann jeder Teil der Schen
kende und der Beschenkte, und beide
nur gemeinsam sind imstande, diese
Freude, die der Einheit Farbe trägt, zu
mehren!...
Nur wo der Wille beider Teile völlig
sich geeinigt findet, ist solcherart dem
Leide zu begegnen, und kann in gleicher
Weise höchste Freude aus der Einung
sprießen! ‒
Die Ehe, die hier weiß um ihre Macht,
und sie gebraucht, wird nie im Leide
Schaden nehmen können, und nie an
Freude Mangel leiden! ‒ ‒ ‒
Sie kennt die Kunst, das Leid in seine
engste Grenze einzubannen!
101 Die Ehe
Sie weiß von einer Freude, die auch
alles Leid nicht mehr verdunkeln kann!
Und solche Freude, solche Kraft der
Leidverdrängung wird aus dieser Ehe
auch auf alle anderen Menschen über‐
strahlen, die mit den Ehegatten in Be‐
rührung kommen...
So wird dann diese Ehe segensreiche
Wirkung schaffen, weit über ihren
eigenen Bereich hinaus, und wahrlich
unvergleichlich mehr an Gutem för
dern als so mancher andere Ehebund,
in dem die beiden Ehegatten längst ver
lernten, sich noch gegenseitig Freude
zu bereiten, und von der Freude, die aus
ihrer Einung kommen könnte, keine
Ahnung haben, ‒ weil sie vor lauter
Sorge, anderen Menschen in geschäf
tiger Betätigung zu helfen, nicht mehr
die erste Pflicht erkennen, ihre eigene
102 Die Ehe
Ehe erst harmonisch zu gestalten.
‒ ‒ ‒
Im stärksten Gegensatz zu einer sol‐
chen irrig überwerteten Geschäftig
keit, die ihre Pflicht zur „Nächsten
liebe” bei den Allerfernsten erst be‐
ginnen fühlt, und Andere beglücken
will, derweil sie alles Glück aus ihrem
eigenen Hause scheucht, ‒ wird eine
Ehe, die das Glück der Einheit in der
Freude aus der Einung kennt, kaum
wissen, daß sie Anderen hilft, indem
sie, nur in ihrem eigenen Bereich, das
Leid der Erde mindert, und das den‐
noch unvermeidbar bleibende durch
Freude zu verdrängen sucht. ‒ ‒ ‒
Solche Ehe aber ist ein wahres Heilig
tum der Freude, aus dem noch fernsten,
103 Die Ehe
kommenden Geschlechtern Segen strö‐
men wird! ‒ ‒ ‒
Ein Heiligtum der Freude in der Welt
des Leides aber sollte jede Ehe hier
auf Erden sein, und eine jede Ehe kann
zu solcher Höhe sich erheben, so es nur
nicht am Willen beider Eheteile fehlt,
die reine, hehre Freude zu gestalten, die
nur in der geeinten Zweisamkeit der
Ehe sich gestalten läßt! ‒ ‒
Soll diese Erdenmenschheit einst zu der
Vollendung kommen, die ihr auch hier:
in dieser „Außen”-Welt schon werden
kann, ‒ dann wird allein die wahre Ehe
dieses Wunder wirken müssen: ‒ die
Ehe, die sich selbst in Freude zu
vollenden weiß! ‒ ‒ ‒
Damit sie es auch wirken könne, muß
104 Die Ehe
sie vertausendfacht erstehen, wis
send um die hohe Macht, der Erde Leid
zu bannen und der Erde reinste Freu
den zu vermehren! ‒ ‒ ‒
*           *
*
105 Die Ehe
FÜNFTES KAPITEL
VON
VERSUCHUNG UND GEFAHR
WO Liebe eine Ehe schuf, dort ist
die Einheit beider Eheteile so
gegründet und umhegt, daß selten
nur von außenher noch Störung gegen‐
seitigen Empfindens kommen kann...
Und doch bleibt keine Ehe so geschützt,
daß ihr Versuchung nicht zu nahen
wüßte!
Stets aber wird es sich beim Nahen der
Versuchung zeigen, ob eine Ehe wirk
lich in der echten Liebe wurzelt, oder
ob nur Neigung Mann und Weib zu‐
sammenführte, ‒ Neigung, die auf bei‐
den Seiten auch sehr leicht durch andere
Neigung wieder zu verdrängen ist...
Wo eine Ehe wurzelfest in echter Liebe
gründet, dort wird auch heftigste Ver‐
suchung ihr nicht Schaden bringen
können!
109 Die Ehe
Selbst wenn Versuchung nur durch
schweren Kampf sich noch besiegen
läßt, wird doch zuletzt die Liebe Sieg
erringen, denn alle Kräfte der Versu‐
chung sind nicht fähig, weiter Wider
stand zu leisten, sobald sich echte Liebe
ihrer Kraft bewußt wird, und aus dieser
Kraft heraus bekämpft, was sie be‐
drohen will! ‒ ‒
Trotz allem aber sollst du wachsam
sein, und nicht erst warten, bis Versu‐
chung so erstarkt, daß sie nur noch
durch schweren Kampf besiegbar ist!
Du kannst dich selbst zu solcher Wach‐
samkeit erziehen, so wie du dich auch
leichten Sinnes der Versuchung über
lassen kannst, bis sie dich hart be
drängt und starke Gegenwehr er‐
fordert. ‒ ‒
110 Die Ehe
Versuchung kann dir allerorten nahen,
auch wenn du sie gewiß nicht suchst,
ja dann auch, wenn du sorglichst deine
Wege wählst, um ihr nur ja nicht zu be‐
gegnen, da sie deine Furcht erregt. ‒
Versuchung aber ist noch keine
Schuld”!
Erst, wenn du anfängst, ihr Gehör zu
schenken, ‒ sie dir zu nahe kommen
läßt, ‒ sie hegst und mit ihr spielst,
‒ wirst du dich wahrlich nicht mehr
schuldfrei wähnen dürfen! ‒ ‒
Auch wenn du noch zu gutem Ende
Sieger bleibst, hast du dich doch mit
schwerer Schuld beladen, und wirst
nunmehr nicht ruhen dürfen, bis alle
Folge dieser Schuld aus deinem Leben
schwindet! ‒ ‒ ‒
111 Die Ehe
Vielleicht wirst du dir selbst gestehen
müssen, daß du gar oft nicht wachsam
warst, wo Wachsamkeit von dir ge
fordert werden konnte? ‒
Vergeblich wäre es, wenn du dich nun
in Selbstqual winden wolltest!
Du wirst nun jetzt mit allen Selbstvor
würfen nichts mehr ungeschehen ma‐
chen können, und deines Fehlers Spu
ren kannst du nur aus deinem Leben
tilgen, wenn du dafür sorgst, daß alles
Übel, das aus ihm entstand und noch
entstehen könnte, an seiner Auswir
kung verhindert wird. ‒ ‒
Aus jeglicher Erfahrung sollst du Lehre
ziehen, und so wird dich dein Strau
cheln lehren können, wie du durch
Wachsamkeit dich künftig frei von
Schuld erhalten kannst, auch wenn du
112 Die Ehe
nicht imstande sein wirst, der Versu
chung immer auszuweichen...
Die leiseste Empfindung mußt du
kontrollieren lernen, mußt sie wägen,
und im selben Augenblicke von dir
weisen, in dem du fühlst, daß sich in
ihr bereits Versuchung zu verbergen
trachtet!
Erkennst du so das Feindliche so
gleich, wenn es sich naht, dann wird
es immer leicht sein, es zu überwin
den, und niemals wirst du wirklich ‒
in des Wortes letztlicher Bedeutung ‒
„in Versuchung fallen”! ‒ ‒ ‒
Nur, wenn du Wohlgefallen an der
ersten Regung der Versuchung findest,
wird Versuchung dir zur Schuld!
Es kann dir großer Kraftzuwachs aus
113 Die Ehe
der Versuchung kommen, wenn du stets
wachsam bleibst und sie in jeglicher
Verkleidung zu erkennen suchst, um ihr
den Zugang in dein Inneres zu wehren.
‒ Ein jeder Mensch hat irgendeine
schwache Seite”, und stets wird die
Versuchung seine Schwäche auszu
spüren wissen. ‒
Begegnest du jedoch dem ersten Na
hen schon mit Abwehr, und mit einem
Nein”, das kein Paktieren kennt, dann
wirst du immer mehr, ‒ gerade dort, wo
Stärkung dir vonnöten ist, ‒ erstar
ken! ‒ ‒
Du wirst durch deine Wachsamkeit dich
gänzlich wandeln, so daß dir jegliche
Versuchung ungefährlich wird, weil
Abwehr dir Gewohnheit wurde, und
die Versuchung dann vergeblich eine
114 Die Ehe
unbewachte Pforte sucht, durch die sie
Einlaß zu dir finden könnte!...
Dann aber erst bist du geborgen, und
dann erst darf man dir Vertrauen
schenken!
Dann erst wird deine Ehe so behütet
sein, daß sie dir alles geben kann, was
sie, in unerschöpflich reicher Fülle,
Mann und Weib, die wert sind, ihr My‐
sterium zu erleben, stetig neu zu geben
hat! ‒ ‒ ‒
Du trägst nicht nur für dich allein die
heiligste Verantwortung, sobald du
dich dem Anderen verpflichtet hast, mit
ihm die Geisteseinheit einer Ehe aufzu‐
richten!
Die Ehe ist auch nicht nur: ‒ „mensch
licher Vertrag”, obwohl der andere
115 Die Ehe
Eheteil ein un-bedingtes Recht an dich
erlangte, und du ihm dann selbst noch
die „Treue” schuldest, wenn er be
trügerisch sie bricht. ‒ ‒ ‒
Ein jegliches Gelöbnis zwischen Mann
und Weib, in dem sich beide Teile ehe
liche Einung dargeloben, stellt vielmehr
ein kosmisches Geschehen dar, und
bindet nicht nur beide Ehegatten, ‒
bindet nicht nur aller Menschheit ge
genüber, sondern reicht mit seinem
Jawort” auch hinein in höchste Gei
steswelt! ‒ ‒ ‒
Es wird nur lösbar, wenn der „Tod
die beiden Eheteile scheidet, oder, wenn
durch triftigste und schwerste
Gründe ‒ beide Teile sich gezwungen
sehen, sich gegenseitig voneinander zu
befreien, indem sie, ‒ ebenso gemein
sam, wie es einst geschlossen wur
116 Die Ehe
de, ‒ ihr Gelöbnis vor einander,
vor aller Menschheit, wie auch vor
dem wesenhaften Geiste wider
rufen, ‒ es sei denn, daß der eine Teil,
auch ohne solchen Widerruf, den an
deren verlasse, oder sonstwie ihm
unmöglich mache, das Gelöbnis auf
rechtzuerhalten...
Solange also dein Gelöbnis noch zu
Recht besteht, bist du in dreifacher
Verpflichtung, aus der keinGott
dich zu befreien wüßte! ‒ ‒
Es wird Verantwortung von dir ge‐
fordert werden, auch wenn du während
dieser kurzen Spanne Zeit, ‒ die auch
das längste Erdenleben darstellt vor
der Ewigkeit, ‒ dich jeglicher Verant‐
wortung entzogen wähnst! ‒ ‒ ‒
Daß Andere Versuchung suchen und
117 Die Ehe
ihr keinen Widerstand entgegensetzen,
kann niemals dich von deiner Schuld
entlasten!
In deiner Ehe bleibst du für dich selbst
verantwortlich, und Niemand kann dir
helfen die Verantwortung zu tragen,
Niemand kann sie von dir neh
men, ‒ wenn man dich hier auf Erden
auch entschuldbar finden mag!
Auch vor dem Angesicht der Ewig
keit magst du vielleicht „entschuld
bar” sein, und doch bleibst du verhaftet
der Verantwortung, so daß du alle
Folge deiner selbstgeschaffenen Im
pulse tragen mußt, bis auch der letzte
seine Auswirkung erreichte in der
Kette des Geschehens! ‒ ‒ ‒
Einst lehrte Einer, der dies wahrlich
118 Die Ehe
aus dem Geiste lehren durfte, daß da
ein Jeglicher schon Ehebruch begehe,
der durch den Anblick eines Weibes sich
verführen lasse, es auch leiblich zu be
gehren.
Man hat an diesem Wort vielfach sehr
wenig Wohlgefallen, und suchte es zu
drehen und zu deuteln, da es so manchen
nicht behagen will. ‒
Ich aber muß dir sagen, daß auch schon
jedes Hegen und geflissentliche
Steigern der naturbedingten
Schwingung der Erotik zwischen
Mann und Weib, ‒ sobald es einem
anderen Menschen, als dem eigenen
Ehegatten gilt, ‒ die Ehe schändet,
auch wenn sich solche Steigerung noch
keineswegs dem leiblichen Begehren
nähert, und somit noch nicht zum Ehe
bruch im Unsichtbaren führt! ‒ ‒ ‒
119 Die Ehe
Selbst wenn du durch ein Abbild dich
verleiten läßt, geschlechtsbewußte
Regung zu empfinden und dich ihr
zu überlassen, ‒ schändest du die
Ehe! ‒ ‒ ‒
Du mußt dich selbst dazu erziehen,
Schönheit auch am anderen Ge
schlecht bewundernd zu betrachten,
ohne auch die leiseste Erregung der
Erotik ins Bewußtsein einzulassen!
Jeder wahre Künstler, dem die mensch‐
liche Gestalt zum Vorbild seiner Schöp‐
fung wird, muß solcherart sein Vor
bild sehen lernen und kann dir sagen,
daß in seinem, von Erotik völlig los
gelösten Schauen, wundersame see
lische Beglückung möglich ist, die
jedem sich versagt, der hier ge
120 Die Ehe
schlechtsbewußte Regung hegt, und
niemals dem Begehrenden erreich
bar wird...
Daß du auch Künstler finden kannst, die
selbst ihr Können noch zum Makler
der Begehrlichkeit erniedrigen, kann
dir nur zeigen, daß auch Künstlertum
nicht schützt vor niedriger Verskla
vung an die Tiernatur, wenn sich der
Mensch nicht selbst aus solcher Skla‐
verei befreien will. ‒ ‒ ‒ ‒
Du kannst nicht streng genug dich
selber kontrollieren, willst du dich
lösen aus der Hörigkeit, und dein
Geschlechtliches beherrschen lernen!
‒ ‒ ‒
Jede dich umschleichende Empfindung,
die vor allerstrengster Prüfung nicht
121 Die Ehe
bestehen kann, mußt du entweder von
dir weisen, oder aber sie in Bahnen
zwingen, die sie völlig der Geschlecht‐
lichkeit entziehen!
Laß' dich nicht irreführen durch die laxe
Art, in der man meistens diesen Dingen
gegenübersteht und sie als leichthin läß‐
lich „Menschliches” betrachtet, ohne
sich der Schmach bewußt zu werden,
die man schon durch das Wort allein
auf seinen Menschennamen wirft! ‒ ‒
Wo immer du es nicht vermagst, die
Anderen aus ihrer Tiergebundenheit in‐
soweit loszulösen, daß sie selbst zu
Willen kommen um sich völlig ihr
dann zu entwinden, dort sollst du Nach
sicht üben, bis auch einst noch ihre
Stunde schlagen wird!
Wo sie jedoch dich selbst behindern
122 Die Ehe
wollen, deine Freiheit zu erringen,
dort ist Abkehr heilig-hohe Pflicht!
‒ ‒ ‒
Ich lehre nicht, daß man Versuchung
immer meiden könne, sondern zeige,
wie man ihrer sich erwehren kann!
Auch wenn du aus der Welt entfliehen
wolltest, würde dich Versuchung noch
in deiner fernsten Einsamkeit zu
finden wissen...
Du mußt dich so erziehen, daß du ihr
allerorten und zu jeder Zeit begeg
nen kannst, ‒ des Sieges schon im
voraus sicher, ‒ nicht mehr erregbar,
mag sie auch mit allen Künsten locken:
gelassen in der Abwehr, und be
stimmten Willens!
Dann wirst du nicht nur deine Ehe heilig
123 Die Ehe
halten und vor jeglicher Beschmutzung
wahren, sondern dir und dem mit dir
vereinten Menschen auch gar vieles
Leid ersparen, selbst wenn es nur das
Leid vorübergehender Betrübung
wäre, was der nächste Tag schon wieder
wenden könnte. ‒ ‒ ‒
Noch andere Gefahr jedoch, ‒ kaum
minder groß als die Versuchung, die
von außenher zu kommen scheint, da
du im Äußeren den Anlaß ihrer Aus
lösung gewahrst, ‒ kann aus Empfin‐
dungstiefen her der Ehe Glück bedrohen.
Auch hier ist Warnung nötig, und auch
hier ist vieles Unheil leicht noch abzu
wehren, wird sogleich erkannt, daß
Pflicht besteht, Gefahr zu bannen...
Es gibt in jedem Menschen dieser Erde
124 Die Ehe
einen inneren Bereich, den er kaum sel
ber kennt, und den er noch viel weniger
vor irgend einem Nebenmenschen völlig
offenbaren kann, ‒ nicht, weil hier
Heimliches verschwiegen werden
müßte, oder zu Erhabenes sich nicht
in Worte fassen ließe, ‒ sondern:
weil der Mensch hier selbst zu we
nig von sich selber weiß...
Nun kann es kommen, daß die Einung
zweier Menschen in der Ehe sie ver
leitet, auch noch dort nach gegenseitiger
Entschleierung zu streben, wo unab‐
weisliches Gebot: Verhüllung heischt,
‒ und daß sie dann urplötzlich in Ent‐
setzen sich vor einer gegenseitigen Ent
täuschung sehen, die sie selbst herauf‐
beschworen haben, und der nur selbst
geschaffene Phantome, die das Eigen‐
bild in wahrheitswidriger Verzerrung
125 Die Ehe
zeigen, mehr als fragliche Gewähr
verleihen. ‒ ‒
Man glaubt, man müsse sich einander
bis ins Innerste enthüllen, und
schreckt alsdann zurück, wenn man sich
endlich seelisch nackt zu sehen meint,
‒ nicht ahnend, daß man vor einander
gegenseitig nur Popanze schuf und
ihnen nun mehr glaubt als aller Wirk‐
lichkeit. ‒
Zwei Menschen, die sich stets im Aller‐
tiefsten nur als Eines fühlten, werden
sich nun fremd, weil sie in Worten wahr
sein wollten, dort, wo Worte nie die
Wahrheit wissen können...
Ein äußeres Geschehen, ein Begegnen,
oder sonst ein Anlaß, der von außen
kam, läßt unversehens Zweifel keimen:
126 Die Ehe
ob man sich noch ganz „gehöre”, und
allsobald mißtraut man aller Sicher
heit des Fühlens, um in sich zu wühlen
und zu bohren, bis man sich endlich nun
in Herz und Nieren aufgefunden wähnt.
Lebendigen Leibes hat man sich seziert,
und da man sich auf diese Weise nie‐
mals finden konnte, formte man aus
eigenen Eingeweiden das Phantom, in
dem man so recht eigentlich sich selbst
zu haben meint. ‒
So zeigt man nun einander diese Aus‐
geburt des Wahns, und, schreckerfüllt,
fühlt man sich von dem Anblick abge
stoßen. ‒ ‒
Gar arges Unheil ist auf solche Art aus
reiner Torheit nur geschaffen worden,
und manche Ehe, die vor Gott bestehen
bleiben sollte, wurde so zerstört durch
127 Die Ehe
einen Wahrheitswillen, der zum Irr
tum führen mußte, da er den Worten
mehr vertraute, als der inneren Ge
wißheit fühlenden Erlebens, in der
allein die Wahrheit für ihn auffind
bar gewesen wäre...
Es ist jedoch nicht nur nicht nötig, daß
man alles voreinander auszukramen
suche, was dort, wo man sich selbst kaum
kennt, als dunkle Regung das Ge
fühl beirren will: ‒ es ist vielmehr in
jedem Fall verderblich, diese Dinge,
die im Lichte eigenen Bewußtseins noch
molluskenhafte Formen zeigen, und
bald hell, bald dunkel, in der wider
streitendsten Verfärbung schillern,
geflissentlich hervorzuzerren, um sie
in die Form bestimmter Worte einzu‐
pressen! ‒ ‒
128 Die Ehe
Schnell ist ein Wort gesprochen, dessen
Folgen selbst in einem langen Menschen‐
leben nicht mehr auszumerzen sind!
Bei solchen dunklen Regungen jedoch,
die keine klarbestimmten Formen zeigen
können, wird außerdem das Wort stets
fälschen, wird vergröbern und ver
stärken müssen, soll es das noch Un
sagbare, Ungeformte formen und zu
sagen suchen...
Es werden Worte dann gesprochen, vor
denen man erschrickt, noch während
sie die Zunge schrill hervorzustoßen sich
gezwungen fühlt, als hetzten sie Dä‐
monen...
Im nächsten Augenblicke möchte man
das so Gesagte auch schon widerrufen,
hätte man nicht, ungewollt, schon wie‐
der weit verletzenderes Wort auf
seinen Lippen...
129 Die Ehe
Worte die man gar nicht sagen
wollte, tauchen aus Tiefen auf, um die
man niemals wußte, und diese Worte
haben überzeugende Gewalt, für
uns, wie für den Andern, obwohl sie
alles Andere eher, nur nicht der Wahr
heit Zeugnis sind...
Wurden sie jedoch nun einmal ausge
sprochen, so holt sie keine Macht der
Erde wieder in das Unerkennbare zu
rück, und selbst dem späteren, ernsten
Widerruf wird man nur zögernd
schwachen Glauben schenken können.
‒ ‒
Und doch hat man sich gegenseitig nur
aus einem tollen Wahn heraus belo
gen, ‒ derweil man sich nun endlich,
‒ so als ob es nie geschehen wäre, ‒
die Wahrheit” sagen wollte! ‒ ‒
130 Die Ehe
Besonders dann, wenn gar noch Zorn
und Heftigkeit den Worten Wirkungs
kraft zu sichern suchten! ‒ ‒ ‒
Bei ruhigem Betrachten wird man
bald bemerken, wie der Schein der
Wahrheit solchen Worten schwindet,
‒ ja, oft wird man entdecken, daß nur
das Gegenteil von dem, was man in
seinem Wahn alswahrempfun
den hatte, der Wahrheit unverfälschte
Darstellung geschaffen hätte...
Nun aber kommt Erkenntnis leider viel
zu spät, und Reue wird jetzt wenig
ändern können. ‒ ‒
Will man das Unheil, das sich aus zu
früh geborenen Worten immer neue
Nahrung saugt, dann wieder aus der
Welt zu schaffen suchen, so hat man
131 Die Ehe
wahrlich seine bittere Not, ‒ und schafft
man es auch endlich fort, so wird es doch
noch immer Spuren hinterlassen, die
niemals gänzlich zu verwischen
sind. ‒ ‒
Unendlich leichter aber wäre es ge‐
wesen, sich die Rede vorher zu ver
wehren, und Dinge, die kein Recht be‐
saßen, Wort zu werden, niemals aus
zusprechen! ‒ ‒ ‒
Was sich in jenem inneren Bereich, in
dem der Mensch sich selber fremd
bleibt, zu verbergen trachtet, das hat
guten Grund, Verborgenheit zu for‐
dern, und niemals soll man es gewalt‐
sam in das grelle Licht des Tages
zwingen wollen!
Was Ruhe braucht, wird man am besten
stets in seiner Ruhe lassen, damit es
132 Die Ehe
nicht in wilder Wut zerstöre, was es
auferbauen soll! ‒ ‒
Auch in dem Streben, seine eigene
Tiefe zu ergründen muß man sich be
meistern lernen, damit man nicht ver‐
sucht wird, Tiefen auszuloten, die grund
los sind, ‒ und dort das Leben störe,
wo es erst nach Formung drängt,
die nur in steter Ruhe sich gestalten
kann...
Dann aber wird sich jede dunkle Re
gung innerer Beirrung als ein Durch
gangsstadium völlig andersartiger
Empfindungsbildung zeigen, ‒ denn
stets, wenn sich Empfindung feste Form
erschaffen will, bedarf sie eines Gegen
satzes, den sie sich selber setzen
muß, um ihn zu überwinden! ‒ ‒ ‒
Zwei Menschen, die in ihrer Ehe ihrer
133 Die Ehe
Liebe sicher sind, und doch sich täglich
neu erproben wollen, um sich auch in
Worten ihre Liebe zu „beweisen”,
begeben sich nur in Gefahr, das Glück,
das sie sich schaffen sollen, zu zerstö
ren, noch bevor es sich aus seinen Fun‐
damenten frei erheben kann! ‒
Was dir dein innerstes Gefühl beweist,
dem sollst du nicht noch Wortbeweis
zur Seite stellen wollen!
Auch dann nicht, wenn dich eine dunkle
Regung unklar wogenden Empfindungs‐
webens in dir selbst beirrt, so daß,
was vorher im Gefühl gesichert war,
dir nun zur Frage wird! ‒ ‒
Warte gelassen in dir selber Ant
wort ab, und übe Schweigen, bis du
sie erhalten hast!
134 Die Ehe
Im Schweigen wirst du alle Störung
deines Fühlens sicher meistern!
Im Schweigen wird dir deine Ruhe
wiederkehren, und bald wirst du erneut
auch wieder deines Fühlens sicher
sein!
Dann aber wirst du dich vor jedem
Wort entsetzen, das da vordem schon
auf deiner Zunge schwebte!
Dankbar wirst du deinem Schwei
gen sein!...
Vor vielem Unheil hat es deine Ehe
dir behütet. ‒ ‒ ‒
Jetzt aber wirst du wahrlich reden
dürfen!
Glück und Freude hast du neu errun
gen, und von Glück und Freude wird
nun jedes deiner Worte zeugen!
135 Die Ehe
Nur schaudernd denkst du noch zurück
an jenen dunklen Tag, der dich schon in
Versuchung und Gefahr sah, zu verflu
chen, was du nunmehr aus ganzer Seele
segnen mußt! ‒
Wahrhaftig: ‒ daß du schweigen konn‐
test, wo die Rede Fluch gewesen wäre,
‒ das wird nun deiner Ehe Segen!
‒ ‒ ‒
*           *
*
136 Die Ehe
SECHSTES KAPITEL
VOM ZWANG DES ALLTAGS
UNZÄHLIG sind die „unglückli
chen Ehen”, in denen sich einst
beide Teile als zu allem Glück berech
tigt glaubten, bis dieser Traum in Reue
und Verzicht sein armes Ende fand. ‒ ‒
Es gibt ja leider nur zu viele Gründe,
die zu so bitterer Enttäuschung führen
können! ‒
Doch geht man sicherlich nicht fehl, wenn
man sehr vieler Ehen vornehmlich
stes Unglück darin grundverankert
sucht, daß beide Teile in der Ehe die
Erfüllung eines Lebenswunsches zu
erreichen glaubten, der, ‒ durch Ver
stiegenheiten töricht-lebensferner
Vorstellung genährt, ‒ im Glück der
Ehe sich ein Glück des steten fest
lichen Erlebens vorbehalten sah. ‒ ‒
Die Ehe aber ist gewiß kein ewiger
139 Die Ehe
Feiertag und läßt sich niemals aus dem
Zwang des Alltags lösen!
Man kann in ihr nicht immer Feste
feiern und, beglückt im Liebesrausch,
die Welt vergessen! ‒
Gedeihliches Leben braucht seinen
Rhythmus: braucht Steigerung und
Senkung seines Ablaufs, ohne Unter
laß! ‒
So aber muß auch in der Ehe steter
Lebensrhythmus herrschen!
Auch dort, wo aller Reichtum dieser
Erde zur Verfügung steht, kann eine
Ehe nur gedeihen, wenn sie, außer
ihren Festen, einen Alltag kennt! ‒
So aber ist auch da, wo sich die Not
des Daseins solchen Alltag zu er
zwingen weiß, durchaus kein Grund
140 Die Ehe
gegeben, einer Ehe Glück gefährdet zu
erachten, wenn nur die beiden Ehegatten
diesen Zwang des Alltags so zu
nützen suchen, daß er dem inneren Le‐
bensrhythmus ihrer Ehe Kräfte bringt,
aus denen ihm auch Feste einst erstehen
werden. ‒ ‒
Wohl ist es freilich leichter, sich im
Festgewande zu gefallen, als im All
tagskleide! ‒
Und leichter ist es, sich gemeinsam
heiterem Genießen hinzugeben, als
des Alltags schwere Forderungen
zu erfüllen! ‒
Die Ehe aber kann kein stetes „Arm
in-Arm”, ‒ kein stetes Liebeskosen
sein und wenn auch jeder Eheteil dem
anderen nur zu gerne stete Zärtlich
keit bezeigen möchte, so wird gar oft
141 Die Ehe
die Sorge um des Lebens Notdurft, oder
sonstige Verpflichtung, Anderes erhei‐
schen, und Liebesstunden werden Feier
stunden bleiben! ‒ ‒
Hierfür fehlt aber allzuoft das rich
tige Verstehen!
Man möchte auch den Alltag in der Ehe
nur als Fest erleben, und fühlt sich „um
sein Glück betrogen”, wenn er sich
als Alltag zeigt. ‒ ‒ ‒
Zu allem Überfluß läßt es sich meistens
nicht verhüten, daß jeder Eheteil in sei‐
nem Alltag einem anderen Bereich des
Lebens dienen muß.
Nun kann es sich ereignen, daß der eine
nach getanem Werke sich auf einer
Wellen-Höhe des Empfindens fühlt,
indessen sich der andere in einer Nie
derung weiß, die er erst überwinden
142 Die Ehe
muß, um seine Höhe wieder zu er
reichen.
Wenn man sich nun begegnet, und nicht
liebendes Verstehen alsbald aus
zuspähen sucht, wie es dem ande
ren Teil zumute ist, dann müssen
beide Teile aneinander leiden, ob‐
wohl sich dieses Leid so leicht vermei
den ließe, würde man nicht gar zu sehr
von seinem eigenen Erleben einge‐
nommen sein. ‒ ‒
So mancher Zwist wird nur hervorge‐
rufen, weil der eine Eheteil nur seinen
Alltag kennen will, und für den Alltag
seines Gegenpoles kein Verstehen
zeigt!
Man spricht da aus verschiedenen Er
lebnishöhen zueinander, und ist „ge
kränkt”, wenn man sich nicht ver
143 Die Ehe
standen sieht, statt erst einmal des
Anderen Erlebnislage zu erfassen...
Dies alles aber ist nur Folge einer Sucht,
den Alltag um sein Recht zu brin
gen: ‒ sich seinen Forderungen
möglichst zu entziehen! ‒ ‒ ‒
Die Sitte, seine Ehe, nach erfolgter äuße‐
rer Bestätigung, sogleich mit einer Reise
zu beginnen, mag manches für sich
haben, und doch trägt sie recht oft die
Schuld daran, wenn glückliches Be
ginnen in Enttäuschung endet. ‒ ‒
Frei von Alltagspflicht, und nur allein
dem heiteren Genießen hingegeben, be‐
ginnt ein Ehepaar auf solcher Reise sein
Gemeinsamkeitserleben unter Vorbedin‐
gungen, die selten oder nie im Leben
wiederkehren.
144 Die Ehe
Zu leicht wird man verführt, in diesem
ungestörten Beieinandersein nunmehr
des Ehelebens Inbegriff zu sehen.
‒ ‒
Die Tage dieser Reise schaffen eine holde
Täuschung, der man gerne sich ergibt,
und die man nie beendet sehen möchte. ‒
Doch, ist das Ehepaar, das nun schon
glaubt, die Ehe recht zu kennen, end‐
lich heimgekehrt, so meldet sich zu‐
meist auch schon der Alltag an und
heischt die Pflicht gesonderten Er‐
lebens.
Die eigenen vier Wände sind der jungen
Gattin fremd wie eine Gasthofstätte, ‒
nur ist der eigene Haushalt jetzt da‐
zugekommen und macht das Leben nicht
mehr ganz so leicht, wie es erschienen
war, solange auf der Reise Andere für
145 Die Ehe
alles sorgten, was man zum Behagen
brauchte. ‒
Zum erstenmal ist in der jungen Ehe
viele Stunden währende, ja oftmals
tagelange Trennung beider Ehegatten
nötig, und jeder Teil sieht sich vor Auf‐
gaben gestellt, die dem bisherigen Er‐
leben seiner Ehe völlig fremd geblieben
waren. ‒ ‒
Schon hier beginnt zuweilen die Er
nüchterung des ersten Liebesrau
sches, und wahre Liebe sieht sich schon
vor ihrer ersten Probe stehen...
Es ist nicht gar so leicht, sich aus der
Übersteigerung der Freuden seiner
Reisetage nun zu lösen und den „All
tag” zu bezwingen! ‒ ‒
In vielen Fällen hätte sicherlich sich
146 Die Ehe
Besseres ergeben, wenn die Ehe erst
im Alltag aufgerichtet worden wäre,
bevor man sie in stetem Feiertage,
und losgelöst von jeder Alltagspflicht,
erlebte. ‒ ‒ ‒
Wie aber dem auch immer sei, so läßt
sich doch hier sagen, daß recht Erheb‐
liches gelungen ist, wenn sich das junge
Paar allmählich auch vertraut mit seinem
Alltag zeigt, denn Ehe findet stets erst
dann sich in Bewährung, wenn sie den
Alltag zu bemeistern weiß. ‒
Ihr, die der Ehe heilig-hehre Bindung
nun vereint, wart euch vielleicht vor
gar nicht langer Zeit noch völlig fremd!
Jeder von euch Beiden lebte noch sein
eigenes Leben, und der Kreis von Men‐
147 Die Ehe
schen, der ihn dort umgab, war ihm ver‐
traut, wie er dem Kreise...
War es bisher das Elternhaus, das euch
umhegte, dann mag auch innigstes Ver‐
bundensein euch täglich neu umfangen
haben, und treue Eltern- und Geschwi‐
sterliebe war um euer Wohl besorgt.
Vielleicht jedoch wart ihr schon längst
dem Elternhaus entwachsen und eure
Freunde waren in der Fremde euch er‐
standen?
Jetzt aber habt ihr Beide euch gefun‐
den, und damit trat ein neues Fühlen
nun in seine Rechte, das anderer Ar‐
tung ist als Eltern- und Geschwister
liebe, ‒ anderer Artung als die tiefste
Freundschaft, und das allein euch
Beiden gegenseitig gilt: niemals mit
Anderen zu teilen ist...
148 Die Ehe
Glaubt nicht, daß dieses neue Fühlen nur
bedingt sei durch das erdenhafte Glück
des körperlichen Angehörens!
Wenn echte Liebe euch vereint, dann
ist hier wahrlich Anderes in euch er‐
blüht, das euch zwar nun auch körper
lich vereint, zugleich jedoch die körper‐
liche Einung überstrahlt mit über
erdenhaftem Lichte! ‒ ‒ ‒
Nun seid ihr für das Erdenleben, ‒
zumindest eurem Willen nach, ‒ ver
einigt, ‒ doch noch sind hier zwei
Leben, die sich keineswegs von einem
Tage auf den anderen so verschmel
zen lassen, daß sie schon wirklich jenes
eine neue Leben auch im äußeren Da‐
sein bilden könnten, das höchstes Ziel
und hehrste Hoffnung eurer jungen Ehe
ist! ‒ ‒
149 Die Ehe
Vorerst müßt ihr euch noch gedulden,
und alles Streben muß darauf gerichtet
sein, in gegenseitigem Gewähren zu er
fühlen, wo sich: ‒ die Trennungs
punkte eurer beider Lebensläufe zeigen,
und: ‒ wo etwa der eine schon dem
anderen Einungspunkte darzubieten
habe...
Der Zwang des Alltags wird euch
hier ein guter Lehrer sein! ‒
Ihr werdet sicher sehr viel mehr an
Trennendem gewahren, als euch lieb
und wünschenswert erscheint, ‒
doch, wenn die Liebe eure Augen schärft,
dann werdet ihr auch bald bemerken, wo
das eine Leben sich dem anderen am
ehesten vereinen kann...
Was aber eure Leben bisher trennte,
150 Die Ehe
‒ in der ganzen Auffassung des Le‐
bens, ‒ das sollt ihr klug, und völlig
eures Tuns bewußt, stets mehr und
mehr zu übersehen suchen, ‒ doch,
was zur Einung eurer Beider, bis vor
kurzem noch getrennten Leben führen
kann, muß ebenso bewußt gesucht und
gegenseitig dargeboten werden.
‒ ‒ ‒
Der Alltag wird euch manche harte Probe
bringen, die ihr nur dann bestehen
werdet, wenn ihr euch Beide in dem ste‐
ten Streben findet: ‒ das Einigende
eurer Beider Art, dem Leben zu begeg‐
nen, in und an euch aufzusuchen, das
bisher Trennende jedoch zu ignorie
ren!
Die neue häusliche Gemeinsamkeit
schon bringt so manche, oftmals nicht
151 Die Ehe
ganz leichte Probe, die bestanden
werden will...
‒ Solange ihr im Einzel-Leben wart,
bewohnte jeder von euch Beiden seinen
eigenen Raum, den er nach seiner Weise
schmückte, und in dem er alles, was ihm
lieb und wertvoll war, nach seiner Weise
unterbrachte.
Jetzt aber lebt ihr in den gleichen Räu‐
men, und wenn auch äußere Bedingungen
es euch erlauben sollten, daß dennoch
jeder außerdem sich einen eigenen Be‐
reich für sich allein gestalten kann, so
wird auch das gewiß nicht ganz das
Gleiche sein, wie eure frühere Allein
herrschaft in dem euch zugemessenen
Raum...
In allem seid ihr Beide aufeinander
angewiesen, und eure Liebe schon
152 Die Ehe
wird euch bewegen, euer Heim doch
wohl zu gegen-seitigem Gefallen aus‐
zubauen. ‒
Manche liebgewordene Gestaltung wird,
‒ aus welchen Gründen immer es ge‐
schehen möge, ‒ letzten Endes doch dem
Anderen zuliebe aufgegeben werden
müssen, und manche alte Neigung wird
zu wandeln sein, wenn eure Räume
wirklich eurer Beider Heimstatt werden
sollen, in der sich jeder Eheteil „zu
hause” fühlt! ‒ ‒ ‒
Nicht minder wichtig als die Woh
nung ist die Speise!
Ich rede nicht hier von der Frage, ob
man Tierisches genießen solle, oder
alles, was vom Tiere stammt, zu meiden
153 Die Ehe
habe, ‒ und auch nicht von anderen
„Reformen” der Ernährung!
Wer sich der Sünde fürchtet, ‒ ein
Tier zu schlachten, oder zu erjagen, der
unterlasse solches, aber er glaube nicht
etwa, ein besserer Mensch zu sein,
und öde Andere nicht an mit Lehren,
die allzubillig sich erhandeln lassen
auf dem bunten Jahrmarkt mensch
licher Verstiegenheiten! ‒ ‒ ‒
Ich aber rede hier nunmehr nur von der
Zubereitung dessen, was dem Erden‐
körper neue Aufbaustoffe bieten soll.
Ihr stammt aus zwei verschiedenen El‐
ternhäusern, vielleicht sogar aus von ein‐
ander weit entfernten Heimatsgauen, ‒
und in jedem dieser, schon durch Lan
desart vielleicht bestimmten Eltern‐
154 Die Ehe
häuser herrschte eine andere Art der
Nahrungszubereitung.
Was jeder aber stets gewohnt war,
schätzt er über alle Maßen, ‒ und wie
die Speise zubereitet wurde, die man
ihm von Kindheit auf zu reichen wußte,
so will er sie auch weiter zubereitet
sehen...
Auch hier gibt euch der Alltag reich
liche Gelegenheit euch anzuglei
chen!
Mag man auch lächeln, finde ich hier diese
Dinge der Erwähnung wert, so wird
doch manche Ehe leider aus Erfahrung
wissen, daß schon oft ein sorglichst
wohlbereitetes Gericht die Zwietracht
an den Tisch des Hauses brachte. ‒ ‒
Ihr seid nunmehr zu Zweien, und ver‐
pflichtet, euch einander anzupassen,
155 Die Ehe
obwohl da jeder nur auf seines Eltern‐
hauses Küche schwört, und jeder seine
eigenen Vorlieben und Abneigungen
gegenüber manchen Speisen hegt.
Sehr oft jedoch ist eines Ehegatten
„Lieblingsspeise” darum nur dem an
deren ein Greuel, weil sie im Aufbau
seines Körpers nicht die gleiche Wir
kung zeitigt, ‒ und manche Ableh
nung der Zubereitung resultiert aus
instinktivem Fühlen, daß sie dem
physiologischen Bedürfnis eigener
Natur zuwiderläuft...
Da man jedoch gemeinsam speisen will,
so ist es oft recht schwer, weit ausein‐
anderstrebendes Bedürfnis zu befriedi‐
gen, zumal, da vielfach der Geruchsinn
schon durch diese oder jene, nicht der
eigenen Natur gemäße Speise bis zur
Unerträglichkeit gefoltert wird. ‒
156 Die Ehe
Hier wird nun jeder Eheteil erst zu er
fühlen suchen müssen, was dem ande‐
ren Gewohnheit lieb zu machen wußte,
oder was er aus Instinkt begehrt, und
aus dem gleichen, gut begründeten In‐
stinkt, zu meiden strebt. ‒
Auch hier wird jeder von euch Beiden
auszuspüren haben, wo die „Tren
nungspunkte” liegen, und wo ihr euch
von selbst beim gleichen Wählen und
Verwerfen findet!
Glaubt nicht, daß solches gegensei
tige Verstehen etwa überflüssig wäre,
oder, daß ich gar von jenen wunder
lichen Ehen rede, in denen nur des
Mannes Gaumenlust bestimmt, was auf
den Tisch des Hauses aufgetragen wer‐
den darf! ‒ ‒
Der Zwang des Alltags: stetig wieder
157 Die Ehe
neue Nahrung darzubieten, gibt für
beide Teile einer Ehe reichliche Gele‐
genheit, sich gegenseitig Freude zu
bereiten und die eheliche Harmonie
zu fördern, ‒ denn körperliches
Wohlbehagen löst auch seelisches Be‐
hagen aus! ‒ ‒ ‒
So mag man, wo es möglich ist, auch
zu gewissen Tagen dafür Sorge tragen,
daß nicht nur Allernötigstes den
Tisch des Hauses decke, obwohl ich weit
davon entfernt bin, hier etwa der Es
sens-Schwelgerei das Wort zu re‐
den...
Es läßt sich aber oft mit kleinen Dingen
recht viel Freude schaffen, ‒ beson‐
ders wenn aus ihrer Darbietung ersicht‐
lich wird, daß man sich gegenseitig
Freude bringen wollte, durch Erfül
lung irgend eines kleinen Lieb
158 Die Ehe
lingswunsches, der sich mit Leichtig‐
keit erfüllen ließ. ‒ ‒
Wie hier die Frau des Hauses ihres
Gatten Neigung liebevoll erspähen
wird, so möge aber auch der Mann ver‐
suchen, ihr die kleinen Überraschun
gen zu bieten, die Frauen meist so
sehr zu schätzen wissen! ‒ ‒
Ein wenig „Überfluß” ‒ und halte er
sich auch in sehr bescheidenen Gren
zen ‒ wird in der Ehe, wie auch sonst
in diesem Erdendasein, stets das Mit‐
einanderleben freudiger und leichter
machen, so daß man dort, wo er sich ir‐
gend noch bereiten läßt, gewiß nicht
von „Verschwendung” reden darf!
‒ ‒ ‒
Hier aber führt ein Schritt nur uns zu
159 Die Ehe
einer gegensätzlich anderen Art, den
Zwang des Alltags in der Ehe zu
empfinden, ‒ und wahrlich: ‒ hier ist
bitterer Zwang!
Ich denke an den oft so schweren
Kampf, um auch nur unentbehrlichste
Ernährung aufzutreiben, ‒ an den
Zwang zu unerbittlichster Erschöp
fung aller Kraft, um soviel zu verdie‐
nen, daß man die dringendsten Er‐
fordernisse seines Lebens gerade noch
bestreiten kann. ‒ ‒
Wahrlich: ‒ die Ehe, die mit solchem
harten Zwang des Alltags rechnen
muß, sieht beider Eheteile Liebe täglich
neu vor ernster Prüfung stehen! ‒ ‒ ‒
Zugleich ist aber beiden Teilen hier ‒
wie nirgends sonst ‒ Gelegenheit ge‐
schaffen, sich ihre Liebe zueinander
160 Die Ehe
täglich neu zu offenbaren durch die
Tat: ‒ sich gegenseitig Hilfe darzu‐
bieten, und sich das Allzuschwere ge‐
genseitig zu erleichtern, wie nur Liebe
hier erleichtern kann. ‒ ‒ ‒
Mehr noch, als in erfreulicheren
Lebenslagen, werdet ihr euch seelisch
ineinanderschmiegen müssen, wenn
sich der Zwang des Alltags eurer Ehe
in so harter Weise fühlbar macht!
Gebt nicht dem leisesten Empfinden
in euch Raum, das euch gerade hier die
innere Gemeinsamkeit verlieren lehren
könnte, wo sie am allernötigsten ge
fordert wird, wollt ihr als Sieger einst
aus solchem Kampfe schreiten!
Auf Schritt und Tritt könnt ihr euch hel
fen, ‒ selbst, wenn es nicht von
außen her geschehen kann, wenn nur
161 Die Ehe
der eine Eheteil auf seine Weise stets
des anderen verbrauchte Kraft in Liebe
zu erneuern: ‒ des anderen Teiles
schon gesunkenen Mut aufs neue auf
zurichten sucht! ‒ ‒ ‒
Vergeßt jedoch auch nicht, daß ihr euch
zum Verhängnis werden könnt, wenn
beide Teile, ‒ statt sich aneinander im‐
mer wieder zu erheben, ‒ einander
niederziehen, weil euch die Not ver‐
führt, zu glauben, daß sie leichter trag‐
bar sei, wenn man sie stetig sich vor
Augen halte, und auch Sorge trage,
daß der Andere sich ja nicht etwa da‐
zu aufzuschwingen wisse, seiner Last
zu spotten! ‒ ‒ ‒
Ihr könnt euch dann nur wirklich hel
fen, wenn Einer stets im Anderen
lebt, und ihr die Zwangslast, die der
Alltag auf euch bürdet, gemeinsam zu
162 Die Ehe
ertragen sucht, ‒ verbergend, daß
sie euch in gleicher Weise wie den
Anderen drückt! ‒ ‒
Nichts ist törichter, als einen Zustand
zu bejammern und durch stete Kla
gen unerträglich zu gestalten, den
man durch eigenes Tun nicht ändern
kann!
Ist man jedoch imstande, ihn zu än
dern, dann wird erst recht die stete
Klage nichts verbessern, sondern nur
den Antrieb hemmen, der in ganzer
Kraft vonnöten ist, will man aus sei‐
ner üblen Lage sich befreien. ‒ ‒ ‒
In welcher Weise aber auch der
Zwang des Alltags sich in eurer Ehe
äußern mag: ‒ er kann in jeder Form
163 Die Ehe
euch Segen bringen, wenn ihr ihm
richtig zu genügen wißt!
Und ist auch anderes Leben in ihn ein‐
bezogen, so wird auch dieses Leben
Segen oder Fluch erfahren, je nach
eurer Art, dem Alltag zu begegnen...
Man kann nicht segnen und zugleich
auch an der gleichen Stelle fluchen, ‒
und so auch kann man anvertrautes
Leben nicht mit Segen und mit Glück
erfüllen, wenn man zugleich sein eige
nes Leben ‒ durch das eigene Verhal‐
ten ‒ nur mit Fluch belädt, und ihm
auf solche Weise jede Glückesmög
lichkeit entzieht! ‒ ‒ ‒
Erfüllung aller eurer Wünsche aber
wird euch werden, wenn ihr dem
Zwang des Alltags so Genüge leistet,
164 Die Ehe
daß ihr zuletzt ihn ganz beherrschen
lernt!
Dann werdet ihr auch Feste feiern kön‐
nen, so, wie sie zu feiern sind, soll
euch aus ihnen wieder neue Kraft er‐
stehen, um den Alltag zu ertragen,
‒ ‒ den gleichen Alltag, der doch
letzten Endes immer wieder eurer
Feste frohen Anlaß schafft! ‒ ‒ ‒
*           *
*
165 Die Ehe
SIEBENTES KAPITEL
VOM
WILLEN ZUR EINIGKEIT
ES könnte so unendlich viel mehr
Glück in mancher Ehe sich entfalten,
würde man sich mehr bemühen, stets
nach Einigkeit zu streben! ‒ ‒
Man unterschätzt gar sehr den Wert
der Eintracht, als Erhalterin des
Glückes, sonst würde man sie nicht so
oft um eitler Dinge willen stören: ‒
um „Meinungen” und „Ansichten
zum Sieg zu bringen voreinander, die
wahrlich wenig wiegen, wägt man in
der anderen Hand sein Glück! ‒ ‒ ‒
Durch jegliche Lappalie bringt man
seiner Ehe Eintracht in Gefahr, ‒ und
wenn sich alle Eheleute, die ihr Glück in
Scherben gehen sahen, fragen wollten,
was der dann folgenden Zertrümmerung
einst ersten Anlaß dargeboten habe,
dann würde sich, weit öfter als man
169 Die Ehe
glauben möchte, zeigen, daß meist ganz
lächerliche Störungen der Einigkeit
Vernichtung ehelichen Glückes
wirkten, ‒ auch wenn man später dann
noch andere Gründe schuf, die nie
geschaffen worden wären, hätte man
sich vorher nicht entzweit. ‒ ‒ ‒
Ich rede nicht nur von „Rechthaberei
und „Eigensinn”, die beide nur als
Wehr der Dummheit, oder als das
kläglich armselige Schild verknöcher
ter Erstarrung anzusehen sind, als
welche sie bekanntlich ja in allen
Lebensbindungen zum „Schrecken” aller
Denkbeweglichen und seelisch
Freien werden: ‒ zu einem „Schrecken”
den nur Mitleid bannt und Ironie ver‐
scheucht! ‒ ‒
Ich rede hier vielmehr von jener Art
170 Die Ehe
der Eintrachtstörung bei der die
Gegensätze tatsächlich bedeutsam sind,
und dennoch Ausgleich möglich wäre,
würden Klugheit und Vertrauen
liebevoll versuchen, die Basis der
Vereinungsmöglichkeit zu finden, ‒
und schließlich rede ich von einer Tor
heit, der ihr Weltbild schon vernichtet
scheint, wenn um der Eintracht willen,
Weiß alsSchwarz” und Schwarz
alsWeiß” bezeichnet werden soll!
‒ ‒
Selbst wenn ganz unbestreitbar alles
Recht” auf deiner Seite ist, wirst
dennoch du versuchen müssen, einen
Ausgleich herzustellen, ‒ auch wenn
der Augenblick erfordert, daß du um
der Eintracht willen auf dein „Recht”
verzichtest, bis es der Andere aus
171 Die Ehe
freien Stücken dir dann später viel‐
leicht zugesteht!
Betrachte, was dein eheliches Glück dir
gilt, und wäge dann den Wert der
Dinge, die es in Gefahr zu bringen
suchen! ‒
Dann wähle, was dir mehr am Herzen
liegt! ‒ ‒
Sehr selten wird es sich um Dinge
handeln, die so bedeutsam sind, daß
sie dich in Bereitschaft finden müssen,
selbst dein Eheglück zu opfern, wenn
sie nicht in solcher Weise zwischen
euch Entscheidung finden, daß ihre
strenge Forderung auch im Bestehen
deines Glücks erfüllbar bleibt. ‒
Zu allermeist wird eheliche Eintracht
nur gestört durch Streiten über Fragen,
die sehr wohl Antwort der ver
172 Die Ehe
schiedensten Gestaltung finden
können...
Es kommt nur darauf an, daß du den
Anderen alsdann gewähren läßt, wie
er nun einmal will, und ruhig wartest,
bis er seinen Irrtum einsieht, oder
‒ ‒ bis du selbst erkennst, daß du
im Irrtum warst. ‒ ‒ ‒
So wird dann Harmonie erhalten und
euer Eheglück wird durch ein wenig
Selbstbeherrschung der Gefahr ent‐
zogen.
Wille zur Einigkeit muß euch zur
unbedingten Forderung des
Glückes werden, und keiner beider
Teile darf sich dieser Forderung ent
ziehen wollen!
173 Die Ehe
Es hängt zu viel von ihrer stetigen
Erfüllung ab! ‒ ‒
Bei jeder Möglichkeit, die zur Ent
zweiung führen könnte, ‒ und sei es
auch Entzweiung nur für eine kurze
Stunde, ‒ müßt ihr euch klar zu machen
suchen, daß doch der Mensch vor
allen Dingen steht, so daß die Auf‐
fassung der Dinge, die in Frage
kommt, doch wahrlich erst in zweiter
Linie der Beachtung würdig bleibt, wenn
sie nicht ganz und gar belanglos
wird, wo Menschenglück Beachtung
heischt!...
Ihr dürft auch nie vergessen, daß diese
Auffassung der Dinge, die euch heute
wichtig” scheinen will, zu einer
anderen Zeit ganz in Bedeutungs
losigkeit versinken kann! ‒ ‒
174 Die Ehe
Vor allem aber lernt erkennen, daß
Gegensatz nicht aus der Welt zu
schaffen ist durch Streit! ‒ ‒ ‒
Auch dort, wo ihr empfindlich leiden
möget, weil euch plötzlich Gegensätze
zu Bewußtsein kamen, die als völlig
unvereinbar gelten, werdet ihr mit
allem Streiten, allem Überzeugen
wollen nichts gewinnen! ‒ ‒
Ihr werdet euch nur selbst auf solche
Weise schließlich um die Möglichkeit zu
bringen wissen, eine Brücke aufzu‐
richten, auf der ihr euch begegnen
und erneut vereinen könntet...
So manche Ehe wäre heute nicht zer‐
stört, wenn man den Gegensatz, der zur
Zerstörung führte, einst in sich be
ruhen hätte lassen, ‒ der Zeit und
ihrer Ausgleichswirkung sich ver
175 Die Ehe
trauend, ‒ statt sich in Kämpferstellung
aufzurecken und sein vermeintlich
oder wahres „gutes Recht” in Wort
und Tat zu suchen, ‒ Verletzung durch
Verletzung fordernd, ‒ bis das
letzte Fünklein Liebe sich in Haß ge‐
wandelt hatte. ‒ ‒ ‒
Ihr aber, die ihr eure Ehe erst be
ginnen wollt, ‒ ihr habt die Macht
noch in den Händen, die so mancher
anderen Ehe längst verloren ging: ‒
‒ die Macht, euch bitterste Enttäuschung
zu ersparen! ‒ ‒ ‒
So hütet euch denn vor dem ersten
Streit! ‒ ‒ ‒
Sobald ihr einmal nur im Streite
euch begegnet seid, habt ihr schon
viel von eurer Macht verloren!
176 Die Ehe
Zwar mag der Streit durch eure Liebe
bald geschlichtet werden, aber in den
dunklen Schächten unbewußten Füh‐
lens bleibt Erinnerung zurück, auch
wenn im Denken alles längst ver
gessen wurde...
Bei jedem neuen Anlaß, der zum
Streite führen könnte, fühlt ihr euch
aus dem Unbewußten nun zur Wieder
holung aufgefordert, und ihr erliegt
dem dunklen Raunen, ohne recht zu
wissen, wie euch das geschieht...
Wo einmal Streit war, will er immer
wiederkehren, wie sehr der Mensch
sich auch dagegen sträuben mag, ‒
und stetig wird er neue Gründe auszu‐
heben wissen, aus denen er gespenstig
sich beleben kann, wenn man ihn nicht
begräbt, noch während er versucht,
aufs neue zu erstehen! ‒ ‒ ‒
177 Die Ehe
Darum: ‒ solange ihr den ersten Streit
vermeiden könnt, strengt alle eure
Kräfte an und sucht ihn zu ver
meiden! ‒ ‒ ‒
Es wird euch weitaus schwerer,
seine Wiederkehr ihm zu versagen,
als es euch schwer sein mag, ihm
seinen ersten Eintritt in das Leben
eurer Ehe zu verwehren!
Habt ihr ihm einmal Rechte zuge
standen, so wird er sie zu wahren
wissen, ‒ und schließlich wird es euch
unmöglich scheinen, in eurer Ehe ohne
Streit zu leben...
Es gibt genugsam Menschen, die es
niemals fassen können, daß auch der
kleine Streit, der ihnen längst alltäg
liche Gewohnheit wurde, aus einer
178 Die Ehe
Ehe zu verbannen ist, wenn beide
Teile ernstlich ihn verbannen wollen!
So, wie dem Fuchs der Fabel jene
Trauben „sauer” heißen, die er sich nicht
holen kann, so suchen sie nun sich
und anderen Eheleuten einzureden, daß
eine Ehe, die nur Eintracht kennt, für
sie ganz unerträglich wäre, und wohl
nur bei Menschen möglich werden könne,
die zu keiner resoluten Lebens
äußerung befähigt seien...
So töricht solche Rede ist, so frevel
haft ist es, den Streit gleichsam als
integrierenden Bestandteil ehe
lichen Lebens aufzufassen!
Wie oft ward leider schon der kleinste,
halb aus Scherz geführte Streit, zum
ersten Anlaß ehelicher Auseinander‐
179 Die Ehe
setzungen, die endlich alles Glück zer
rütten mußten! ‒ ‒
Wo solches aber möglich ist, da ist
fürwahr die Pflicht gegeben, alle
Kräfte aufzubieten, um die Eintracht
stetig in der Ehe zu erhalten! ‒ ‒ ‒
Doch, auch das beste Wollen mag zu‐
weilen unterliegen, wenn Affekt es
plötzlich rücklings überfällt...
Ist so der Streit hereingebrochen,
gleich einer Wasserflut, die ihre Dämme
brach und nun das blühende Gefilde
plötzlich in ein Schlammfeld wandelt,
dann muß es eure erste Sorge sein,
so bald als irgend möglich solchen
Zustand wieder aufzuheben, ‒ und
nie ist es zu früh, will man die alte
Ordnung wiederkehren sehen...
180 Die Ehe
Jetzt ist es mehr als sonst noch nötig,
daß ihr Beide guten Willens seid und
gegenseitig euch zu helfen sucht,
damit euch Harmonie in eurer Ehe
wiederkehre!
Nie darf es dazu kommen, daß der eine
Eheteil dem anderen weiter grollt,
auch wenn er dessen Absicht sieht, Ver
söhnung anzubahnen!
Doch sollt ihr euch auch jetzt nicht vor
einander reinzuwaschen suchen,
ängstlich bestrebt, nur ja die liebe eigene
Eitelkeit vor Schaden zu bewahren!
Und noch viel weniger sollt ihr nun‐
mehr beginnen, festzustellen, wen die
Schuld an dem Zerwürfnis trifft: ‒ wer
etwa mehr, wer nicht so sehr im Un
recht war!
Es ist töricht, und kann nur zu leicht zu
181 Die Ehe
neuem Streite führen, wenn ihr nunmehr
mit vielen Worten euch beweisen wollt:
‒ „warum” ‒ „weshalb” ‒ „wie
so” ‒ ihr euch vergessen konntet!
Stets sucht dann nur die Eitelkeit des
Einzelnen, ‒ und sei es auch nur völlig
unbewußt ‒ zu Wort zu kommen, und
will um jeden Preis verhüten, daß
sie bei dem Friedensschluß etwa
Terrain verliere”...
Oft ist der eine Eheteil schon längst
bereit, den Frieden anzubieten, und
nur die Furcht, durch Abweisung in
seiner Eitelkeit gekränkt zu wer
den, hält ihn zurück, und läßt ihn nicht
zum ersten guten Worte kommen. ‒ ‒
So steht ihr Beide euch dann gegenüber,
und keiner wagt, sich selbst zu über
182 Die Ehe
winden, ‒ keiner will „der Erste
sein, der sich versöhnlich zeige...
In kindlich lächerlicher „Pädagogik”,
wollt ihr, die ihr euch eben noch so
unerzogen zeigtet, nun euch gegen‐
seitig zu erziehen suchen, wobei ihr
ganz im Stillen hofft, erneuten Streit
am besten dadurch abzuhalten, daß
ihr euch jetzt, ‒ im Herzen längst ver‐
zeihend, ‒ nach außenhin recht un
versöhnlich zeigt, da so der Andere
sehen könne, wie es schwer sei, nach
dem Streite wieder Frieden zu er‐
langen...
Ihr solltet euch fürwahr ein wenig vor‐
einander schämen, ‒ vielleicht, daß
dann die Scham euch schneller zu‐
einander führen könnte! ‒ ‒
In eurer Art, Versöhnung zu ver‐
183 Die Ehe
suchen, werdet ihr euch gegenseitig nur
stets weiter quälen und wenn kein
äußeres Geschehen euch zuhilfe
kommt, das euch zu zwingen weiß,
euch wieder zu vereinen, dann könnt
ihr tagelang so weiterschmollen, ohne
euch zu finden! ‒ ‒
Ihr kompliziert das ohnehin euch nicht
ganz einfach Scheinende in eurer Vor
stellung nur immer mehr, und immer
schwerer wird es euch, Nächst
liegendes zu tun, indem ihr gegen‐
seitig eines jeden Mund, ‒ der doch
nicht weiß wie er die erste Rede
formen soll, ‒ mit einem resoluten,
heißen Kuß verschließen würdet...
Damit es aber niemals euch begegnen
kann, daß ihr wie trotzig-ungezogene
184 Die Ehe
Kinder aufeinander wartet: ‒ „Wer
wird nun der Erste sein, der nach
gibt?” ‒ so will ich euch raten, daß ihr
gegenseitig euch in guten Tagen streng
gelobt, euch niemals abzuweisen,
wenn, nach einer Trübung eures Einver‐
nehmens, der eine Eheteil den anderen
versöhnen will! ‒ ‒
Ihr sollt euch dabei feierlich ver
pflichten, daß eure Aussöhnung auch
niemals durch die liebe Eitelkeit
behindert werden darf, und daß der
Erste, der Versöhnungswillen zeigt,
nicht etwa fürchten muß, sich durch sein
Wiedernahenwollen als am meisten
schuldhaft zu bekennen! ‒ ‒
Ihr sollt euch weiter streng geloben,
daß nach erfolgter Aussöhnung, der
Grund” des beigelegten Streites nicht
mehr Gegenstand erklärender Erör
185 Die Ehe
terungen werden darf, und daß es nie
für einen von euch Beiden etwa „Unter
werfung” heißen soll, wenn er, als
bald nach einem Zwist, dem anderen
Teile in Versöhnlichkeit zu nahen
sucht! ‒ ‒
Wenn es euch schon unmöglich wurde,
stete Eintracht zu erhalten, so wird
euch wenigstens nun das bestehende
Gelöbnis helfen, Trotz und Eitel
keit zu überwinden, wenn sie euch
hindern wollen, euch erneut in Eintracht
zu begegnen. ‒ ‒ ‒
Besser freilich ist es, ihr erzieht euch
gegenseitig durch das Beispiel und die
Tat, und gegenseitig wissend, daß ihr
euch dazu erziehen wollt: ‒ zum Wil
len zur Einigkeit!
186 Die Ehe
Auch da muß aber alle Eitelkeit von
vornherein beseitigt werden!
Es muß unmöglich sein, daß einer von
euch Beiden etwa „triumphiert”, weil
er den anderen in Schwäche sah, und
nur durch eigenes kluges Handeln
einen Streit vermied! ‒ ‒
Ihr sollt vielmehr, ‒ des Glückes einge‐
denk, daß ihr euch helfen könnt, ‒ in
jedem Augenblicke eures Lebens euch
auch helfen wollen, ohne aber jemals
euch zu überheben, wenn ihr helfen
durftet! ‒
Der einen Streit vermeiden half, weil
er in kluger Weise „einzulenken”, ‒
nachzugeben” wußte und nicht noch
Öl ins Feuer goß, darf sich wahrhaftig
seiner Kraft der Mäßigung er
freuen, ‒ allein, in gleicher Weise
187 Die Ehe
wird der andere Teil, der sich zur
Ruhe wenden ließ, auch wenn ihn
schon Erregung fassen wollte, sich
in Freude fühlen dürfen, weil es ihm
gelang, sich selbst erneut in eigene
Gewalt zu bringen. ‒ ‒
Nur dann seid ihr in rechter Auffassung
der Dinge, wenn ihr euch gegenseitig
immerdar zu danken wißt, daß es
durch eurer Beider guten Willen
wieder möglich war, die Glücksge
fahr zu bannen!
Es ist jedoch auch hier nicht gut, etwa
nachher davon zu sprechen, wie man
der Gefahr entronnen sei, ‒ wo
sich der Fehler finde, der sie immer‐
hin heraufbeschwor, und wer wohl
richtiger gehandelt habe...
Auch ohne jegliche Erwähnung weiß
188 Die Ehe
der Teil, der sich vorher „vergessen
hatte, daß er fehlte.
Er wird dir sehr zu danken wissen,
wenn du es ihm allein nun überlassen
willst, in sich die rechte Art und Weise
aufzufinden, wie solches Fehlen künf
tig meidbar werden könne! ‒ ‒
Nichts aber rächt sich bitterer in
einer Ehe, als ein Zwang, sich ge
genseitig voreinander zu ernied
rigen!
Demütigungen voreinander sind das
fürchterlichste Gift für eine jede Ehe,
und nach Jahrzehnten noch kann die‐
ses Gift zur Wirkung kommen! ‒ ‒ ‒
Ihr sollt euch gegenseitig nur in Ehr
furcht sehen wollen, und müßt ihr
euch zuweilen auch in euren Schwä
189 Die Ehe
chen sehen, so dürft ihr doch die Ehr
furcht voreinander nicht verlieren!
Überseht, bewußt, die Schwächen, ‒
redet nie davon, ‒ und zeigt einander
nicht, daß einer um des anderen Schwäche
weiß! ‒ ‒ ‒
Stärkt ständig gegenseitig euer
Selbstvertrauen, und lehrt euch, durch
die Art, wie ihr euch zu begegnen wißt,
die Achtung vor euch selbst! ‒ ‒ ‒
Verpflichtet euch, daß ihr allein das
Gute, Starke und Erfreuliche an euch
beachten, ‒ was fehlerhaft und
schwach ist, aber ignorieren wollt!
‒ ‒ ‒
In keinem menschlichen Verhältnis ist
es so verhängnisvoll, dem Neben‐
menschen seine Fehler vorzuhalten,
als in einer Ehe...
190 Die Ehe
Was man sich in der Ehe gegenseitig
lehren kann, das muß für jeden beider
Teile aus dem eigenen Erleben re
sultieren!
Nie darf man etwa gegenseitig sich „be
lehren” wollen, so wie der Lehrer
seinen Schüler lehrt! ‒ ‒ ‒
Es ist zu tief schon im Geschlechtlichen
begründet, daß jeder Teil vom anderen
nur in der denkbar schönsten Form
gesehen werden will, als daß ein stetes
Lehrenwollen, oder gar ein täppisch‐
tölpelhaftes stetes Fehlerkorrigieren,
nicht die unheilvollsten Folgen haben
müßte, selbst wenn sich diese Folgen
nicht im Augenblicke zeigen! ‒ ‒ ‒
Wie sollen in der körperlichen Einung
sich die Seelen einen können, wenn
stetig der Gedanke Störung schafft, daß
191 Die Ehe
hier nur körperlicher Trieb befriedigt
werden will, derweil dem anderen Teil
nichts recht an einem ist, ‒ es sei
denn eben dieser Leib, der sich miß
braucht fühlt, wird er nur zum Spiel
ball der Begierde von dem Anderen
herabgewürdigt!? ‒ ‒ ‒
Kein Mensch ist ganz von allen Fehlern
frei, doch ist es nur naturbedingt, daß
er sie dort, wo er Geschlechtsverei
nung sucht, von seinem Gegenpole
übersehen wissen will! ‒
So mancher Ehebruch ist nur begangen
worden, weil ein Mensch in seiner eige‐
nen Ehe sich um seiner Mängel wil
len so gering geachtet wußte, daß es
ihm wie „Erlösung” schien, als er den
anderen Menschen außer seiner Ehe
fand, der ihn ‒ trotz seiner Mängel ‒
schätzte, und ihn in jener Art zu
192 Die Ehe
sehen suchte, wie er selbst gesehen
werden wollte...
Gewiß ist hier zu sagen, daß das Leben
einer Ehe einen Menschen anders zeigt,
als er sich dort gibt, wo kein rechter
Anlaß ist, der seine Fehler offenbaren
könnte!
Allein: ‒ gerade so, wie er sich ohne
seine Fehler gibt, will jeder Mensch
von Anderen „genommen” werden...
Da es nun in der Ehe aber unvermeid
bar bleibt, daß man sich auch in seinen
Fehlern kennenlernt, so ist da nur zu
helfen, wenn man gegenseitig sich
verpflichtet, daß man mit aller Ab
sicht seine Fehler übersehen will.
‒ ‒ ‒
So nur wird man sich vieles Leid er
193 Die Ehe
sparen und sich gegenseitig wirklich
Glück ins Leben bringen!
Versteht ihr, was es heißen will, ein
Glück der Einheit als ein Glück zu
Zweien in der innigsten Vereinung
aufzurichten, dann wird es euch gewiß
gelingen, eure Ehe rein zu halten von
Verärgerung und Zwist!
Ihr werdet jeglicher Gefahr begegnen
können, wenn ihr nur euch vereinigt
wißt im Willen zur Einigkeit! ‒
Auch hier wird bloßer „Wunsch” nur
wenig helfen können!
Es wird nur selten Menschen geben, die
nicht „wünschen” würden, Einigkeit in
ihrer Ehe zu erhalten...
Wenn es nun trotzdem so viel Streit
194 Die Ehe
und Zank in manchen Ehen gibt, und
auch die scheinbar „guten” Ehen sich
noch Überfluß an Leid durch manche
Trübung ehelichen Einvernehmens schaf‐
fen, so ist das daran nur gelegen, daß
der Wille mangelt! ‒ ‒ ‒
Meist ist man solchen Mangels nicht
bewußt, da man den „Wunsch” schon
für den Willen hält...
Wille zur Einigkeit lebt aber nicht, wie
jeder bloße „Wunsch”, nur aus der
Hoffnung, daß vielleicht gelingen
möge, was man wünscht!
Wille zur Einigkeit ist unverbrüchliche
Gewißheit, daß man Einigkeit erhal‐
ten kann und Einigkeit erhalten wird!
‒ ‒ ‒
Wille zur Einigkeit kennt keine
Grenze des Vertrauens zu sich
195 Die Ehe
selbst, und weiß sich unbesiegbar
auch wenn ständig ihn Gefahr um‐
droht! ‒ ‒ ‒
Von solchem Willen aber, ‒ nicht von
„Wünschen” hängt es ab, ob eurer Ehe
stete Einigkeit erhalten bleibt! ‒
So werdet ihr euch nun entschließen
müssen, diesen Willen aus dem „Wun‐
sche” zu erwecken und ihn stetig in
euch wach zu halten! ‒ ‒ ‒
Seid ihr im wahren Willen zur Einig
keit, dann wird Zwietracht eure Ehe
nicht erreichen können!
Nichts wird euch gleichen Wertes dün‐
ken, wie euer Glück, das nur errichtet
werden kann, wenn Eintracht in der Ehe
unverletzlich bleibt! ‒ ‒ ‒
Dann aber wird die Liebe erst in eurer
196 Die Ehe
Ehe die Erfüllung finden, die sie in
jeder Ehe finden sollte!
Dann ist die Liebe eurer Ehe wahrlich
stärker als der Tod”, und bleibt
bestehen, wenn auch dieses Erd
balls Trümmer längst im Raum zu
Weltenstaub zermahlen wurden! ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
*           *
*
197 Die Ehe
ACHTES KAPITEL
VON DER
VERERBUNG DES GLÜCKS
WO jemals hier auf Erden Glück
erstand, da mehrte es die Glückes‐
Möglichkeiten dieser Erde noch für
fernste Generationen!
Glück aber läßt sich in gewissem Sinne
auch „vererben”, und wie sich erden
hafter Reichtum fortvererben läßt auf
Kind und Kindeskinder, so kann ein
Elternhaus sein Glück: ‒ das Glück
der wahren Ehe, allem was aus ihm
hervorgeht, hinterlassen...
‒ Von seinen frühesten Tagen an wird
es dem Kinde einer Ehe fühlbar
werden, ob seiner Eltern Lebensbund
mit Glück gesegnet ist, wie es auch
fühlen muß, ob Hader und Zerwürf
nis beide Menschen trennt, die ihm sein
erdenhaftes Leben gaben. ‒ ‒
Wohl kommt es dem Kinde noch nicht
201 Die Ehe
zu Bewußtsein, was es fühlt, und doch
ist es, ‒ noch nicht imstande, sein
Empfinden sich zu deuten, ‒ ge
zwungen, jede Schwingung auf
zunehmen, die aus dem Blute derer
kommt, die sich in ihm auf Erden
irdisch weiterzeugten...
Man weiß sehr wohl, daß sich im Blute
Kraft wie Krankheit fortvererben: ‒
Begabung und Talent, wie stumpfes
Unvermögen, allein man ahnt zur Zeit
noch nicht, daß Blut Aussender und
Empfänger feinster Strahlen ist, für
die das Instrument, das sie bezeugen
könnte, noch nicht erfunden wurde, ‒
vielleicht auch nie erfunden werden
kann. ‒ ‒
So weiß man denn auch nicht, daß
dieser Strahlen Schwingungsart
202 Die Ehe
bestimmt wird durch das Eltern
paar, ‒ durch Zeit und Ort der väter‐
lichen Zeugung, wie der mütterlichen
Schwangerschaft, ‒ und daß natur‐
gegebene Verbindung zwischen Kind
und Eltern bleibt, solange dieser Eltern
Erdenleben währt. ‒ ‒ ‒
Man weiß nicht, daß hier steter
Schwingungsaustausch wirkt, durch
den der Vater unbewußt des Kindes
Seele formt, die Mutter aber noch
weit stärker dieser Seele Formung
mitbestimmt vom ersten Tage an. ‒ ‒
Auch wenn das Kind erwachsen ist,
bleibt dieser Schwingungsaustausch stets
bestehen, mag ihm dann auch des
Kindes Eigenleben stärkere Verdrän
gung schaffen, oder mag er nach wie
vor in gleicher Weise aufgenommen
werden. ‒
203 Die Ehe
Nur dann ist eine Art der Trennung
hier bewirkbar, wenn das Kind bewußt,
durch eine neue intensive Einstellung
des Fühlens, sich einem anderen Men‐
schen durch die Strahlungen des Blutes
zu verbinden sucht.
Dann wird der Austausch zwischen Kind
und Eltern zwar nicht völlig auf
gehoben, jedoch in seiner Wirkung
ausgelöscht.
Doch kann er jederzeit erneut in Wir‐
kung treten, durch bloße Willens-Ein‐
stellung. ‒
Von diesen Dingen wußten immer nur
sehr Wenige auf Erden, obwohl auch
Andere sie erahnten, so daß man von
dem „Band des Blutes” sprach, und
Blutsfreundschaft” besiegelt wähnte,
204 Die Ehe
wenn zwei Menschen sich zusammen‐
fanden und symbolisch Tropfen ihres
Blutes mischten...
Soll ich hier aber geben, was zu geben
ist, so muß ich das Bestehen dieser
Strahlungen des Blutes vorerst zur
Erwähnung bringen, da auf ihnen jene
Möglichkeit beruht, das Kind vom ersten
Tage seines Daseins an zur Glücks
gestaltung anzuregen, wie auch, der
Kindesseele Kräfte umzukehren, so
daß sie dann in seinem ganzen Leben
triebhaft alles aufzusuchen streben, was
dem Kinde Unheil bringen muß. ‒ ‒ ‒
Sobald das Kind ins Dasein tritt, wird
einer Ehe neue unerhörte Pflicht er‐
wachsen, durch Verantwortung für
neues Leben, dem man Glück nur dann
205 Die Ehe
vererben” kann, wenn man sich
selber Glück zu schaffen wußte...
Während irdischer Besitz dem über‐
lebenden Geschlechte aber dann erst
Erbe” werden mag, wenn die Voran‐
gegangenen von dieser Erde scheiden,
wird Glück und Unglück schon vom
Mutterleibe hervererbt”. ‒ ‒
Und stets wird dieses Erbe dann ver
mehrt, und auch vermindert werden
können, bis an der Eltern Lebensende
auf der Erde...
Ausschlaggebend aber bleibt, was in
der Kinderzeit dem neuen Leben dar‐
geboten wurde!
Zwar kann das Kind auch später gegen
dieses Erbe kämpfen, ‒ mag es
sein Glückeserbe nicht zu schätzen
wissen, oder sich aus seinem Unheils‐
206 Die Ehe
erbe lösen wollen, ‒ allein, was ihm
die Eltern in der Kinderzeit „vererb‐
ten”, wird niemals gänzlich zu ver
nichten sein, ‒ ‒ wie mancher dank‐
bar anerkennen wird, der sich sein
Glück zu schaffen wußte auf dem
Unterbau, den ihm das Elternhaus
bereitet hatte, und was auch leider
mancher täglich neu bestätigt findet, der
schwer zu kämpfen hat, um sich
von seinem Unheilserbe zu be
freien. ‒ ‒ ‒
Ich muß jedoch ausdrücklich hier beto‐
nen, daß ich noch immer von dem „Erbe
rede, das durch des Blutes Strahlung
jedem Kinde mitgegeben wird, und daß
es sich dabei um weitaus Wichtigeres
und Bedeutenderes handelt, als
alles darstellt, was durch äußere Er
207 Die Ehe
ziehung dargeboten werden kann!
‒ ‒ ‒
Wo eine Ehe sich ihr eigenes Glück
noch nicht zu schaffen wußte, dort ist
das Kind sehr in Gefahr, durch Strahlun‐
gen geformt zu werden in der Seele, die
aus dem Blute noch sehr schwanken
der und disharmonischer Erzeuger
kommen, so daß es dann ein „Erbe
mit durchs Leben schleppen muß, das
ihm wahrhaftig nicht viel Segen
bringen kann...
Nicht unbekannt ist vielen Ehepaaren,
die arm an äußeren Gütern sind, die
Sorge, ob sie auch ein Kind ernähren
könnten, ‒ und manches neue Leben
muß durch solche Sorge seiner Zeuger
schon im Mutterleib erfahren, daß es
unerwünscht ins Dasein treten wird.
208 Die Ehe
Viel wichtiger jedoch als diese Eltern‐
sorge, die ja doch dann meistens irgend‐
wie noch zu beheben ist, muß stets
die Sorge bleiben um das Glückeserbe,
das man seinem Kinde darzubieten hat.
‒ ‒ ‒
Doch ist auch diese Sorge weitaus
leichter aus der Welt zu schaffen,
wenn man nur selbst sich zur Erkenntnis
durchzuringen weiß, daß man ver
pflichtet ist, sein Eheglück sich zu ge‐
stalten, wodurch man dann auch seinem
Kinde Glück „vererben” kann. ‒ ‒
Wie aber Eheglück zu schaffen ist, das
wurde hier in mannigfacher Weise
wahrlich schon genugsam dargelegt.
‒ ‒
Zwar weiß ich nur zu gut, daß dieses
209 Die Ehe
Buch nicht all' die tausendfältigen
Gegebenheiten in Betrachtung zie
hen kann, die da im Einzelfall von
denen, die es angeht, weise zu beachten
sind, ‒ doch sind hier alle Einzelfälle
durchaus einbezogen, so daß sich jede
Ehe das, was ihren Sonderfall betrifft,
leicht aus des Buches Worten abzuleiten
wissen wird...
Ich aber weiß auch, daß es mir unmög
lich bleibt, durch Worte der Belehrung
nun auf einmal allen Ehen, die bisher
ihr Glück versäumten, ohne Zutun
der zunächst Beteiligten, das große
Glück zu bringen. ‒
Bei keiner menschlichen Beziehung hier
auf Erden läßt sich von außenher so
wenig helfen, Glück zu schaffen, als
bei der Ehe!
210 Die Ehe
Hier finden die nur Hilfe, die sich lehren
lassen wollen, wie sie selbst sich hel
fen können! ‒ ‒ ‒
Ihnen nur ist dieses Buch gewidmet!
Wo wahres Eheglück besteht, dort
wird das Kind der Ehe aber nicht nur
jenes Glückeserbe mitbekommen, das
aus dem Blut der Eltern auf das neue
Leben überstrahlt und seinem Blute
Rat und Richtung gibt, sondern solches
Erbe wird auch Zuwachs finden in dem
Außenleben eines Elternhauses. ‒
So wie das Wort nur dann „erzieht”,
wenn es durch Beispiel die Bestäti
gung empfängt, so wird, was Gutes
aus dem Blute überstrahlt, verdoppelt
wirken, wenn das Elternhaus in dem ein
Kind heranwächst und in dem es selbst
211 Die Ehe
als mitbeteiligt sich erlebt, von Glück
und Frieden zeugt und ihm den Ein‐
druck in die Seele prägt, daß eine an
dere Art zu leben, als sie hier sich
auswirkt, gar nicht möglich sei.
‒ ‒
Mag auch dann später arges Ungemach
in eines solchen Kindes Leben treten, so
wird es dennoch über dem Geschehen
stehen, denn, was das Elternhaus ihm
mitgegeben hat, bleibt starker Halt,
auch dann, wenn alles Andere wankt!
Wer da aus eigener Erfahrung aus dem
Elternhause her noch weiß, wie reich die
Glückes-Möglichkeiten dieses Erden‐
lebens sind, der wird dem Leben nie
mals fluchen können, auch wenn, ‒
verschuldet, oder unverschuldet, ‒ bit
teres Leid durch Andere ihm wider
fahren mag! ‒
212 Die Ehe
Er findet in sich selbst die Kraft zum
Neubeginn, und wird sich, ‒ selbst
aus Trümmern noch, ‒ sein neues
Glück zu schaffen wissen! ‒ ‒ ‒
Alles Glückeserbe trägt ja dadurch in
sich selbst den hohen Wert, daß es den
„Erben” lehrt, sein eigenes Glück zu
schaffen! ‒ ‒
Es ist einErbe”, das man nur ge
nießt, indem man es benützt zu eige
nem Wirken! ‒ ‒ ‒
Vergeblich suchen die nach Glück, die
immerfort nach neuen Wegen Ausschau
halten, auf denen sie ihm wohl begeg
nen könnten! ‒
Vergeblich wird man auch das Glück
erwarten, so als ob es eines Tages
213 Die Ehe
kommen müsse, weil man ein Recht zu
haben glaubt auf Glück! ‒ ‒
Man hat kein „Recht” auf Glück, ‒ wohl
aber hat ein jeder Mensch die Pflicht,
sein Glück zu schaffen, was schon das
Volkswort ahnt, wenn es von einem,
den es „glücklich” nennt, zu sagen weiß:
Er hat sein Glück „gemacht”! ‒ ‒ ‒
Nirgends wird man wahres Glück
auf Erden finden, ‒ es sei denn,
daß es einer sich geschaffen hätte!
‒ ‒ ‒
Auch jenes Glückeserbe, das dem Kinde
durch die Eltern werden kann, muß
erst geschaffen werden von den El
tern! ‒ ‒
Es wird erst dann dem Kinde wirken
der Besitz, wenn sich das Kind, bereits
herangewachsen, nicht mehr nur an sei‐
214 Die Ehe
nem Glückeserbe freut, sondern er‐
kennt, daß ihm nun Pflicht erwächst,
sein Erbe zu gebrauchen, und auf ihm
sein eigenes Glück sich zu erbauen.
‒ ‒
Die aber werden es am besten bauen
lernen, die schon im Elternhause mit
erlebten, wie ein Glück sich aufer
bauen läßt...
Die werden nie die Kraft verlieren,
neues Glück zu schaffen, auf die in ihrer
Jugend einst die Kraft von Eltern über‐
strömte, die da selbst das Glück zu
schaffen wußten! ‒ ‒ ‒
So wird das Glück der guten Ehe noch
auf Kindeskinder überströmen, und
immer wieder neue Glückesmöglichkeit
erzeugen!
215 Die Ehe
Selig die Ehe, die auf solche Art zu
einem Schatzhaus wird, das seinen
Glückesreichtum nie vermindert sieht,
wie überreich er sich auch in die Welt
ergießen mag!
‒ Und alles, was man sonst auf dieser
Erde finden kann, bleibt nur ein klei
nes neben jenem Glück, das in der Ehe
aufgerichtet werden soll! ‒
Was hier auf Erden sonst noch als be‐
gehrenswert erscheint, ist selten in des
Menschen freie Macht gegeben.
Stets zeigt es sich bedingt durch
Außendinge: ‒ kann durch Andere
behindert und vernichtet werden!
Das wahre Glück der Ehe aber ist im
inneren Leben nur zu gründen, und
ward es da auf festen Fundamenten auf
erbaut, dann kann nichts Äußeres
216 Die Ehe
es jemals mehr zerstören, ‒ ja selbst
den Erden-Tod wird es zu über
dauern wissen, wollen die es sich er
halten sehen, die es sich einst schufen!
‒ ‒ ‒
So aber wird auch eines Kindes
Glückeserbe aus der guten Ehe sei
ner Eltern tief verankert sein im in
neren Leben, und keine Macht der Erde
wird dem Kinde je sein „Erbe” rauben
können, das ihm erhalten bleibt, selbst
in der Ewigkeit! ‒ ‒ ‒
*           *
*
217 Die Ehe
NEUNTES KAPITEL
VON
EWIGER VERBUNDENHEIT
ALLES Glücksverlangen, das hin‐
aufreicht über niederes irdisches
Begehren, ist nur Sehnsucht nach Ver
einigung der Geister in dem Geistes‐
Urgrund, der sie ewig zeugt, und ewig
sie aus sich entläßt, um ewig wieder
sie in sich zurückzunehmen...
Noch aber ist der Menschengeist der
Erde Irdischem verhaftet, das dort, wo
seine Sehnsucht Einung will, nur Tren
nung schafft. ‒ ‒
Freundschaft entsteht, und sucht die
Trennung aufzuheben, ‒ aber siehe:
‒ Freund und Freund verbleiben den‐
noch Einer nur und Einer, die sich beide
nie im Innersten zu Einheit ineinander‐
schmelzen können! ‒ ‒
Nur die Ehe, die das Männliche dem
221 Die Ehe
Weiblichen vereint, schafft wirklich
eine neue Einheit! ‒ ‒ ‒
Hier ist nun Mensch und Mensch zu
übererdenhaftem Ganzen neu ver‐
schmolzen, so wie einst beide vor dem
„Fall” in irdische Erscheinungswelt ver‐
einigt waren! ‒ ‒ ‒
Mag das auch den Vereinten nur in sel
tenen hohen Fällen zu Bewußtsein
kommen, so ändert dies nicht, daß die
Einung nun erneut im gleichen Ur
grund allen Seins Ereignis wurde,
in dem sie einstmals urgegebenes Er‐
eignis war. ‒ ‒ ‒
Das Allerwenigste von dem, was
wirklich ist, wird Menschen je „be
wußt”, und was im Un-Bewußten,
Un-Gewußten bleibt, ist dennoch für
den Menschen mehr bestimmend,
222 Die Ehe
als alles was ihm zu Bewußtsein
kommt. ‒ ‒ ‒
Sobald auf dieser Erde Mann und
Weib sich gegenseitig angeloben, ‒
im festen Willen, ihr Gelöbnis immer
dar bis an das Ende ihres Erden
daseins aufrecht zu erhalten, ‒ er‐
steht im wesenhaften Geiste eine neue
Einheit: der Form nach völlig jener
Einheit gleich, in der einst jeder dieser
beiden, auf der Erde nun geeinten Men‐
schengeister, im Geistigen mit seinem
urgegebenen Gegenpol vereinigt war.
Für diese Erdenzeit ist stets der leib
lich sichtbare, dem anderen Teile ehe
lich verbundene Gegenpol, allein in
Wirksamkeit, ganz einerlei, ob es
sich, ‒ wie in äußerst seltenen Fällen,
223 Die Ehe
wirklich um zwei Pole handelt,
die dermaleinst vereint gewesen
waren und in der Zeiten Fülle wie
der sich für alle Ewigkeit vereinen
werden, oder um zwei urgegeben
fremde” Pole! ‒ ‒ ‒
Jeder Eheteil hat darum nur in dem ihm
hier auf Erden angelobten anderen
Eheteile seinen ihm vereinten Ge
genpol zu sehen, da während die
ser Erdenzeit kein anderer sich ihm
einen kann...
Nur mit ihm hat er die Geistes-Ein
heit aufgerichtet, von der allhier die
Rede ist, und niemals weiß hier auch
der Weiseste mit aller Sicherheit,
ob dieser, für die Erdenlebenszeit
vereinte Gegenpol ihm nicht auch
ewig als sein urgegebener Er-gän
224 Die Ehe
zungsteil verbunden bleiben wird.
‒ ‒ ‒
Nur ganz bestimmte geistige Erfah
rungsfähigkeit kann da zuweilen, ‒
wenn auch nicht ganz leicht, ‒ den
Schleier lüften...
Um aber keiner Frage Raum zu lassen,
muß ich hier erwähnen, daß auch dort,
wo sicherste Gewähr besteht, daß
zwei im Urzustand einst in Verei
nung geistgezeugte Gegenpole sich
als Erden-Menschen hier begegnet sind,
‒ die neue Einheitsform von der ich
rede, nur dann zu schaffen ist, wenn
diese beiden Erdenmenschen sich in
einer wahren Ehe hier für dieses
Erdenleben einen. ‒ ‒ ‒
Es ist diese „Einheitsform” eine gei‐
stige Gestaltung, die gleichsam latent,
225 Die Ehe
im Geiste stets als Möglichkeit gege
ben ist, doch aber nur, wenn Ehe
wille sie erneut „erregt”, zur Seins
wirkung gelangt, wonach sie dann
bestehen bleibt, solange dieser Ehe‐
Wille sich erhält. ‒ ‒
Erlischt er durch den Tod des Erden
körpers eines beider Eheteile, oder
durch die Lösung einer Ehe, so tritt
auch diese Einheitsform nun in Latenz
zurück, um stetig wieder neu zur
Seinswirkung zu kommen, wo
immer neuer, anderer Ehe-Wille sie
„erregt”. ‒ ‒ ‒
Man wähne nicht, im Ewigen sei
solches Werden und Vergehen, Ver
sinken und dann wieder Auferstehen
bestimmter Formen doch „unmöglich”,
226 Die Ehe
da Ewiges doch keinen „Anfang” und
kein „Ende” dulde! ‒
Hier tat der menschliche Verstand dem
Menschen wahrlich schlechten Dienst,
wenn er ihn zu verleiten wußte, sich nach
seinen, nur im Irdischen begründeten
Gesetzen, ein Bild des Ewigen zu
konstruieren!...
Da hier auf dieser Erde, wie im gan‐
zen sichtbarlichen Kosmos, alles, was da
Anfang” nimmt, auch „Ende” finden
wird, ‒ da hier, was sich aus „Ele‐
menten” einst zusammenfügte, auch
unerbittlich wieder auseinanderfallen
muß, ‒ so glaubt der irdische Verstand
sich sehr berechtigt zu dem billigen
Schluß: ‒ daß Ewiges dann nur im
Gegensatz zum Irdischen bestehen
könne, ‒ ‒ falls es überhaupt bestehe.
227 Die Ehe
Und die in solcher Weise klügelnd kal‐
kulieren, ‒ ihrer „Weisheit” froh, die
sie in unerschütterbaren „Denkge
setzen” felsenfest gegründet wähnen,
‒ ahnen nicht, daß sie mit einem
Maße messen, das im Ewigen nicht
existiert, da nur der wesenlose
Schein gewisser Denkvorgänge ihm
den Schein des Daseins schenkt.
‒ ‒ ‒
Mag es für irdisch-menschliche Gehirne
aber auch als völlig „unbegreifbar
gelten, so bleibt doch Ewigkeit, ‒ und
„Ewigkeit” ist nur das Sein des we
senhaften Geistes ‒ anfang- und
endlos immerdar nur Sein als stets
bewegtes Leben, von dem das
„Leben” dieser Erdenwelt, wie alles
physisch-kosmische Geschehen, nur fer
ner, letzter Abglanz ist, getrübt
228 Die Ehe
durch der „Materie” rauhen, dunklen
Spiegel. ‒ ‒ ‒
In wesenhafter Ewigkeit, ‒ im reinen
Geiste, ‒ ist die Ehe zweier Erden‐
menschen nur allein begründet! ‒ ‒ ‒
Wäre diese letztliche Begründung nicht
gegeben, dann wäre füglich nicht von
Ehe” mehr zu reden, sondern nur von
der Verbindung der Geschlechter: aus
eigenem Wohlgefallen aneinander,
und, um dieser Erdenmenschheit Nach
wuchs zu erzeugen...
Dann bliebe freilich alles Miteinander‐
leben der Geschlechter auch am besten
freier Willkür überlassen, ‒ nur dort
etwa noch eingedämmt, wo Dämme auf‐
zuwerfen wären um der Gesamtheit
Wohl nicht zu gefährden. ‒
229 Die Ehe
Nun aber ist es Erdenmenschen mög
lich, in männlich weiblicher Verschmel‐
zung einen Tempel aufzurichten, der
bis ins Innerste der Gottheit ragt!
‒ ‒ ‒
Mann und Weib und Weib und
Mann, reichen an die Gottheit an
‒ singt Weisheit wie aus Kindermund
in einem Texte, den ein naiver „Wissen‐
der” dem größten Künstlergenius seiner
Zeit zur Tongestaltung bot. ‒ ‒ ‒
Im reinen Geiste wird die Ehe zweier
Erdenmenschen geistiges Geschehen!
Auf solche Art, und nicht etwa durch
Priesterwort, noch weniger gar durch die
Anerkennung staatlicher Behörden, die
allein der Ordnung irdischen Geschehens
230 Die Ehe
dient, empfängt die Ehe ihre hohe
Weihe in der Ewigkeit! ‒ ‒ ‒
Dunkles Ahnen dieses wirklichen Ver‐
bundenwerdens in der Ewigkeit, spricht
Volksweisheit im Sprichwort aus, wenn
sie zu sagen weiß, daß „Ehen im Him
mel geschlossen” würden...
Und selbst die machtbewußte Kirche
Roms hat längst entschieden, daß das
Versprechen zwischen Mann und
Weib, einander bis zum Tode in der
Ehe zu gehören, an sich bereits die
Ehe schließt, und daß der Weiheakt
des Priesters nur die so geschlossene
Ehe segnen könne, ‒ ‒ auch wenn
man es geflissentlich vermeidet, diese,
nach dem Dogma durch denheiligen
Geistgegebene, Konzilsentscheidung
allem Volk bekanntzugeben. ‒ ‒
231 Die Ehe
Noch wirkt die alte Weisheit Wissender
auch dort sich aus, wo man den
Schlüssel längst verloren hat, der
heutigen und kommenden Geschlechtern
uralt hehre Tabernakel öffnen
könnte...
Doch auch im innersten Gefühl des
Menschen, der die Ehe kennt, wie
sie Gestaltung hier auf Erden finden
soll, wird leise zu ertasten sein, daß
ein Mysterium in der wahren Ehe sich
erfüllt, ‒ ‒ auch wenn man nicht die
letzte Wirklichkeit erschaut, die strah‐
lend über jeder wahren Ehe auf zum
Himmel ragt. ‒ ‒ ‒
Diese Wirklichkeit jedoch wird jedes
Ehepaar allmählich mehr und mehr er
fühlen lernen müssen, wenn es er‐
232 Die Ehe
kennen will, daß es im Ewigen ver
bunden ist. ‒ ‒ ‒
Im Irdischen herrscht Auswirkung des
kosmischen, unbeugsamen Gesetzes,
und Liebe kann hier nur begrenzt ins
Dasein wirken. ‒
Was man auf Erden „Liebe” nennt, ist
nur ein schwacher Wiederschein der
Liebe, die des Geistes Ewigkeit im
Sein durchflutet: ‒ der Liebe, die in
Gott und Gottes Leben ist, ‒ die alles
was das kosmische Gesetz erstrebt und
nie erreichen kann, erst zur Erfüllung
bringt! ‒ ‒ ‒
Ihr wirkungsvollster Wiederschein
auf Erden wird Erlebnis in der wahren
Ehe!
Ihn zu erleben und erlebend zu emp
233 Die Ehe
finden, ist der Ehe höchstes, ihr allein
nur vorbehaltenes Glück! ‒ ‒ ‒
Wo immer dieser reinste Wiederschein
der Liebe, die da Gottes Leben ist, in
Einheit geistigkörperlicher Ineinander‐
schmelzung zum Erlebnis wird, dort
hat das Reich des wesenhaften Gei
stes sich dem Irdischen verbunden,
‒ und ‒ wie einst alle Menschen‐
geister sich in Liebe einen werden in
der Ewigkeit, so wurden Mann und
Weib, die solches heiligste Erleben
kennen, hier auf Erden schon ge
eint. ‒ ‒ ‒
Wo aber diese Geistereinigung ein‐
mal besteht, dort wird sie auch nicht
aufgehoben, wenn in der Ewigkeit
dereinst sich jene urgegebenen Pole
234 Die Ehe
wiederfinden, die hier getrennt und
meist nicht umeinander wissend, im
Menschentieresleibe über diese Erde
schreiten. ‒ ‒ ‒
Im Geistigen durchdringt das Ein
zelne sich gegenseitig, und so auch
lebt der Geistesmensch, der in Vereini‐
gung mit seinem Gegenpol den urgege‐
benen Zustand seines Seins zurück‐
errungen hat, in gegenseitiger Durch
dringung aller anderen erneut Ge
einten. ‒ ‒ ‒
Es ist nicht etwa so, daß eine Ehe, die
sich hier auf Erden in der höchsten
Glücksvollendung fand, obwohl die
beiden Eheteile keineswegs etwa
auch urgegebene Einheitspole wa
ren, nun in der Geisteswelt durch un‐
gewollte Trennung leiden könnte!
235 Die Ehe
Nur, was getrennt sein will, ist dort ge‐
trennt, und schon der Wille eines Teils
genügt, um solche Trennung zu bewir‐
ken, bis einst beide Teile auf der glei‐
chen höchsten Stufe stehen, auf der es
keinen Trennungs-Willen gibt...
Auf jenen niederen Stufen geistig‐
wachen Seins jedoch, die nach dem „Tode”
dieses Erdenkörpers erst durchschritten
werden müssen, herrscht in gleicher
Weise Trennungs-, wie Vereinungs
wille. ‒
Wenn aber Trennungswille wirksam
ist, durchdringt das Einzelne einander
ohne gegenseitig seiner Gegenwart
bewußt zu sein, wogegen der Ver
einungswille gegenseitiges Erleben
im Durchdringen schafft, das über jede
erdenhafte Vorstellung erhaben ist,
236 Die Ehe
und sich in Worten niemals schildern
lassen würde. ‒ ‒ ‒
Schwacher Abglanz solchen geistigen
Erlebens mag sich noch erahnen lassen
in der Vorstellung, als könne man hier
auf der Erde seinen Erdenleib verlassen,
um in dem geliebten Menschen, ‒ mehr
noch als ihm selbst je zu Bewußt
sein käme, ‒ jegliche körperliche,
jede Seelenregung intensiv und
klarbewußt mitzuempfinden...
Höchstes Sehnen aller wahrhaft
Liebenden auf dieser Erde findet so
im Geistes-Sein Erfüllung! ‒ ‒ ‒
Es ist die wahre Ehe wahrlich niemals
lösbar, und auch in aller Ewigkeit
wird sie bestehen bleiben!
237 Die Ehe
Jedoch ist sie auch keineswegs in einem
Menschenleben auf der Erde einmal
nur erlebbar!
Wo „Tod” die irdische Verbindung schei‐
det, dort kann der Überlebende sehr
wohl auch eine neue Ehe schließen, und
somit eine neue Einigung im Geiste
schaffen, die der ersten keinen Abbruch
anzutun vermag. ‒ ‒
Die geistige Durchdringung derer, die in
Liebe ewiglich verbunden bleiben,
kennt keine „Eifersucht”, da nichts im
Geiste ist, das sie begründen könnte,
‒ wie denn alle Eifersucht der Lieben‐
den auf Erden letzten Endes aus der
Seele banger Sorge kommt, erstrebte
Einung könne in Gefahr geraten, nicht
bewirkt zu werden...
Im Geiste aber ist die Einigung bewirkt
und nichts kann sie gefährden!
238 Die Ehe
In gegenseitiger Durchdringung ist
im Geiste alles in Ver-Einung, was
sich nur jemals auf der Erde hier in wah‐
rer Liebe fand! ‒ ‒ ‒
Was aber einmal in der Ehe hier auf
Erden schon zur Einung kam, das kann
durch Erdentod zwar körperlich ge‐
schieden werden, doch ist es niemals
mehr im Geistesreich zu trennen!
‒ ‒ ‒
Dort mehrt es nur den Einungswillen,
der einst aller Erdenmenschheit Geist
vereinung schaffen soll, und der in
jeder neuen wahren Ehe Mann und
Weib bereits zu solcher Einung
führt. ‒ ‒ ‒
So schafft die wahre Ehe wahrlich
ewige Verbundenheit, ‒ und nicht
239 Die Ehe
nur zwischen beiden Menschenpo
len, die sie geistig eint, sondern, in
anderer Weise, dann auch zwischen
ihnen und den schon im wesenhaf
ten Geist Geeinten in der Ewigkeit!
‒ ‒ ‒
Wohl denen, die hier fassen, was
da zu erfassen ist!
Wohl denen, die es in der Ehe zu er
leben wissen!
An allen Orten dieser Erde sollten „Tem
pel der Ehe” sich erheben, ‒ Weihe‐
stätten, deren Priesteramt nur Menschen
führen dürften, die um die Möglich
keit der Geisteseinung in der Ehe
wissen, und gewillt sind, sie mit
allen Kräften zu erstreben!
Hier sollten alle Dinge würdige Bera
tung dann erfahren, die irgendwie ge‐
240 Die Ehe
eignet scheinen, um in dieser Welt: der
Ehe hehrer Heiligkeit zu dienen!
Von hier aus sollte man versuchen, allen
Ehen auch die äußeren Bedingungen
zu schaffen, unter denen sie gedeihen
könnten!
Von solchen hohen Weihestätten sollte
alle Sorge um die Jugend ihren Aus‐
gang nehmen!
Hier sollten alle Liebenden die sich
zur Ehe einen wollen, gütigen Er
fahrungsrat empfangen!
Hier sollte allen denen Hilfe darge
boten werden, die ihrer Ehe Glück
nicht schaffen konnten und sich vor
der Lösung ihrer Ehe sehen!
Wahrhaftig, ‒ hier wäre Großes
noch zu tun, und aller Menschheit
241 Die Ehe
würde Segen über Segen kommen
aus dem Wirken derer, die als wahre
Sorger um die Seelen, ‒ frei von
jeder Sucht nach Seelenfang für eine
Glaubensmeinung, ‒ hier zu helfen
suchen wollten, daß die Ehe werde,
was sie hier auf Erden sein kann,
weiß man von ihrer geistigen Be
gründung vor dem Angesicht der
Ewigkeit!!
Noch hat die Erdenmenschheit aber nicht
erkannt, daß alles Heil ihr aus der
Ehe werden könnte...
Noch sucht man nur „Verbesserung
zu schaffen da und dort mit redlichstem
Bemühen, und niemand scheint zu sehen,
daß der Menschheit nur zu helfen
wäre, würde diese Hilfe aus der
wahren Ehe sich von selbst erge
ben! ‒ ‒ ‒
242 Die Ehe
Niemand scheint zu wissen, daß die
menschliche Vereinung die das Leben
zeugt, natur- und geistgewollter Aus
gangspunkt für seine rechte Führung,
seine rechte Lenkung ist! ‒ ‒ ‒
Wenn Übel in der Menschheit zu be‐
kämpfen sind, ‒ und wer vermöchte
das zu leugnen? ‒ ‒ dann sind die
Wurzeln dieser Übel dort zu suchen,
wo man nicht um die hehre Heilig
keit der Ehe weiß, ‒ oder wo geile
Gier in Wort und Bild und Tat sie
schänden darf, ‒ oft noch des Beifalls
Solcher sicher, die ihre eigene Ehe
rein zu halten wissen! ‒ ‒ ‒
Hier muß Wandlung werden, soll die
Menschheit nicht in Lüsternheit und
seichtem Wohlbehagen an der steten,
nur zu gern gesuchten Überreizung im
Geschlechtlichen zugrunde gehen! ‒
243 Die Ehe
Vor allem aber wird das neue Leben, ‒
wird die Jugend, selbst sich schützen
müssen vor Verfall, und das kann
nur geschehen, wenn sie selbst die Ehr
furcht vor der Heiligkeit der Ehe in
den Herzen zu erwecken sucht!
‒ ‒ ‒
Nur einer Generation die um die Hei
ligkeit der Ehe weiß und so in tief
ster Ehrfurcht vor dem hocherha
bensten Mysterium des Menschen
steht, kann jene Menschheitszukunft
werden, die, von den Besten aller Völker
längst herbeigesehnt, gewiß erreichbar
ist, ‒ jedoch nur dann, wenn man sie
selber ‒ ‒ schafft! ‒ ‒ ‒
Der Wille nur, ‒ niemals der Wunsch!
‒ ‒ kann hier das hohe Wunder wir
ken!! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
244 Die Ehe
Dann wird so manche „Frage” lösbar
werden, die heute noch unlösbar
scheint, ‒ und großes Leid wird
aus der Erdenwelt verschwinden!
‒ ‒ ‒
Noch sind wir leider allzuweit von
dieser neuen Zeit die jedem Men
schen seines Menschtums heilig
hohe Würde zu Bewußtsein brin
gen wird! ‒
Und doch wird diese Zeit dereinst
erscheinen, ‒ wenn jeder Mensch der
hier zur Einsicht kommt, in sich die
Pflicht empfindet, alles was an seinen
Kräften liegt daranzugeben, um so
bald als möglich sie herbeizuführen!
Keiner glaube etwa, daß an seinen
Kräften allzuwenig nur gelegen sei!
Hier wird Jeder zum Verstärker eines
245 Die Ehe
Willens, der schon in der Welt vorhan
den ist, und dieser so geeinte Wille
wird sich seine Wege schaffen, um den
Willen Aller zu erreichen! ‒ ‒ ‒
Heilig wird dann allen heißen: ‒ der
Geschlechter Inbrunst, sich zu
einen! ‒ ‒ ‒
Heilig: ‒ das Mysterium des Zeu
gens und Gebärens! ‒ ‒ ‒
Heilig, ‒ dreimal heilig: ‒ die Ver
einung die das Weib dem Manne
eint, zu engverschmolzener Ge
meinsamkeit für Zeit und Ewigkeit!
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
*           *
*
246 Die Ehe
ENDE