ÜBER
DEM
ALLTAG
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KOBER' SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASEL
UM DEN FORDERUNGEN DES URHEBERRECHTES
ZU ENTSPRECHEN, SEI HIER VERMERKT, DASS
ICH IM ZEITBEDINGTEN LEBEN DEN NAMEN
JOSEPH ANTON SCHNEIDERFRANKEN FÜHRE,
WIE ICH IN MEINEM EWIGEN GEISTIGEN SEIN
URBEDINGT BIN IN DEN DREI SILBEN:
BÔ YIN RÂ
BASLE 1931
COPYRIGHT BY KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
INHALT Seite
Über dem Alltag 5
Meereserinnern 9
Wort im „Wort” 13
Er 17
Bedingnis 21
Notwendige Erdschwere 25
Werk des Lenkers 29
Der Leuchtende 33
Wenn 37
Leicht zu finden 41
Um mich selber wissend 45
Verlangtes Opfer 49
Der Gruß des Erstandenen 53
Joh. XIV, 6 57
In meinem Namen 61
„Ich”! 65
Menschwerdung 69
Schwere Forderung 73
Verkörperung des Geistes 77
Unvermögen 81
Verpflichtung 85
Wert des Wartens 89
„Weltanschauung” 93
Zeitwandel 97
Klugheit 101
Ehrfurcht den Alten 105
Jugendlob 109
Erfahrungsweisheit 113
Üble Folge 117
Vorzeitiges Vermeinen 121
Jung und Alt 125
Berufung 129
Wert des schönen Scheins 133
Gnadenreiche Lenkung 137
Originalscan1  Originalscan2
ÜBER DEM ALLTAG
Über dem Alltag
Wollen wir wandeln!
Doch soll es hier sich um Dinge handeln,
Die auch dem Alltäglichen zugehören.
Wir wollen nicht Sinn und Herz betören,
Zu glauben, der Alltag sei uns fern,
Lebten wir auf einem fernen Stern.
Wir wollen hier nur so manches betrachten,
Was alle Alltäglichen allzeit verlachten.
Wir wollen den Alltag lieben und ehren
Und keinem seiner Rechte wehren.
Doch wollen wir Höhen und Firnen ersteigen
Die auch Alltagsfernes uns nahe zeigen.
Wir wollen den Alltag
Unter uns sehen
Und uns in ewigem Lichte ergehen.
Wir wollen uns aus dem Alltag erheben,
Um kraftvoll in ihm uns erneut zu erleben!
*
7 Über dem Alltag
MEERESERINNERN
Das war am Meer ‒
Das war an nächtlichem Gestade ‒
Als ich zum erstenmale aus geweihtem Mund
Mich selbst in meinem Namen nennen hörte, ‒
Als Wahrheit wurde zugesagte Gnade,
Und kein Ersehnen mehr
Die Stunde störte.
Nun fühlte ich,
Bewußt in meinem Namen,
Zum erstenmal die Schwere meiner Bürde.
Daß Hochgeheiligte aus fernen Zonen kamen,
War Folgeleistung ihrer eigenen Würde.
Das war am Meer ‒
An griechischem Gestade ‒
Als keine Bindung mehr
Der Weihe wehrte, ‒
Und unerfaßlich lichterfüllte Gnade
Ewiger Urkunft mich erinnern lehrte...
*
11 Über dem Alltag
WORT IM „WORT”
Da ich zum erstenmal die geistgeeinten
Und mir im Geiste brüderlich vereinten
      Menschen,
Die ich, bis auf einen,
Niemals im Irdischen vordem gesehen hatte,
Meinen Namen
In der Weise ihrer Zungen
Sprechen hörte,
Fühlte ich im Innersten mich so erschüttert,
daß ich kaum die Sprechenden: ‒
Die geistgeeinten Meister, ‒
Um mich her noch klar gewahren konnte
Durch den Schleier den das Auge sich er‐
      zeugte...
Es war für mich erschreckend und verwirrend,
Daß sie mich in meinem Namen kannten: ‒
In dem ewigkeitsgezeugten Namen,
Der ich ‒ bin,
So, wie die Quelle Wasser ist,
Und eines Wortes Inbegriff:
Sein Sinn!
15 Über dem Alltag
Wohl war ich, was sie lauthaft sprachen,
Wie es sich in Menschenlauten wiedergeben
      läßt,
Seit Ewigkeiten, ‒
Doch niemand hatte vordem je
In erdenhaften Zeiten
Den Namen mir genannt,
In dem ich selbst mich kannte,
So, wie der ewigliche Vater mich im „Wort”
Bei Namen nannte.
Nun „gaben” mir die hohen Meister
Und von da an meine Brüder,
Diesen gleichen Namen
Hier in Lauten dieser Erde, ‒
Auf daß Urewiges allhier aufs neue,
Neu geformt, in ihm verkündet werde.
*
16 Über dem Alltag
ER
Eh' ich Ihn kennen konnte,
War er lange schon mir geistig nah.
Doch viele Jahre mußten so vergehen,
Ehe ich Ihn leibhaft vor mir sah.
Er, der in sich mich kannte
Und stets um mich war,
Erschien mir vordem gar als ungebannte
Drohende Gefahr.
Erst mußte alle Furcht ich in mir über‐
      winden;
Nicht eher durfte ich Ihn leibhaft vor mir
      finden.
Als ich Ihn dann erkannte,
Kannte ich mich langhin selbst nicht mehr,
Und was ich irdisch vordem lebte, ‒
Schwand mir,
Ward mir schal,
Vergessenswürdig,
Wertelos
Und leer.
‒ ‒ ‒
19 Über dem Alltag
Nun sind wir lang schon
Ineinander Eines
Und doch Zwei, ‒
Und solcherart vereint
Zu geistigem Bewußtsein ‒ :
In Zweieinheit ‒ Drei.
Nie wirkt der Eine, nie der Andere allein,
Denn jeder tritt zugleich für Beide
Und sich selber ein.
*
20 Über dem Alltag
BEDINGNIS
Unzähligemale
Bin ich gefallen!
Gefallen auf meinem Wege zum Licht, ‒
Gefallen, wo ich weiterschreiten sollte, ‒
Gefallen, wo ich unbewegsam stehen wollte!
Sünde häufte ich auf Sünde,
Torheit auf Torheit,
Schuld auf Schuld, ‒ ‒
Unvermeidbar! ‒
Denn die mich formten,
Mußten mich in meinem eignen Staube
      schleifen,
Wie man den härtesten der Edelsteine
Nur in seinem Staube schleifen kann.
Niemals ward mir Sünde Genuß!
Niemals Torheit Freude!
Niemals Schuld Befriedigung!
*
23 Über dem Alltag
NOTWENDIGE ERDSCHWERE
Lichtgezeugt in ungezeugtem Lichte,
Nicht beschwert von niederziehendem Gewichte,
Würde jeder Leuchtende zunichte,
Wagte er sich in der Erde Dichte,
Wehrend, sich dem Dichten zu vereinen.
Denn im schwerefreien Lichten, Reinen,
Ist, was ist, gelöst von Schein und Meinen,
Urverschmolzen nur dem ewig Einen.
Um dem Vielen fördernd sich zu geben,
Braucht es dieser Vielheit Schein und Streben,
Braucht es zeitbedingtes Tun und Leben,
Braucht es Schweres, um es zu erheben.
Darum drängt der Leuchtende zur Erde,
Spähend wie der Adler über einer Herde,
Daß der Erdmensch ihm zu eigen werde,
Der im Willen ihm verbunden war,
Unberechenbare Zeiten eher,
Vordem den Verbundenen ein Weib der Erde
Sich zum Menschensohn gebar!
*
27 Über dem Alltag
WERK DES LENKERS
Wer weiß die Wege, die der Lenker weist, ‒
Einer der großen Vier im ungezeugten Geist, ‒
Wenn er den Leuchtenden zur Erde leitet,
Allda das Irdische zu finden,
Das er selbst dem Geist bereitet,
Auf daß in ihm das Licht der Ewigkeit
Zur Stätte komme, ‒
Erdenfarben, ‒
Zur gesetzten Zeit?
Hier kann nicht Menschenurteil sich erfüllen,
Denn weise weiß der Lenker zu verhüllen,
Wie er das Widersprechende bezwungen: ‒
Wie er den Erdenleib dem Leuchtenden er‐
      rungen,
Dem selbst im Geist nicht kund ward,
Wie der Weg verlief,
Weil, frei von Durst nach Wissen und Er‐
      kennen,
Er nur des Lenkers Stimme folgen mußte,
Die zur Erde rief.
*
31 Über dem Alltag
DER LEUCHTENDE
Zum Tode bereit stets ‒
Dem Leben geweiht ‒
In heiliger Inbrunst
Entbrannt ‒
Benedeit ‒
Dämonen verhaßt ‒
Erzengeln Erwählter ‒
Vorwurf den Nächtigen: ‒
Urlichtvermählter! ‒
Urlichtdurchleuchtet
Im Hohen und Tiefen ‒
Lichtbringer Allen,
Die nach ihm riefen. ‒
Allen gegeben: ‒
Sich selbst nur verwehrt,
Gleichwie das Wachs,
Das zu Licht
Sich verzehrt.
*
35 Über dem Alltag
WENN...
Wenn ich nicht wäre der ich bin: ‒
Ich wäre dennoch nicht der Tor,
Der ich wahrhaftig wäre,
Griffe der Toren Schätzung,
Die mich nur nach ihrer Elle Aichung
Messen können,
Nicht so in's Leere!
Wenn ich nicht wäre, der ich bin,
Dann wäre ich noch immer nicht
Für die zu fassen,
Die nur zu fassen wissen,
Was sie nicht mehr hassen,
Weil es ihnen gleicht
Und nur das ihnen noch Erreichbare
Erreicht!
*
39 Über dem Alltag
LEICHT ZU FINDEN
Was sie bei mir gelesen haben,
Verrät sich durch geheime Zeichen,
Die ich dem Meinen eingegraben,
Das sie als Eigenes weiterreichen.
Nur wurde leider auch daneben
Der Worte Sinn nur halb verstanden,
Und freies, lichtgezeugtes Leben
Schlug Unverstand in enge Banden.
*
43 Über dem Alltag
UM MICH
SELBER WISSEND
Nehmt es wie ihr wollt:
Ich bin lauteres Gold
Und Gold ist, was ich künde, ‒
Ja: Gold ‒ selbst meine Sünde.
Nehmt es, wie ihr es ertragt!
Nehmt es, wie es euch behagt!
Spottet, oder ehret!
Nichts sei euch verwehret!
Goldschmied hat sich sehr gemüht ‒
Mich gehämmert und geglüht ‒
Ausgeschieden fremde Erden, ‒
Streng mußt' ich geläutert werden!
Nehmt es wie ihr wollt:
Ich bin lauteres Gold!
Gold ist, was ich künde!
Gold: ‒ noch meine Sünde!
*
47 Über dem Alltag
VERLANGTES OPFER
Es brauchte viele, viele Jahre
Bis ich alle Widerstände menschlichen Emp‐
      pfindens
Die dem Erdenkörper erbhaft eigen,
Oder aber anerzogen worden waren,
So bezwungen hatte,
Daß ich mich selber, ‒
Mich, den ewigkeitsgezeugten Lichtgeeinten, ‒
Aus dem Menschlichen bekennen konnte,
Das mir Diener meiner Offenbarung ist.
Gar irrig aber wäre hier der Glaube:
Als ob mein Irdisches mich eher nicht emp‐
      funden
Und mich ‒ im Allerinnersten verbunden ‒
Nicht bis ins Tiefste im Erleben aufgenom‐
      men hätte!
Hier liegt keine „Entwicklung der Erkennt‐
      nis” vor
Denn: ‒ offen stand dem Irdischen durch
      mich das Tor
51 Über dem Alltag
Zu meinem ewigkeitsgezeugten Sein
Von jener Stunde an,
In der die Meinen den Bereiteten
Bereit zur Weihe fanden
Und ihn an seine mir gelobten Pflichten
      banden.
Besorgsam suchte nur die Seele
Mannigfaltig immer wieder zu verbergen,
Was Ereignis hier geworden war...
Und brachte sie auch mutvoll mir bedin‐
      gungslos
Sich selber dar,
So hatte doch sie noch sich selbst zu über‐
      winden, ‒
Nicht eher konnte sie die Kraft,
Mich zu bekennen, wie ich mich in ihr
      bekenne,
Endlich ‒ in der längsterlangten Einheit
Mit mir selber ‒ in sich finden!
*
52 Über dem Alltag
DER GRUSS
DES ERSTANDENEN
Fürchtet euch nicht!”
Ihr in mir Geweihten!
Fürchtet euch nicht:
Ich will euch geleiten!
Ich bin kein Schatten, euch zu erschrecken, ‒
Aus Angst und Traum will ich euch wecken.
Fürchtet euch nicht!”
So wird der Gruß
Des Meisters berichtet,
Wenn er, von himmlischer Lohe umlichtet,
Nach seinem Heimgang
Den Seinen sich zeigte,
Irdischer Inbrunst sich niederneigte.
Fürchtet euch nicht!”
Ich will bei euch bleiben, ‒
Jedem der Meinen mich einverleiben, ‒
Jedem, der sich in mir erkennt,
Wie ihn der Vater
Bei Namen nennt!
55 Über dem Alltag
Liebender Leiter im ewigen Licht ‒
Bleibe ich bei euch: ‒
Fürchtet euch nicht!”
*
56 Über dem Alltag
JOH. XIV, 6
Ich bin der Weg,
Die Wahrheit und das Leben!”
Zum Vater fanden, die ihn fanden,
Nur durch mich!
In mir nur
Kannst du dich zum Ewigen erheben!
In mir nur
Findest du dein wahres „Ich”! ‒ ‒
Ich bin das Wort
Das nur sich selber spricht!
Ich bin die Gnade,
Die Erlösung
Und das Licht!
*
59 Über dem Alltag
IN MEINEM NAMEN
Ihr kennt mich nur in einer
Meiner irdischen Gestalten,
Und sie allein nur habt ihr zeitlich festge‐
      halten...
Ihr wißt nur um den Lehrenden der dann am
      Kreuze starb,
Und der als Größter aller Liebenden,
Verwirktes, das nur Liebe lösen konnte,
Aller Erdenmenschheit wieder neu erwarb...
Ihr wißt noch nicht,
Daß ich auch anderen der Euren eingeboren
      war,
Und immer wieder hier den Sohn der Erde
      finde,
Den ein irdisch Weib dazu gebar,
Mir irdisches Gefäß zu sein aus körperhaftem
      Leben,
Dem ich mich einverleibe um in ihm zum
      Vater
Alle Erdenmenschheit zu erheben!
*
63 Über dem Alltag
„ICH”!
Ich” ist das Wort
Und ist die Stimme
Die es spricht!
„Ich” ist das Gold
Und ist der Hort: ‒
„Ich” ist der Leuchtende
Und ist das Licht!
Ich” bin sie Alle,
Die in mir ich bin!
„Ich” bin die Form,
Ihr Inhalt, ‒
Die Gestaltung
Und ihr Sinn!
„Ich” bin der Krug
Und bin der Töpfer: ‒
Der Mensch der Erde
Und sein Schöpfer!
*
67 Über dem Alltag
MENSCHWERDUNG
Tierverbunden mußt du sein,
Um den Menschen zu erleben. ‒
Geh' nur zu dir selber ein
Und bleib' nicht im Denken kleben
Auch nicht „Rückkehr zur Natur”
Bringt dir die ersehnte Klarheit!
Und du bist nicht auf der Spur,
Suchst du „forschend” nach der Wahrheit! ‒
Tiernatur und ihre Kräfte
Blut und alle Lebenssäfte
Dienen ewigen Gewalten,
Um in dir sich zu gestalten.
In das tiergebannte Leben
Ruft den Geist dein eigen Streben...
Nicht bedarf es hehrer Handlung! ‒
Nur der Wille wirkt die Wandlung!
*
71 Über dem Alltag
SCHWERE FORDERUNG
Belächelt nicht das Kind, geliebte Freunde,
Wenn es euch erzählt von Dingen,
Die ihm wirklich sind, ‒
Obwohl ihr dieser Dinge Wirklichkeit
Nicht mehr zu fassen wißt,
Wie ehemals, da ihr noch selbst
Das gleiche Wirkliche
Auf eure Art erfahren durftet!
Belächelt nicht,
Was euch der kleine Mund ‒
Kaum mächtig aller Worte
Die er formen möchte ‒
Erzählt von Wundern,
Die sich Nacht und Tag hindurch
In eures Kindes Welt ereignet haben!
Ihr werdet diese Welt des Kindes
Wieder in euch finden müssen,
Wenn ihr dorthin finden wollt,
Wohin das tiefste Sehnen eurer Seele
Finden will!
75 Über dem Alltag
Das hohe Meisterwort:
„So ihr nicht werdet wie die Kinder...”
Ist nicht als billiger „Vergleich” gemeint!
Es kündet die Bedingung,
Die erfüllt sein muß
Von jedem Erdenmenschen,
Der erlöst, im ewigkeitsgezeugten Geist
Sich selber wiederfinden will! ‒
*
76 Über dem Alltag
VERKÖRPERUNG
DES GEISTES
Den Geist der Ewigkeit
Kannst du nicht unvermittelt finden.
Um faßbar dir zu werden,
Muß er sich an Körperhaftes binden.
Die gröbsten, wie die allerfeinsten,
Der Organe deines Erdenleibes
Mußt du ganz dem Geiste geben,
Damit er sie erwecken und befruchten kann
Mit seinem Leben!
In jeglichem Organ des Körpers
Schafft der Geist dann, ‒
Bleibt dein Wille wach, ‒
Sich eine „Zunge”: ‒ einen „Mund”, ‒ ‒
Doch, erst, wenn ihm dein Körper
Resonanz zu bieten weiß, ‒
Wird dir des Geistes sanfte Sprache
Auch als menschliches Erfühlen
Und Gedanke kund!
„Vergeistigung des Körpers”
Könnte selbst ein Gott niemals erringen, ‒
Nur die Verkörperung des Geistes
Weiß dich in den Geist zu bringen!
*
79 Über dem Alltag
UNVERMÖGEN
Seid sicher,
Daß auch nicht die Enkelkinder eurer Enkel
Eine Zeit erleben werden,
Die auf Erden keinen Krieg mehr kennt!
Seid sicher,
Daß auch noch der fernste Nachfahr
Mordbedrohung um der Selbstsucht willen
Unter Menschen dieser Erde:
„Zwangesläufig” und „Naturbedingnis”
      nennt!
Der Mensch mag alle Kräfte der Natur
Bezwingen: ‒
Das Raubtier in sich selbst zu zähmen,
Wird auf dieser Erde aber
Nur den Höchstgearteten, ‒
Den Hörigen des Menschentieres
Nie gelingen!
*
83 Über dem Alltag
VERPFLICHTUNG
Sei zuerst des Wortes Sprecher!
Seine Form sei dir der Becher,
Sinn und Sage einzutrinken,
Sollen sie zu Herzen sinken. ‒
Doch, vergiß dich nicht! Und später
Werde dann des Wortes Täter!
Wirke ihm in weiser Waltung
Wahrhaft würdige Gestaltung!
Dann erst hast du abgetragen
Deine Schuld, gehörter Lehre,
Strebt dein Tun darnach, zu sagen,
Was der Lehre Ehre mehre!
*
87 Über dem Alltag
WERT DES WARTENS
Will dir heute nichts gelingen,
Höre auf, es zu erzwingen!
Kannst du heute nicht begreifen,
Laß' dich ruhig weiter reifen!
Was dir heute noch verborgen,
Wird dir klar ‒ vielleicht schon morgen!
*
91 Über dem Alltag
„WELTANSCHAUUNG”
Da, unbeschränkt an Zahl,
Die mannigfachsten Kombinationen
Des beschränkten, hirnbedingten
Erdenmenschlichen Erkennens
Möglich sind,
So sind auch jenen Konstruktionen
Seiner Vorstellung,
Die sich der Mensch auf Erden
Als sein „Weltbild”:
Seine „Weltanschauung”, schmiedet,
Keine anderen Hindernisse je im Wege,
Als die Mängel irdischer Erkenntnisfähigkeit,
Und nur durch sie wird jede Unvereinbarkeit
Des in der Vorstellung Geschaffenen
Mit dem, was wirklich ist, bestimmt.
Doch selbst bei aller Ähnlichkeit
Bleibt jede „Weltanschauung”
Nur ein Schattenbild von dem,
Wonach die menschliche Erkenntnisinbrunst
Tief im tiefsten Innern trachtet!
95 Über dem Alltag
Das Wirkliche
Läßt sich in kein gedankliches Gebilde
      pressen!
Da es das Sein in allem Seienden: ‒
Das Leben allen Lebens ist,
Kannst du es nur im eigenen Sein erleben
Sobald du, suchend in dir selbst,
Des Seins bewußt, das dich belebt,
Dir selbst lebendig wirst!
*
96 Über dem Alltag
ZEITWANDEL
Stets wird später hochgeehrt,
Was der Tag dem Tag verwehrt!
Was die Früheren verlachten,
Wissen Spätere zu achten! ‒
Nichts bleibt wie es ist auf Erden, ‒
Heute” muß stets „Gestern” werden!
*
99 Über dem Alltag
KLUGHEIT
Die Väter fuhren auf dem Meer
Und kannten Fährnis, Flut und Riffe,
Als euch, noch säugend, trug einher
Die Mutter, spähend nach dem Schiffe.
Wollt ihr nun selbst das Meer befahren,
So seid nicht töricht und vermessen: ‒
Fragt, wie ihr meidet die Gefahren,
Denn niemals solltet ihr vergessen,
Daß lang vor euren Erdentagen,
Die Segel schon in Stürmen lagen.
*
103 Über dem Alltag
EHRFURCHT DEN ALTEN
Wenn ihr „nicht werdet wie die Kinder”,
Wird eurer keiner je zum Finder!
Doch: ‒ birgt er ihn nicht bei den Alten,
Wird keiner seinen Fund behalten!
Jugend schafft Wertes nur im Warten!
Jugend ist keimbereiter Garten!
Nur bei den Alten reifen die Früchte!
Der Jugend verderben sie lüsterne Süchte!
Jugend kann niemals sich selbst gestalten,
Findet sie Former nicht bei den Alten!
Jegliches Volk wird sich selbst zum Vernichter,
Bleiben die Alten nicht seine Richter!
*
107 Über dem Alltag
JUGENDLOB
Jede Jugend ist nach Lob begehrlich,
Kann sich nie genug gewürdigt sehen.
Ob der Lober Schalk ist, oder ehrlich, ‒
Das zu scheiden, wird sie nie verstehen!
*
111 Über dem Alltag
ERFAHRUNGSWEISHEIT
Die Ältesten des Volkes
Müssen erneut zu Ehren kommen!
Törichte Schwätzer haben
Den Alten den Ruf genommen,
Haben zerschwätzt, was alle Zeiten wußten:
Daß alle Reiche untergehen mußten,
Die an den Rat der Alten
Sich nicht mehr kehrten,
Vorlauter Jugend Torheit
Nicht mehr wehrten.
Denn jeder neuen Jugend muß die Zeit
      verwahren,
Was sie ihr einst zu geben haben wird
In hohen Jahren!
*
115 Über dem Alltag
ÜBLE FOLGE
Die ihr eigen Nest beschmutzen,
Bringen sich mitnichten Nutzen.
Die jedoch den Stamm verderben,
Müssen mit dem Baume sterben.
Er, der einst ihr Nest getragen,
Wird sie selbst im Fall erschlagen. ‒
*
119 Über dem Alltag
VORZEITIGES VERMEINEN
So vieles glaubt man heute schon errungen,
Was auch Jahrtausende noch nicht errungen
      sehen werden.
So vieles glaubt man heute längst gelungen,
Was nie und nimmer uns gelingt auf Erden.
Nur voll Enttäuschung wird man einst er‐
      fahren,
Wie ferne man dem schon gewiß Vermeinten
      war, ‒
Und unerfreut wird man zuletzt gewahren:
Daß jede Zeit sich ihre Illusion gebar!
*
123 Über dem Alltag
JUNG UND ALT
Bei Kampf und Minne und Reigentanz
Gehört sich die Jugend in Kraft und Glanz.
Hier haben die Alten sich wegzuheben, ‒
Was sie einst lebten: hier will es jetzt leben. ‒
Hier will sich Leibes Anmut zeigen
Bei Trommel, Klarinett' und Geigen, ‒
Hier will sich Mut und Heldenkraft
Erweisen in hoher Leidenschaft. ‒
Was aber kämpfend zu erringen,
Zeigt meist der Alten Deuten und Singen,
Denn nur in Jahren und wieder Jahren
Sichert sich wissendes Erfahren. ‒
Die klar nun im Buche der Zukunft lesen,
Waren vor Zeiten auch Junge gewesen!
Soll sich das Volk den Enkeln erhalten,
Braucht es die Jungen wie die Alten!
*
127 Über dem Alltag
BERUFUNG
Nur bei den Alten sucht mir die Weiser,
Die, als ein Rat der heimlichen Kaiser,
Hoch über Herde und Weide thronen,
Keiner allmenschlichen Gier mehr fronen.
Doch nicht die Jahre nur, die der Denker
Müssend durchlitten, bestimmen den Lenker,
Weiß er nicht alles erfahrene Leben
Ewiger Seele zu eigen zu geben: ‒
Nur der sich selbst an die Seele verloren,
Ist als der Zukunft Former erkoren!
*
131 Über dem Alltag
WERT DES SCHÖNEN SCHEINS
Glaubt nicht, das Strahlende sei heute über‐
      flüssig!
Der Sonne Wärme ist von ihrem Lichte nicht
      zu trennen. ‒
Seid ihr auch heute eigenen Strahlens über‐
      drüssig,
So sollt ihr doch im Glanz die Kraft erkennen!
Wißt ihr auch euren Kindern nicht zu geben,
Was eurer Väter Väter einst den ihren gaben,
So ehret doch das Wenige im Leben,
Was wir an altem Glanz noch übrig haben!
*
135 Über dem Alltag
GNADENREICHE LENKUNG
Wir gehen einer neuen Welt entgegen, ‒
Wenige ahnen, wo wir alle schreiten!
Wahn weiß noch Träume zu erregen,
In denen Tausende sich selbst entgleiten...
Die ungezeugten Lenker aber geben nicht
      verloren
Was je ihr Fühlen schon als reif erfühlte, ‒
Auch wenn sich, was aus Geist zum Licht
      geboren,
In zähen, toten Erdenschlamm verwühlte.
Wer ihrer Hilfe sich nicht toll entzieht,
Erreicht das Ziel, ‒ auch wenn er es noch
      flieht!
*
139 Über dem Alltag
ENDE
AUFERSTEHUNG
Verlagslogo
Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Zürich
Der bürgerliche Name von Bô Yin Râ war
Joseph Anton Schneiderfranken
2. Auflage
Die erste Auflage erschien
im Richard Hummel Verlag, Leipzig 1926
©
Copyright 1959 by
Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Zürich 48
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Switzerland by
Schellenberg-Druck, Pfäffikon ZH
INHALT Seite
Vorwort 6
Auferstehung 9
Das Wissen der Weisen 19
Gesetz und Zufall 25
Vergebliche Mühe 35
Okkultistischer Karneval 49
Innere Stimmen 63
Magie der Furcht 77
Grenzen der Allmacht 89
Das neue Leben 103
Festesfreude 117
Wert des Lachens 127
Selbstüberwindung 135
Vollendung 147
Originalscan 
VORWORT
ES wird kaum besonderer Rechtfertigung be‐
dürfen, wenn ich das Titelwort des ersten
der hier folgenden zwölf Kapitel zum gleichsam
symbolischen Titel des ganzen Buches erhebe.
Was hier gegeben wird, soll die Seele aus Grabes‐
dunkel und Moderluft zur wahren Auferste
hung führen.
Es sind aber viele seelisch begraben, die nicht
einmal ahnen, dass sie Verwesung umgibt, dass
Gruftgemäuer sie umschliesst. ‒
Andere wieder geraten unversehens tiefer und
tiefer in die Nacht des Todes, da sie in törichter
Lüsternheit sich anziehen lassen, das phospho‐
reszierende Schimmern der Fäulnis und Zerset‐
zung aus möglichster Nähe zu betrachten, bis
bald kein Ausweg mehr zu finden ist, der sie zu‐
rück zur Helle des Tages führen könnte.
So wird es nötig, dass heller Fackelschein den
Gefährdeten deutlich zu Bewusstsein bringe, wo
sie sich befinden.
Nicht minder vonnöten ist es, Arglosen zu zei‐
gen, dass sie Grabkammern betreten wollten,
in der Meinung, verborgene Tempel entdeckt
zu haben.
Doch damit genug der bildhaften Worte!
7 Auferstehung
Ich glaube, der Sinn dieses Buches wird sich
jedem unbefangenen Leser ohnehin offenbaren
und man wird verstehen, weshalb ich die ein‐
zelnen, in sich selber abgeschlossenen Teile in
der gewählten Folge aneinanderreihte.
Wer das Buch in sich aufnimmt, wie es aufge‐
nommen werden will, der wird sicherlich nicht
beklagen, es gelesen zu haben, ‒ ja, ich glaube:
er wird es alsdann noch oftmals lesen, bis er zu
jener «Auferstehung» erwacht, die weder un‐
begreifliches Wunder, noch willkürliche Gnade
ist, sondern eines jeden Erdenmenschen
geistgesetzte Berufung!
Signatur
8 Auferstehung
AUFERSTEHUNG
ES gibt wahrlich Wahrheiten, die aller Zeit
entrückt, wie ewige Sterne in das dunkle
Dasein des Menschen der Erde strahlen, um ihm,
dem Gottentfernten, von jenem Lichte zu kün‐
den, dem er selbst, nach seiner Geistigkeit, ent‐
stammt.
Wohl denen, die da, gebunden an Mühsal und
Erdenfron, noch ihren Blick zu erheben wissen
zu jenen überweltlichen Höhen, aus denen sol‐
ches wundersame Licht sie erreichen kann, um
ihre Herzen mit seinem ewigen Glanze zu er‐
füllen!
Alle Düsternis der Erde wird vor dem, der von
solchem Lichte erfüllt sie durchwandelt, wei‐
chen, und wo vordem graue Gespenster schreck‐
ten, werden die Engel des Himmels ihm lichten
Weg bereiten! ‒ ‒
Gar vielen aber hat die harte Not den Mut be‐
nommen, von der Erde aufzublicken, und sie
fürchten allzusehr, den sicheren Boden unter
den Füssen zu verlieren, wenn je die Sehnsucht
sich in ihnen regt, das Haupt emporzurichten.
Es tönen Stimmen zu ihren Ohren, die da rufen:
11 Auferstehung
«Erdgebannte seid ihr und gefesselt in der
Erde Hörigkeit!
Entsaget dem Wahn, dass euch aus lichter
Höhe Hilfe werden könne.
Glaubt eitlen Sagen nicht, die euch von
einem Reich des Geistes künden wollen, das
nur Erdichtung törichter Schwächlinge ist, die
so wie ihr durch dornichte Wüste schreiten
mussten und ihrer blutenden Füsse schwärende
Wunden dadurch zu vergessen suchten, dass sie
sich selber solche Mär ersannen!»
Wie mancher liess sich schon durch dieser Stim‐
men überlautes Gekrächze beirren, und wagte es
fortan nicht mehr, auf hohe Hilfe zu hoffen, so
dass ihm seines Erdenlebens Tage nur lichtes‐
leere Qual und sinnloses Opfer wurden...
Und dennoch hätte auch ihm des Geistes Licht
Erlösung bringen können; dennoch hätte auch
er die Finsternis, die ihn umgab, alsbald erhellt
gefunden, wenn er nur selbst den Strahlen sich
eröffnet haben würde, die aus des Geistes
Reich ihn zu erreichen suchten. ‒ ‒
*
12 Auferstehung
Da war einst einer, der «Auftrag» von seinem
«Vater» hatte, von dem er sagte, dass er
«grösser» sei als er, und der da sprach:
«Ich bin die Auferstehung und das Le
ben: wer an mich glaubt, wird leben,
wenn er auch gestorben ist: und jeder,
der da an mich glaubt, wird nicht ster
ben in der Ewigkeit
Er hatte wahrlich nicht von einem starren Be
kenntnis gesprochen, sondern von sich selbst
und von dem, was er selber war, und deutlich
genug war sein Wort: dass er «die Seinen»
kenne, wie die Seinen ihn!
Noch aber wissen die meisten nicht, wer dieser
war, der also sprechen durfte, ‒ wer da die
«Seinen» sind, zu denen er sich zählte, und
wer der «Vater», der ihm Auftrag gab...
Noch hat die Welt nicht erkannt, wie tief die
Gründe seiner Rede gingen, wenn er sprach:
«Wer mich nicht liebt, der tut nicht nach
meinem Wort: und das Wort, das ihr hörtet,
ist nicht mein, sondern des Vaters, der mich
sandte!» ‒ ‒
13 Auferstehung
Sein Dasein aber war seine «Lehre», und sein
Leben war Lösung aller Rätsel, die des Men‐
schen Erdendasein birgt! ‒ ‒
Doch nur, wer zu lieben weiss, was hier in irdi‐
sche Erscheinung trat, wird diese Lösung in sich
selbst erfahren können! ‒ ‒ ‒
Er, der als der Grösste aller Liebenden
über die Erde schritt und in seiner Geistgestalt
auch heute noch in der Erde geistigem Schutz‐
kreise lebt; ‒ er, den die Liebe hier hält «bis
ans Ende der Welt», ‒ kann keinem je sich
selber offenbaren, der nicht durch Liebe ihm
sein Herz zu öffnen weiss. ‒ ‒
Der aber, dem er also sich im Herzen offenbart,
wird wahrlich nicht mehr zweifeln, dass auch
ihm die Auferstehung wird, ‒ die gleiche
Auferstehung, die dem hohen Meister wurde,
als sein Erdenwerk der Liebe einst vollendet
war! ‒ ‒ ‒
Lasst alle überklugen Zweifel fahren, die euch
der alten heiligen Kunde strahlend lichte Wahr
heit dunkeln wollen!
14 Auferstehung
Wohl kam diese Kunde erst auf uns, nachdem
gar manche, die sie nachgeschrieben hatten,
ihrer Meinung Wahn in ihr bestätigt sehen
wollten und so die Worte also stellten, wie sie
glaubten, dass sie stehen müssten, weil ihr enges
Denken nicht erfassen konnte, was einst wahr
haft Wissende in solchen Worten kundzutun
sich mühten. ‒
Verzeiht den Törichten, was sie getan, und su‐
chet selbst den roten Faden aufzufinden, der
euch zurück zur uranfänglich hier bezeugten
Wahrheit leitet!
So mag euch manches Wort wohl als der Späte‐
ren Ersinnung sich bekennen, allein die sternen‐
helle Wahrheit, die sich dennoch in der alten
Kunde birgt, wird dann erst recht zu euren
Herzen dringen.
Ihr werdet sicherlich erkennen, dass dem Auf
erstandenen sein Leib nichts nützen konnte,
doch wird euch seine wahre Auferstehung also
nur gewisser werden, bis ihr selbst das Zeug‐
nis dessen, der da aus der Erdenbindung sich
erhob, in euch erfahren werdet! ‒ ‒ ‒
15 Auferstehung
Ich selbst darf ihn bezeugen und seine wahr‐
hafte Auferstehung, so wie ich vom Dasein
der Erdensonne Zeugnis zu geben vermöchte;
und wahrlich weiss, wer mich kennt, dass ich
nicht zu denen zu zählen bin, die irrer Träume
Sklaven und ihres phantastischen Wahns Ge‐
fesselte sind! ‒ ‒ ‒
Jedoch, ich will nicht, dass man solchem Worte
glaube, bevor man selbst die Wahrheit mei‐
ner Worte in sich selbst erlebte!
Ich will nur allen, die in diesen dunklen Tagen
sehnsuchtsvoll nach Licht verlangen, die Wege
zeigen, die ihnen jenes hohe Licht der Wahrheit
wieder selbst erreichbar werden lassen, das
einst den Alten, die in frommer Einfalt suchten
und nicht des Glaubens Hemmungen erfuhren,
die den Menschen dieser Zeit beirren, ihres Er‐
dendaseins Pfade hellte! ‒
Tausenden durfte ich hier Helfer sein; aber noch
liegen Tausende in tiefem Schlafe und harren in
angstvollen Träumen der Erweckung!
Noch wissen viele nicht, dass sie sich selbst
Gewissheit schaffen können und dann auf Erden
16 Auferstehung
schon ein Wunder in sich selbst erleben, das
alles übersteigt, was jemals Wundersehnsucht
Menschen glauben liess. ‒ ‒
Sie zu erwecken sollen meine Worte dienen,
auf dass allen einst die Wahrheit sich selbst be‐
kunde, ‒ die Wahrheit von des «Men
schensohnes» Auferstehung! ‒ ‒ ‒
Wer sie nicht in sich selbst erlebt, dem wird
sie zeitlebens nur fromme Mär, oder «Glaubens‐
artikel» sein.
Er wird kaum fassen können, dass die Wunder‐
sucht der Alten höchstes Geistgeschehen um‐
zudeuten wagte in eine irdisch-greifbare Be‐
gebenheit...
Erst wenn er in sich selber «auferstanden»
ist, wird er die Wahrheit schauen, die erster
Anlass solcher Bildgestaltung wurde.
*           *
*
17 Auferstehung
DAS WISSEN DER WEISEN
GAR wenig nur weiss zumeist der Weise
von dem, was man auf Erden «Wissen»
nennt.
Ihm ist eine andere Weise des Wissens kund,
die wohl recht vielen, die auf dieser Erde hier
zu «wissen» meinen, unbekannt und uner
klärbar bleibt.
Nach solcher Weise aber weiss er mit Gewiss‐
heit, dass da so manches, was der irdische Ver‐
stand ein «Wissen» nennen mag, an einem gar
dünnen Spinnwebfaden hängt und nicht mehr
«wahr» und «richtig» ist, sobald dieser Faden
reisst. ‒
Und dieser Faden wird einst reissen für jeden
einzelnen!
Jene aber, die dann um dieses einzelnen Leich‐
nam stehen, werden nicht verstehen können,
dass für den, der noch vor kurzem ganz nach
ihrer Weise lebte, der Faden gerissen ist,
an dem all ihr erdenhaftes Wissen nach wie vor
noch so scheinbar sicher hängt...
Sie ahnen nicht, dass für ihn, dessen starre
Erdenhülle hier zurückblieb, nun alles, was an
ihrem Spinnwebfaden für sie noch hängen
blieb, hinunterstürzte in einen finsteren Ab‐
21 Auferstehung
grund, allwo es der Strom des Vergessens hin‐
wegspült, wie alles Verbrauchte, das zu Moder
und Fäule wird, nachdem es seine Dienste ge‐
leistet hat. ‒ ‒
...Der da die Erde hinter sich liess, will zwar
nach wie vor wissen, aber da ihm nun das vor‐
her Gewusste für immerdar versank, so sucht er
alsbald nach einem anderen Wissen, das nicht
an einem dünnen Faden hängt und nur Geltung
hat, solange der Faden nicht reisst. ‒
Es wird ihm aber wenig helfen, also wissen zu
wollen, solange er noch geblendet ist vom Schein
des nun verlorenen Wissens, dessen er einst‐
mals so sicher war...
Es wird ihm gar wenig helfen, dass er nach dem
neuen Wissen auf alte Weise sucht...
Er wird so nur ein Wissen erlangen, das wieder
nur an einem dünnen Faden hängt, wie einst
sein erdenhaftes Wissen, und ‒ mag auch die‐
ses Wissen, das er so erreicht, für ihn weit
länger nun gesichert scheinen: ‒ es wird auch
dieser Faden einstmals reissen. ‒
22 Auferstehung
Darum ist es dem Menschen gut, dass er auf
Erden schon erkenne, wie alles Wissen, das er
grübelt und erdacht wird, nur wie ein Trop‐
fen Tau an jenem Spinnwebfaden hängt, den
die Spinne Vorstellung zwischen «Nicht
mehr» und «Nochnicht» zu spinnen weiss.
Hat er solches erkannt, dann wird er nicht all‐
zusehr mehr dieser Art Wissen sich vertrauen,
auch wenn er klug die Macht und Herrschaft
nützen mag, die ihm dieses Wissen hier auf
Erden über Irdisches gibt. ‒
Es wird die Ahnung eines anderen Wissens
ihm erkeimen: ‒ eines Wissens, das nicht mehr
ab-hängt von dem Spinnengewebe zwischen
Nicht-mehr und Noch-nicht. ‒
So wird er, ‒ reisst für ihn dereinst der Faden
ab, an dem sein Erdenwissen hing, ‒ bereit ge‐
funden werden, jenes andere Wissen zu er‐
langen, dessen Fundamente tief im Urgrund
allen Seins verankert sind...
Wahrlich, solcher Art ist das Wissen
des Weisen schon während seines Er
denlebens, und keiner dünke sich wei
se, der es nicht kennt! ‒
23 Auferstehung
Solche Weise zu wissen, ist die Weise der
Ewigkeit, wie sie dereinst allen vertraut wer‐
den wird, auch wenn sie erst nach Äonen fähig
werden sollten, sich über die Weise vergäng
lichen Wissens zu erheben! ‒ ‒ ‒
Alles Wissen der Erde bleibt ausserhalb seines
Gegenstandes, ‒ im Wissen der Ewigkeit
aber ist der Wissende, der Gegenstand
seines Wissens, und das Gewusste, in völliger
Durchdringung.
So nur wird wahrhaft «erkannt»! ‒
*           *
*
24 Auferstehung
GESETZ UND ZUFALL
IST es ein «Zufall», mein Freund, dass diese
Worte heute vor dein Auge treten, oder
glaubst du, dass sich «Gesetz» erfüllt haben
müsse, damit dies nun möglich geworden sei? ‒
Ich fürchte, dass deine Antwort gar sehr bedingt
sein wird durch den Verlauf der Wege, die du
deinem Denken bahntest, auf dass es durch die
Dschungel irdischen Erlebens finde...
So wirst du mir etwa sagen können, für dich sei
«Zufall» nur verhüllte Gesetzmässig
keit, aber vielleicht mag auch deine Antwort
lauten, dass es dir ferneliege, hier ein Ge
setz zu vermuten.
Diese wie jene Antwort lässt sich begründen,
und doch wirst du weit entfernt von letzter Ge
wissheit sein. ‒
Gewissheit aber ist hier wahrlich erstrebens
wert, wenn jemals du dahingelangen willst,
dein irdisches Erleben sicher zu deuten. ‒
Möge aus meinen Worten dir nun Gewissheit
werden!
Es sind recht bekannte Dinge, die hier erst be‐
rührt werden müssen, denn zuvörderst braucht
27 Auferstehung
es Klarheit darüber, was wir unter den Worten
«Gesetz» und «Zufall» verstanden wissen wol‐
len.
...«Gesetz» glaubst du verborgen, oder
meinst du offenbarlich zu erkennen in jedem
Ablauf irdischen Geschehens, der dir mit Sicher‐
heit erlaubt, aus einer Wirkung ihre Ursache
zu erschliessen, oder von einer Ursache her
bestimmte Wirkung zu erwarten.
Wo du jedoch vor einer Wirkung stehst, die
du dir ebenso auch anders möglich denken
kannst, weil ihre Ursache verborgen bleibt,
dann redest du von einem «Zufall».
Nun kannst du gar wohl zwar eine Ursache
dafür entdecken, dass diese Worte heute dich
erreichen, ja: eine ganze Kette ursächlicher
Verknüpfung zeigt sich dir, deren letztes, dir
nächstes Glied eben die Wirkung schafft, dass
diese Worte von dir jetzt gelesen werden.
Doch all dieses Zurückverfolgen einer Ursachen‐
reihe zeigt dir nur, dass alles, was hier auf Erden
geschieht, nicht aus dem Zusammenhang von
Ursache und Wirkung zu lösen ist.
28 Auferstehung
Vergeblich suchst du eine Lücke, in der du dem
«Zufall» auf die Spur geraten könntest.
Auf Ursache folgt Wirkung, die selbst wieder
neuer Wirkung Ursache bildet, aber an keiner
Stelle entdeckst du den Hebel, der dieses Ge‐
triebe ‒ wie die Erfahrung hinreichend zeigt ‒
gar oft so scheinbar willkürlich ablenkt, dass
du dir dann selbst mit dem Worte «Zufall» zu
verbergen suchst, wie unzureichend hier deine
Erkenntnismöglichkeiten sind. ‒
*
Du suchst umsonst, denn was du suchst ist dei‐
ner Art zu suchen verborgen!
Du suchst umsonst, denn was du finden möch‐
test, lässt sich dort nicht finden, wo du es ent‐
deckbar glaubst!
Alles was du «Zufall» nennst, ist wirklich
ein Dazugekommenes, ein dem kausalen Ab‐
lauf des Geschehens Zugefallenes, aus dem
dir unzugänglichen Bereich der unsichtbaren
Welt, es sei denn, du gebrauchtest das Wort
29 Auferstehung
«Zufall» nur aus Aberglaube, oder um stets
eine billige, scheinbare Erklärung des dir Un‐
erklärlichen zur Hand zu haben. ‒
Wohl ist das «Gesetz» nicht aufgehoben,
wo der «Zufall» in Erscheinung tritt, allein
eine zweite und andersartige Reihe von Ur‐
sache und Wirkung ist zu dem dir erforschbaren
Ablauf des äusseren Geschehens hinzugekom
men und übt ihren Einfluss aus, durch den die
einzelnen Ablaufsreihen äusseren Geschehens
sich oft in sehr wesentlich anderer Weise
kreuzen als dies ohne solchen Einfluss je er‐
forderlich gewesen wäre...
Was du «Zufall» nennst, ist nichts anderes als
die Auswirkung dir unbekannter Impulse aus
der unsichtbaren Welt.
Von sehr verschiedenen Ausgangspunkten
können diese Impulse herrühren.
Sie können geschaffen sein durch dir unwahr
nehmbare Intelligenzen der unsichtba
ren physischen Welt, durch Menschen, die
30 Auferstehung
gleich dir auf dieser Erde leben, und durch den
Willen hoher Geisteswesenheiten.
Immer aber ist hinter jedem echten «Zufall»
ein solcher Impuls als «Ursache» aus einem
Wirkungsbereich zu suchen, der deinem äusse‐
ren erdenmenschlichen Erkennen verschlossen
bleibt! ‒
Auch im «Zufall» tritt gesetzmässiges Wir‐
ken zutage, aber es handelt sich hier nicht mehr
nur um die Gesetze, die menschlichem Ver‐
standeserkennen erforschbar sind.
«Zufall» ist das Resultat des Ineinander
greifens der Gesetze des äusseren und des
sinnlich unfassbaren Bereiches der physi‐
schen Welt, wobei jedoch stets ein Willens
impuls die verborgene Auslösung schafft! ‒
Ob solcher Impuls in einer dir günstigen oder
dir Schaden bringenden Weise wirkt, wird
von seinen Urhebern abhängen, die vor dir
verborgen bleiben...
Hinter jedem echten «Zufall» aber wirst du
einen Willen entdecken können, der bei ande
rem Geschehen fehlt, und kein Geschehnis soll
31 Auferstehung
dir als «Zufall» gelten, bei dem sich nicht mit
aller Deutlichkeit ein Wille hinter dem Ge‐
schehen erweisen lässt!
*
Vielleicht, mein Freund, wirst du nun die Frage,
die ich zu Anfang stellte, doch anders beantwor‐
ten können, sei es, dass du nur den automati‐
schen Ablauf äusseren Geschehens am Werke
siehst, oder sei es, dass du mit Recht von einem
«Zufall» reden kannst!? ‒
Du wirst zum mindesten nicht mehr im Zwei
fel sein können, was du antworten sollst!
Doch war die Frage von mir nur um des Bei
spiels willen aufgeworfen worden und es
kommt deiner Antwort, wie du selbst leicht er‐
sehen wirst, hier keine weitere Bedeutung zu.
Nicht unwichtig aber wird es für dich sein,
wenn du hinfort in besonderer Weise auf die
«Zufälle» deines Lebens achten lernst.
Es sind die einzigen Anzeichen für dich, aus
denen du auf die Art der Einflüsse aus dem Un‐
32 Auferstehung
sichtbaren schliessen darfst, die dir in diesem
Erdenleben zuströmen mögen.
Strebst du, deiner eigenen Willensrichtung nach,
bedenklichen Dingen zu, dann wird dir der
«Zufall», gelenkt durch die niederen Intelli‐
genzen der unsichtbaren physischen Welt,
alsbald die Wege ebnen, die dich zu Schuld
und Frevel führen, und jeder Tag wird dir
neue, ungesuchte Versuchung bringen. ‒
Bist du jedoch bereits auf dem Wege zum
Geiste angelangt, so wirst du auch da auf
Schritt und Tritt dem «Zufall» begegnen, doch
hier gelenkt von den hohen, liebenden Führern
aus der Geisteswelt, die dir auf solche Weise
gar manches nahezubringen wissen, dessen du
auf deinem Wege, hier in der Aussenwelt, für
dein geistiges Entfaltetwerden, bedarfst. ‒
Ein jeder «Zufall» stellt dich unerwartet auf
die Probe und es wird sich zeigen, wohin du
dich selber stellst, je nachdem du ablehnst
oder aufgreifst, was er dir nahebringt. ‒
Auch dort, wo dir der «Zufall» als Schützer
naht, und wo du erst später erkennst, was du
33 Auferstehung
ihm zu verdanken hast, wirst du deinen Wert
erweisen können, indem du nicht achtlos an sol‐
chem Begebnis dir genügen lässt, sondern aus
ihm dich zu belehren weisst. ‒ ‒
Je mehr du den «Zufall» in deinem Leben be
achtest, desto bedeutsamer wird er für dich
werden! ‒
Je mehr du zu nützen weisst, was er dir bringt,
desto mehr wirst du vom «Zufall» zu erwar
ten haben! ‒ ‒
Was niemals der automatische Ablauf des «Ge
setzes» für dich vorbestimmt zeigen würde,
kann durch einen «Zufall» in dein Leben
treten...
Möge dir reichlich «zufallen», was dir Segen
bringt!
*           *
*
34 Auferstehung
VERGEBLICHE MÜHE
ES gibt in diesen Tagen schier unzählige
Menschen, denen zu Bewusstsein kam, dass
aller Inhalt, den sie ihrem Leben zu geben such‐
ten, nur zeitweilige Erfüllung war.
So suchen sie nun nach einem anderen, blei
benden Inhalt, und ahnend erfühlen sie, dass
solcher unverlierbarer Inhalt auch irgendwie
zu erlangen sein müsse, ja, dass andere ihn zu
allen Zeiten und selbst in jeder, noch so schwie‐
rigen Lebenslage zu erlangen wussten.
Es ist nur allzu verzeihlich, wenn man nun
glaubt, der ersehnte bleibende Lebensinhalt
könne doch wohl nur auf gleiche Weise wie alles
andere erlangt werden, das man allhier auf Er‐
den zu erlangen wusste.
Man wähnt, es handle sich nur darum, ein ver‐
borgenes Wissen wieder auszuschürfen und ist
des irren Glaubens, dass man alsbald den er‐
sehnten Inhalt des Lebens besitze, sofern man
nur um die verborgenen Dinge wisse, die an‐
scheinend jenen nicht unbekannt waren, deren
Leben eben diesen Inhalt umschloss.
Ursache und Wirkung werden törichterweise
37 Auferstehung
hier verwechselt! Wohl würde der gesuchte
Lebensinhalt auch zu einem neuen Wissen
führen, aber niemals kann er durch Gewusstes
vermittelt werden. ‒
Daher ist es wahrlich vergebliche Mühe,
wenn sich der Suchende anschickt, alle Bücher‐
kammern durchzustöbern, verstaubte Nieder‐
schläge früherer Zeiten zu erforschen, und sich
von jedem Mystagogen dieser neueren Tage, ‒
durch krause Wahngebilde irdisch-allzuirdischen
Denkens berückt, ‒ willig am Narrenseil führen
lässt, in der Meinung, jenes «Wissen», das nur
Willenswandlung geben kann, sei zu erlan‐
gen, wie das Wissen um die Dinge dieser Erde! ‒
*
Unzählige Konventikel sind entstanden aus
der Sehnsucht der Suchenden, den erahnten In‐
halt ihres Lebens zu finden.
Gutgläubige Schwärmer, wilde Phantasten, aber
auch sehr bewusste Menschenfänger sind in sol‐
chen Kreisen zu der Stellung gelangt, die sie
38 Auferstehung
anderswo in der Welt vergeblich zu erlangen
suchten.
Immer wieder führt die vage Hoffnung, am Ende
doch das Gesuchte zu erreichen, diesen Zirkeln
neue Anhänger zu, und die Versprechungen der
sogenannten «Führer» sorgen dafür, dass so
mancher Suchende auch dann noch ausharrt,
wenn ihm schon längst sein Inneres sagt, dass
er wahrhaftig Besseres mit seiner Kraft, seiner
Zeit und seinem Gelde beginnen könnte. ‒
Vergebliche Mühe, jemals den gesuchten
bleibenden Lebensinhalt in solcherlei Konven‐
tikeln finden zu wollen!
Zeitweilig wird freilich so mancher Suchende
betört, und es fehlt auch nicht an solchen,
denen in dem Schwall der grossen Worte alle
Selbstkritik abhanden kommt, so dass sie
nicht mehr fähig sind, zu merken, wie sie
sich betrügen.
Die Geste unnahbarer Überheblichkeit der
«Führer» ward ihnen sicherste Gewähr der
Wahrheit. ‒
Aber vergeblich wird man unter «Führern» und
39 Auferstehung
Verführten auch nur einen suchen, der wirk
lich jene eine letzte Gewissheit in sich er‐
langte, die alles Sehnen nach dem erahnten,
bleibenden Lebensinhalt stillt! ‒
Ich darf wohl sagen, dass es keinen dieser hier
gemeinten Konventikel gibt, wie immer sie sich
auch benennen mögen, aus dem nicht schwer
und bitterlich Enttäuschte einstmals zu mir
kamen, mir ihr Leid zu klagen.
Viele Bände würden nicht genügen, alles aufzu‐
zählen, was diese arg Geschädigten mir zu be‐
richten hatten.
Oftmals sträubte ich mich, das Erzählte zu
glauben, bis ich Dokumente erhielt, die selbst
das Berichtete noch weit überboten...
Wie konnten, so fragte ich mich, gebildete
Menschen, oft solche mit wissenschaftli
chen Graden, derartiger Narrheit, derartig
verantwortungsloser Seelenfängerei zum Opfer
fallen?!
Und mit Beschämung wurde mir bekannt, dass
40 Auferstehung
man schon jahrelang den Irrtum oder den Trug
durchschaute, aber nicht die Kraft gefunden
hatte, denen, die ihn längst von aussenher er‐
kannten, nun zu gestehen, dass man all die
Jahre her sich durch den Irrtum seiner Wegge‐
nossen, oder gar die Unverfrorenheit angeblich
«wissender Führer» habe betören lassen. ‒ ‒
Entsetzliche Bilder des Zusammenbruches ha‐
ben sich so vor meinen Augen entrollt, und
schaudernd musste ich sehen, wie furchtbar die
Folgen sind, die eine unfassbare Leichtgläu
bigkeit auf der einen, und eine nur durch
Selbstbetrug noch erklärbare Unverant
wortlichkeit auf der anderen Seite verur‐
sachen können...
*
Aber nicht nur aus Konventikeln kommen
die Enttäuschten, die nach jahrelangem Suchen
endlich resigniert erkennen, dass sie sich betro‐
gen hatten.
Es gibt noch mancherlei andere Weise, sich
41 Auferstehung
vergebliche Mühe zu bereiten und sich vom
Ziele seiner Sehnsucht täglich mehr zu entfer
nen, während man ihm gar mit Riesenschritten
zu nahen glaubt.
Von alledem habe ich an anderem Orte genug‐
sam gesprochen; vor alledem wurde genugsam
gewarnt! ‒
Allzu unscheinbar, allzuwenig vom
Hauche des Mysteriösen umweht, ist für
viele der schlichte Pfad, der allein das Ge‐
suchte finden lässt...
Hier aber sei jetzt noch die Rede von einer be‐
sonders törichten Art, in der nur allzu viele
Suchende Kraft, Zeit und Geld verschwenden,
von einer enttäuschten Hoffnung in die andere
gejagt, bis endlich denn doch die grosse Ernüch‐
terung kommt.
Ich meine das wilde und meist auch wahllose
Verschlingen aller erdenklichen Bücher und
Schriften, die irgendwie das okkulte Gebiet be‐
rühren, oder auch nur durch den Titel Auf‐
schluss über okkulte Dinge versprechen.
42 Auferstehung
Doch will ich keineswegs das Missverständnis
aufkommen lassen, als hielte ich jegliche Lek‐
türe dieser Art für bedenklich.
Keiner aber, der die Verhältnisse einigermassen
kennt, wird mir Unrecht geben, wenn ich sage,
dass es wohl auf wenigen Gebieten der Literatur
so viel und so ausgeprägten Schund gibt,
als unter den Büchern und Schriften, die sich
mit der Darstellung okkulter Dinge befassen.
Die in Rede stehende Materie selbst bringt das
mit sich.
Es handelt sich um Dinge, über die noch zu jeder
Zeit nur einige wenige auf Erden sicheren
Aufschluss geben konnten, über die aber auch
zu jeder Zeit unzählige, aus eigener krauser
Phantasie, weitschweifig zu fabeln wussten.
Gefährlich wird die Sache dadurch, dass nur
der Kundige feststellen kann, wo von Dingen
gehandelt wird, die eine, wenn auch oft schwer
noch kenntliche, reale Grundlage haben, und wo
die abstruseste Fabelei beginnt.
Eine weitere Gefahr besteht in der Tatsache,
dass es unzählige Bücher auf diesem Gebiete
43 Auferstehung
gibt, die nichts anderes darstellen, als Lese‐
früchte aus vier oder fünf anderen, so dass eine
scheinbare Bestätigung entsteht, der sehr oft
Neulinge zum Opfer fallen.
Die dritte Gefahr sehe ich darin, dass mancher
an sich sehr beachtliche Autor zwar mit gutem
Recht nur das Resultat seiner eigenen, spekula‐
tiv erworbenen Erkenntnis darbietet, aber,
durchdrungen von der vermeintlichen «Richtig‐
keit» seiner Darlegung, in eine Tonart verfällt,
die den Leser leicht zu dem Glauben kommen
lässt, als sei von unumstösslich gesicherten, nur
überaus wenigen jederzeit zugänglichen Ein‐
blicken in das Innerste des Seins die Rede.
Jeder, der die Literatur des Okkulten kennt,
wird zu allem, was ich hier als gefahrvoll be‐
zeichne, Beispiele in Menge finden.
Aber der Suchende kauft und kauft, und trägt
womöglich in jeder Rocktasche ein Traktätchen
bei sich, das ihm als unantastbares «Evange‐
lium» gilt.
Unbeschreibliche «Bibliotheken» werden auf
diese Weise gesammelt, und jede aufkommende
44 Auferstehung
Unbefriedigung wird schleunigst durch den Er‐
werb eines neuen Schmökers erstickt.
Nehmen wir aber nun auch ruhig einmal an,
ein jedes dieser oft so entsetzlich nach «Ge‐
schäft» im übelsten Sinne riechenden Bücher
enthielte die lauterste Wahrheit.
Dann wäre der Inhalt möglicherweise mehr oder
weniger wertvolles Studienmaterial und könnte
dazu dienen, das Wissen des Lesers zu erweitern.
Vielleicht auch könnte er einen Wink empfan‐
gen, wie er sein Suchen nach dem ersehnten
bleibenden Lebensinhalt einzurichten ha‐
be, um einmal zu erlangen, wonach er be‐
gehrt. Was immer aber der Leser auch erfahren
möge von okkulten Tatsachen und Zusammen‐
hängen, gesetzt es wäre die letzte Wahrheit, das
kann ihm zwar Wissensbereicherung, aber
niemals den ersehnten Lebensinhalt sel
ber bringen.
Diesen Lebensinhalt bringt nur die Lehre der
wenigen, die zu allen Zeiten um ihn und die
Weise seiner Erlangung wussten, und darum
45 Auferstehung
lehren können, wie er zu erlangen ist. ‒ ‒ ‒
Es ist dieser Lebensinhalt aber erlangbar für
einen jeden, einerlei, ob er auf allen Gebieten
des Okkulten Bescheid zu wissen glaubt oder
ehrfürchtig vor dem noch Ungewussten wartet,
bis es die Natur selbst enthüllen will. ‒
Zum mindesten sollte man wissen, dass alles
Eindringen in geheimnisumschleierte Vorgänge
nur dann erspriesslich ist, wenn es zu vermehr‐
ter Ehrfurcht vor dem auch weiterhin noch
Verborgenen führt. ‒
Wesentlich wichtig ist aber für den Men‐
schen nur, dass er von jenen Zusammenhän‐
gen erfahre, die ihn bewegen können, sein ei
genes Leben umzugestalten, so dass er für
die Hilfe aus dem Reiche des Geistes endlich
erreichbar wird, die ihn hier auf Erden schon
zu seinem ewigen Bewusstsein erhebt. ‒ ‒
Dieses ewige Bewusstsein ist nicht nur ein
neuer Bewusstseins-Inhalt, sondern zugleich
eine neue Art, bewusst zu sein...
Hier kann nichts mehr von aussen her kom‐
men und jede Bestätigung findet der Mensch,
46 Auferstehung
nachdem er solches Bewusst-Sein erlangte,
fortan in sich selbst. ‒ ‒
Auch die Lehre wird gegenstandslos, sobald
man das Ziel erreichte, denn nun ist alles, was
sie erst in Worten nahebringen musste, ewige
Gegenwart und jederzeit bewusst. Der
erahnte und so sehr ersehnte Lebens-Inhalt ist
für immer gefunden! ‒
Vergebliche Mühe war es, ihn erdenken
zu wollen!
Vergebliche Mühe war es, ihn zu suchen in
alten Folianten!
Vergebliche Mühe war es, sich «blinden
Blindenleitern» zu vertrauen!
Vergebliche Mühe endlich war es, den blei‐
benden Inhalt des Lebens, der ein neues Sein
ist, erlangen zu wollen durch vermehrtes Wis
sen von den geheimnisvollen Dingen, die Natur
uns dicht verschleiert hält, und die für uns zu
nichte werden mit gleichem Tage, an dem
die Sinne unseres Erdenkörpers einstens
ihren Dienst versagen müssen! ‒ ‒
*           *
*
47 Auferstehung
OKKULTISTISCHER KARNEVAL
DIE seltsame Lust, sich hinter einer Maske
zu verbergen und in vermummter Gestalt
allerhand Unfug zu verüben, darf sich bekannt‐
lich zu einer gewissen Zeit des Jahres unge‐
hemmt austoben, und wo dies mit Witz und
gutem Humor geschieht, dort lässt man solches
tolle Spiel gerne an sich vorüberziehen, auch
wenn man selbst nicht die mindeste Neigung
verspürt, etwa daran teilzunehmen.
Es ist ja nur eine kurze Spanne Zeit, in der die‐
sem Treiben Freiheit gewährt bleibt, und ernste
Tage gibt es immer noch genug.
Bedenklich wird der Trieb zu Maske und Mum‐
menschanz erst dann, wenn er sich auch in Le‐
bensbereichen austobt, in denen er wahrlich
nichts zu suchen hat.
Ein solcher Lebensbereich, in dem der Karneval
offenbar Permanenzrecht geniesst, scheint
der heutige Okkultismus zu sein, trotz aller
ernsthaft und ehrlich Suchenden die hier laute‐
ren Sinnes den Rätseln des Daseins eine befrie‐
digende Lösung zu finden bemüht sind.
Man braucht nur die neuere und neueste okkul‐
51 Auferstehung
tistische Literatur einmal durchzusehen ‒ so‐
weit das bei der Überfülle unberufener Produk‐
tionen auf diesem Gebiete zur Zeit noch möglich
ist ‒ um das tollste Fastnachtstreiben zu ge‐
wahren.
Aber dieser wilde Mummenschanz tritt mit der
Ambition auf, ernst genommen zu werden, und
deshalb wird er für viele zur Gefahr.
Mit ganz unglaublicher Dreistigkeit wird lächer‐
lichstes Gaukelspiel betrieben und denen, die
nicht alle werden, dargeboten als die wahre
«Magie», ‒ mit einer Unverfrorenheit sonder‐
gleichen drapieren sich die Akteure dieses Kar‐
nevalstreibens und verlangen, dass man ihren
Flitterputz als Goldbrokat und echtes Edel‐
steingeschmeide werte.
Wie abgeschmackt und durchsichtig auch der
Trug sich gebärden mag: ‒ stets findet jede neue
Geste wieder ihre Gläubigen.
Wären es nur die geistig Unmündigen, die
hinter jedem Harlekin herlaufen, der mit seiner
Narrenpritsche auf den Zaubersack klopft und
behauptet, da drinnen trage er den «Stein der
52 Auferstehung
Weisen», dann liesse sich das noch allenfalls be‐
greifen, aber fast unbegreiflich bleibt es, dass
sich nur allzuoft auch Leute einfangen lassen,
die sich sonst bei jeder Gelegenheit mit ihrer
kritischen Skepsis brüsten. ‒
Wo ist die Ehrfurcht vor dem Weistum der
grössten Menschengeister, die je über
diese Erde schritten, wenn man sich betören
lassen kann, zu glauben, dass irgendein obsku‐
rer Abenteurer um die Geheimnisse wisse, die
zu ergründen jene Grossen sich mühten ihr gan‐
zes Leben lang, und die sie nur denen offen‐
barten, die sie verstehen konnten!?
Glaubt man denn wirklich, die Weisheit sei in
diesen Tagen so billig geworden, dass man sie
nun im Ausverkaufsstil der Warenhäuser «ver‐
ramschen» müsse, um sie noch an den Mann zu
bringen?! ‒
Gibt es wirklich heute Gehirne, die den Gedan‐
ken ertragen, dass der Seele Einigung in
Gott erlangbar sei durch okkultistische
«Übungen» irgendwelcher Art, und denkt man
wirklich so gar gering von denen, die einst
53 Auferstehung
solche Einigung erlangten, dass man ver‐
meint, ihr heimlichstes Tun sei nun enthüllt,
weil irgendein geldbedürftiger Traktätchen‐
schreiber behauptet, er habe es als Auserwähl‐
ter, unter mehr oder weniger mysteriösen Um‐
ständen ganz genau erfahren?!?
Fast möchte man glauben, dass jede Spur ge‐
sunder Urteilsfähigkeit den meisten Menschen
abhanden kommt, sobald sie sich auf das «ok‐
kulte» Gebiet begeben...
Hier wird alles für bare Münze genommen,
was auf den ersten Blick als wertlose Spiel
marke kenntlich würde, vertraute man nicht
allzusehr den bramarbasierenden, wichtigtuen‐
den Redensarten dessen, der einem solchen nich‐
tigen Tand als vollwertig echtes Gold aufzu‐
schwatzen sucht.
Es scheint keine Grenze der Glaubenswilligkeit
zu geben, besonders dann nicht, wenn der an‐
geblich «Eingeweihte» es gar noch versteht,
durch etwelche schöne, von anderen erborgte
Worte, jede Frage nach seiner eigenen ethischen
Qualität zurückzudrängen.
54 Auferstehung
Wird auch noch ein möglichst breites Wissen
vorgetäuscht, das Ahnungslose glauben machen
soll, es rede einer zu ihnen, der alle Wissen‐
schaft beherrscht, dann kann sich verantwor‐
tungslose Charlatanerie schon so ziemlich alles
erlauben, ohne in ihrer Maske erkannt zu
werden.
Ein guter Zettelkasten und eine umfangreiche
Bücherkiste mit okkultistischen Schmökern aus
alter und neuer Zeit bilden meist das ganze Um‐
und-Auf des vermeintlichen Wissens eines sol‐
chen Schaumschlägers, und nur die Unbelesen‐
heit seiner Anhänger, soweit es sich um der‐
art fragwürdige Literaturerzeugnisse handelt,
schützt ihn vor der Entlarvung. ‒ ‒
Es ist nicht nötig, hier auf besondere okkulti‐
stische Maskenscherze ausdrücklich hinzuwei‐
sen.
Jeder, der dieses Karnevalstreiben offenen Au‐
ges betrachtet, ohne sich durch verwegene Ka‐
priolen imponieren zu lassen, wird recht bald
55 Auferstehung
um Beispiele nicht mehr verlegen sein, und
wenn es ihn gelüstet, kann er auch ganze Ka
tegorien stets wiederkehrender Verlarvun‐
gen unterscheiden lernen...
Recht seltsamen Gestalten kann er so im Mum‐
menschanz begegnen, und fehlt es ihm nicht an
Humor, dann wird ihm oft genug ein befreien‐
des Lachen aus seiner begreiflichen Entrüstung
helfen.
Mitleid und Scham um des Menschen
willen wird den also Betrachtenden aber dann
erfassen, wenn er in dem grotesken Treiben
jenen begegnet, die selbst an ihre Verlarvung
glauben und nicht mehr wissen, dass sie nur
in einer Maskenhülle stecken. ‒ ‒
Je mehr man dann diesen ganzen Flitterputz
durchschauen lernt, den manche seiner Träger
gravitätisch ernsthaft tragen, andere in tollen
Gauklersprüngen glitzern lassen, desto mehr
wird man davor bewahrt, nach solcherlei Ge‐
sellschaft Sehnsucht zu verspüren...
56 Auferstehung
Hier ist so recht der Tummelplatz aller Ent‐
gleisten, und mancher, der nun hier in einem
possenhaft zurechtgeputzten Magiermantel seine
klägliche abgeschmackte Rolle spielt, kam nur
zu solchem Tun, weil er im Alltagsleben ver
sagte und kurz vor dem Zusammenbruch noch
Rettung im Bereiche des Okkultismus zu er‐
spähen glaubte.
Not kennt für solche Leute dann tatsächlich
«kein Gebot», und seien sie anfangs auch
noch so weit entfernt davon, an das, was ihrer
Maske Darstellung von ihnen fordert, selbst
zu glauben, so bringt doch der Zwang ihrer
Lage es allmählich mit sich, dass sie geradezu
virtuosenhaft den Eindruck zu erwecken ver‐
stehen, als seien sie von tiefster Gläubigkeit
durchdrungen.
Auch das gehört ja zum rechten Karneval,
allwo bekanntlich die Maske nur dann Erfolg
hat, wenn ihr Träger es versteht, sich selbst
hinter ihr recht sorglich verborgen zu halten.
Würden nicht immer wieder ehrlich Suchen
de durch dieses Treiben irregeführt, dann könn‐
57 Auferstehung
te man ohne Beachtung daran vorübergehen.
Es sind hier aber Seelen in Gefahr, und wenn
auch wohl für die meisten derer, die oft jahre‐
lang nicht merkten, dass sie in einem steten Fa‐
sching lebten, schliesslich der «Aschermitt‐
woch» mit seiner Ernüchterung kommt, so
bleibt ihnen doch das bittere Wissen, kostbare
Zeit ihres Lebens vertan zu haben, eine stete
Hemmung, auch wenn sie später den einzigen
Weg beschreiten, der sie zur Erfüllung ihres ur‐
anfänglichen Sehnens bringen kann.
Immer wieder sind sie dann genötigt, sich selbst
zu gestehen, dass sie nur durch eigene Schuld
sich betören liessen, denn hier ist keiner ohne
Schuld, der sein Urteilsvermögen derart unter‐
drücken liess, dass er den Mummenschanz mit
dem Weg zur Wahrheit verwechseln konn‐
te. ‒
Wer im Alltagsleben jeglicher Anpreisung Glau‐
ben schenkt, ohne erst zu prüfen, ob sie auch
Glauben verdiene, der darf sich nicht bekla‐
gen, wenn er nicht nur den Schaden, sondern
auch den Spott ertragen muss.
58 Auferstehung
Um wieviel mehr jedoch ist es Gebot der
Pflicht, erst zu prüfen, bevor man Folge
leistet, wenn von solcher Folge das Wohl oder
Wehe der Licht und Klarheit verlangenden
Seele abhängig ist! ‒
Es dürfte doch wahrlich nicht allzuviel Scharf‐
sinn nötig sein, um dessen innezuwerden, dass
der Geist Gottes, der sich dem Menschen‐
geiste einen soll, nicht durch erlernbare «Me‐
thoden» okkultistischer Geheimniskrämer zu
überlisten ist!?
Auf solche Überlistung durch irgendwelche,
meist körperliche «Übungen» läuft aber
alles hinaus, was die Karnevals-Kophtas, die
den seligen Cagliostro schäbig genug kopieren,
ihren Nachläufern anzupreisen haben.
Es ist somit nur der Trieb, auf unrechtmäs
sige Weise etwas zu erreichen, das man auf
geradem Wege zu schwer erreichbar glaubt,
der immer wieder neue Opfer in die Garne eitler
Charlatane lockt.
Und ebenso ist es die Sucht, Absonderliches
zu erleben, wobei man völlig vergisst, dass
59 Auferstehung
auch der geheimnisvollste Vorgang, der sich mit
Hilfe der Erdensinne erleben lässt, jeden
Wert verliert, sobald diese irdischen Sinne
einst ihren Dienst versagen...
Wer nicht alles von sich wirft, was ihn ‒ so wie
er ewig im Geiste Gottes, im steten Sein
verharren kann ‒ ‒ vor seinem Erdenbewusst‐
sein verbirgt, der kann nicht seinem leben
digen Gott sich einen!
Wie dürfte daher ein Mensch jemals erhoffen,
diese Einigung für alle Ewigkeit herbei‐
zuführen, wenn er sich gar noch mit allerlei
Maskenplunder umhängt!?!
Auf solche Weise kann er nur Kräfte erwecken,
die ihm den Weg zu Gott derart verlegen,
dass er für ihn ungangbar wird, denn nur der
wirklich Gottgeeinte weiss durch Geistes
kraft die dunklen Mächte zu bezwingen, die
der Tor aus ihrem Schlafe weckt, weil er ver‐
meint, mit ihrer Hilfe sich zu göttlich hoher
Einsicht zu erheben. ‒ ‒
Nur ahnungslose Unwissenheit mag das Dasein
dieser dunklen Mächte leichthin leugnen wollen.
60 Auferstehung
Wer aber klaren Auges in die Welt blickt, wird
ihren unheilvollen Spuren nur zu oft begegnen.
Selbst kundig jeder Verlarvung, sind sie auch
die wahren unsichtbaren Fadenzieher der Ma‐
rionetten des okkultistischen Karnevalstrei‐
bens! ‒ ‒ ‒
*           *
*
61 Auferstehung
INNERE STIMMEN
SCHON die ältesten Berichte der Mensch‐
heitsgeschichte auf diesem Planeten wissen
von einzelnen Menschen zu erzählen, die zu ge‐
wissen Stunden, bei gewissen Anlässen und an
gewissen Orten «Stimmen» sprechen hörten,
die nur ihnen allein vernehmbar wurden, und
je nach der Tiefe innerer Erkenntnis der Hö‐
renden, je nach der Vorstellungsweise ihres reli‐
giösen Glaubens, wurde solche Einsprache ge‐
deutet.
Für den Hörenden besteht kein Zweifel an der
Tatsache, dass die zu ihm sprechende Stimme
einer anderen und von seiner eigenen sehr deut‐
lich unterscheidbaren Wesenheit angehört.
Mit sicherster Gewissheit würde er die Vermu‐
tung zurückweisen, als ob er etwa nur Zwie‐
sprache mit sich selber führe und so sein eigenes
Denken gleichsam «dramatisiere», obwohl es
auch wahrlich Menschen gibt, die auf solche
Art sich selber inneren Zuspruch schaffen
und dabei des festen Glaubens sind, von irgend‐
einer geistigen Wesenheit belehrt zu werden.
Sicherheit der Unterscheidung wird hier nur
durch eigenes Erleben erlangt, ähnlich so,
wie ja auch wahre Kennerschaft in den Berei‐
65 Auferstehung
chen der Kunst niemals durch Belehrung allein,
sondern vor allem durch reiche Erfahrung er‐
worben wird.
Wer des öfteren wirkliche innere Stimmen in
sich vernahm, der kann sich gewiss nicht mehr
durch selbsterzeugte innere Einrede täu‐
schen lassen.
Weit schwieriger aber ist es, hinlängliche Sicher‐
heit zu erlangen in bezug auf die Urheber der
gehörten Stimmen.
Hier ist Leichtgläubigkeit nur allzugerne bereit,
an höchste geistige Urheberschaft zu glauben,
besonders wenn und solange noch die Erkennt‐
nis fehlt, dass es die verschiedenwertigsten
unsichtbaren Wesenheiten gibt, die sich durch
innere Einsprache bemerkbar machen können.
Menschen, so völlig frei von Eitelkeit und Über‐
heblichkeit, dass sie vielmehr von unbegründe‐
ten Minderwertigkeitsgefühlen fast zu Boden
gedrückt werden, schlagen dann plötzlich ins
Gegenteil um: ‒ fühlen sich als «Werkzeuge
Gottes» und heischen nun gebieterisch von aller
Welt höchste Ehrfurcht auf Grund ihrer ver‐
66 Auferstehung
meintlichen Begnadung, nicht ahnend, dass sie
gerade durch ihr Verhalten auf das deutlichste
den Beweis erbringen, wie trügerisch die inneren
Stimmen sind, denen sie Gehör schenken.
Es ist immer wieder zu beobachten, dass auch
sehr skeptisch angelegte Naturen alle Vorsicht
verlieren, sobald sich jene inneren Erfahrungen,
deren Möglichkeit sie vorher so tapfer in Abrede
zu stellen wussten, bei ihnen selbst ein‐
stellen.
Was auch die im Inneren vernommene Stimme
nun sagen mag, wird blindlings geglaubt, und
am liebsten glaubt man ihr, wenn sie von sich
selbst zu sagen weiss, dass sie einer möglichst
erhabenen geistigen Wesenheit angehöre, ja wo‐
möglich die Stimme der Gottheit selber sei.
Erfolgt dann noch gar die Mitteilung, der Hö‐
rende habe eine hohe «Mission» zu erfüllen und
müsse sich als Auserlesener fühlen, um durch
ein besonders aufgetragenes Werk die Mensch‐
heit zu beglücken, dann ist jede Neigung end‐
gültig behoben, fortan an der inneren Stimme
noch Kritik zu üben, obwohl doch vorerst noch
keine andere Gewissheit erlangt wurde, als dass
tatsächlich eine Stimme sprach, und keinerlei
67 Auferstehung
Gewähr dafür besteht, dass sie auch die Stimme
dessen ist, von dem sie auszugehen behauptet. ‒
Der die innere Stimme Hörende ist aber fast in
der gleichen Lage wie ein Mensch, der einen An‐
ruf durch den ‒ Fernsprecher erhält.
Der Anrufer kann ein ausgemachter Gauner sein
und sich dennoch die höchsten Titel und Wür‐
den beilegen, da er recht wohl weiss, dass er nur
dann Aussicht hat, sein verbrecherisches Ziel zu
erreichen, wenn er sich als eine Persönlichkeit
vorstellt, die das Vertrauen des Angerufenen
besitzt.
Wer aber, ausser einem ganz Betörten, würde
wohl einen folgenschweren Auftrag nur auf
telephonischen Anruf hin zur Ausführung
bringen?!
Würde nicht jeder halbwegs Vorsichtige sich
erst Sicherheit zu verschaffen suchen, bevor
er dem Ansinnen sich bequemen könnte, das nur
durch telephonische Anrede eines Unbekannten
an ihn ergangen ist!?!
Auch der in seinem eigenen Innern Angerufene
sieht den Anrufer nicht und hat keinerlei Mög‐
68 Auferstehung
lichkeit, das ihm solcherart Mitgeteilte auf sei‐
nen Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen, es sei
denn, dass er bereits unterrichtet worden
wäre über gewisse Kennzeichen, durch die
jeder Täuschungsversuch sich sofort verrät.
Von den wichtigsten dieser Kennzeichen sei hier
nun in kurzem die Rede!
Erstens:
Wer in seinem Innern eine «Stimme» zu hören
glaubt, die er als Äusserung einer ihm unsicht‐
baren und von ihm selbst deutlich unterschie‐
denen Wesenheit empfindet, der werde sich dar‐
über klar, dass es unzählbare unsichtbare
Wesenheiten der verschiedensten Gattungen
gibt, die sich in ihm, bei gegebenen bestimmten
Voraussetzungen, durch ein inneres Sprechen
vernehmbar machen können, und dass die aller‐
meisten jener Unsichtbaren, die sich am leich
testen zu äussern vermögen, höchst bedenkli‐
cher Natur sind, so dass er alles aufbieten muss,
um nicht unter ihren Einfluss zu geraten. ‒ ‒
Überaus selten wird es sich ereignen, dass eine
wirklich geistige Wesenheit, die ihrer Art nach
69 Auferstehung
über der erdenmenschlichen Geistigkeit steht,
im Innern des Menschen «spricht», ‒ und wo
es tatsächlich geschieht, dort muss die bereits
erreichte sehr hohe geistige Stufe des Hö‐
renden dazu die Möglichkeit bieten. ‒
Weiss man sich selbst noch nicht auf solcher
geistigen Höhe, so lehne man jede innere
Stimme mit aller Entschiedenheit ab, mag sie
sich auch in der verführerischsten Weise Kredit
zu verschaffen suchen!
Zweitens:
Eine jede «Stimme», die als von einer unsicht‐
baren Wesenheit ausgehend empfunden wird,
ist sofort zu ignorieren, sobald die mitge‐
teilten Worte nicht nur dem inneren geistigen,
sondern auch dem äusseren physischen Gehör
lautbar werden!
Im besten Falle handelt es sich hier nur um
Nervenstörungen nicht ganz leichter Art,
und es ist angebracht, alsbald ärztliche Hilfe
aufzusuchen. ‒
Ein weit üblerer Zustand aber liegt vor, wenn
es den unsichtbaren Wesenheiten der physischen
70 Auferstehung
Welt bereits gelungen ist, derart ihr armes
menschliches Opfer in Besitz zu nehmen, dass
auch ohne klinisch nachweisbare Nervenstö‐
rungen solche Stimmen als äussere Schall
wirkungen vernommen werden. ‒
Hier hilft jedoch kein Kampf, sondern nur
konsequentes und lange Zeit durchgeführtes
völliges Ignorieren!
Jeder Ort und jede Gelegenheit ist zu meiden,
die vordem das Hören solcher Stimmen zu be‐
günstigen schienen!
Die endgültige Befreiung ist gewiss möglich,
aber sie setzt voraus, dass der «Besessene» fort‐
an unter keinen Umständen mehr diesen
Stimmen irgendwelche Beachtung schenkt,
sondern sie ganz wie ein anderes nebensächli‐
ches Geräusch betrachtet.
Besonders hat er sich vor jeglicher Furcht
empfindung zu hüten, aber ebenso muss er es
vermeiden, etwa eine feindliche Kämpfer
position den Stimmen gegenüber einzunehmen.
Was immer sie ihm sagen oder gar «befehlen»
wollen, muss er unbeachtet lassen, ja: er darf
niemals auch nur über den Sinn ihrer Mittei‐
lungen nachdenken!
71 Auferstehung
Intensive irdische Arbeit, eine vernünf
tige Betätigung in freier Luft, gute
Geselligkeit, wie überhaupt möglichstes
Vermeiden des Alleinseins sind recht we‐
sentliche Förderungsmittel zur Befreiung von
der unerwünschten unsichtbaren Parasitenherr‐
schaft.
Jeder, der davon befallen wurde, darf sich glück‐
lich preisen, wenn es ihm durch ausdauerndes
Ignorieren der Manifestationen endlich ge‐
lingt, wieder frei und Herr seiner selbst zu
werden.
Drittens:
Schärfstes Misstrauen ist augenblicklich
geboten, wenn eine innere Stimme etwa einen
Befehl erteilt, oder dem sie innerlich Hörenden
von einer «Aufgabe», einer «Mission» spricht,
die er in seinem Leben zu erfüllen habe! ‒
Menschen, die wirklich eine Aufgabe, eine
Mission oder dergleichen auf Erden erfüllen sol‐
len, erhalten ihren geistigen Auftrag auf eine
sehr wesentlich andere, recht nüchtern ir
dische Art und würden niemals bereit gefun‐
den werden, auf Geheiss einer «inneren Stimme»
72 Auferstehung
das zu tun, was von ihnen verlangt wird von
denen, die allein hier des Geistes Bevollmäch‐
tigte auf dieser Erde sind...
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass jede
innere Stimme abgelehnt werden muss, die
anderes auszusagen hat, als was zur höheren
geistigen Entfaltung, zur Klärung der
inneren Einsicht und zum Besserwerden
des Hörenden dient!
Niemals wird eine Stimme aus dem ewigen
Reiche des reinen Geistes einen Menschen dahin
beeinflussen wollen, auf seine Mitmenschen in
irgendeinem Sinne einzuwirken!
Nur die geistige Liebe zu den Mitmenschen
wird sie zur Entfaltung bringen, aber in jedem
Einzelfalle wird sie es dem innerlich Be
lehrten überlassen, nach seinem Willen
und nach Maßgabe seiner Kraft aus dieser
Liebe heraus zu handeln!
Wahrlich kann aber auch geistige hohe Füh‐
rung sich zur inneren Stimme verdichten,
73 Auferstehung
die alsdann, in der Sprache des also Geleiteten,
in klarer Rede vernehmbar wird!
Doch stets wird solche Rede nur im Inner
sten: ‒ im geistigen Organismus des Men‐
schen, ‒ vernommen werden, so, als ob das Un‐
bekannte, das in ihm spricht, nur sein eigen
stes Allerinnerstes wäre, denn nur durch
dieses eigene Allerinnerste des Menschen ver‐
mögen wirkliche geistige Wesenheiten sich ihm
auf geistige Weise vernehmbar zu machen! ‒
Durch die grotesken okkultistischen Wahnvor‐
stellungen, die in dieser Zeit allenthalben am
Werke sind, die Gemüter zu verwirren, wird
eine wahre Sucht genährt, «innere Stimmen»
in sich vernehmen zu wollen, und das Phäno‐
men ist so begehrt, dass man es erleben möchte
um jeden Preis.
Es ist nicht zum wenigsten diese «Sucht» der
Menschen, die es den Lemurenwesen der un‐
sichtbaren physischen Welt ermöglicht, sich
Geltung zu verschaffen und Veranlasser des so
heiss Gewünschten zu werden.
Nicht anders wie die Parasiten der sichtbaren
74 Auferstehung
physischen Welt, nisten sich auch jene aus den
unsichtbaren Bereichen am liebsten dort
ein, wo sie Schmutz und Unrat, oder doch dunk‐
le Moderecken finden. ‒
Wer also frei bleiben will von dieser unsicht‐
baren Brut, der sorge in sich selbst für äusser
ste Sauberkeit seines Denkens, seines
Trieb- und Vorstellungslebens!
Ist er darauf bedacht, dann wird er schwerlich
jener Sucht nach inneren Sensationen verfallen,
die so viele schon zu völliger Zerrüttung führte.
Jene Menschen, die wahrhaft bereitet waren,
wirklich geistige innere Stimmen in sich zu
vernehmen und somit unter hoher Führung leb‐
ten, hatten niemals das Hören innerer Stim‐
men in sich angestrebt, ‒ wohl aber waren sie
in jahrelanger Arbeit an sich selbst bemüht ge‐
wesen, den Irrtum in sich auszujäten und
ihre Mängel abzutun.
So hatten sie endlich die Stufe erreicht, die es
hoher geistiger Liebe möglich machte, in ihrem
Innersten sich ihnen kundzutun.
Nur diese geistigen Stimmen der Liebe aber
75 Auferstehung
sind für den Erdenmenschen wahrhaft beglük‐
kend!
Nur diese inneren Stimmen können ihn leiten
zu seinem höchsten Ziel!
Sie kommen ungerufen und unverlangt,
sobald der geistig Strebende für sie erreichbar
ist.
Den Stimmen der unsichtbaren Lemuren
wesen dieser physischen Welt hingegen
ist jeder Mensch erreichbar, mag er auch auf
niederster geistiger Stufe stehen...
Nur Abkehr und völliges Ignorieren kann
vor ihnen schützen, und hier muss wahrlich
jeder sorgen, dass er diesen Schutz sich
schaffe! ‒
Jeder muss wissen, dass er nur selber sich
schützen kann, und dass auch die höchste gei‐
stige Gewalt eines anderen nichts für ihn zu
tun vermag, solange er noch lüstern spielt mit
der Gefahr. ‒ ‒
Nur Mut und Entschlossenheit zur völ
ligen Abkehr rufen hier geistige Hilfe herbei,
so sie nötig ist!
*           *
*
76 Auferstehung
MAGIE DER FURCHT
ZAHLREICHER als alle Religionsgemein‐
schaften auf dieser Erde ist die über die
ganze Welt verbreitete Gemeinde unbewusster
Magier der Furcht.
Sie wissen zwar nicht, dass sie Magie betreiben,
und viele ahnen nicht einmal, dass sie die
Furcht zu ihrer Göttin machten, allein ihr
ganzes Denken, Reden, Handeln macht
es völlig überflüssig, dass sie darum wissen,
was sie tun, dass sie erahnen, wie ihr Glaube
durch die Furcht gebunden ist...
Man hört zwar allerorten grosse Worte hohen
Mutes, und wollte man der stolzen Geste
glauben, die nur allzu viele sicher zu bemeistern
lernten, dann könnte man gar leicht vermuten,
alle Furcht sei aus der Welt verschwunden.
Hier aber wollen hohle Worte, leere Gesten
wahrlich nichts besagen, und wer nur den Mut
der Verzweiflung findet, beweist damit kei
neswegs, dass er die Furcht nicht anerkennt!
Wohl mögen auch viele in mancher Hinsicht
wirklich furchtlos sein, und doch sind sie
Sklaven der Furcht, sobald sie das Gebiet
verlassen, auf dem sie sich dazu erzogen haben,
der Furcht zu trotzen. ‒
79 Auferstehung
Selten nur findet man Menschen, die keinen einzi‐
gen Bereich ihres Lebens der Furcht überlassen.
Irgendwo hat fast jeder irgend etwas zu
befürchten!
In irgendeiner Weise hätschelt selbst der
Mutigste die Furcht!
Das ist Menschenart von Urzeiten her und erbt
sich weiter von Geschlecht zu Geschlecht!
Keiner braucht sich dessen zu schämen, dass ihn
die Furcht zuweilen überfällt; ‒ dass sie ihn
zwingen will, ihr Höriger zu werden!
Lernen aber kann und soll der Mensch, sich
solchen Überfalles zu erwehren!
Erkennen lernen soll der Überfallene, dass ihm
die Furcht nur Schaden bringt durch seine
eigene Macht, indem sie ihn zu zwingen weiss,
die magische Gewalt, die unbewusst ihm eigen
ist, in solcher Weise zu gebrauchen, dass er
das Unheil selbst heranzieht, das er fürch‐
tet! ‒
Nie ist die Furcht so leichter Beute sicher, als
in den Zeiten schwerer Prüfung, da keiner weiss,
80 Auferstehung
was ihm der nächste Tag an neuem Übel brin‐
gen mag.
Gewisse Folgen früheren Geschehens las‐
sen sich durch keine Macht der Erde und
des Himmels bannen, und wo einst irriges
Verhalten Unheil vorbereitet hat, dort muss
es ausgekostet werden, ob man sich auch
noch so sehr dagegen wehren möge: ‒ ob man
die tieferen Zusammenhänge zu begreifen
fähig sein mag, oder nicht. ‒
Verführt durch falsche Schlüsse seines Den‐
kens, setzt der Mensch nun selbst die Furcht
in alle Rechte ein und ahnt nicht, dass er so
durch eigene Kraft dem Übel, das er nicht
vermeiden kann, noch hundertfältig Zu
wachs schafft...
Willig gibt jeder seine magische Gewalt in den
Dienst der Furcht, und wird er der Wirkung
dann gewahr, so meint er Bestätigung zu er‐
halten für den düsteren Glauben, den die Furcht
in ihm zu wecken wusste.
So ist dann kein Ende des Übels abzusehen,
denn immerfort wird neues Übel magisch
herbeibeschworen! ‒
Urkräftiger Wille, der alles längst zum
81 Auferstehung
Besseren wenden könnte, wird missbraucht
um die Herrschaftszeit des Übels zu verlän‐
gern. ‒ ‒
Im Banne der Furcht geblendet, glaubt keiner
der vielen, die in solcher Art dem Übel unnötig
Vermehrung schaffen, an seine eigene ma
gische Macht, durch die er in gleicher Weise
dem Übel Einhalt gebieten könnte, wäre er
nur bereit, die Furcht zuerst zu verjagen. ‒ ‒
Hier ist nur zu helfen, wenn jeder einzelne nach
aller Möglichkeit in sich zur Einsicht kommt,
dass er der Furcht nicht länger Einfluss auf
seine Glaubenskraft gewähren darf.
So aber, wie die Kraft der vielen einzelnen, die
in der Furcht befangen sind, Ursache un
erhörter Wirkung wird, so wird auch die
Kraft der vielen übermächtig wirksam,
wenn jeder die Furcht aus sich verjagt!
Dann wird das Übel eingeengt in seine, durch
früheres Irren bestimmten Grenzen, und neuer
Zuwachs bleibt ihm versagt.
Die Glaubenskraft der vielen, die sich aller
Furcht entwunden haben, zieht nunmehr in
82 Auferstehung
gleicher Weise nur das Gute an, wie ehedem
die selbe Kraft ‒ in Furcht gebannt ‒ nur
Übel angezogen hatte. ‒ ‒
Gar vieles liegt verborgen im Bereich der
Möglichkeit, das dennoch nie ins Dasein
tritt, wenn es die Glaubenskraft des Men
schen nicht ins Dasein zieht!
Übel und Heil lassen so sich erlangen!
Wahrhaftig! Es ist kein leeres Spiel mit Wor‐
ten, wenn ich hier warne vor der Magie der
Furcht!
Obwohl das Wort «Magie» in dieser Zeit zu
einem blossen Modewort entwertet wurde, lässt
es sich kaum entbehren, wenn man von solchen
Dingen reden will, von denen hier die Rede ist.
Die Alten, die noch die magische Kraft des Glau‐
bens im Menschen aus Erfahrung kannten,
sprachen von «weisser» und «schwarzer»
Magie, je nach der segensreichen oder üblen
Wirkung, die durch den Gebrauch der gleichen
Kraft ins Dasein trat.
Heute glaubt man sich gar sehr berechtigt, jener
Alten «Aberglaube» ‒ wie man jetzt ihre Er‐
83 Auferstehung
kenntnis nennt ‒ zu belächeln, und doch trägt
auch heute die Erde keinen Menschen, der
nicht mit all seinem Denken, Reden
oder Tun, tagtäglich und Stunde für Stunde
magische Wirkungen in seinem eigenen Leben
und dem seiner Umwelt zur Auslösung bringen
würde! ‒
Nur weiss man heute nichts mehr von seiner
Macht und hält für «wirkungslos», was allezeit
und allerorten folgenschwerste Wirkung schafft.
‒ ‒ ‒
Man sucht die Ursache des Übels in der
Aussenwelt und lässt allein mechanisches
Geschehen gelten, indessen man das Übel selbst
mit eigener Kraft ins Dasein zerrt durch
die Magie der Furcht, die mit der gleichen
Sicherheit gerade das Gefürchtete herbei
zieht, wie frohe Zuversicht ‒ trotz aller Not ‒
Ersehntes wirklich werden lässt. ‒ ‒
Die allerwenigsten nur wissen heute noch aus
eigener Erfahrung, dass dem so ist, und die es
wissen, werden nicht an meinen Worten zwei‐
feln.
84 Auferstehung
Sie kennen die Magie der Zuversicht und
haben sie längst an Stelle der Magie der Furcht
geübt, nachdem oft bittere Erfahrung sie zur
Einsicht brachte.
Diese Magie der Zuversicht ist heute be‐
deutsamer denn je, und sie allein kann die Ma‐
gie der Furcht besiegen!
Es ist nicht zu leugnen, dass der Ablauf dieses
Erdenlebens vieles bringen kann, was recht un
erwünscht ist und was man am liebsten
gänzlich von sich fernehalten möchte.
Ebensowenig wird zu leugnen sein, dass Furcht
auch zuweilen vor irrigem Tun bewahrt,
indem sie Vorstellung der üblen Wirkung sol‐
chen Tuns erzeugt.
Furcht kann das Übel vermeiden lehren und
wirkt so als lebensfördernde Behüterin.
Erst dann, wenn sie die Phantasie erregt und
allerlei Geschehen ausmalt, das vielleicht nie
mals den Weg ins Dasein findet, oder
aber unvermeidbar ist, wird sie mit Hilfe
menschlicher Glaubenskraft zu einer Unheil
heranziehenden Macht.
85 Auferstehung
Niemals kann Furcht vermeiden lehren, was
unvermeidbar ist und nur durch Ertragen
aufgelöst werden will!
Niemals wird unvermeidliches Übel geringer,
dadurch, dass man seine Drohung schon be‐
fürchtet!
Hier kann Furcht nur die Kraft unter
graben, die nötig ist, um das Unvermeidbare
so zu ertragen, dass es nicht völlig erdrückt. ‒
Was aber sich vermeiden lässt, und dennoch
gefürchtet wird, verwandelt sich durch die
Magie der Furcht nur allzuleicht in wirklich
Unvermeidliches!
Nun wird gewiss auch alle Magie der Zu
versicht kein unvermeidbares Übel ver‐
hüten können.
Ihr Wert liegt darin, dass sie vermeidbares
Übel nicht den Weg aus dem Bereich
der Möglichkeit ins Dasein finden lässt: ‒
dass sie gar vieles ablenkt, was schon zu dro‐
hen schien, ‒ dafür jedoch magnetisch anzieht,
was sie erhofft. ‒ ‒
Nie ist sie mehr vonnöten als in Zeiten grosser
Sorge und Bekümmernis!
86 Auferstehung
Gerade in solchen Zeiten bringt sie auch am
ehesten die Bestätigung ihrer Wirksam
keit!
Nur darf man nicht glauben, dass es in des Men‐
schen Macht gegeben sei, ihr die Wege ihres
Wirkens vorzuschreiben!
Stets wirkt sie ohne Kraftvergeudung, und
immer setzt sie dort den Hebel an, wo die Last
am leichtesten beweglich ist. ‒
Auch wenn der Mensch nicht weiss und nicht
wissen kann, wie ihm noch zu helfen ist, wird
Magie der Zuversicht für ihn die Hilfe
schaffen! ‒ ‒
Tausende haben das schon erfahren, aber
noch sind Hunderttausende, die nichts von
solcher Kraft im Menschen wissen...
Jeder jedoch, der hier selbst erprobt, was sich
erproben lässt, schafft Hoffnung, dass andere
die Probe wagen, und hilft den unsichtbaren
Helfenden, seine Brüder aus der Magie der
Furcht zu erlösen. ‒ ‒
So wie Furcht einst die kosmische Freiheit des
Geistesmenschen zerstörte: ‒ so wie Furcht
87 Auferstehung
ihn «fallen» liess aus göttlichem Leuchten,
so ist auch des Erdenmenschen Dasein
schwer durch die Furcht bedroht. ‒
Wer auch nur ein weniges mithilft, die stete
Furcht aus den Menschenherzen zu vertreiben,
der wirkt mit am grossen Erlösungswerke.
Aber Furchtbefreitheit ist keineswegs
Blindheit gegenüber der Gefahr!
Nur wer die ihm drohende Gefahr in ihrem gan‐
zen Umfang kennt, kann ihr furchtlos ent
gegentreten, denn er nur weiss, wie ihr zu
begegnen ist! ‒ ‒ ‒
*           *
*
88 Auferstehung
GRENZEN DER ALLMACHT
ZU den unumstrittensten Glaubensartikeln
aller Gottgläubigen, ‒ möge sich auch ihre
Gläubigkeit sehr weit von traditioneller religiö‐
ser Bindung entfernen, ‒ gehört der Satz, dass
Gott, in bezug auf alles von Ihm gewollte Tun,
«allmächtig» sei.
Ein «Gott» ohne solche, sehr irdisch gedachte
«Allmacht» erscheint der Vorstellung als des
wesentlichsten Attributes der Göttlichkeit ver‐
lustig, und weit eher noch gesteht der Mensch
seinem geglaubten Gotte alle Grausamkeits
instinkte eigener tiermenschlicher Ar
tung zu, als dass er die durch nichts behinderte
Allmächtigkeit dieses Gottes in Zweifel zöge.
Nach anthropomorpher Denkweise hat man
sich seinen «Gott» erdacht, sieht in ihm, statt
des überwesenhaften Seins, in mehr oder
minder gesteigerter Form nur «das höchste
Wesen» und empfindet nun als logische Forde‐
rung, dass dieses «höchste» Wesen notwendiger‐
weise auch unbegrenzte Macht besitzen müsse,
ansonsten man es nicht als «höchstes» Wesen
anerkennen könne.
Mit den windigsten Sophismen sucht man sich
darüber hinwegzutäuschen, dass ein «allmäch‐
91 Auferstehung
tiger» Gott, ‒ in des Wortes wörtlichstem Sinne:
zu allem mächtig, ‒ ein wahres Scheusal sein
müsste, würde er alle Not und Bedrängnis, alle
Greuel und Schandtat auf dieser Erde ruhig
dulden, so er doch Macht besässe, dies alles
zu beseitigen, dies alles zu verhüten...
Erst dann, wenn furchtbares Schicksal ihn be‐
troffen hat und er sich schuldlos bedrängt fühlt,
wird der Mensch zuweilen des Widerspruchs
inne, den seine Gottesvorstellung enthält.
Aber weit entfernt von der Erkenntnis, dass er
selbst nur solchen Widerspruch setzte, dem
nichts Wirkliches entspricht, murrt er nun
gegen seinen teuflisch grausamen, von ihm selbst
erdachten Götzen, wenn er nicht gar die radi‐
kale Lösung vorzieht, fortan allen Glauben an
einen Gott, allen Glauben an über dem
Menschlichen waltende Geistigkeit, als Tor‐
heit und Selbsttäuschung zu verwerfen.
Kein Tag vergeht auf dieser Erde, der nicht an
unzähligen Orten Menschen sieht, die mit ihrem
92 Auferstehung
vermeintlichen Gotte hadern, weil er, wie sie
glauben, Arges und schwer Erträgliches über sie
verhängte.
Nur widerwillig, oder mit bitterer, angstum‐
düsterter Gläubigkeit nimmt der Mensch den
so schalen Trost in sich auf, den ihm gewisse
Glaubenslehren immer noch zu bieten wagen
indem sie sein hartes Geschick als «nach un
erforschlichem Ratschluss Gottes» ver‐
hängt, in eine Äusserung der Liebe Gottes um‐
zudeuten suchen: ‒
«Wen Gott lieb hat, den züchtigt er!»
Nur Wenigen wird die grobe Lästerung be‐
wusst, die solches Trostwort enthält...
Ein entsetzlicher «Gott» fürwahr, der seiner
Liebe keinen anderen Ausdruck zu geben
weiss; aber auch nur ein «Gott» von des
menschlichen Erdenkens Gnade, der we
der im Weltenraume noch im Reiche des
Geistes zu finden ist, ausser in menschli
chen Gehirnen!
Man kann es nur zu gut verstehen, wenn so
mancher hart bedrängte Mensch lieber alle
93 Auferstehung
Kunde von übererdenhaftem Göttlichen als
Wahn und Trug und eitlen Traum erklärt, als
dass er sich dazu verstehen könnte, weiterhin
an einen «Gott» zu glauben, der ihn «aus
Liebe» quält...
Wie anders aber als solche anthropomorphe
Gottes-Vorstellung sieht hier die ewige
Wirklichkeit aus!
Dem Vorstellungs-Inhalt entspricht in der
Wirklichkeit nur das Eine: dass Gott «die
Liebe» ist, und dass jeder, der «in der Liebe»
bleibt, in Gott bleibt, wie Gott in ihm. ‒
Wirkliches Gotteslicht löst jenes Trugbild,
das der Gottheit grob materielle «Allmacht»
zufügt, in sich auf, wie das Licht der Erden‐
sonne die Nebelschwaden über einem Sumpfe
zum Vergehen bringt!
Das ewige reine Sein, dem allein in Wirk
lichkeit der Name «Gott» gebührt, ist in
sich selber eins und unteilbar, auch wenn
es sich selber darstellt in Unendlich
fältigkeit.
Wie könnte es jemals sich selbst in irgend
94 Auferstehung
einer seiner Darstellungsformen negieren!? ‒
Nichts ist im Kosmos, das nicht letzten En
des eine der Darstellungsformen wäre des
ewigen Seins, das in sich selber liebend ver‐
harrt, indessen die Darstellungskräfte es, ewig
bewegt, gleichsam umkreisen.
Sich selbst ist dieses ewige Sein «Gesetz»
und «Norm», und alle die wahrlich unendlich
fältigen Kräfte, die seiner Darstellung die
nen, sind trotz aller Ausstossung als Gegen
Gesetztes dennoch ewig nur in seinem Sein
gegeben, könnten niemals ein Dagegen-Sein:
das «Dasein» wirken, ohne dieses ewige
Sein...
So ist denn jegliche Kraft nur gesetzt im
innewohnenden «Gesetz» des ewigen Seins und
trägt die Möglichkeiten ihres Wirkens un
veränderbar in sich, auch wenn in mensch‐
lich unermessbar langen Zeiten jene Kombi
nationen dieser Kräftewirkungen, die wir er‐
kannt zu haben glauben als «Naturgesetze»
manchem Wechsel unterworfen sind, den nur
der Mensch nicht wahrnimmt, da die
menschliche Beobachtung auf dieser Erde sol‐
che Zeiträume nicht umfasst.
95 Auferstehung
Solange aber eine Kombination von Kräfte‐
wirkungen, ‒ von uns «Naturgesetz» genannt,
‒ nicht wieder aufgelöst ist, kann das ewige
Sein sie niemals negieren, da ja auch sie in
ihm allein gesetzt ist, und es sich selber nicht
negieren kann. ‒
Hier sind die Grenzen der vermeinten
göttlichen «Allmacht»: ‒ ewig unüber
schreitbar auch dem ewigen Sein!
Das heisst: ‒ in der Weise schlichtesten Gottes‐
glaubens gesprochen ‒ Gott würde gegen sich
selber wüten, wollte oder könnte göttlicher
Wille sich der Wirkungsart irdischer Kräfte
entgegenstemmen, da Norm und Gesetz
dieser Kräfte ja aus dem gleichen göttlichen
Willen ihre Bestimmung haben. ‒
Vollkommenheit ist an dieser Stelle nicht
durch göttlichen Willen gewollt: ‒ kann
nicht gewollt werden, denn Vollkommenheit ist
nur möglich im reinen, absoluten Sein, nicht
aber in dem Dagegen-Gesetzten, das wir «Da
sein» nennen.
96 Auferstehung
Die Einzigartigkeit des absoluten Seins
schliesst notwendig aus, dass Vollkommenheit
im Dasein gestaltbar wäre.
Alles «Dasein» ist ja nur «Reflex» eines be‐
stimmten Aspektes im reinen, absoluten Sein,
und so wie die Erdensonne gleichsam «voll‐
kommen» genannt werden könnte gegenüber
ihrem Spiegelbilde auf ruhiger Wasserfläche, so
ist nur das ewige Urbild jeglicher Darstellungs‐
kraft, die am «Dasein» wirkt, im ewigen Sein
vollkommen, ‒ nicht aber der dargestellte Ge
gensatz, der in der Erscheinung fassbar
wird. ‒
Vom Göttlichen, Geistigen her kann die Er‐
scheinungswelt nur insofern beeinflusst wer‐
den, als göttlich-geistiger Wille auf sie einwir‐
ken kann, ohne sich selbst zum Widerspruch
zu werden.
Es wäre nicht die leiseste göttliche Ein‐
wirkung möglich auf diese Erscheinungswelt,
wären die Ketten kausalen Geschehens wirklich
so straff gespannt, wie menschliches Den‐
ken es wahrhaben möchte...
97 Auferstehung
Gleichwie aber die Wirkung jener Kräfte-Kom‐
binationen, die der Mensch als «Naturgesetz»
fasst, keineswegs etwas Unveränderbares
darstellt, so ist auch die Richtung, in der sich
die einzelnen Kettenglieder des kausalen Ge‐
schehens aneinanderreihen, immer noch durch
den geistigen Willen relativ bestimmbar,
aber alle Macht des geistig-göttlichen Wil‐
lens ist auch nur in dieser durchaus rela
tiven Bestimmbarkeit kausalen Geschehens be‐
schlossen und kann die Grenzen nicht über‐
schreiten, die der gleiche Wille in sich sel
ber findet: ‒ durch sich selbst gesetzt von
Ewigkeit zu Ewigkeit...
In aller gläubigen Einfalt gesprochen, könnte
man sagen: ‒ Gott vermag es zwar, bis zu
einem gewissen Grade auf die irdischen
Begebnisse einzuwirken, doch bleibt sein Wille
hier stets durch innewohnendes, eigenes
Gesetz bestimmt, so dass alle Einwirkung
nur durch die Benützung der aus gleichem
Willen bestimmten Wirkungsart irdischer
Erscheinungs-Funktionen erfolgen kann. ‒
98 Auferstehung
Der Mensch darf jederzeit sicher sein, dass
Gott jedes Unheil auf dieser Erde verhüten
wird, das Er hier verhüten kann, so dass
also alles Hadern mit Gott, weil Unheil nicht
durch Ihn verhütet wurde, nur aus der törichten
Annahme materieller göttlicher «All-Macht»
‒ im Sinne steter Abänderungsmöglich
keit des Geschehensverlaufes ‒ seine schein‐
bare «Berechtigung» herzuleiten vermag und
darum Lästerung aus «Nichtwissen» dar‐
stellt. ‒
Was aber weiter zu wissen nottut, ist die un
umstössliche Tatsache, dass alle Möglich
keit der Richtungsablenkung irdischen kau‐
salen Geschehens von Gott aus durch den
Menschengeist allein gegeben ist: ‒ dass
also jegliche Einwirkung Gottes auf irdisches
Dasein des Menschen bedarf, und des Men‐
schen Bereitschaft, solcher Möglichkeit die
Bahn frei zu machen, geschehe das nun in
bewusster menschlicher Willenseinstellung
oder durch passive Hingabe im Gebet. ‒ ‒
99 Auferstehung
Alle Kreatur wartet auf die Erlösung
durch die Kinder Gottes!
Aber auch solches wissend, soll der Mensch
nicht Unmögliches erwarten und stets dessen
eingedenk bleiben, dass die wirkliche «All‐
macht» Gottes von Ewigkeit her durch den
Willen zur Selbstdarstellung bestimmt ist,
nicht aber gegen diese Selbstbestimmtheit wir‐
ken kann, da dies, wenn es möglich wäre,
Selbstvernichtung bedeuten würde. ‒ ‒
So ist denn wahrlich «Allmacht» im göttlichen
ewigen Sein, insofern, als alles «Dasein»
die Macht dieses absoluten Seins bezeugt,
aber nicht in jenem abstrusen Sinne, als könnte
das Göttliche jemals das durch eigenes Sein
bestimmte «Dasein» des aus ihm heraus und
sich entgegen-Gesetzten anders bestimmen,
als es von Ewigkeit her aus ihm bestimmt ist,
infolge innewohnender Notwendigkeit. ‒ ‒
Bis in graueste Vorzeit erstreckt sich mensch‐
liches Mühen, die Gemüter in irrtumsbeladener
Vorstellung einer unmöglichen «Göttlichen
Allmacht» hypnotisch gebannt zu erhalten...
100 Auferstehung
Wahrlich: es ist an der Zeit, dass dieser Bann
gebrochen werde, damit der Mensch nicht
allen Glauben an Gott verliere! ‒
Die Grenzen der Allmacht erkennen, heisst erst
wirklich das All verstehen, als Offenbarung
aller ewigen Macht! ‒ ‒ ‒
*           *
*
101 Auferstehung
DAS NEUE LEBEN
GROSS ist in diesen Tagen die Schar der
Suchenden, die nach dem Lichte
streben.
Weit zahlreicher aber bleibt stets das Heer
der Erdversklavten, die nichts von jenem
Drang zum Lichte in sich fühlen, der die
Suchenden bewegt. ‒
Seiner eigenen Enge kaum bewusst, glaubt so
der Hörige seines erdgefesselten Erlebens, dass
alle Lebensmöglichkeit des Menschen sich in
dem erschöpfe, was er und seinesgleichen zu
erleben fähig ist.
Wenn andere den Weg zum Geiste suchen
so gelten sie dem Tiergebundenen als arge
Toren.
Sein Denken ist ihm: sein «Geist», und er
versteht nicht mehr die Sprache seiner Brüder,
die eine Wirklichkeit erahnen, von der sein
Denken nichts weiss.
Wohl hatte er Himmel und Hölle sich der‐
maleinst erdacht; doch wusste er auch das Er‐
dachte durch sein Denken wieder aufzulösen,
so dass er nun sich wohlberechtigt glaubt, aus
105 Auferstehung
seiner eigenen Erfahrung zu erschliessen, dass
jenes hohe Ziel der Suchenden nur als er
dachte «Wirklichkeit» sein schattenhaftes Da‐
sein habe und ebenso zerstörbar sei durch
Denken, wie die erdachten Reiche seiner eige‐
nen Gedankenwelt. ‒
So bleiben Höhe und Erlebnisweite mensch‐
licher Erfahrungsmöglichkeit nur allzuvielen un‐
bekannt, weil sie im engen Umkreis ihres Den‐
kens schon den «Geist» gefunden glauben, in
ihrem Denken sich gesichert wähnen, und
keinen Antrieb in sich fühlen, nach dem wesen‐
haften Geiste dort zu suchen, wo er allein sich
finden lässt: ‒ im unerdenkbaren Erleben! ‒ ‒
Dass dieses «Erleben» aber nur im eigenen
Innern ihm erfahrbar werden kann, wird auch
von manchem Suchenden vergessen, der längst
erkannte, dass der wesenhafte Geist im Den‐
ken nicht zu erreichen ist.
Gar viele der Suchenden drängen solcherart
nur nach unerhörtem Erleben in der Aussen
welt, und werden sich nicht darüber klar, dass
auch das wundersamste äussere Erlebnis nie‐
106 Auferstehung
mals jene innere Erleuchtung geben kann,
die alles Dunkel des Erkennens lichtet, weil
der Erkennende dem Licht des Geistes selbst
vereinigt wird. ‒
Selbst inneres Erleben hat ja nur insoweit
bleibenden Wert, als es Vorzeichen solcher
Geistvereinigung ist. ‒
chstes Ziel aber ist ein inneres Erleben,
das keinem Einzelerlebnis mehr gilt!
Was hier erlebt wird, ist: ‒ EIN NEUES
SEIN!
Erst aus diesem neuen Sein heraus wird dann
alles Erleben gewandelt, ‒ sei es im In
nern gegeben oder in der Aussenwelt.
Ein neues Leben ist sodann dem Suchenden
geworden!
Ein Leben, so voller Inhalt, dass alle Sucht
nach dem Wunder, die vordem vielleicht den
Wunsch berückt haben mag, für immer schwin‐
det. ‒
Was sollte auch für den, der selbst in sich
das unerfasslich höchste Wunder fortan nun
erlebt, das «Wunder» in der Aussenwelt,
107 Auferstehung
wie es die blinde Menge aller Zeiten suchte,
noch bedeuten?! ‒
Er weiss, dass alles, was die wildeste Phan‐
tastik sich an «Wundern» im Geschehen dieser
Aussenwelt ersinnen könnte, ‒ würde es je‐
mals Ereignis werden können, ‒ doch nur im
physischen Geschehen dieser Welt beschlossen
bliebe: ‒ wertlos und ohne Wirkung, sobald
dieser Erde Tierleib verlassen wird...
Wohl wird Magie ihm kund, die auch im
Erdenleben Dinge zu bewirken weiss durch
Nutzung hoher Kräfte, wie sie durch keine
Künste dieser Erde jemals sich bewirken lassen,
‒ doch wird er auch durch solches, irdischer
Erkenntnis nur verhülltes Wirken nicht be‐
tört, da er im Geisteslicht erkennt, dass alles,
was sich solcherart ereignen mag, nur irdi
sches Geschehen weitet, aber keineswegs
den wesenhaften Geist bezeugt, der, alldem
hoch entrückt, sich nur im Menschengeiste
für den Geist des Menschen selbst bekundet,
als seiner ewig eingeborenen Zeugung. ‒ ‒
108 Auferstehung
So wird er, ein Helfer derer, die der Geist
im Menschengeiste sich bereitet hat als seine
Darstellung in menschlicher Erscheinung, allen
Licht zu spenden suchen, die allhier nach Licht
verlangen.
Fern aller Wundersucht, wird er die wahren
Wunder alles täglichen Geschehens hellen Auges
zu erkennen wissen, und aus dem Lichte, das
ihn selbst erleuchtet, wird er alles Dunkel um
sich her erhellen. ‒
Er kennt das neue Leben, das die Erdver‐
sklavten um ihn her wohl schmähen, aber
nicht erreichen können, solange sie in Erden‐
tieresnacht verhaftet bleiben...
*
Wem die nur durch matte Leuchten schwach
erhellte Grabesnacht genügt, in der er sich,
gefangen in der Tierheit dieser Erde, findet,
den können auch die «Leuchtenden des Ur‐
lichts» nicht erlösen. ‒
Nur: wer sich selbst erlösen will, kann hier
Erlösung finden! ‒
109 Auferstehung
Er sei sich aber dessen wohlbewusst: dass keine
«Wunder» hier im irdischen Geschehen nötig,
oder auch nur «nützlich» sind, will ernstlich er
zum Lichte finden! ‒ ‒
Stets wird der Geist die allereinfachste
Weise wählen, will er einem Menschengeiste
sich in Vereinung offenbaren.
Ich hege gewichtigste Bedenken, so einer mir
sagt, er fühle sich vom Geiste berufen, aber
gleichzeitig mir von gar «wunderbaren» Be‐
gebnissen zu berichten weiss, die solcher Be‐
rufung Anrecht erweisen sollen. ‒
Es ist immer ein gerüttelt Maß Eitelkeit und
geistigen Hochmuts auch in der vermessent‐
lichen Forderung enthalten, dass der Geist sich
durch besonderes Bekunden im Äusseren be‐
merkbar machen möge: ‒ durch Erlebnis‐
möglichkeiten, wie sie nicht jedem geboten
werden. ‒
Wer wirklich solche Erlebnisse haben soll,
den überfallen sie unvermutet und er sieht
110 Auferstehung
sich solchem Erleben plötzlich gegenüber, ohne
es jemals gesucht oder gar erwartet zu haben.
Dann aber ist auch dieses Erleben geistig
bedeutungsvoll und weiterweisend. ‒ ‒
Wer aber das «Wunder» sucht, dem wird
sicher nur die «Hölle» ihre Künste zeigen,
und jeder, der da auszieht, um einen Magier
zu finden, kann sicher sein, dass ihn ein Char‐
latan düpiert! ‒
Willst du in das neue Leben gelangen, ‒
das Leben im Geiste, das den Tod nicht
kennt, ‒ dann bändige deine Lust am Wun‐
dersamen, und wisse, dass dir das wahre
Gotteswunder nur im eigenen Innern be‐
gegnen wird! ‒
Mit solchem Erleben lässt sich freilich nicht
vor anderen prahlen; aber ich hoffe auch, dass
du dich nicht zu dem Frevel hergeben willst,
das, was der Geist dir gibt, nur danach zu
bewerten, inwieweit es dir dienen könne, dich
vor anderen als besonders «begnadet» zu er‐
weisen. ‒ ‒
Es ist fast unglaubhaft, aber ich spreche leider
111 Auferstehung
hier aus Erfahrung, wenn ich bekunde, dass
mir so mancher begegnet ist, der allen Ernstes
vermeinte, sein Streben nach Einheit mit dem
urewigen Geist sei sicher geistigem Gesetz ent‐
sprechend, und der dennoch keine Gelegenheit
vorübergehen liess, die ihm die Möglichkeit
bot, sich vor Urteilslosen mit seinem «geheim‐
nisvollen» Erleben zu brüsten...
Ein solcher Mensch zeigt damit nur, wie un‐
sagbar weit er von dem Wege zum Geiste ab‐
geirrt ist.
Durchschaue seine maßlose Sucht, sich selbst,
als das arme kleine Erdentier, vor dir in ausser‐
gewöhnlicher Beleuchtung zu zeigen, und lasse
dich nicht von ihm in Angst und Sorge jagen,
weil dir, der du ernstlich nur nach Einheit
mit dem ewigen Geiste verlangst, die glei‐
chen seltsamen Begebnisse nicht widerfahren
sind!
Bist du auf dem Wege, der zur Vereinigung
mit dem ewigen, wesenhaften Geiste führt, so
wirst du in wahrlich anderer Weise deine
Bestätigung erhalten.
112 Auferstehung
In deinem äusseren Leben muss sich nicht das
geringste ändern.
Sei fröhlich mit Fröhlichen, und traure, wo du
Trauer empfindest!
Geniesse den Tag auf solche Weise, dass du
vor keinem deiner Nebenmenschen die Ver‐
antwortung zu scheuen hast!
Stehe mit beiden Füssen fest auf dieser gelieb‐
ten Erde Boden, aber läute auch nicht erst alle
Glocken, wenn du dich anschickst, deine Hände
zu den Sternen zu erheben! ‒ ‒
Es ist nicht nötig und nicht einmal gut, dass
man allerorten von dir weiss, als einem, der
den Weg zum Geiste beschritten hat! ‒
Siehe: ‒ ich selbst habe diesen Weg bis zum
Ziele durchschreiten müssen, bevor ich den
anderen, neuen Weg betreten durfte, der
mich zu meinen Brüdern führte!
Seit Jahren bin ich dort angelangt, wo nur
gar selten einer in diesem Erdenleben landen
kann.
Seit Jahren künde ich den Menschen, die meine
Sprache verstehen, die Botschaft des Lichtes.
113 Auferstehung
Und dennoch gibt es Unzählige, die mich im
äusseren Leben gut zu kennen glauben, aber
von mir nichts anderes wissen, als was man
auch sonst von einem ehrbaren Menschen weiss,
der da irgendeinem Beruf obliegt, und den
man gelten lässt, weil man ihn nach rechter
Art das Leben des Alltags beherrschen sieht. ‒
So gehe auch du in aller Stille deinen dir
vorgezeichneten Pfad in der Aussenwelt, und
wähne nicht, es sei vonnöten, dass du dich ab‐
sondern müsstest von aller Welt, um in dir
in den Geist zu gelangen! ‒
Was du im Innern in dir erlebst, ist nur für
dich selbst dir gegeben.
Was du den anderen aber geben kannst, das
trägt seinen Wert in sich, auch wenn es mit
keiner Silbe durch die Bekundung eigenen Er‐
lebens bestätigt wird.
Rede nur dort von diesem Erleben, wo du
gewiss sein kannst, dass es unbedingt nötig
ist, davon zu sprechen!
Allen anderen Menschen gegenüber aber wird
dein ganzes Tun und Lassen schon eine
114 Auferstehung
wortlose Lehre sein, die oftmals Besseres
bewirkt, als wenn du allerorten das, was
dich bewegt, in lauten Worten kundtun woll‐
test. ‒ ‒
Du hast viel zuviel noch mit dir selbst zu
tun, als dass du dich schon berufen fühlen
dürftest, andere, die es nicht von dir fordern,
zu belehren. ‒
Mit dir allein musst du den Weg zum
Geiste durchwandern, wenn du dein Ziel er‐
reichen willst!
Mit dir allein nur kannst du dein neues
Leben finden!
Mit dir allein in deinem neuen Leben stehend,
wirst du dereinst auch allen denen Hilfe brin‐
gen können, die so wie du das neue Leben
heiss ersehnen! ‒ ‒ ‒
*           *
*
115 Auferstehung
FESTESFREUDE
NICHT von den rauschend gefeierten äusser
ren Festen soll hier die Rede sein, und
nicht von der Freude derer, die keine anderen
Feste kennen!
Ich will von einer Festesfreude reden, die nur
in der Einsamkeit gedeiht und ausser dem
Erlebenden keine Zeugen duldet...
Allzusehr sehe ich dich nach den äusseren
Festen Ausschau halten, und ich fürchte, du
hast bereits verlernt, mit dir selbst, deiner
Seele Feste zu bereiten?! ‒
Gleichwie jedoch die klugen Regenten zu aller
Zeit darum wussten, dass der Mensch sich am
besten leiten lässt, wenn man die saure Fron
des Alltags ihm durch frohe Feste an den Feier‐
tagen zu versüssen sucht, so sollst auch du von
dir selber wissen, dass du am ehesten Herr
wirst alles dessen in dir, was dir untertan
sein soll, wenn du es verstehst, nicht nur das
Widerstrebende zu zwingen, sondern auch
dem Willigen, sooft es sich ermüdet zeigt,
ein hehres Fest zu feiern. ‒
Solche Festesfreude der Seele ist wahrlich
mehr vonnöten, als mancher der Besten erahnt!
119 Auferstehung
«Nicht vom Brote allein lebt der Mensch, son‐
dern von jedem Worte, das aus dem Munde
Gottes kommt!»
Das nährende Gotteswort aber geht nur in dich
ein, wenn du deine Seele festlich zu seinem
Empfang bereitet hast! ‒
Solange du eine Werkstatt des Alltags bist,
‒ und das sollst du im Alltag sein, ‒ wirst
du auch mit der Seelenspeise, die dir der All
tag bringt, vorlieb nehmen müssen, und für
die Zeit deiner Arbeit in der äusseren Welt
wird dir solche Nahrung auch genügen.
Zuweilen aber wird sich deine Seele ermü
det zeigen, was du daran bemerkst, dass sie
die Speise, die ihr der Alltag bietet, nicht
mehr aufzunehmen fähig ist.
Sie hungert alsdann nach einer anderen Er‐
nährung, die ihr der Alltag ‒ und sei er an
seelischer Speise noch so reich ‒ nie und nimmer
gewähren kann.
In solchen Stunden musst du wissen, dass es nun
an der Zeit ist, der Seele ein Fest zu bereiten!
120 Auferstehung
Du wirst aber keine Feste feiern können, so‐
lange du «Werkstatt des Alltags» bleibst, aus
der sich niemals aller Staub und Schmutz der
Alltagsarbeit völlig entfernen lässt.
Wisse daher um deine magische Kraft,
dich selbst zu wandeln!
Wohl ist es dir Pflicht, dem Alltag als Werk‐
statt zu dienen, doch sind dir auch Feier
stunden gesetzt, in denen du frei bist, die
Form zu wählen, die deiner Seele tiefstes
Sehnen verlangt.
In solchen Feierstunden kannst du dich selbst
zum hohen Dome wölben und in dir sel
ber kannst du die Mysterien begehen...
Du selbst kannst dich mit Glockenklang und
Orgelton erfüllen!
Du selbst wirst hier der Sänger heilig-hehrer
Psalmen sein!
Wenn du zu deuten weisst, was bildhaft hier
zur Sprache werden will, dann weisst du längst
schon um die Art der «Festesfreude», die deine
121 Auferstehung
Seele braucht, soll sie im Alltagsdasein nicht
verkümmern.
Du kennst die Stunden nur zu gut, in denen
deine Seele müde wird und alles, was ihr sonst
als Nahrung diente, von sich weist.
Ich rate dir: quäle dich nicht in solchen Stun‐
den, sondern suche alsbald deiner Seele ein
Fest zu bereiten!
Schliesse dich ein in dein Zimmer oder gehe hin‐
aus in die Natur, um dort eine Stätte zu suchen,
in der dich niemand stören kann.
Dort oder hier, wo immer du mit dir allein
sein kannst, ist der rechte Ort, und sei es selbst
mitten unter anderen Menschen, so du nur sicher
sein darfst, dass sie dich nicht nötigen zur Rede.
Bist du mit dir alsdann allein, so ignoriere
alles in dir, was dich an den Alltag und an des
Alltags Kämpfe und Plagen noch erinnern will.
Du wirst später wieder Zeit genug finden, alles
zu schlichten und winkelrecht zu richten, was
dich jetzt etwa beirren möchte.
Mache dich leer von allem, was dir nicht fest
lich, nicht festesfreudig erscheint!
122 Auferstehung
Dann aber forme in deinem Denken das reinste,
grösste und schönste Bild eines Menschen, das
noch in der Gewalt deiner Vorstellungskraft
beschlossen liegt.
Lasse dieses Bild in dir lebendig werden, und
wenn es greifbar vor deiner Seele steht, dann
identifiziere dich mit ihm und schlage
dir jeden Gedanken aus dem Sinn, der dir zu
zeigen suchen will, wie sehr du dich, ‒ und
nicht zu deinen Gunsten, ‒ von diesem idealen
Bilde unterscheidest! ‒
Gewiss bist du in deinem Alltagsdasein diesem
von dir selbst geformten und darum in dir als
Möglichkeit bezeugten Bilde noch nicht gleich,
und niemand weiss, ob du dir selber treu ge‐
nug zu sein vermagst, dich ihm einst völlig
anzugleichen.
Allein: ‒ für diese deine Feierstunde sollst
du zu vergessen trachten, was an dir noch
Mangel ist!
Für diese deine Feierstunde sollst du dich nur
in dem von dir geformten hohen Menschen‐
bilde sehen, und alles, was ihm nicht ent‐
spricht, sollst du von dir weisen.
123 Auferstehung
In solcher Haltung erzeuge nun in dir eine
heilige Weihestimmung voll innerer Festes‐
freude und Dankbarkeit, ohne jegliche Rück‐
sicht auf deine Gewohnheit, dir durch dein
Denken erst die Berechtigung zu deinem
Tun zu beweisen.
Sei ohne Sorge und glaube mir, dass nach dei‐
ner Rückkehr in das Alltagsdasein sich gar
manche Stunde anbieten wird, in der du alles
nachholen kannst, was du in deiner Feierstunde
etwa an Selbstkritik zu versäumen meinst! ‒
Es ist so unendlich wichtig für deine Seele,
dass sie alle deine menschlichen Schwächen und
Fehler kennt, aber es ist noch wichtiger, dass
du ihr dann auch des öfteren die Möglichkeit
schaffst, dich so zu sehen, wie du werden
kannst, nachdem du einst Herr geworden bist
in dir selbst! ‒ ‒
In Stunden der Selbstkritik kannst du nicht
scharf genug sehen und nicht schonungslos ge‐
nug mit dir verfahren.
Aber sei kein Tor und wähne nicht, du könn‐
test jemals «besser» werden durch stetes Ver‐
124 Auferstehung
senken in das Bild des Mangels, das deine
Selbstkritik dir zeigte!
«Besser» wird nur der Schaffende, der, nach
der Erkenntnis seiner Fehler, aus sich selbst
sein Idealbild schafft und diesem dann stets
mehr und mehr sich anzugleichen strebt. ‒
Die Feierstunden deiner Seele aber sollen dein
Fühlen und Denken lockern, so dass sich alles
in dir bereitet, dem von dir geformten idealen
Bilde zu entsprechen.
Darum leite ich dich an, dir solche Festesfreude
zu schaffen, sooft deine Seele sich im Alltag
ermüdet fühlt.
Aus jeder solchen Feierstunde wirst du hervor‐
gehen mit einem Zuwachs an seelischer Kraft,
der dich erstaunen lassen mag...
Mehr und mehr wirst du den Alltag zwingen
lernen und deine Festesfreude wird dir noch
die dunkelsten Stunden hellen!
Zuletzt aber wirst du so einst schon auf Er‐
den jene Festesfreude erleben, die nicht mehr
unterbrochen werden kann, da sie ein Zeugnis
ist: der Ewigkeit! ‒ ‒
125 Auferstehung
Du wirst diese bleibende Festesfreude um
so eher erlangen, je öfter du deiner Seele
die Feststunden schaffst, von denen ich hier
rede. ‒
Jeder Tag soll dir als unvollkommen gel‐
ten, an dem es dir nicht gelang, eine solche
festliche Feierstunde einzufügen!
Glaube nicht, die Last deiner Alltagsarbeit lasse
das nicht zu!
Auch wenn du mit Arbeit beladen bist wie ein
Galeerensklave, kannst du dir täglich deine
Feststunde noch erringen, wenn du wahrhaft
willst; und es braucht keine «Stunde» nach
der Uhr zu sein...
Mit unerahnter Kraft erfüllt kannst du als‐
dann erneut an deine Arbeit in den Alltag
gehen! ‒ ‒ ‒
*           *
*
126 Auferstehung
WERT DES LACHENS
WENN du noch niemals dich aus dumpfen
und verquälten Stunden durch dein La
chen zu befreien wusstest, dann weisst du wahr‐
lich noch nicht, was das Lachen wert sein kann.
Du bist vielleicht gar ein Verächter aller derer,
die sich über jeden Graben schwingen mit ihrem
herzbeflügelnden Lachenkönnen.
Du kannst nicht verstehen, dass es Menschen
gibt, die selbst den zehrendsten Schmerz noch
durch ihr Lachen zu bändigen wissen.
Oberflächlich und gefühlsarm erscheinen dir alle,
die noch zu lachen wissen, wenn graue Trübsal
sie umgibt.
Gib acht, mein Freund, dass du dir selber nicht
das Urteil sprichst, indem du dich über das
Lachenkönnen der anderen ereiferst!
Wohl sagt das Sprichwort, dass man an sei‐
nem Lachen den Narren erkenne, aber nicht
minder wird auch das Lachen dir den Wei
sen zeigen.
Nicht nur dich selbst vermagst du durch dein
Lachen aus enger Beklemmung zu lösen: ‒ auch
alle, die um dich sind, kannst du befreien.
129 Auferstehung
Wie oftmals schon hat ein zwingendes, herz‐
liches Lachen grosses Unheil verhütet! ‒ ‒
Zorn und Erregung werden sich alsbald zum
Spott, wenn solches Lachen zu rechter Zeit
die Herrschaft an sich reisst.
Und doch gibt es Menschen, die sich vor dem
Lachen fast zu fürchten scheinen, ‒ die es sich
Mühe kosten lassen, sauertöpfisch und wunder‐
lich ernst zu bleiben, wenn sie andere lachen
sehen.
Die einen glauben, ihrer Würde etwas zu
vergeben, sähe man sie lachen mit den Fröh‐
lichen, ‒ die anderen aber halten sich in harter
Zucht, weil sie der Erde Torheit überwinden
wollen und alle Heiterkeit für Torheit ach‐
ten.
So werden sie selbst zu Toren, wo sie sich
weise dünken. ‒ ‒
Siehe, o Suchender, der du nach Harmonie
in deiner Seele strebst und dich dem Geiste
in dir selbst vereinen willst: ‒ ich werde dich
nicht eher «ernst nehmen» können, bevor
ich weiss, dass du lachen kannst!
130 Auferstehung
Gewiss sollst du nicht durch dein Gelächter
zum Narren werden, aber du sollst auch dem
Anlass zum Lachen nicht aus dem Wege gehen.
Ja mehr noch!
Dein Streben zum Geiste ist mir verdächtig,
solange du noch glaubst, du müsstest nach Mög‐
lichkeit dich des Lachens entwöhnen. ‒ ‒
Ich will dich sehen, als einen, dem sein Lachen‐
können niemals verloren gehen darf.
Du sollst noch lachen können, wo andere längst
allen Mut von sich fliehen sehen würden.
Aus deinem Lachen will ich deine Sicherheit
erhören, dass du das Ziel, dem du zustrebst,
auch mit Gewissheit erreichen wirst.
Dein Lachen soll mir bekunden, dass du dich
geborgen fühlst und alle Furcht überwunden
hast. ‒
Unseliger Wahn lässt heute noch allzu viele in
dem Glauben, sie könnten Gott und Göttlichem
nicht nahen, wenn sie nicht in Weheklagen ihre
«Sündenschuld» beweinen würden.
Du aber sollst deine Sünde verlachen lernen,
denn nur wenn du erkennst, dass deine Sünde
131 Auferstehung
eine Ausgeburt der Torheit war, wirst du sie
fürder meiden! ‒
Zum Anlass der Selbstverspottung sollst
du dir werden, gedenkst du der dunklen Tage,
da du noch sündigen konntest, und in der
Sünde «Glück» zu finden glaubtest! ‒ ‒
Wahrlich, keine Reue wird dich so aus der
Sünde reissen, wie dein freies Lachen über
dein törichtes Tun! ‒
Und wärest du in Sünde versunken gewesen
bis über den Scheitel, so sollst du erst recht
deiner einstigen Narrheit spotten und über dich
selber lachen lernen! ‒ ‒
Du wirst mit allem Weheklagen nichts unge‐
schehen machen können, was dereinst gesche‐
hen ist.
Vielleicht wird deine Reue wie ein Stachelzaun
das Reich der Sünde dir umgrenzen, ‒ allein es
bleibt dir nur «verbotenes Land», und bist du
ehrlich vor dir selbst, so wirst du, tiefversteckt,
doch ein Bedauern in dir finden, dass dieses
nun umzäunte Land dir fortan als die Grenze
deiner Freiheit gelten soll...
132 Auferstehung
Nur wenn du lernst, dein Gieren nach der
Sünde zu verlachen, wirst du in Wahrheit
ihm entrinnen!
So nur wirst du von dem Hang zur Sünde wirk‐
lich frei!
Was immer auch hinter dir liegen mag auf
deines Lebens Bahn; ‒ es darf keinen Grund
für dich bilden, der Fröhlichkeit nun aus dem
Wege zu gehen.
War Fröhlichsein früher dir gleichbedeutend
mit Sünde, so lerne nun erkennen, dass un‐
getrübte Heiterkeit mit jener Torheit, die man
«Sünde» nennt, auf ewig unvereinbar ist.
Du warst nur eitlem Schein erlegen, wenn du
für kurze Zeit dem Wahn dich überlassen konn‐
test, als sei in der Sünde bleibende Freude zu
finden. ‒
Dein Lachen über deine eigene Verblendung
wird dich am ehesten bewahren, je wieder sol‐
chem Scheine zu vertrauen!
Je mehr du lachen lernst, desto freier wirst
du werden!
Je freier du lachen kannst, desto ernster wirst
133 Auferstehung
du jenen Dingen gegenübertreten, die sich nur
ernsthaftem Streben enthüllen. ‒
So wird dein Lachenkönnen dir eine grosse
Hilfe werden auf deinem Wege, der zu dir selber
führt!
So wirst du lachend aller Gefahr die Stirne
zeigen können!
So wird dein Lachen dich befreien von aller
Erdenschwere, die dich niederziehen will! ‒ ‒
*           *
*
134 Auferstehung
SELBSTÜBERWINDUNG
DAS freie «Ausleben» seiner Persönlichkeit
ist ein Postulat des modernen Menschen
geworden.
Jeder glaubt sich zu solchem «Ausleben» be
rechtigt, ‒ ja, ich lernte manchen Menschen
kennen, der sich dazu verpflichtet fühlte.
In schroffem Gegensatz zu diesen Auffassungen
steht die Forderung, die schon zu allen Zeiten
von jenen erhoben wurde, die ihre Mitmen‐
schen lösen wollten aus irdischer Gebunden‐
heit, um sie zum Glück der eigenen Erfahrung
in der Geisteswelt zu führen.
Es wird da gefordert, dass der Strebende vor
allem lernen müsse, sich selbst zu überwinden,
und die paradox klingende Mahnung lautet: ‒
«Nur der kann zu sich selber kommen,
der sich selbst überwunden hat.» ‒
Scheinbar gibt es keine Brücke, die über die
Kluft zwischen diesen Gegensätzen trägt, und
doch ist hier Bedürfnis und Erkennen nur
dann für immer geschieden, wenn der Worte
Deutung beides scheidet...
Solange das Bedürfnis, sich «auszuleben»,
137 Auferstehung
eng begrenzt bleibt auf irdisch physisches
Erleben, ist es wahrlich nicht zu vereinen mit
der geistig geforderten Pflicht zur «Selbst
überwindung».
Ebenso aber bleibt auch «Selbstüberwindung»
unerfüllbare Forderung, solange die irrige
Deutung besteht, als handle es sich hier um
eine «Abtötung» seiner selbst: ‒ um eine
Verneinung seines Selbsterlebens.
Letzten Endes ist die Forderung der Selbst‐
Überwindung nichts anderes als eine Erkennt‐
nisfrucht, die noch von allen gepflückt wurde,
denen es nicht genügte, sich nur im irdisch‐
physischen Bereiche zu erleben: ‒ die sich
vielmehr auch dort «ausleben» wollten, wo
sie die innerste Seinsbegründung ihrer
selbst erahnten. ‒ ‒
Das Bedürfnis, sich «auszuleben», wird kei‐
neswegs negiert!
Es wird ihm vielmehr in erweitertem Maße
entsprochen und so die Erkenntnis erlangt,
dass vollkommenstes «Sichausleben» nur er‐
reichbar ist, nachdem überwunden wurde,
was solches höchste Ausleben hindert. ‒
138 Auferstehung
Wer freilich alle Möglichkeit des Selbsterlebens
nur im physischen Dasein gegeben wähnt, der
handelt aus seinem Irrtum heraus konsequent,
wenn er sich darauf beschränkt, sich allein im
Physischen «ausleben» zu wollen, denn er
weiss nicht, dass sein Bedürfnis nach reichem
Selbsterleben weit über die Bereiche irdischen
Erlebens hinausweist. ‒ ‒
Um dieses Bedürfnis zu verstehen und in seine
höchste Bahn lenken zu können, muss man
sich darüber klar geworden sein, was die ge
samte Wirklichkeit des Menschen ausmacht.
Man darf sich nicht damit bescheiden, nur das
physisch Wahrnehmbare zu betrachten.
Nur als Erzeugnis der Erde angenommen,
ist wahrlich der Mensch nichts anderes als ein
absonderliches Tier, mit allen Eigenschaften
eines Tieres.
Fast scheue ich mich, ihn auch nur ein «höheres»
Tier zu nennen...
Es handelt sich hier durchaus nicht nur um den
Leib, sondern auch um die Psyche des Tieres.
Dieses Tier aber wurde, ‒ im Gegensatz zu
139 Auferstehung
anderen Tieren, ‒ zum Manifestationsob
jekt einer geistigen Potenz, so dass im Laufe
der Jahrtausende auch die Psyche dieses Tie‐
res durch Influenzwirkung erweitert und er
höht wurde.
Trotzdem aber blieb die tierische Art er‐
halten und könnte, auch wenn sie in ihrer
Einzelform ewig währen würde, in aller Ewig‐
keit niemals «vergeistigt», ‒ das heisst also:
in Geistiges umgewandelt werden.
Ebenso kann auch die geistige Potenz, die
sich in dieser Tierform manifestieren will, in
Ewigkeit nicht zur Vertierung gelangen.
Hingegen ist diese geistige Potenz an einen
Organismus gebunden, ‒ einen Organismus
subtilster, unsichtbarer Art, ‒ der, wenn
auch nicht «ausser»- oder «über»-kosmisch,
so doch wahrhaftig «über-irdisch» zu nennen
ist, da er aus einer Substanz besteht, die wohl
die Erde durchdringt, keineswegs aber zu
den integrierenden Substanzen des Planeten
«Erde» gehört.
Es handelt sich hier um den kosmisch-gei
stigen «Menschen» in seiner erdnächsten
140 Auferstehung
Form, durch dessen Einwirkung erst aus
dem Erdentier, in dem er sich manifestiert, der
Erden-Mensch wird.
Nun ist zwar der kosmische Geistesmensch
erdnächster Form aufs engste mit seinem Mani‐
festationsobjekt: dem Erdenmenschtiere, ver
bunden, solange dieses Tieres Erscheinung
auf Erden währt, ‒ allein, diese Verbindung
kann für den Geistmenschen ebenso Ursache
der Freude wie furchtbarster Höllenqual
sein, denn sein Drang, sich zu manifestieren,
kann ebenso durch das Erdentier gefördert,
wie behindert, ja völlig eliminiert werden.
Der gegebenen Norm nach ist der Erdenmensch
nur im Bewusstsein der durch Influenz des
Geistmenschen mehr oder weniger gehobenen
Tierheit.
Das gilt für Gelehrte und Ungelehrte
für Junge und Alte, für Mächtige wie
für Bettler!
Es ist jedoch möglich, die Norm zu durch
brechen, so dass der Erdenmensch alsdann
nicht mehr nur im Bewusstsein der Tierheit,
141 Auferstehung
‒ sei diese auch noch so hoch differenziert,
‒ sondern zugleich im lichtdurchfluteten Be‐
wusstsein des Geistesmenschen steht.
Das aber lässt sich nur erreichen nach Erfül‐
lung jener Vorbedingung, die von den Er‐
leuchteten aller Zeiten «Selbstüberwindung»
genannt wird!
Aber dieses Wort darf nicht irrige Ausdeu‐
tung erfahren, und der aus dem Tierbewusst‐
sein verlangende Erdenmensch darf nicht etwa
glauben, es werde von ihm gefordert, dass er
aller Tierheit, ‒ die ja dem Geistesmenschen
nötig ist, will er sich auf Erden manifestieren,
fortan entsagen solle. ‒ ‒
«Abtötung» des Tierischen ist ein Verbre
chen, ‒ einerlei, ob solche «Abtötung» nur
bis zur Lähmung der Tierheit erfolgt, oder
zur Selbstvernichtung des Tieres führt! ‒
Der Asket, der sein Tierisches peinigt, weil
es ihm nicht zu willen ist, darf sich in keiner
Weise erhaben dünken über den Selbst
mörder, der mit einem Schlage sein Tieri‐
sches vernichtet, ‒ denn er handelt nur
142 Auferstehung
weniger konsequent, aber keineswegs
weniger verwerflich! ‒
Gefordert wird nur Überwindung aller
Strebungen des Tieres, die erfühlter
maßen der Manifestation des Geistes
menschen im Wege stehen.
Gefordert wird, dass das Tierbewusstsein
sich selbst als solches erkennt und über
sich selbst hinausverlangt.
Das allein ist rechte «Selbstüberwin
dung»! ‒ ‒ ‒
Was daraus resultieren kann, ist die Ver
einigung des tierischen Bewusstseins
mit dem Bewusstsein des Geistesmen
schen zu einer homogenen Einheit für
Zeit und Ewigkeit. ‒ ‒
Dann hat wahrhaftig der Tod «seinen Stachel
verloren», denn im Bewusstsein seiner
Identität geht der so geeinte neue Mensch aus
diesem Erdenleben in die Welt des substan
tiellen reinen Geistes ein!
Sich selbst schuf der Tiermensch Erlösungs‐
möglichkeit, ‒ zugleich aber wurde der Gei
stesmensch von ihm er-löst: ‒ befreit aus der
143 Auferstehung
Pein der Behinderung durch das Tier, das ihm
nun auf Erden willig dient und durch sein Seeli‐
sches vereint bleibt in unlöslicher Vereinung. ‒
Wenn aber diese Vereinung hier auf Erden
nicht erfolgt, dann können Äonen vergehen,
bevor die «Seele», die das Menschtier über‐
lebt, einst fähig wird, in dem ihr ewiges Eigen‐
leben verleihenden Geistesmenschen zu Bewusst‐
seinseinung aufzugehen...
Zu allen Zeiten gab es Menschen dieser Erde,
die schon während ihres Erdenlebens das
«Tier» dem «Gotte»: ‒ das Menschtier‐
bewusstsein dem Bewusstsein des Geistesmen‐
schen, in sich vereinigt hatten, und alles gei‐
stige Wissen, das noch ‒ wie immer auch ver‐
mengt mit mancher Zutat Unberufener ‒ heute
auf Erden zu finden ist, ging einst von solchen
Menschen aus, denn niemals sprach die
Gottheit anders zu der Erdenmensch
heit, als durch den Menschen. ‒
Alles aber, was jene zu sagen hatten, die aus
dem Geistesmenschentum lehren durften, da
sie in ihm bewusst geworden waren, half
144 Auferstehung
immer nur denen, die sich bewegen liessen, ge
sammelten Willens danach zu streben,
«Selbstüberwindung» im hier bezeich
neten Sinne zu üben.
Kein Mensch kann den anderen erlösen, ‒
aber wer den Weg zur Erlösung weiss, der
kann ihn anderen zeigen.
Sie zu bestimmen, dass sie ihn auch gehen
wollen, hat er weder Macht noch Recht!
Und wahrlich: ‒ schwer wird es dem Erden‐
menschen, sich einzugestehen, dass er vorerst
noch allein im Tierbewusstsein lebt!
Schwer wird es vor allem den Selbstgerechten,
die längst ihr Heil in irgendeinem Religions‐
system gefunden glauben, ‒ schwer wird es
denen, die sich «reich» wähnen im Geiste, weil
ihr Scharfsinn alles zu zerdenken weiss!
Ich könnte sehr wohl verstehen, wenn diese
Selbstbehinderten meine Worte schmähten, statt
die Probe auf ihre Wahrheit zu wagen...
Festgefroren, wie Radspuren auf schlechten
Wegen im Winter, sind die Denkgeleise in
vielen Gehirnen!
145 Auferstehung
Aber nach ewigem Gesetz wird keiner sein
Schicksal mehr ändern können, sobald er die
Erde dereinst verlassen muss...
Jetzt, in dem Augenblick, in dem du diese
Worte liest, ist die Zeit der Selbstbesinnung
für dich gekommen!
Jetzt kannst du dich noch entscheiden und
bist deiner Entschlüsse Herr!
Wertlos für dich aber bleibt dein Wägen meiner
Worte, solange du nicht mit aller Kraft danach
handeln magst!
Klug wirst du tun, dein Vor-Urteil nicht zu
beachten, denn erst dann bist du urteils-fähig,
wenn deine Selbst-Überwindung auch dich
einst von der Herrschsucht deiner Tierheit be‐
freite und du eingegangen sein wirst in das
Bewusstsein deines Geistesmenschen! ‒ ‒
Du sollst nicht mich und meine Worte, sondern
deinen Irrtum überwinden, der in dir selbst
seine Ursache hat!
*           *
*
146 Auferstehung
VOLLENDUNG
Alle höchste Weisheit ruht im Sein
      und nicht im «Denken». ‒ ‒
Tiefste Wirklichkeit im wahren Sein
      kann dir erst leuchtend wahres Denken
      schenken!
Denken, das nur «Denken» ist
      führt irre Pfade ‒
Wahres Sein allein gebärt Gedanken
      voll der Gnade!
Alle höchste Weisheit quillt
      aus vollem Leben ‒ ‒
Nie kann dir dein blosses Denken
      höchste Weisheit geben!
*
147 Auferstehung
Das geistige Lehrwerk von Bô Yin Râ, besteht aus folgenden
32 Büchern:
DAS BUCH DER KÖNIGLICHEN
KUNST
DAS BUCH
VOM LEBENDIGEN GOTT
DAS BUCH
VOM JENSEITS
DAS BUCH
VOM MENSCHEN
DAS BUCH
VOM GLÜCK
DER WEG ZU GOTT
DAS BUCH DER LIEBE
DAS BUCH DES TROSTES
DAS BUCH DER GESPRÄCHE
DAS GEHEIMNIS
DIE WEISHEIT DES JOHANNES
WEGWEISER
DAS GESPENST DER FREIHEIT
DER WEG MEINER SCHÜLER
DAS MYSTERIUM VON GOLGATHA
KULTMAGIE UND MYTHOS
DER SINN DES DASEINS
MEHR LICHT
DAS HOHE ZIEL
AUFERSTEHUNG
WELTEN
PSALMEN
DIE EHE
DAS GEBET / S O SOLLT IHR BETEN
GEIST UND FORM
FUNKEN / MANTRA PRAXIS
WORTE DES LEBENS
ÜBER DEM ALLTAG
EWIGE WIRKLICHKEIT
LEBEN IM LICHT
BRIEFE AN EINEN UND VIELE
HORTUS CONCLUSUS
Nicht zu dem geistigen Lehrwerk gehörig, wenn auch
aufs engste daran anschliessend:
IN EIGENER SACHE
DAS REICH DER KUNST
OKKULTE RÄTSEL
AUS MEINER MALERWERKSTATT
KODIZILL ZU MEINEM GEISTIGEN LEHRWERK
MARGINALIEN
ÜBER DIE GOTTLOSIGKEIT
GEISTIGE RELATIONEN
MANCHERLEI
sowie die beiden Flugschriften:
ÜBER MEINE SCHRIFTEN
WARUM ICH MEINEN NAMEN FÜHRE
Postum herausgegeben:
NACHLESE
Gesammelte Prosa und Gedichte aus Zeitschriften
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG AG.
ZÜRICH 48
Französische Übersetzungen im Verlag
Ed. «La Balance», Paris
Holländische Übersetzungen im Verlag
Servire, Den Haag
Schwedische Übersetzungen im Verlag
Widiugs Förlags A. B., Stockholm
In der Kober'schen Verlagsbuchhandlung AG. Zürich
erschien 1954
BÔ YIN RÂ
LEBEN UND WERK
von Prof. Rudolf Schott
In Vorbereitung:
DER MALER BÔ YIN RÂ
von Prof. Rudolf Schott
Zweite, mit Text und Bildern erweiterte Auflage
DIE KOBER'SCHE
VERLAGSBUCHHANDLUNG AG.
ZÜRICH
ist Verlegerin und Besitzerin sämtlicher Schriften und
Verlagsrechte des Autors Bô Yin Râ. Seine Bücher sind durch
jede gute Buchhandlung zu beziehen. Wo die Bücher nicht auf
Lager sind, werden durch den Verlag bereitwilligst Buch‐
handlungen nachgewiesen, die in ihrem Sortiment diese Bücher
führen.
ENDE
BRIEFE
AN EINEN
UND VIELE
Verlagslogo
gegründet 1816
KOBER`SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG AG
BERN
2.Auflage
unveränderter Nachdruck
der 1935 erschienenen Ausgabe
©
1971 Kober`sche Verlagsbuchhandlung AG. Bern
alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Übersetzung
in fremde Sprachen und der Verbreitung in Rundfunk und
Fernsehen
Druck: Graphische Anstalt Schüler AG. Biel
UM DEN FORDERUNGEN DES URHEBERRECHTES
ZU ENTSPRECHEN, SEI HIER VERMERKT, DASS
ICH IM ZEITBEDINGTEN LEBEN DEN NAMEN
JOSEPH ANTON SCHNEIDERFRANKEN FÜHRE,
WIE ICH IN MEINEM EWIGEN GEISTIGEN SEIN
URBEDINGT BIN IN DEN DREI SILBEN:
BÔ YIN RÂ
INHALT Seite
Vorbemerkung 5
Erster Brief
   Vom Besitztum der Seele
17
Zweiter Brief
   Von unnötiger Ängstung
21
Dritter Brief
   Vom verlangten Vertrauen
27
Vierter Brief
   Über meine Schreibweise
33
Fünfter Brief
   Von meinem Selbstbekennen
39
Sechster Brief
   Womit man zu Ende sein muß
46
Siebenter Brief
   Vom Tempel der Ewigkeit
51
Achter Brief
   Über meine Geistnatur
60
Neunter Brief
   Wie geistige Hilfe bewirkt wird
66
Zehnter Brief
   Wie Gott fern ist vom Weltgeschehen
81
Elfter Brief
   Wie Gott Einzelnen dennoch hilft
87
Zwölfter Brief
   Von den Seelenkräften
94
Dreizehnter Brief
   Über Neudrucke meiner Bücher
103
Vierzehnter Brief
   Von Polytheismus und Heiligenkult
109
Fünfzehnter Brief
   Von der Weise des Lebens im Licht
118
Sechzehnter Brief
   Über die Milde wahrer Erweckung
126
Siebzehnter Brief
   Von Mystikern und Böhme
132
Achtzehnter Brief
   Von dem was Gott ist
138
Neunzehnter Brief
   Von Wesenheit und Wesen
147
Zwanzigster Brief
   Was ich nicht erfragt sein will
153
Einundzwanzigster Brief
   Von der Zwölfzahl und der Turmuhr
159
Zweiundzwanzigster Brief
   Von den Schuppen vor den Augen
168
Dreiundzwanzigster Brief
   Wie alle ungleich sind vor Gott
176
Vierundzwanzigster Brief
   Vom Bekennen vor den Menschen
184
Fünfundzwanzigster Brief
   Von gefallenen Meistern
193
Sechsundzwanzigster Brief
   Von strahlenden Steinen und Stoffen
201
Siebenundzwanzigster Brief
   Vom Entwerten des Leides
209
Achtundzwanzigster Brief
   Vom Segnen und vom Segen
220
Neunundzwanzigster Brief
   Von der Zeitfremdnis des Ewigen
229
Dreißigster Brief
   Von Hingabe und Wortverzicht
235
Schlußwort 241
Originalscan1  Originalscan2  Originalscan3  Originalscan4 
Die Vorbemerkung und das Schlußwort gehören OO
organisch zu diesem Buche und wollen nicht als OO
Nebensache betrachtet werden!
VORBEMERKUNG
Daß, und warum ich gegen Veröffentli‐
chungen der nur auf bestimmte Anlässe
gerichteten und daher als nur einmalig gül‐
tig gemeinten, nur nach genauester Kennt‐
nis ihrer Entstehungsumstände bewert‐
baren Briefe Verstorbener bin, habe ich in
einem Buche, das den Titel „Wegweiser”
führt, deutlich genug gesagt.
.Da mir aber jede Macht fehlt, nach mei‐
nem „Tode” eine Veröffentlichung von
Briefen zu verhüten, die auch ich nur im
Hinblick auf ehedem augenblickhaft ge‐
gebene datumsbeschränkte besondere Ver‐
anlassungen, und als nur in ihrem Geltungs‐
bereich einmalig gültig geschrieben ange‐
sehen wissen wollte, so wäre es recht tö‐
richt, wenn ich mich schon bei Lebzeiten
über solchen möglichen Mißbrauch des
Meinen grämen würde.
.Hingegen finde ich mich veranlaßt, das
5 Briefe an Einen und Viele
immer nur Ephemere, Eintagsgültige zeit
und sachbestimmter Gelegenheitsbriefe
unmißverstehbar erkennen zu lehren, in‐
dem ich hier ‒ als Gegenbeispiel ‒ Briefe
darbiete, die jederzeit wieder aufs neue
Einzelnen Hilfe bringen können, weil sie
wirklich nur meine auf alle Zeiten bezo‐
gene Lehre erkennen lehren.
.Ich habe solche Briefe voreinst vielmals
an Viele geschrieben, wenn auch jeweils
in gewissen Abwandlungen, so daß es viele
Leser geben wird, die in der Gestalt des
Adressaten sich selber wiedererkennen wer‐
den. Ich hoffe aber, daß keiner der hier Ge‐
meinten das voreinst ihm privatim Dar‐
gebotene nun etwa als durch die mir ja nur
allein zustehende Veröffentlichung des
Meinen für ihn „profaniert” empfinden
wird, denn auch jetzt wird das Gesagte doch
nur Seelen dienen können, die dafür in
sich selber vorbereitet sind.
6 Briefe an Einen und Viele
.Das, was ich ehedem vielen verschie
denen Menschen auf ihre Briefe und Fra‐
gen hin im Einzelfall zu antworten hatte,
ist nun hier zusammengefaßt, weil ich es
ja in jedem mit der ins Irdische gefesselten
Seele und ihren hier möglichen Erfahrun‐
gen, wie ihren immer gleichen „Fragen”
zu tun hatte. Jeder einzelne der hier dar‐
gebotenen Briefe bezieht sich jeweils ge‐
treulich auf bestimmte, vormals an mich
gelangte Anfragen, Mitteilungen und Be‐
richte. Der Anlaß, den meine hier im Buch
gegebene jeweilige Briefantwort erwähnt,
wurde also in keinem Falle etwa erst für
die Beantwortung von mir erfunden! Lange
schon sind jedoch die Zeiten vorbei, in
denen ich, außer aller nur mir bekannten
rigorosen Pflichterfüllung im ewigen Gei
stigen, vom Morgen bis zur Dunkelheit ‒
praktisch durch keine Pause unterbrochen
‒ produktiv arbeiten konnte, dann eine
7 Briefe an Einen und Viele
eilig genossene kleine Mahlzeit zu mir
nahm, und nachher bis zum neuen Morgen‐
grauen am Schreibtisch saß, um Briefe zu
beantworten, worauf ich nach einem kur‐
zen tiefen Schlaf wieder vor einer Maltafel
war oder Manuskripten die Form schuf, in
der sie den auf Licht Harrenden zugänglich
werden sollten. Ich will heute nicht fragen,
ob meine Hingabe zu unbeschränkt war,
soweit sie der Beantwortung von Briefen
galt, aber mein erdenkörperlicher Organis‐
mus hat schließlich diese ihm viele Jahre
hindurch, ununterbrochen widerfahrene
Behandlung recht übel beantwortet, so daß
ich definitiv ihr zu entsagen gezwungen
wurde.
Mögen nun die hier gegebenen Briefe
dafür allen der Lehre Würdigen dargebo‐
ten sein, die allein sich durch sie ange
sprochen wissen sollen!
.Daß ich den Inhalt, verglichen mit den
8 Briefe an Einen und Viele
ehedem so oft geschriebenen privaten Er‐
klärungs- und Beratungsbriefen, sehr we‐
sentlich zu bereichern vermochte, ergab
sich aus der Natur der mir von mir selbst
gestellten Aufgabe, hier ein Buch in Brie‐
fen zu geben: ‒ ein Buch, das, langher schon
vorbereitet, zuletzt nur in dieser Form zu
seiner Gestaltung kommen konnte.
.Die Briefe sind nicht etwa diktiert, son‐
dern trotz allen mein Schreiben zur Zeit stö‐
renden physischen Behinderungen mit der
Hand geschrieben, so, wie ich ehedem
ohne plagende Hemmung ihre Vorbilder zu
schreiben vermochte. Doch liegt hier keine
„Ausnahme” vor, denn ich habe bis auf den
heutigen Tag noch nichts veröffentlicht,
das anders als durch Handschrift mit der
Feder entstanden wäre. Das Manuskript für
den Setzer hat immer ein handgeschrie
benes erstes Manuskript zur Vorlage, das
freilich die physische Mühsal seines Zu‐
9 Briefe an Einen und Viele
standekommens meistens nicht zu verber‐
gen vermag und so wenig meinen Ansprü‐
chen an meine Handschrift entspricht, daß
ich die seltenen, unumgänglichen Briefe,
die ich mitunter noch zu schreiben ver‐
suche, notgedrungen nur zu nachfolgender
Abschrift ins Stenogramm diktieren kann.
Die Handschrift hingegen muß heute, so‐
weit sie mir möglich wird, allein der sie
unumgänglich verlangenden Gestaltung
meiner Lehrtexte vorbehalten bleiben, die
sich nun hier in diesem Buche in Brief
form darbieten, wobei jeder von mir ge‐
meinte, wirklich angesprochene Leser je‐
den Brief als an sich selbst gerichtet be‐
trachten darf, auch wenn ich niemals eine
Zuschrift von ihm empfing und auch gewiß
keine privatim beantworten könnte.
10 Briefe an Einen und Viele
Zurück! ‒ Zurück mit euch! ‒
Die ihr alles geflissentlich
Und beflissen umdrängt,
Was eurer leibesentstandenen
Unsauber riechenden Tierseelen
Lüstern leckender Gierde
Nicht zugemeint ist!
Ich bin nicht gekommen
Um euch: ‒ den einzigen,
Die ich nicht rufe ‒
Der „Eure” zu heißen!
Das, was ich bringe,
Ist nur den Lauteren,
Ewiger Seele Gewärtigen,
Sauberen, Herben, Verhaltenen,
Lange Zögernden dargeboten,
Die mit gereinigten Händen
Zu fassen wissen,
Was ihr nur ‒ befleckt!
*
11 Briefe an Einen und Viele
Sag' uns: ‒ Wer bist du?
Wir müssen dich kennen! ‒
Wie sollen wir wahr
Deine Art benennen?!”
Ich bin ein Strahl
Und sein ewiges Licht!
Ich bin ein Wort
Das sich selber spricht!
Ich bin ein Schwert
Und ein schützender Schild!
Ich bin ein Former
Und auch sein Bild!
Ich bin ein Ring
Und bin sein Stein!
Ich bin der Winzer
Und bin der Wein!
Ich bin ein Stamm
Und des Stammes Reis!
Ich bin ein Mensch,
12 Briefe an Einen und Viele
Der die Weise weiß:
Funken zu schlagen
Aus ewigem Eis!
*
Was ich bringen komme,
    bringt man erst
    dem eigenen Blute,
Bevor man weitergibt
    aus eigenem Gute
Auch fremden Stämmen,
    Was sie gültig fassen. ‒
Wollt ihr nicht haben,
    was ich euch
    als Ersten bot,
Dann werdet ihr, ‒ glaubt mir:
    ich kenne das Gebot! ‒
Das, was euch heute finden sollte,
13 Briefe an Einen und Viele
    später, fernher holen: ‒ ‒
Der Nacht Genossen ‒
    scheu, auf leisen Sohlen...
*
14 Briefe an Einen und Viele
DIE BRIEFE
ERSTER BRIEF
Sie sagen mir, daß Sie im „Buch vom le‐
bendigen Gott” vieles finden, das Ihnen
lange schon als eigenes Besitztum der
Seele gelte, obwohl Sie nicht dazu gelangt
seien, dem von Ihnen seelisch Empfunde‐
nen auch selbst „in Worten Ausdruck”
schaffen zu können.
.Da Sie sich nicht näher über die einzel‐
nen Stellen des Buches aussprechen, auf
die sich Ihr Gefühl des Wiedererkennens
eigener Empfindung bezieht, nehme ich
an, daß Sie in den einzelnen Kapiteln, die
Ihnen ja doch fraglos dem Gesamtinhalt wie
der Formung nach neu waren, dennoch zu‐
weilen an Sätze gelangten, die Sie wie wort‐
gemäße Darstellungen des bereits ohne
mein Buch in Ihnen Erfühlten anmuteten.
.Verstehe ich Sie damit recht, so liegt
dann wirklich ein „Wiedererkennen” des
17 Briefe an Einen und Viele
auch Ihnen Eigenen vor, da Ihre Seele ja
aus dem gleichen Urgrund stammt wie die
meine, und ich in meinen Büchern nach
nichts anderem trachte, als nach Darstel‐
lung der ewigen, von allem zeitlichen
Meinen und Glauben ganz unberührten
Wirklichkeit, die aller Seele Urbesitz ist,
auch wenn in diesem, von physisch Kör‐
perlichem laut übertönten Erdenleben das
Bewußtsein um solchen Besitz bis zu nur
traumhafter Fernschau einer verblaßten
Erinnerung abgedrängt wird. So betrach‐
tet, überrascht mich Ihre Behauptung nicht
im mindesten. Sie zeigt mir nur, daß ein‐
zelne meiner Worte das normalerweise wäh‐
rend dieses Erdenlebens kaum noch faß‐
bare Erinnerungsbild der Seele soweit in
Ihnen zu verstärken imstande waren, daß
es Ihnen in den berührten Punkten wort‐
geformt faßbar wurde. Was Sie über das
Glück sagen, nun gewisse, Ihnen wohlbe‐
18 Briefe an Einen und Viele
kannte seelische Empfindungen anhand
meiner Worte „nach Wunsch und Willen”
jederzeit aufs neue nacherleben zu können,
ist nur eine Bestätigung des hier Erklärten,
so daß Sie ganz unbesorgt sein dürfen hin‐
sichtlich des Ihnen „merkwürdigen, aber
eigentlich wohltätigen” Gefühls der erlang‐
ten Gewißheit über einen inneren Bezirk,
der Ihnen vordem als ganz unerkundbar
erschienen war.
.Sie sind aber auch durchaus in guter
Selbstberatung, wenn Sie mir gestehen,
selbst zu fühlen, wie sehr Sie noch meiner
Worte bedürfen, ja, wie Sie vorerst in
diesen Worten die einzigen brauchbaren
Schlüssel” zu den Schatzkammern Ihres
seelischen Besitzes erkennen.
.Gern höre ich weiterhin von Ihnen, wie
Sie sich dieser Schlüssel zu bedienen wissen.
.Sie werden zwar gewiß keinen regel‐
mäßigen Briefaustausch mit mir erwarten
19 Briefe an Einen und Viele
dürfen. Ich müßte mich selber vervielfachen
können, sollte ich auch nur den kleinsten
Teil der Wünsche erfüllen, die eine Be‐
antwortung an mich gerichteter Briefe er‐
hoffen. Nicht meine „kostbare Zeit”, die
ich leider bis zum Überdruß in vielen Zu‐
schriften erwähnt finde, versagt es mir, alle
die Antworten niederzuschreiben, die ich
von Herzen gerne geben möchte, sondern
die mir verfügbare irdische Kraft, die längst
über alles zulässige Maß hinaus überlastet ist.
.Sobald ich Sie jedoch in Ihren, hier aus‐
drücklich von mir erbetenen Berichten bei
einem störenden Irrtum gewahren sollte,
will ich dennoch tun, was mir möglich ist,
um Sie gut beraten zu wissen.
.Der Himmel segne Sie!
20 Briefe an Einen und Viele
ZWEITER BRIEF
Unsere Fähigkeit, Seelisches zu erleben,
ist durch gewisse Aufnahmehemmungen be‐
hindert, die man in Analogie zu dem Ver‐
halten unserer physischen Fähigkeiten:
„Ermüdungserscheinung” nennen darf.
Was Sie mir nun zu berichten haben, ist
deutlich als Schilderung einer solchen Er‐
müdungserscheinung zu erkennen.
.In Ihrer ersten Freude darüber, manches
Ihnen bekannte seelische Empfinden zum
erstenmal in Worten dargestellt zu sehen,
hatten Sie alles andere, was in meinem
Buche gesagt ist, offenbar vorläufig außer
acht gelassen und sich mit dem Ihnen nicht
Bekannten auch weiter nicht beschäftigt.
Ihre Erregung durch jene meiner Worte,
die Sie als „genaue Beschreibung” des
Ihnen bekannten seelischen Erlebens emp‐
fanden, war, wie Sie ja selbst sagen, „über‐
21 Briefe an Einen und Viele
aus stark und nachhaltig”. Kein Mensch
aber kann ein solches seelisches Erregtsein
dauernd in gleicher Stärke festhalten. Es
folgt naturnotwendig ‒ und zum Glück
für unseren physischen Organismus ‒ das
Abklingen auch der stärksten seelischen
Erregung. Sie aber wollten sich dem wider‐
setzen und glaubten, das immer erneute
Lesen der Sätze, die in Ihnen so lebendige
Wirkung hervorgebracht hatten, müsse zu
immer neuer Beglückung durch Bestäti‐
gung eigenen seelischen Erlebens führen.
Daß Sie sich aber dadurch nur immer mehr
übermüden mußten, kam Ihnen nicht in
den Sinn, und in diesem übermüdeten Zu‐
stande stiegen nun jene Worte plötzlich vor
Ihnen auf, die von Dingen handeln, die
Ihnen noch ganz unbekannt sind. Das ist
jedoch durchaus nicht „unheimlich” oder
„beängstigend”, wie Sie in Ihrem Briefe
an mich sagen!
22 Briefe an Einen und Viele
.Sie wurden nur gewahr, was Ihnen beim
ersten Versenken in Schilderungen des
Ihnen Bekannten, an noch nicht Bekann‐
tem entgangen war, weil Sie unwillkürlich
darüber hinweg gelesen hatten.
.Es wird Ihnen jedoch bei jedem erneu‐
ten Lesen eines meiner Bücher ähnlich
gehen, auch wenn Sie glauben sollten, den
Inhalt des Buches, das Sie gerade wieder
zur Hand nehmen, beinahe auswendig zu
wissen. Sie werden mit Erstaunen wahr‐
nehmen, daß Sie zwar des Inhalts kundig
zu sein glaubten, aber im Wiederlesen
immer wieder neuem Inhalt begegnen!
.Diese Bücher lassen sich nicht „auslesen”,
weil ihr Inhalt allen überhaupt möglichen
Konstellationen seelischen Bewußtwerdens
Darstellung gibt, und weil jedes erneute
Lesen den Leser in einer anderen seelischen
Aufnahmefähigkeit findet.
.Es ist daher für Sie gar kein Grund ge‐
23 Briefe an Einen und Viele
geben, an der Erweiterungs- und Vertie‐
fungsmöglichkeit Ihres seelischen Erleben‐
könnens zu zweifeln. Nur müssen Sie Ge‐
duld haben, wie man Geduld haben muß,
wenn man ein Musikinstrument spielen,
oder eine fremde Sprache frei gebrauchen
lernen will.
.Sie hatten vielleicht Ihre Vertrautheit
mit dem, was es für uns Menschen in der
Seele zu erleben gibt, überschätzt, und
müssen sich nun zu der Erkenntnis durch‐
arbeiten, daß es unvergleichlich mehr See‐
lisches zu erleben gibt, als Sie bis jetzt zu
erahnen vermochten.
.Wenn die gegenwärtigen Zweifel an Ihrer
Erlebensfähigkeit dem Seelischen gegen‐
über, Sie vor solchem, so verhängnisvollen
Überschätzen dessen, was Sie seelisch er‐
lebt zu haben glauben, in Zukunft bewah‐
ren werden, dann ist Ihre augenblickliche
Enttäuschung das beste Vorzeichen dafür,
24 Briefe an Einen und Viele
daß Sie sich dereinst ‒ wenn es auch länger
hingehen mag, als Ihnen erwünscht wäre ‒
im Reiche der Seele erwacht finden wer‐
den. Fassen Sie neuen Mut und bedenken
Sie, daß Ihr Ziel zu seiner Erreichung große
Hingabe erfordert!
Weil du dir selber
.dich zu weit entrücktest
Und träumend dich
.an Traumgebild entzücktest,
Ist dir das Band, das dich
.mit Gott verband, ‒ entglitten:
In Trug und Tand hast du
.dich, selbst erlitten.
In dich gezwängt,
.hast du dann Gott gerufen, ‒
Von dir bedrängt,
.liegst du nun vor den Stufen,
25 Briefe an Einen und Viele
Die ‒ in dir selber
.dich zu Gott erheben:
Aus Dunst und Dunkel,
.zu dir neuem Leben!
*
26 Briefe an Einen und Viele
DRITTER BRIEF
An allem dürfen Sie zweifeln ‒ auch an
mir ‒ nur nicht an der Möglichkeit, im
Lichte der Seele zum Erwachen kommen
zu können! Ihr letzter Brief enthält aber
keinen einzigen Satz, der nicht aus solchem,
alles Erleben der Seele hindernden Zwei‐
fel hervorgegangen wäre.
.Sie könnten ja recht haben, wenn Sie mir
nun schreiben, Sie sähen sich ‒ im Gegen‐
teil zu meiner letzten Äußerung ‒ von mir
„überschätzt”. Aber was ich Ihnen als ein
Ihnen Erreichbares in der Ferne zeige,
würde durch irgendwelche Überschätzung
Ihrer Person keineswegs für Sie weniger
sicher erreichbar!
.Wenn Sie einmal soweit sind, wie Sie
sein müssen, um das von mir aufgezeigte
Ziel erreicht zu haben, werde ich Sie ganz
gewiß nicht mehr „überschätzen”, gesetzt,
27 Briefe an Einen und Viele
daß heute wirklich Überschätzung bestün‐
de. Aber Ihr nun so lebhaft sich bekun‐
dendes Bestreben, sich selbst zu verklei
nern, ist ja nur die Reaktion auf Ihre vor‐
herige Überbetonung im Seelischen, Ihrem
eigenen Bewußtsein gegenüber. Pendel‐
ausschlag nach der anderen Seite!
.Sie müssen vor allem jetzt erst einmal zur
Ruhe kommen und Ihre eigene Mitte finden!
.Vielleicht beseitigt es Ihre Befürchtun‐
gen, daß ich Ihnen Hoffnung auf Erreichung
des erstrebten Zieles nur deshalb machen
könne, weil ich Sie wohl doch „über‐
schätze”, wenn ich Ihnen darauf antworte,
daß ich Sie nur in der allen seelisch Suchen‐
den zu Anfang eigentümlichen Verfassung
sehe, sich selbst zu wichtig zu nehmen. ‒
Sich selbst und das Urteil Anderer!
.Aber das ist, gleichnisweise gesagt, eine
Art psychophysischer Kinderkrankheit, die
nur dann zu Besorgnis Anlaß bieten könnte,
28 Briefe an Einen und Viele
wenn sie nicht in absehbarer Zeit zum Ver‐
schwinden gebracht würde.
.Sie stehen heute am allerersten Beginn
eines Weges, dessen Ziel Ihnen zwar ge‐
dankenmäßig vorstellbar, aber in seiner
Wirklichkeit nur ahnungsweise bekannt ist.
Ihr Weg ist in Ihnen selbst, und nur in
Ihnen selbst finden Sie dereinst sich auch
an dieses Weges seelischem Ziel. In Ihnen
selbst aber sind auch alle die Waldteiche,
Sümpfe und Pfützen, in denen Sie bisher
sich so gerne zu betrachten liebten.
.Sie werden wissen, was ich meine, auch
wenn ich die Art dieser Spiegelungsgelegen‐
heiten hier absichtlich nicht mit Fachaus‐
drücken der Psychologie benenne. Dieses
Selbstbetrachten und Sich-im-Bilde-sehen‐
Wollen werden Sie allmählich ganz auf
geben lernen müssen, wenn Sie auf Ihrem
Wege zu sich selbst das Ziel nicht aus den
Augen verlieren wollen.
29 Briefe an Einen und Viele
.Sie sind ganz der Gleiche, einerlei, ob
Sie sich bei Ihren Selbstbespiegelungen im
Bilde gefallen oder nicht! Jedes von Ihnen
im Innern aufgenommene Spiegelbild Ihres
jeweiligen Bewußtseinszustandes bewirkt
aber ein Festhaften an der Stelle, die Sie
durch Weiterschreiten ja gerade verlassen
lernen sollen. ‒
.Als was Sie sich selbst und Anderen hier
im Erdenleben gelten: ‒ welche Stellung
Sie einnehmen, welche Bedeutung dieser
Stellung zukommt, ‒ ob Sie zu befehlen
oder zu gehorchen haben, und tausend an‐
dere irdische Wichtigkeiten, an die Sie sich
hier gefesselt fühlen oder von denen Sie
gar nicht befreit sein möchten, ‒ das alles
sind Dinge zwischen Geburt und Grab. ‒
Was aber in Ihrer Seele von Ihnen erst ge‐
sucht und gefunden werden will, ist Ewi
ges, das von alledem unberührt bleibt, was
Ihnen hier auf Erden irdisch so wichtig ist.
30 Briefe an Einen und Viele
.Trachten Sie immerhin nach dem, was
Sie in Ihrem irdischen Dasein irdisch hoch
bewerten, aber versäumen Sie darüber Ihr
Ewiges nicht!
.Ihr Erdenkörper ist nur die Werkstatt,
in der Sie Ihrem Ewigen Gestaltung schaf‐
fen können. ‒ Er bietet Ihnen das Werk
zeug, das Sie zur Selbstformung brauchen,
aber Sie selbst nur schaffen sich damit ‒
die Form!
.Ohne sich selbst diese, Ihre geistige
„Form” aus Ihrem Ewigen gestaltet zu
haben, können Sie unmöglich in Bewußt‐
seinsidentität mit Ihrem persönlichen ir
dischen Bewußtsein, in Ihrem Ewigen be‐
wußt werden! ‒ Aus der Perspektive des
in seine tierorganbestimmten Sinne gefes‐
selten Erdenmenschen her gesehen, wäre
Ihr Ewiges auch ewig Ihr Fremdestes, denn
er weiß nichts von ihm und kann höch‐
stens, durch Überredung, in sehr fragwür‐
31 Briefe an Einen und Viele
diger Weise, daran zu „glauben” bewogen
werden. Ihr Ewiges wird Ihnen jedoch be‐
wußt werden als unverlierbarer Bewußt‐
seinsbesitz, sobald Sie ihm die Ihnen ge‐
mäße geistige Form gestaltet haben, die nur
Sie allein ihm gestalten können, durch die
Ihnen entsprechende, kontinuierlich bei‐
behaltene Willenshaltung.
32 Briefe an Einen und Viele
VIERTER BRIEF
Es würde mir wie ein Unrecht erscheinen,
wollte ich Sie nach diesem, Ihrem letzten
Brief, der eine so mannhaft klare Entschei‐
dung bringt, länger als unvermeidlich nö‐
tig, ohne Antwort lassen. So stelle ich vie‐
les, was von mir getan werden will, einst‐
weilen zurück, damit Sie gleich von mir
hören.
.Ich verstehe aber auch Ihre Sorge und
will gerne Ihrer, wie Sie sagen: „trockenen
und durch den Beruf schon vorwiegend
verstandesmäßig eingestellten” Natur alle
Brücken bauen, die sie etwa braucht.
.Zeigen Sie mir unbesorgt Ihre Schwie‐
rigkeiten auf!
.Es würde mich selbst belehren, sollte ich
entdecken, daß ich das in meinen Büchern
bereits auf die mir gemäße Art Gegebene
auch in Ihnen geläufigere Form umgießen
33 Briefe an Einen und Viele
könnte. Nicht minder lernbereit bin ich,
aus den Worten eines seriösen und nüch‐
tern urteilenden Mannes zu ersehen, wo
ich möglicherweise berechtigte Fragen
offengelassen oder aber dem Leser Auf‐
gaben dargeboten haben könnte, deren er
nicht mit der Zeit Herr zu werden ver‐
möchte.
.Was jedoch die von Ihnen erwähnte „un‐
gewohnte Schreibweise” betrifft, in der ich
jeweils in den Büchern das Darzustellende
behandelt habe, so darf ich in aller Sachlich‐
keit sagen, daß ich noch keine einzige Ab‐
handlung geschrieben habe, bei der es mei‐
ner Willkür freigestellt geblieben wäre, das
zu Sagende zur damals gegebenen Zeit auch
anders zu sagen, als es sich ausgedrückt
findet.
.Ich habe nie und nirgends nach einem
Rede- oder Schreibstil gesucht, sondern
immer alles so niedergeschrieben, wie es
34 Briefe an Einen und Viele
sich mir nach geistig bestehenden Lautwert‐
gesetzen formen mußte.
.Mit einer Spur literarischen Ehrgeizes
hätte ich mich im Ganzen gewiß ohne
Schwierigkeit einer der Zeit geläufigen
Schreibweise bedienen können. Aber es lag
und liegt mir nicht nur alles literarische
Streben fern, sondern ich bin auch viel zu
sehr mit meiner ganzen Liebe bei jedem
Wort, das ich gebrauche, ‒ bei jedem
Buchstaben, den ich niederschreibe, ‒ als
daß ich daneben noch Sorge tragen könnte
darum, wie sich das, was ich sagen muß,
dem allgemeinen Schrifttum meiner Erden‐
zeit einfügen lasse. Wo ich Worte vorfinde,
wie ich sie brauche, dort trage ich kein
Verlangen nach anderen, und wo ich mit
denen, die ich vorfinde, nicht auskomme,
schaffe ich mir selbst jeweils die Wortform,
die nötig ist.
.Ich kann überdies nichts schreiben, was
35 Briefe an Einen und Viele
ich nicht in betontester Weise als gespro
chen empfinde. Dieser Umstand erklärt
alles, was auf den ersten Blick vielleicht
an meiner Art, die Sätze zu sondern und
die Interpunktion anzuordnen, als gesuchte
Wunderlichkeit erscheinen könnte. Da Sie
ja jetzt im Besitz des im Laufe zweier Jahr‐
zehnte von mir Geschriebenen sind, wird
Ihnen auch in manchem der zuerst erschie‐
nenen Bücher eine freigebige Verwendung
der Gedankenstriche auffallen, die aus dem
Bedürfnis zu erklären ist, irgendwelche
Zeichen zu haben für die kürzeren oder
längeren Pausen zwischen den als gespro
chen empfundenen Wortfolgen. Das fatale
Mißverstehen der Absicht hat mich dann
später aber veranlaßt, den Gebrauch dieser
Zeichen aufs Allernötigste einzuschränken.
.Dessenungeachtet besteht für den Leser
die Notwendigkeit weiter, sich das Ge‐
schriebene lauthaft gesprochen vorzustel‐
36 Briefe an Einen und Viele
len, wenn er sich nicht selbst um recht
Wesentliches bringen will, was ihm die ge‐
lesenen Sätze an Innerstem zu geben haben.
.Damit wären wohl die ersten erbetenen
Erklärungen erschöpft, die ich Ihnen schul‐
dig zu sein glaube, nachdem ich jetzt Ihre
Entschließung kenne, Tag für Tag eine
ruhige Stunde dem eindringlichen, wenn
auch vorläufig erst mehr verstandesmäßigen
Studium meiner Lehrtexte zu widmen.
.In bezug auf die Reihenfolge dieses Stu‐
diums möchte ich Ihnen lieber alle Frei‐
heit lassen, obwohl ich manches gerne zu‐
erst gelesen wünschen würde, bevor man
an anderes geht, das gewisse Vorstellungen
schon in leidlicher Klarheit voraussetzt.
Ich rate Ihnen aber, immer wenn Sie eines
der Bücher beendet haben und nach einem
anderen greifen, nur eines zu wählen, was
Sie beim ersten Blättern sogleich stark an‐
spricht. Haben Sie aber Mühe, weiterzu‐
37 Briefe an Einen und Viele
kommen, dann legen Sie lieber ein solches
Buch für spätere Zeit zurück, und wählen
derweil ein anderes, mit dem Sie eher ver‐
traut zu werden glauben.
.Meine Segenswünsche sind mit Ihnen!
38 Briefe an Einen und Viele
FÜNFTER BRIEF
Daß Sie erst jetzt, nach vier Monaten,
wieder zum Schreiben an mich gelangen
konnten, erfordert wahrhaftig keine Ent‐
schuldigung.
.Abgesehen davon, daß ich ja um Ihre
stete intensive Berufstätigkeit weiß, durfte
ich doch wohl auch annehmen, daß Sie mir
nur dann Fragen vorzulegen haben wür‐
den, wenn alle Prüfung des Textes Ihnen
die Selbstbeantwortung unmöglich erschei‐
nen ließe, und zu solcher Prüfung gehört
Zeit! Wenn man ununterbrochen und
durch keine Maximalstundenzahl einge‐
schränkt, weit über seine verfügbaren
Kräftereserven hinausgreifen muß, um sei‐
ner Arbeitsverpflichtung auch nur im Drin‐
gendsten Herr zu bleiben ‒ wie das bei mir
der Fall ist, ‒ dann kann ein Zeitraum
von vier Monaten zuweilen so zusammen‐
39 Briefe an Einen und Viele
schrumpfen, daß er kaum wie die Zeit‐
spanne von vier Tagen empfunden wird.
.Ich verstehe, daß Sie sich erst einen „Ge‐
samtüberblick” über die Bücher und ihre
Einzelkapitel verschafft haben mußten, be‐
vor Sie an die Durcharbeitung der gegebe‐
nen Texte gehen konnten, aber ich muß
meiner Verwunderung darüber Ausdruck
geben, daß Ihnen eine solche Gesamtüber‐
schau immerhin in der doch relativ kurzen
Zeit von vier Monaten, in denen Sie auch
genug anderes zu tun hatten, gelungen ist.
Ihre bisherigen Beobachtungen bestätigen
dieses Gelingen!
.Es war ein recht glücklicher Gedanke,
die Bücher und Bändchen in der Reihen‐
folge ihrer Erscheinungszeit durchzusehen,
und es war mir sehr erwünscht, hören zu
dürfen, daß Ihnen durch die späteren Er‐
öffnungen sich so vieles ungezwungen er‐
schlossen hat, was Ihnen bereits im „Buch
40 Briefe an Einen und Viele
vom lebendigen Gott” nur auf solche Art
erschließbar erschienen war. Auch verrät
es mir ein sicheres und feines Empfinden,
daß Sie in diesem ersten und manchem
folgenden Buch, zwischen den Zeilen wie
im Text selbst, den Kampf gewahr gewor‐
den sind, den es mich immer wieder ge‐
kostet hat, mich vor aller Welt zu mir be
kennen zu müssen, und wie ich daher, nur
widerwillig, erst ganz allgemein gehaltene
Berichte gab, die immer noch mehr zu ver
bergen wußten als sie, gezwungen, enthüll
ten. Ich verberge aber auch heute noch
mehr, als mir ‒ solange es andere nicht
von sich aus eindeutig sicher gewahren ‒
zu bekennen möglich und erträglich wird.
.Sie werden übrigens, beraten durch Ihre
Feinfühligkeit, im Laufe der Zeit auch noch
auf manches eindeutige Bekenntnis zu mir
selbst innerhalb meiner Lehrtexte stoßen,
das ich zwar zu geben genötigt war, aber
41 Briefe an Einen und Viele
vor allen, die doch nichts damit anzufangen
wüßten, mit dichter Hülle bedeckte. Ich
gestehe, daß es mir zuweilen eine diebische
Freude bereitet hat, wenn es mir gelungen
war, meiner Bekenntnisverpflichtung so zu
genügen, daß nur recht wenige, wirklich
Berechtigte zu entdecken vermochten, was
unter der Verhüllung sich vor Unberechtig‐
ten verborgen hielt und verbirgt, obwohl
die Form der Hülle keineswegs wertlos ist,
oder gar seelischem Irren Veranlassung
werden könnte. Es ist das alles andere
eher, nur nicht etwa Geheimniskrämerei!
Es ist vielmehr ein Schutz, den ich mir
schaffen mußte: ein Schutz vor törichten
Unterstellungen und groteskem Mißver‐
stehen.
.Meine Motive werden Ihnen gewichtig
genug erscheinen, wenn Sie sich vor Augen
halten, daß mir mein ewiges, allem irdischen
Einfluß entrücktes Sein zwar in distinkte‐
42 Briefe an Einen und Viele
stem Erleben als über-zeitlich bekannt ist,
für mich aber gewiß nichts Über-natürliches
bedeutet, da ich ja seiner Geistesnatur aus
dem Ewigen her, als der meinen, immer
bewußt war. Ein zeitlich umgrenztes Pro‐
blem ergab sich erst ‒ nachdem mir ein
irdischer Menschenkörper geboren worden
war ‒ durch die in gewissem Sinne alles
menschliche Erlebenwollen überfordernde
Notwendigkeit, im irdischen Menschbe‐
wußtsein, meiner, als des Ewigen, innezu‐
werden. Daß diese Forderung lange Jahr‐
zehnte brauchte um sich im Irdischen end‐
lich ganz durchzusetzen, und daß sich immer
wieder der Widerstand menschlichen Er‐
lebenswillens dem unumschränkten Inne‐
werden können in den Weg stellte, ist ‒
nun im irdischen Sinne gemeint ‒ nur
natur-gemäß. Mit einer Art heftigen Trot‐
zes, der zuweilen in geradezu burleske Situa‐
tionen führen kann, wehrt sich menschlich‐
43 Briefe an Einen und Viele
irdischer Erlebenswille immer wieder ge‐
gen die Okkupation des ihn nährenden
Menschen durch ein Über-irdisches, von
dem er ja vorher nicht weiß, ob es ihm
nicht endgültig alle Erfüllung verweigern
wird.
.Ich dachte nicht, daß diese Dinge zwi‐
schen uns schon so bald zur Sprache kom‐
men würden, aber es ist wohl von Ihrer
Art, sich selber möglichst ohne besondere
Fragen weiterzuhelfen, gefordert, gleich
von Anfang an auch Tatsachen ins Auge zu
sehen, an deren Erscheinung sich andere
Suchende im Gang ihres seelischen Voran‐
schreitens zuweilen erst heftig stoßen.
.Ich habe das Gefühl, daß Sie weniger
„Hilfe” auf Ihrem Wege brauchen werden,
als Bestätigung, und daß Sie auch dieser
fast entraten könnten.
.Die innere, rein geistige Hilfe ist Ihnen
sichtbarlich nahe.
44 Briefe an Einen und Viele
Die noch des Eigendünkels
    Träume binden,
Die sind es wahrlich nicht,
    die das Gesuchte finden!
Nur, die sich selber
    in sich selbst begraben,
Erlangen in sich selbst
    die heiß ersehnten Gaben....
*
45 Briefe an Einen und Viele
SECHSTER BRIEF
Wenn Sie sich nun selbst darüber wundern,
daß Sie vormals glaubten, so viele, den
Text an sich betreffende „Fragen” stellen
zu müssen, während Ihnen jetzt die Worte
meiner Schriften „von Tag zu Tag eingän‐
giger” werden, so kann ich solches Ein‐
leben nur begrüßen. Nicht aber etwa des‐
wegen, weil Sie mich dadurch mancher be‐
mühender Erörterung entheben, sondern
in erster Linie um Ihretwillen. ‒
.Nur, was Sie sich selbst zu beantworten
vermögen, ist wirklich für Sie beantwortet!
Empfangen Sie aber eine Antwort von
außen her, so kann damit ‒ bestenfalls ‒
die Richtung gewiesen sein, in der die von
Ihnen gewünschte Lösung einer Frage liegt,
aber auch dann wird es Ihnen allein ob‐
liegen, sich die Beantwortung selbst zu
eigen zu machen. Jede Antwort von außen
46 Briefe an Einen und Viele
her, die Sie nicht bezwingen, schafft Be‐
drückung und preßt immer neue verwir‐
rende Nebenfragen hervor, die zu nichts
nütze sind.
.Sie werden immer deutlicher sehen, daß
in meinen Schriften wirklich alle, die ewige
Geistigkeit des Menschen angehenden Fra‐
gen soweit beantwortet sind, wie es das ge‐
hirnliche Begriffsvermögen zuläßt. Damit
aber ist auch nur die Richtung jeweils deut‐
lich gewiesen, nach der sich die Seele wen‐
den muß, wenn sie sich selber ihre jewei‐
ligen Fragen beantworten will. Wer ehrlich
vor sich selber ist, der wird sehr bald wis‐
sen, ob diese oder jene Stelle in meinen
Lehrtexten sich auf ihn und seine indivi‐
duelle Situation bezieht oder nicht, auch
wenn er gewiß nicht erwarten darf, jede
mögliche Schattierung des Erlebens, deren
Elemente ich erörtere, in meinen Worten
aufgezählt zu finden.
47 Briefe an Einen und Viele
.Mit aller Absicht aber enthalte ich mich
der üblichen, aus philosophischen und theo‐
logischen Meinungen abgeleiteten Defini‐
tionen, da es sich in meinem Lehrwerk um
das Erleben der Wirklichkeit handelt, die
ebendort anfängt, wo die Philosophien und
Theologien, die sich der suchende Men‐
schengeist auf Erden als gedankliche Wege
zum ewigen Geiste geschaffen hat, am Ende
sind. Wenn philosophisch oder theologisch
gebundene Menschen aus meinem Lehr‐
werk Nutzen ziehen wollen, so kann das
erst dann geschehen, wenn sie über sich
selbst und damit über ihren Glauben hinaus‐
gewachsen sind, daß sie in ihren Banden
im Besitz der „Wahrheit” über die Wirk‐
lichkeit seien.
.Das ist nicht etwa nur eine bloße Behaup‐
tung, die dann freilich erst der Beweise be‐
dürfte, sondern ich gebe Ihnen hier not‐
wendigerweise im voraus Kenntnis von
48 Briefe an Einen und Viele
einem gegebenen Tatbestand, auf den jeder
Suchende stoßen muß, der sich mit meinen
Schriften ernstlich beschäftigt. Man muß
mit seinen philosophischen und theologi‐
schen Findungen zu Ende gekommen sein,
bevor man den Weg in das ewige Wirkliche
findet, auf dem einer desto eher zum Ziel
gelangt, je weniger er mit Erdachtem be‐
packt ist.
.Sie werden wohl schon bei der ersten
Durchsicht meiner Schriften gewahr ge‐
worden sein, mit welcher Toleranz ich
jeglicher religiösen oder gedanklich gefun‐
denen menschlichen Meinung begegne,
wenn sie sich auch nur in einem übertra
genen Sinne als der ewigen Geisteswirk‐
lichkeit wahrhaft entsprechend erweist.
.Aber diese Toleranz soll wahrhaftig nicht
zu der falschen Annahme verleiten, daß ich
damit sagen wolle, auch philosophische und
theologische Gedankenarbeit könne jemals
49 Briefe an Einen und Viele
in die ewige Wirklichkeit führen! Ich bringe
solchem menschlichen Tun vielmehr nur
um seiner an sich lauteren Motive willen
verstehende Achtung entgegen, und ehre
die wenigen, auf seine Art zu findenden
oder schon gefundenen Teilwahrheiten
über das ewige Wirkliche.
.Der einzige Weg aber, der in die zu jeder
Zeit „ewige” Wirklichkeit führt, ist ein
Weg des Werdens, ‒ nicht bloß des Er‐
kennens, ‒ und um diesen Weg deutlichst
abzustecken, ist alles geschrieben worden,
was ich geschrieben habe.
.Seien Sie gesegnet auf Ihrer nun be‐
gonnenen Wanderung auf diesem Wege!
50 Briefe an Einen und Viele
SIEBENTER BRIEF
Ihre Frage: ob ich auch schon von ande
ren Lesern meiner Bücher Ähnliches ge‐
hört habe, wie das, was den Hauptinhalt
Ihres letzten, so bedeutsamen Briefes aus‐
macht, finden Sie bereits in dem gleichen
Kapitel beantwortet, das Sie zitieren. Aller‐
dings steht diese Antwort schon gleich auf
der zweiten Seite der von Ihnen erst in
ihrem weiteren Text herangezogenen Be‐
trachtung „Die Hütte Gottes bei den Men
schen”, im „Buch vom lebendigen Gott”.
.Wenn Sie jedoch Wert darauf legen, daß
Sie vom frühesten Jünglingsalter an „die
feste Gewißheit” vom Bestehen eines „der
Welt ganz unbekannten, tief verborgenen
Kreises segenverbreitender Männer” in
sich trugen, und sich mit ihnen „irgendwie
in Verbindung” fühlten, so muß ich frei‐
lich sagen, daß mir von solcher „Gewiß‐
51 Briefe an Einen und Viele
heit”, in verschiedenen Abstufungen, erst
berichtet wurde, als das „Buch vom leben‐
digen Gott” bereits erschienen war. Dann
aber überaus häufig, und von Leuten, die
recht ungenügende Anlagen zu phantasti‐
schen Wachträumen zeigten. Sie sind mit
dem Erleben solcher „Gewißheit” in er‐
freulicher und sehr ansehnlicher Gesell‐
schaft.
.Was aber nun den Ort auf der Erde an‐
langt, an dem Sie den Ihnen irgendwie ver‐
bundenen, segenverbreitenden Kreis ver‐
muteten, so haben Sie sich gewiß nicht so
weit von dem wirklich Gegebenen entfernt
wie andere, die mir gestanden, daß sie die‐
sem mit Gewißheit erfühlten Kreis den
Wohnsitz in einem „armenischen Kloster
im Kaukasus”, auf irgendeiner Insel im Stil‐
len Ozean, oder gar mitten in einer gewal‐
tigen Weltstadt zugewiesen glaubten. Ihre
„Burg” auf einem sehr hohen Berg und
52 Briefe an Einen und Viele
„inmitten von Schnee und Eis” ist eine
Vorstellung, die schon fast auf gedanklicher
Übertragung gewisser örtlicher Bilder be‐
ruhen könnte, die allen denen wohlbekannt
sind, die dem gemeinten Kreise angehö‐
ren, der an hochbedeutsamer Stätte auf
Erden ein Heiligtum verborgen weiß, das
nur den Seinen allein zugänglich ist...
Das Sanktuarium dieser Stätte kann aller‐
dings nur von Menschen wahrgenommen
werden, deren geistige Sinne klar und
wach Gebilde aus geistiger Substanz zu
erfassen vermögen. Soweit nur die irdi
schen Körpersinne in Betracht kommen,
ist an gleicher Stätte nur irdisch Materielles
und Täuschendes zu sehen ‒ ja, selbst der
besten Optik photographischer Apparate
würde es unmöglich sein, Anderes als ein
bloßes irdisches Täuschungsbild auf der
höchstempfindlich präparierten Platte fest‐
zuhalten. Was an dieser Stätte der Erde,
53 Briefe an Einen und Viele
örtlich fixiert, aus kristallklarer ewiger
geistiger Substanz errichtet ist, kann auch
selbst von den ihm örtlich zunächst Le‐
benden des kleinen Kreises, den Sie so
gewiß erfühlen, niemals mit dem irdisch
tierischen Körper aufgesucht werden. Je‐
der, der hier Zutritt hat, kommt in geist
räumlicher Selbstgestaltung, die ihm weit
mehr entspricht als sein irdischer Leib, und
keiner der Behinderungen unterordnet ist,
die äußere Materie hemmen. In diesem
wirklichen Tempel der Ewigkeit auf der
Erde wird auch keineswegs ein Kult zele‐
briert, und ebensowenig werden hier etwa
belehrende Homilien abgehalten. Die hier
sich vereinen als wahrhaftige, vom ewigen
Geiste gesetzte Priester, erheben sich viel‐
mehr an dieser Stätte in die vollkommene
‒ infolge geistig substantieller Verhältnisse
sonst an keiner Stätte der Erde jemals mög
liche ‒ Transsubstantiation zur absoluten
54 Briefe an Einen und Viele
Vereinung mit dem Vater: ‒ in eine ab‐
solute ‒ keinem „Mystiker” auch nur vor
stellbare ‒ „Unio mystica” ‒ und leiten
in diesem von ewiger Liebe durchlichteten
Zustand Ströme des Segens zu dafür emp‐
fangsfähigen Menschen über die ganze Erde
hin, die nur aus dieser Stätte her so er‐
reicht werden können, daß sie auch auf
zunehmen vermögen, wozu sie sich emp‐
fangsbereit machten.
.Da diese Stätte des wirklichen Tempels
der Ewigkeit auf Erden einer „Burg auf
hohem Berge, inmitten von Schnee und
Eis” nicht allzu unähnlich ist, so hat Sie
Ihr Vorstellungsvermögen recht nahe an
die Wirklichkeit hingeführt.
.Zu unterscheiden von der Stätte des gei‐
stigen Tempels ist eine irdischen Sinnen
wahrnehmbare Stätte gemeinsamen Le
bens einiger Weniger, die ihm in besonderer
Weise zugehören, aber sie liegt weder „auf
55 Briefe an Einen und Viele
hohem Berge” noch „inmitten von Schnee
und Eis”, hat aber auch für die dort irdisch
wie andere Menschen auf ihre Art Leben‐
den im Wesentlichen nur die Bedeutung
einer selbstgewählten Wohnstatt.
.Daß die hier Wohnenden sich gegen alle
Außenwelt sorgfältig abschließen und stets
abgeschlossen halten müssen, liegt in der
Natur ihrer geistigen Sonderberufung be‐
gründet. Es ist überdies auch von außen
her gut dafür gesorgt, daß sie niemals ihre
Verborgenheit aufzugeben genötigt sein
werden, auch wenn ihnen die flache „Zivili‐
sation” europäischen Ursprungs noch näher
rücken sollte, als das bis heute geschehen
konnte.
.Was Sie mir schreiben über eine gefühlte
Verbindung zwischen Ihnen und dem von
Ihnen so gewiß erfühlten geistigen Kreise,
ist keineswegs Selbsttäuschung. Nur müs‐
sen Sie sich klar darüber werden, wie diese
56 Briefe an Einen und Viele
„Verbindung” zustandekommt. Ich darf
wohl zwei Erfindungen aus dem Gebiet elek‐
trotechnischer Schallübertragungen hier
zum Vergleich heranziehen, denn es liegt
mir daran, daß Sie sich nicht an falsche Vor‐
stellungen hängen. Was Sie als „Verbin‐
dung” fühlen, ist nicht etwa einer Telephon
verbindung zu vergleichen, bei der ein
Sprechender mit einem Hörenden verbun‐
den ist, sondern eher einer durch bestimmte
Wellenschwingungen über die ganze Erde
geleiteten Radio-Botschaft.
.Es wird auf vielen Wellenlängen ganz
verschiedene Sendungen geben, Sie aber
empfangen nur, was Ihrer Einstellung ent‐
spricht.
.Jede Einflußnahme der Leuchtenden des
Urlichtes ist ‒ der Methode nach ‒ als ein
dem hier gegebenen Vergleich ähnlicher
Vorgang aufzufassen, ‒ auch dort, wo zu‐
weilen schon ganze Völker unter solchem
57 Briefe an Einen und Viele
Einfluß waren, der jedoch immer und unter
allen Umständen sich nur auf Dinge ewigen
Geistes beziehen konnte, ‒ niemals auf
Bestrebungen zur Erlangung materieller
Wohlfahrt, oder gar auf die Anerkennungs‐
kämpfe irgend einer Politik!
.Vom ewigen Geiste her kann kein ande‐
res menschliches Wollen und Handeln För‐
derung erfahren, als das wiederum in die
ewige geistige Wirklichkeit führende. Nur
die ins ewige Geistige weisende Schöpfer‐
kraft des Einzelnen, wie die durch rein
geistige Kraftäußerung bewirkte höchste
Machtentfaltung ganzer Völker und Natio‐
nen, können den geistigen Einfluß der vom
Tempel der Ewigkeit auf dieser Erde aus‐
geht, empfangen! Dies zu Ihrer Anspielung
auf meine Worte der zweiten Betrachtung
im „Buch vom lebendigen Gott”.
.Wollen Sie einstweilen alles heute von
mir Erörterte gut überdenken, bis ich dem‐
58 Briefe an Einen und Viele
nächst vielleicht den Faden wieder auf‐
nehmen kann. Möge der lichte Segen aus
dem Tempel der Ewigkeit Sie allzeit emp‐
fangsbereit finden!
59 Briefe an Einen und Viele
ACHTER BRIEF
Was ich zu Ihrem neuerdings erhaltenen
Bericht zu sagen habe, ist mir Veranlassung
zu den nachstehenden rhythmischen Ge‐
fügen geworden, die Ihnen in gedrängter
Form zeigen mögen, daß Sie die gegebenen
Zusammenhänge durch Ihr eigenes Er‐
fühlen richtig deuten. Ich spreche nun
aber hier unter der Bekundung „Wir”
nicht etwa im „Pluralis majestatis”, son‐
dern aus meinem ewigen geistigen Sein,
in dem ich immerdar in der vollkommen‐
sten Vereinung mit meinen geistgebore‐
nen Brüdern im ewigen Lichte bin. Na‐
türlich spreche ich in diesen Versen nur
aus der Gemeinsamkeit mit denen meiner
geistgeeinten Brüder, die ebenso wie ich,
irdisch-physischem Menschentum zur Voll‐
bringung ihrer Aufgabe verbunden sind,
wenn auch eines jeden Aufgabe, geistes‐
60 Briefe an Einen und Viele
bestimmt, von allen anderen verschie‐
den ist.
.Den Anlaß nützend, weise ich Sie zu‐
gleich aufs eindringlichste an, immer sehr
darauf zu achten, welcher Standort sich
aus dem Inhalt meiner Bekundungen je‐
weils ergibt, denn ich bin, wie ja der letzte
Vers der ersten Eröffnung besagt, als Er‐
denmensch meinem geistigen Sein ohne
Lösungsmöglichkeit verschmolzen.
Wir
Wir sind die berufenen Zeugen,
Denn wir leben im ewigen Licht!
Unser Zeugnis ist niemals zu beugen,
Denn es wägt mit erprüftem Gewicht.
Wir sind, was wir ewig gewesen,
Im „Vater”: ‒ im ewigen Sein! ‒
Doch wir fanden, uns geistig erlesen,
Auch zeitlichen, irdischen „Schrein”...
61 Briefe an Einen und Viele
Wir hatten ihn geistig gefunden
Lang ehe die Erde erstand,
Doch, was sich dann zeitlich gebunden,
Das verband schon urewiges Band.
Wir bleiben für immer vereinigt
Dem Irdischen, der uns hier „spricht”:
Im „Feuer” geglüht und gereinigt,
Ist er uns verschmolzen im Licht!
*
.Fand hier die meinen geistigen Brüdern
mit mir gemeinsame Ankerung im ewigen
Geiste eine Darstellung, so bringe ich nun
die Antwort auf Ihre, mich individuell
meinenden Fragen:
Ich
I
Ich bin nicht „ich”,
Wie einer, der Begrenzendes
Mit „Ich” benennt,
Da er nur erdenhaft Vergängliches
In sich erkennt.
62 Briefe an Einen und Viele
Ich bin mir „ich”
Im lichtgelösten Sein.
In irdischer Umgrenzung
West mein Bild und Schein,
Sich selbst zur Plage
Und zu zeitgeborener Pein!
II
Da, wo ich bin, ist Ewigkeit,
Weil ewigkeitsgezeugter „Raum”
Den Erdenraum erfüllt,
Den meine Tage in der Zeit erfüllen.
Mich selber gab ich
Diesem Leib der Erde ‒
Dem ich nun Leidesanlaß
Und Verzehrer werde ‒
Damit der „Raum” der Ewigkeit
Ihn ganz erfülle,
Und Ewiges dem Irdischen
In sich enthülle.
63 Briefe an Einen und Viele

III
Wenn ich aus hocherhaben hehrem Horte
Höchsten Gutes Gabe euch gewähre,
Beschenke ich nicht nur
Mit weisem Worte,
Wie wenn ich nur des Wortes
Wahrer wäre.
Was ich euch gebe,
Ist und bleibt mein Eigen,
Auch wenn ich es an Ungezählte gebe,
Und kann nur darum
Weg und Ziel euch zeigen,
Weil ich in jedem meiner Worte lebe!
*
.Ich nehme an, daß diese Aussagen Ihnen
keine neuen Fragen wecken werden, viel‐
mehr einiges auch mitbeantworten, was
ich zwischen Ihren lieben Zeilen als mög‐
licherweise kommende Frage auftauchen
sehe.
64 Briefe an Einen und Viele
.Aber auch hier sollen Sie nichts ohne
eigene Prüfung annehmen. Nur dann, wenn
Ihr urewiges eigenes Geistiges Ihnen willig
seine Zustimmung gewährt, sind Ihre ‒
vielleicht nur versteckten ‒ Zweifel wirk‐
lich aus dem Felde geschlagen und können
nun erst Ihren Weg nicht mehr gefährden!
.Ich hoffe, daß ich demnächst noch eini‐
ges zur Sprache bringen kann, was Sie in
Ihrem vorletzten Briefe berührt haben.
Wenn es aber bis dahin vielleicht noch ge‐
raume Zeit brauchen sollte, so bitte ich
Sie im voraus, nicht ungeduldig auf die
Post zu warten. Was ich Ihnen noch in be‐
zug auf die von den Leuchtenden des Ur‐
lichtes dargebotene geistige Leitung und
Hilfe zu sagen habe, käme auch nach vie‐
len Monaten immer noch zurecht.
.Ich segne Sie und sende Ihnen alle Hilfe
zu, deren Sie auf dem Wege zu Ihrem ewi‐
gen Geistigen bedürfen.
65 Briefe an Einen und Viele
NEUNTER BRIEF
Was ich Ihnen zuletzt schrieb und durch
Fügungen in rhythmischer Ordnung am
besten ausgedrückt sah, hat gewiß nach kei‐
ner Antwort verlangt, und dennoch freuen
mich Ihre so aus tiefster Seele kommenden
lieben Zeilen, weil sie mir zeigen, daß auch
diesmal wieder alles ganz in dem Sinne
aufgenommen wurde, in dem ich es ge‐
geben hatte.
.Kaum hätte ich freilich bei der Absen‐
dung vermutet, von Ihnen zu vernehmen,
was Sie mir jetzt zu schreiben haben.
.Ich bitte Sie, sich mit der Antwort be‐
gnügen zu wollen, daß Ihnen solche Ein‐
sicht und Erkenntnis „wahrlich nicht
Fleisch und Blut gegeben” hat, sondern
Ihr eigenes Ewiges, aus dem allein die
Wahrheit über die Wirklichkeit, in der es
selbst lebendig ist, erlangt werden kann.
66 Briefe an Einen und Viele
Die Erkenntnisse des Blutes ‒ was besagen
will: des an tierhaft enge Bedingtheiten
gebundenen, erdmenschlichen Fühlens und
gehirnlichen Erdenkens ‒ verhalten sich
zu dem, was nur das eigene Ewige zu ge‐
ben vermag, wie sich etwa das „Leben”
eines hartstarren Steines im nächstbesten
Bachbett zu den höchsten uns bekannten
Lebensäußerungen verhält. Nur aus dem
Ewigen kann Erkenntnis des Ewigen dem
Menschen zukommen! ‒
.Aber nun will ich diese Gelegenheit des
Schreibens an Sie zugleich dazu benutzen,
Ihnen endlich noch die Aufschlüsse zu ge‐
ben, die meine Antwort auf Ihre Bemer‐
kungen zu dem Buchkapitel „Die Hütte
Gottes bei den Menschen” schon hätte mit‐
umfassen sollen, wenn mich damals nicht
äußere Umstände gezwungen hätten, mei‐
nen Brief abzuschließen.
.Zwei allgemein bekannte und vielge‐
67 Briefe an Einen und Viele
brauchte Erfindungen hatten sich mir zum
Vergleich geboten, als ich Ihnen Aufschluß
gab über die Art und Weise, in der die „Ver‐
bindung” der Seelen auf Erden mit den
Leuchtenden des Urlichtes zustande kommt.
.Was hier noch zu sagen ist, habe ich zwar
in einem der letzten Kapitel des Buches
„vom lebendigen Gott” ‒ ich meine hier
den Lehrtext: „Im Osten wohnt das Licht
‒ so deutlich dargestellt, daß mir ein Falsch‐
deuten der dort gegebenen Aufschlüsse nur
durch überaus unaufmerksames Lesen halb‐
wegs erklärbar erscheint. Da ich aber immer
wieder Berichte erhielt, in denen mir im
Tone aufgeregtesten Wichtignehmens von
inneren Stimmen erzählt, und dabei an‐
genommen wurde, es müsse sich um die
„Stimme” eines leitenden „Meisters”, also
eines Leuchtenden des Urlichtes handeln,
so will ich Sie doch, der Vorsicht halber,
um Ihnen zwecklose Beunruhigungen zu
68 Briefe an Einen und Viele
ersparen, recht eindringlich auf das auf‐
merksam machen, was ich in dem obenge‐
nannten Abschnitt, sowie in dem Haupt‐
kapitel: „Der Weg” tatsächlich sage.
.Es bedarf wirklich schon eines sehr gro‐
ben Umdeutens meiner an diesen Stellen
wie auch besonders noch in dem Buche
Auferstehung” gebrauchten Worte, um
zu der allem Gesagten widersprechenden
Auffassung zu kommen, als meinte ich etwa
„innere Stimmen” wie sie nervenerregte
Ekstatiker, oder auch nur durch eigene, vor‐
stellungsmäßige Selbstübersteigerung auf‐
gepeitschte Geltungsbedürftige, ahnungs‐
los durch entweder zeitweilige, an be‐
stimmte äußere Einflüsse geknüpfte, oder
aber dauernde Spaltung ihrer Persönlich‐
keit sich erzeugen.
.Gerade vor solchenStimmen” wird ja
von mir mit jedem Worte gewarnt!
.Ich darf doch wahrhaftig erwarten, daß
69 Briefe an Einen und Viele
man die als Bilder gebrauchten Worte:
„Stimme” und „sprechen” nur in der Weise
aufnimmt, wie sie gegeben sind und stets
wieder und wieder erklärt werden! Deut‐
lich genug sage ich doch, daß dieses „Spre‐
chen” keinesfalls dem Gebrauch einer
menschlichen Sprache verglichen werden
darf, sondern ein inneres Klarwerden des
vordem der Vorstellung Unklaren ist, her‐
vorgerufen durch Influenzwirkung einer
Entelechie, die selbst in reinster Klarheit
ihres Erkennens lebt. Ich sage das auch mit
anderen, sich aus der gehobenen Sprach‐
form ergebenden Worten, aber schon der
Umstand, daß ich die Worte, die man hier
geflissentlich in einem geradezu entgegen‐
gesetzten Sinn für sich in Anspruch nehmen
zu dürfen glaubt, meistens hinweisend in An‐
führungszeichen setze, dürfte doch jedem
Vernünftigen klar genug zeigen, daß ich sie
in distanzierender Weise betont wissen will.
70 Briefe an Einen und Viele
Wörtlich aber sage ich ausdrücklich in dem
Kapitel „Im Osten wohnt das Licht”, daß
durch unmittelbares Erzeugen innerer
Klarheit” im Innern des Suchenden „ge‐
sprochen” wird, ‒ „ohne Worte der Sprache
des Mundes.”... „Nicht in irgend einer
Landessprache.” Das ist denn doch wohl
eindeutig genug gesagt.
.Wenn ich in dem Hauptkapitel „Der
Weg” nebenher auch die Möglichkeit
streife, die für den geistigen Lehrer unter
gewissen, im zu Belehrenden verankerten
Umständen besteht: ‒ sich dem Klärung
Empfangenden in „magischem Bilde” zu
zeigen, so geschieht das der Vollständig
keit halber, und ich lasse keinen Gedanken
daran aufkommen, daß dieses „Bild” etwa
der Meister selbst sein könne. Gleichzeitig
sage ich deutlich, daß es durchaus keine
Bevorzugung darstellt, wenn einer zu sol‐
cher Bildprojektion aus sich selbst hinaus
71 Briefe an Einen und Viele
veranlagt ist. Ich konnte nur die mir be‐
kannte Möglichkeit in einem Lehrbuch, das
von geistigen Dingen handelt, nicht einfach
unbesprochen lassen, auch wenn sie äußerst
selten eintritt, und durch Nebenumstände
bedingt ist, die kaum bei einem Europäer
gegeben sind.
.Das alles wird Sie selbst ja schwerlich als
eigene Frage angehen, da Sie sehr genau
auf jedes meiner Worte zu achten pflegen,
wie ich längst weiß.
.Es ist aber keineswegs unmöglich, daß
Ihnen andere Leser meiner Bücher begeg‐
nen, die Ihnen geheimnisvoll von ihren
„inneren Stimmen” erzählen, und diese, für
alle, nicht systematisch zu geistiger Unter‐
scheidungsfähigkeit Geschulten, ‒ immer
und unter allen Umständen ‒ bedroh‐
liche Erscheinung fälschlich in meinen
Worten gutgeheißen glauben. Solchen Leu‐
ten gegenüber, die zumeist fanatische Skla‐
72 Briefe an Einen und Viele
ven ihrer eitlen Seele sind, und wie be‐
sessen von ihrem Glaubenstraum an ihre
vermeintliche „hohe Führung”, müssen
Sie unbedingt Ihrer Sache sicher sein. An‐
derenfalls werden Sie solchen Berichten
Gewicht geben und gar womöglich sich ein‐
reden lassen, Sie seien noch nicht „soweit
vorangeschritten”, wie Jene, ‒ oder aber
Ihre, wie Sie meinen, so „trockene und
nüchterne Natur” sei wohl ein unüber‐
windliches Hindernis, ‒ und was derglei‐
chen Bedenklichkeiten selbstkritisch ver‐
anlagter und gegen sich selbst nicht allzu
nachsichtiger Naturen mehr sind.
.Damit Sie ganz klar sehen, sei hier nun
aber auch noch auf ein Fehlverstehen hin‐
gewiesen, dem ich wirklich nicht zu be‐
gegnen fürchtete, bevor ich zu meinem Er‐
staunen gewahr werden mußte, wie weit
es verbreitet ist. Man könnte versucht sein,
anzunehmen, daß Rede in Bildern und
73 Briefe an Einen und Viele
Gleichnissen, wie sie die Natur geistiger
Dinge nahelegt und oft genug geradezu
verlangt, von heutigen Menschen, die an
Zeitungsberichten sich sattzulesen gewohnt
sind, überhaupt nicht mehr verstanden
wird. Sonst wäre es doch nicht möglich,
daß Begriffe, wie „geistige Nähe”, „hohe
Hilfe” durch die dazu Verordneten, oder
„geistige Leitung”, „geistiger Schutz”
durch die dazu mächtigen hohen Helfer,
so oft die doch etwas gar zu plumpe Deu‐
tung fänden, als sei damit gemeint, daß
die Leuchtenden des Urlichts in einer un‐
sichtbaren Gestalt sich in die irdisch ört‐
liche Nähe eines Hilfs- oder Leitungsbe‐
dürftigen begeben müßten, um ihn ihre
segenspendende geistige Nähe erfahren zu
lassen.
.Was mit den obigen und ähnlichen Wor‐
ten meiner Schriften gemeint ist, spielt
sich selbstverständlich in einer wesentlich
74 Briefe an Einen und Viele
anderen Weise ab. Das Verstehen hierfür
sollte man aber bei denkfähigen Menschen
wirklich als erfüllte Forderung der Logik
voraussetzen dürfen, denn wie kann man
sich denn in die Annahme verlieren, die
so wenigen, zu geistiger Hilfeleistung im
weitesten Sinne fähigen Männer auf dieser
Erde, samt allen ihren rein geistigen, nicht
im Erdentiereskörper lebenden Brüdern,
seien im Verhältnis zu der Menschenzahl
der Erde ausreichend, um sich jedem in
unsichtbarer Körperlichkeit persönlich zu
nähern, den sie ihrer Hilfe dargeboten sehen
und der ihre Hilfe wirklich braucht?! Wäre
es denn nicht auch ein geradezu entsetz‐
licher Zustand, allenthalben von einem Un‐
sichtbaren beobachtet zu sein, gerade wenn
und weil man in ihm den gütigsten Helfer
auch unerbeten um sich wüßte? ‒ Glück‐
licherweise aber gibt es nichts Wirkliches,
das dem handfesten Glauben so mancher
75 Briefe an Einen und Viele
Leute ähnlich sähe, die sich derart wichtig
nehmen, daß es ihnen als ausgemachte Tat‐
sache erscheint, ihre kleinen und meistens
so trivialen Alltags-Sorgen müßten im Gei‐
stigen allgemein bis ins Intimste bekannt
und Gegenstand der Hilfeleistung sein.
.Gegenstand der Hilfeleistung ist für die
zur Hilfe Verordneten unter den Leuchten‐
den des Urlichts jederzeit nur auf das Gei
stige im Menschen bezogene Not, Schutzbe‐
dürftigkeit, oder Leitungsnotwendigkeit.
Den Menschen, der in einer solchen geisti‐
gen Situation ist, daß er für ihre Hilfelei‐
stung in Betracht kommt, finden sie mit
Sicherheit, ohne auch nur das Mindeste von
seinen irdischen Verhältnissen zu wissen,
oder auch nur eine vage Vorstellung von
seiner äußeren Gestalt und seinen Zügen
zu haben. Es ist ein rein geistiger Vorgang,
der ohne Unterlaß dieses absolut sichere
Finden bewirkt.
76 Briefe an Einen und Viele
.Wenn ich schon in meinem damaligen
Briefe vergleichsweise die Begriffe „Tele‐
phon” und „Radio” zu Hilfe nahm, so muß
ich Sie heute ‒ so sehr der Vergleich auch
auf beiden Seiten hinkt ‒ doch nun darum
bitten, sich jetzt ein Schaltbrett von im‐
menser Größe vorzustellen, auf dem uner‐
meßlicher Raum in fast mikroskopischer
Verkleinerung in die Fläche projiziert ist.
Stellen Sie sich weiter vor, jede auf Erden er‐
scheinende Seele sei, während ihres Erden‐
lebens, auf dieser Fläche durch zwei in
einem winzigen Punkt zutagetretende Pla‐
tinelektroden repräsentiert und sobald die
Seele geistige Leitung oder Hilfe nötig habe,
sprühe ununterbrochen bis zur Abstellung
ein heller Funke zwischen beiden Elektro‐
den. Und nun gelte Ihnen der zur Hilfe oder
zur Leitung verordnete Leuchtende des Ur‐
lichts in diesem Bilde wie ein Elektrotech‐
niker, der zugleich eine Schalttafel mit
77 Briefe an Einen und Viele
einer Unzahl von Hebeln vor sich hat, und
sofort weiß, welchen Strom er einschalten
muß, weil ihm durch die Farbe der Funken
und die Gehörseindrücke ihrer entweder
relativ langsameren oder aber gesteigert
schnellen Aufeinanderfolge genau kund
wird, welcher Strom oder welche Strom‐
kombination jeweils zur Hilfe, zum Schutz
oder aber zur geistigen Leitung vonnöten
ist. Alles Übrige aber geschähe ‒ um hier
im Bilde zu bleiben ‒ „automatisch”.
.Dieser Vergleich kann Ihnen dazu ver‐
helfen, eine richtige Vorstellung zu gewin‐
nen von der Art und Weise rein geistiger
Hilfeleistung, geistiger Leitung, und geisti‐
ger „Nähe”!
.Ich werde Ihnen nicht erst zu sagen brau‐
chen, daß gewiß keine geistsubstantielle
Apparatur dieser Art irgendwie und irgend‐
wo besteht, sondern daß dieses hier skiz‐
zierte Bild vielmehr den gegebenen Zu‐
78 Briefe an Einen und Viele
sammenhängen in der Struktur ewigen gei‐
stigen Lebens auf eine symbolische Weise
Darstellung zu geben sucht.
.Bleiben wir beim Bilde, so ist jedoch zu
sagen, daß niemals der hier geschilderte
Funke zwischen den Elektroden aufblitzen
wird, wenn der durch das Elektrodenpaar
repräsentierte Mensch nicht aus der In‐
brunst seines Herzens Leitung, Schutz oder
Hilfe aus der Region des wesenhaften sub‐
stantiellen Geistes erwartet oder verlangt,
‒ und ebenso niemals, wenn er sich nicht
selbst dazu bereitet hat, solcher Einwirkung
ein brauchbarer Empfänger zu sein. ‒
.Die Hilfe, wie die geistige Führung
durch einen Leuchtenden im Urlicht, und
somit durch unsere ewige Gemeinsamkeit,
bezieht sich niemals auf Dinge, die zwischen
Geburt und Grab ihre Erfüllung finden
müssen, wenn sie sich gestaltet sehen sollen,
sondern immer nur auf das Erwachen der
79 Briefe an Einen und Viele
Seele im geistigen ewigen Bereich, und
die dadurch ‒ möglichst schon während
des Erdendaseins ‒ zu erlangende Über‐
tragung des individuellen irdisch-seeli‐
schen Bewußtseins in das eigene Ewige
des Menschen. ‒
.Damit sei heute dieser recht umfänglich
geratene Brief aber denn doch nun abge‐
schlossen und Ihrem seelischen Aufnehmen
besonders empfohlen!
.Mein Segen, der Sie auf eben die Weise
erreicht, die Ihnen in diesem Briefe gleich‐
nishaft geschildert wurde, werde Ihnen zu
wirksamster Erhellung Ihrer Einsicht in
alles, was im Ewigen gründet!
80 Briefe an Einen und Viele
ZEHNTER BRIEF
Bei allem hocherfreulichen Verstehen der
letzthin von mir so ausführlich erläuterten
Form der Fernsendung geistiger Hilfe und
Führung durch die einzigen, die in solcher
Weise helfen und führen dürfen, weil sie
dazu vom ewigen Geiste verordnet sind
und helfen können, gewahre ich doch in
Ihrem neuen Briefe noch eine gewisse Un‐
sicherheit, die sich scheinbar immer wie‐
der durch mein Wort erzeugt, daß schon
„ganze Völker” zuweilen unter unserem:
‒ der Leuchtenden des Urlichtes ‒ gei‐
stigen Einfluß standen.
.Hier muß ich Sie wohl doch noch ein‐
mal darauf hinweisen, daß alle geistige
Hilfe, zu deren Spendung der ewige Vater
im Urlicht sich der durch ihn im Urlicht
Leuchtenden bedient ‒ und es gibt keine
andere ins Menschlich-Irdische wirkende
81 Briefe an Einen und Viele
geistige Hilfe oder Führung! ‒ stets nur
die Einzelseele zu erreichen vermag, so
daß ein geistiger Einfluß auf „ganze Völ‐
ker” naturnotwendig nur dort sich ereig‐
nen kann, wo unter den Einzelseelen, die
erst Völker zu bilden vermögen, viele Bild‐
ner sind, die sich selbst so zu formen wuß‐
ten, daß geistige Führung von ihnen auf
genommen und verstanden werden kann:
‒ daß geistige Hilfe „empfangsbereite Her
zen” findet.
.Wie geistig gesandter Ein-fluß sich immer
nur auf die Erreichung des Wiederbewußt
werdens der Menschenseele in ihrem in
dividuellen Ewigen bezieht, und die Dinge
zwischen Geburt und Grab dem Erdmen‐
schen selbst frei überläßt, habe ich bereits
in meinem letzten Briefe an Sie zum Aus‐
druck gebracht. Es scheint aber, als ob ver‐
steckte, vielleicht ererbte, vielleicht aner‐
zogene Wünsche in Ihnen Unruhe zu schaf‐
82 Briefe an Einen und Viele
fen suchten, so daß Sie gar zu gerne doch
auch einen geistigen Einfluß auf das Welt
geschehen gerettet sehen möchten.
.Es ist aber ein ebenso großer Irrtum,
den ewigen, göttlichen Vater irgendwo oder
in irgendwem ‒ sei es direkt oder durch
gesandte geistige Führung ‒ im Bereiche
innen- oder außenpolitischer Vorgänge ir‐
gendeines in der Weltgeschichte bekannt
gewordenen Volkes am Werke zu glauben,
wie es törichter Irrtum ist und die er‐
schreckende Geistesfremdheit der tier‐
menschlichen Seele verrät, wenn man in
den schweren Krisen der Politik, die man
„Kriege” und „Revolutionen” nennt, ewi‐
gen Willen des Geistes in der Auswirkung
zu erblicken meint.
.In allediesem Geschehen wirkt nur der
tiergebundene Mensch der Erde, und was
immer ihn zum Wirken drängt, ist ‒ ein‐
schließlich aller lemurischen Antreiber‐
83 Briefe an Einen und Viele
peitschenschläge aus dem unsichtbaren Teil
der physischen Welt ‒ bloß irdisch verur‐
sacht, ohne die geringste Mitwirkung gei
stiger Einflüsse und Kräfte!
Ihr sagt:
„Die Weltgeschichte
Ist das Weltgericht!”
Gewiß!
Doch ein Gericht,
In dem der Mensch allein
Sich selbst das Urteil spricht!
Hier hat sich „Allmacht”
Aller Macht begeben...
Hier spricht nur geist-getrenntes,
Tierversklavtes Leben!
.Was wirklich der Erdenmenschheit schon
in den Tagen zwischen Geburt und Grab ein
besseres Los zu schaffen vermag, ist nur das
Erwachen vieler Einzelseelen in ihrem
Ewigen. Es werden aber immer nur Teil
84 Briefe an Einen und Viele
gruppen der Menschheit sein, in denen
genügend Einzelseelen, ihres Ewigen be‐
wußt, des ewigen Menschen wahrhaft wür
dige Lebensgestaltungen zu schaffen ver‐
mögen, und nur durch ihr Beispiel werden
sie auch andere Teilgruppen allmählich der
Tieresübermacht entreißen können. Ein
Teil der Erdenmenschheit wird dereinst
dem ewigen Geiste bereits im Mutterleib
erschlossene Kinder gebären, während ein
anderer Teil, ‒ immer rettungslos tierver‐
haftet, ‒ zwar nicht, wie die Visionen des
Zarathustradichters meinten: den „Über‐
menschen”, wohl aber ‒ das Übertier zeu‐
gen wird, das aller Tiere Dumpfheit, Grau‐
samkeit und Krallenlust zuletzt bis zur
Selbstzerfleischung übersteigert...
.Das ist alles, was ich Ihnen heute sagen
will, und ich hoffe, Sie werden sich in Zu‐
kunft nicht mehr durch Ihre gefühlsbeton‐
ten wachen Wunschträume betören lassen,
85 Briefe an Einen und Viele
im äußeren Weltgeschehen „den Finger
Gottes” als Beweger am Werk zu glauben!
.Aller Segen des Lichtes sei immer mit
Ihnen!
86 Briefe an Einen und Viele
ELFTER BRIEF
Gerne glaube ich Ihnen, daß es Ihnen
nicht ganz leicht wurde, im Laufe der letz‐
ten Monate Ihr Weltbild im Sinne meines
zuletzt geschriebenen Briefes an Sie zu
korrigieren. Ich kann das gut nachfühlen,
denn auch mir ist es vor einigen Jahrzehn‐
ten durchaus nicht leicht gewesen, alles,
was ich von Jugend auf gehört und so gerne
geglaubt hatte, dahingeben zu müssen, als
ich der Wirklichkeit zum ersten Male an‐
sichtig geworden war.
.Um so mehr freue ich mich, von Ihnen
zu hören, daß Sie jetzt, nach der Verar‐
beitung meiner letzten Darlegungen, sich
„von einem schweren und lähmenden
Druck befreit” fühlen, der Sie vordem
„auch in den heitersten Stunden” niemals
verließ. Es ist ja wahrhaftig eine kaum er‐
trägliche Vorstellung, daß ewige Güte und
87 Briefe an Einen und Viele
Liebe in unbegrenzter Machtfülle diese
Erdenwelt regiere, und dennoch alles ruhig
geschehen lassen könne, was hier Tag
um Tag und Nacht um Nacht an Furchtba‐
rem, Schauerlichem und Entsetzlichem ge‐
schieht, obwohl es durch den bescheiden‐
sten Aufwand überweltlicher Macht so leicht
zu verhüten wäre. Eine solche Vorstellung
kann wohl als schwerster Seelendruck emp‐
funden werden, und es ist begreiflich, daß
man wie erlöst aufatmet, wenn man ein‐
sehen gelernt hat, daß hinter ihr nichts
Wirkliches steht, und sie nur die Folge
falscher Gottesbegriffe ist, die der gott‐
ferne Erdenmensch in seiner Not sich selbst
geschaffen hat.
.Fehlgehen aber würden Sie, wenn Sie
aus meinen Worten eine allgemeine Ge‐
ringschätzung aller Dinge zwischen Geburt
und Grab herauslesen wollten. Mir sind
diese Dinge schon darum bedeutsam, weil
88 Briefe an Einen und Viele
sie ja über ihre Zeit hinaus weiterwirkende
‒ wenn auch nicht gerade „ewige” ‒
Folgen auszulösen vermögen. Aber auch
in dem ihnen zubemessenen Bereich selbst
ist es von größter Bedeutsamkeit, wie wir
ihnen gegenüberstehen, sie zu nehmen
wissen, und ihnen schließlich gerecht wer‐
den.
.Ebenso würden Sie gewaltig irren, wenn
Sie aus meinen Worten die Lehre heraus‐
lesen wollten, daß es überhaupt keine
göttlich-geistige Einwirkung auf die Dinge,
die von unserer Lebensdauer irdisch um‐
schlossen werden, gäbe. Wohl sind solche
Einwirkungen nicht nur „möglich”, son‐
dern geradezu alltäglich und überaus häu‐
fig. Sie sind jedoch nur das Zeugnis des rein
gesetzmäßigen Reagierens ewiger, vom
Geiste ausgestrahlter Mächte und Kräfte,
deren Einflüsse der Erdenmensch ohne jede
Beihilfe auslöst, ‒ nur durch sein, den gei
89 Briefe an Einen und Viele
stigen Gesetzen entsprechendes Verhalten.
Eine große Anzahl religiöser Vorschriften,
‒ ja selbst manche Gebote des Aberglau‐
bens, ‒ gehen auf das erfahrungsmäßige
Beobachten des rechten oder falschen Ver‐
haltens gegenüber solcher geistigen Gesetz‐
mäßigkeit zurück, die auch in manchen reli‐
giösen Lehren der Vorzeit, ‒ auch sehr
deutlich in den „Psalmen Davids”, ‒ per
sonifiziert und dramatisiert, an Beispielen
zur Darstellung gelangen. Der, dem der
Gott solcher Darstellungen alle Huld ge‐
währt, ist stets einer, der den ewigen Ge‐
setzen entsprechend handelt und dadurch
manches Gute und Erfreuliche in seinem
Erdenleben sich auswirken sieht. Der aber,
der als den Gott verachtend: als „Lästerer”
und „Tor” dargestellt wird, ist einer, der
blind, seiner eigenen Unkenntnis wichti‐
ger, durch Erfahrung eruierbarer geistiger
Gesetze zum Opfer fällt. Wenn man ein‐
90 Briefe an Einen und Viele
mal diesen Zeugnissen menschlicher Ver‐
gangenheit auf die Spur gekommen ist,
staunt man über die Erfahrungsweisheit,
die sich Menschen einer uns noch halbbar‐
barisch erscheinenden Zeit zu verschaffen
wußten, und fragt sich mit gutem Recht,
ob nicht wir heutigen Europäer ärgere Bar‐
baren seien, als jemals ein früheres Ge‐
schlecht...
.Wohl kennen wir unzählige Dinge, die
diesen Alten fremd waren, aber ich be‐
zweifle mit lebendiger Einfühlung, daß die
zu jenen fernen Zeiten ihrer Volksweisheit
Kundigen das was sie kannten und aus Er‐
fahrung wußten, für unser zeitgebundenes
Allgemeinwissen eingetauscht haben wür‐
den. Man braucht nur die alttestament‐
lichen Psalmen zu lesen, frei von der
üblichen Benutzungspraxis die aus ihnen
Eideshelfer religionsbedingter Dogmatik
macht, um sehr eindringlich zu erfahren,
91 Briefe an Einen und Viele
wie tief ihre, den Namen des alten Königs
vorschützenden Verfasser in die Geheim‐
nisse geistiger, automatisch ihrer Auslösung
folgender Kräfte und Mächte eingedrungen
waren. Natürlich muß man bei solcher Er‐
fragung alles kultische Beiwerk, als dem
wesentlichen Inhalt gegenüber belanglos,
beiseite tun, und darf sich auch nicht da‐
durch beirren lassen, daß die geschilderte
Wirkungsweise geistiger Gesetze als Aus‐
wirkung göttlicher Affekte und Bevorzu‐
gungsakte ausgelegt wird. Möglicherweise
glaubten die Verfasser selbst noch an solche
Auslegung, aber wahrscheinlicher ist, daß
sie dergleichen für geboten hielten, um der
Gefahr zu begegnen, daß die unbemäntelte
Kenntnis der aufgezeigten Gesetzmäßig‐
keiten am Ende das Volk in einen wirren
Atheismus stürzen könne, da der Mensch
jener Tage nur durch seine Selbstprojek
tion in einen Traum von machtgesättigter
92 Briefe an Einen und Viele
Willkür zu seiner Gottesvorstellung zu ge‐
langen vermochte.
.Es gibt Vieles, was heute, durch jahr‐
hundertelange Benützung zugunsten einer
vorgefaßten Glaubensmeinung, ganz um
sein eigenes, wahres Gesicht gebracht ist,
und nur die schärfsten Augen sind imstande,
die ursprünglichen Züge zu erkennen, aus
denen sich noch zur Not herauslesen läßt,
was voreinst klar und eindeutig, mit schar‐
fen Konturen gegeben war.
.Wenn ich Sie durch meine Worte veran‐
lassen sollte, Ihre Augen zu üben, um sol‐
ches Verschliffene und Verwischte in den
Kunden aus der Vorzeit erkennen und rich‐
tig deuten zu lernen, dann stehen Ihnen
manche Entdeckerfreuden bevor.
.Segen aus dem ewigen Urlicht sei Ihnen
jederzeit zugesandt!
93 Briefe an Einen und Viele
ZWÖLFTER BRIEF
Daß auch Sie gegenüber dem, was ich
im Kapitel „Vom Tode” und an anderen
Stellen von den „Seelenkräften” sage,
das Empfinden haben, es müsse „ganz
unsagbar schwer” sein, diese Kräfte in sich
„zu einen”, ist mir nicht unerwartet ge‐
kommen. Keine andere Stelle in meinen
Büchern brachte mir im Laufe der Zeit eine
derartige Menge von Fragen und Bitten
um Erläuterung ins Haus.
.Aber die ganze Angst vor der ‒ zweifellos
auch wirklich vorhandenen ‒ Schwierig‐
keit der gegenüber den Seelenkräften be‐
stehenden Aufgabe, stellt sich immer wie‐
der als Folge einer falschen Vorstellung
von der Natur dieser Kräfte heraus. Anders
ist es auch bei Ihnen nicht.
.Bestimmt durch die vielen Anfragen,
habe ich alles, was ich über die geforderte
94 Briefe an Einen und Viele
Einung der Seelenkräfte an verschiedenen
Stellen darlegen mußte, seinerzeit noch‐
mals mit aller erdenklichen Selbstkritik
gegenüber der jeweils von mir gebrauch‐
ten Ausdrucksweise durchgesehen, konnte
aber, auch mit dem besten Willen, mir die
Schuld an der erzeugten irrigen Vorstellung
zuzuschreiben, kein Wort entdecken, das
ich hätte anders haben wollen.
.Ich war zwar genötigt, in meinen Erör‐
terungen darauf hinzuweisen, daß ein er‐
heblicher Grad von Selbstzucht dazu not‐
wendig ist, die Einung der Seelenkräfte
im eigenen Ich vorzunehmen, aber wenn
ich auch an der Ihnen ja bekannten Stelle
sagte, daß es leichter sei: „einen wütenden
Elefanten an einem dünnen Hanfseil durch
das Gedränge des Marktes zu führen, als
die vielen Willen der Seelen-Kräfte, die
eines Menschen Seele bilden, unter den
einen Willen dieses Menschen zu einen”,
95 Briefe an Einen und Viele
‒ wobei ich mich eines von meinem vor‐
maligen seelischen Erzieher, mir gegen‐
über oft gebrauchten, ihm anschaulich nahe‐
liegenden Bildes gern bediente, ‒ so zeigte
ich doch gerade an dieser Stelle, daß den
noch dieses „Wunder” geschehen kann, ja
geschehen muß, wenn eine Seele sich dazu
vorbereitet wissen will, ihren lebendigen
Gott in sich empfangen zu können.
.Es ist schwer, allein es ist nicht un
möglich!
.Es ist jedem normal empfindenden, wenn
auch nur recht primitiv gebildeten Men‐
schen möglich, die Schwierigkeiten dieser
Einung der Seelenkräfte in seinem Willen
zu überwinden, ‒ allein es ist so manchem
zweifellos hochgelehrten und allseitiger
Bildung frohen Menschen leider nicht mög‐
lich, in sich die zu solcher Einung unbe‐
dingt erforderliche Energie und Ausdauer
aufzubringen...
96 Briefe an Einen und Viele
.Vergessen Sie nicht, daß ich ja doch wahr‐
haftig nicht eine „Methode” lehre, ‒ son‐
dern daß es sich in meinem ganzen Schrift‐
werk um nüchterne Lehrbücher handelt,
die seelisch suchenden Menschen die Struk
tur des ewigen geistigen Lebens aufzeigen
und faßbar machen. Dazu mußte ich alles
zur Sprache bringen, was Erdenmenschen
innerhalb dieses geistig-substantiellen Le‐
bens jemals möglich wurde und so jeder‐
zeit möglich sein wird. Aber nicht jedes ist
jedem möglich! Jeder kann sich jedoch an‐
hand meiner Lehrtexte prüfen, was ihm
möglich ist. Gewiß sprechen dabei auch
psychophysische, angeborene Eignungen
mit, aber in erster Linie bestimmen Ener
gie und Ausdauer jedem, sein Ewiges Su‐
chenden, die ihm hier, während seines
Erdenlebens vorbehaltenen Möglichkeiten.
Wie man ein sehr erfolgreicher Kaufmann
werden kann, obwohl man von Natur aus
97 Briefe an Einen und Viele
keine besondere Begabung zum Rechnen
besaß, so kann man auch zu einem schon
sehr umfassenden Erleben seines Ewigen
in der Seele kommen, wenn man energisch
und ausdauernd auf dem zielbestimmten
Wege bleibt, auch wenn keinerlei angebo‐
rene Eignung das Voranschreiten auf diesem
Wege erleichtert. Allerdings wird man sein
ganzes ‒ inneres und äußeres ‒ Leben
dementsprechend einrichten müssen, wo‐
bei die Art, wie und wo ein Mensch seine
Freuden sucht, von größter Bedeutung ist,
weil nichts derart stark auf seine Seele zu‐
rückwirkt, wie der Charakter der Dinge,
Beschäftigungen und Geschehnisse, die ihm
Freude bereiten. ‒
.Nun aber endlich auch Einiges in bezug
auf die zu Anfang dieses Briefes erwähnte
falsche Vorstellung von der eigentlichen
Natur der Seelenkräfte.
.Ich gewahrte da im Laufe der Zeit eine
98 Briefe an Einen und Viele
seltsame Gleichförmigkeit in der Ausdeu‐
tung dieses Wortes. Immer wieder begeg‐
nete ich der Auffassung, als seien Seelen‐
kräfte etwas Ähnliches wie unsere erden‐
körperhaft gegebenen „Sinne” und etwa
so leicht und unmißverständlich zu unter‐
scheiden, wie der Gesichts-Sinn sich vom
Gehör- oder Geruchsinn unterscheidet. Das
ist aber dem tatsächlich Gegebenen keines‐
wegs entsprechend. Man kann zwar sagen,
daß unsere Eigenschaften durch unsere
Seelenkräfte hervorgerufen werden, ‒ also
die Arten unseres Empfindens mit Hilfe der
Sinne, und dieser selben Sinne Reaktions‐
bereitschaft, ‒ aber man kann die Seelen‐
kräfte leider nicht derart deutlich vonein‐
ander sondern, wie die Sinne. Eher dürfte
man schon die Seelenkräfte mit den Nerven
kräften des irdischen Körpers, ja mit dem
ganzen Nervensystem in Vergleich setzen,
denn so, wie jeder Nerv seine bestimmte
99 Briefe an Einen und Viele
Funktion hat und doch einer Unzahl anderer
Nerven nebengeordnet ist, so daß mannig‐
fache Wechselwirkungen entstehen, so hat
auch jede der Seelenkräfte ‒ auch wenn
wir sie nicht mit bestimmtem Einzelnamen
zu benennen wissen ‒ doch ihre geistig be‐
stimmte Funktion zu erfüllen und steht mit
allen anderen Seelenkräften, die zusammen
eine Seele ausmachen, in steter Wechsel‐
wirkung, ja wirkt unter gegebenen Sonder‐
umständen sogar weit über den Bereich der
sie umfassenden Seele hinaus.
.Die Einung der Seelenkräfte in einem,
sie alle bestimmenden Willen, wäre freilich
ein Ding der Unmöglichkeit, wenn als not‐
wendige Voraussetzung dazu die genaue
begriffliche Bestimmung jeder einzelnen
Seelenkraft gefordert werden müßte. Glück‐
licherweise aber stellt unser Ewiges nie
mals unerfüllbare Forderungen, und ge‐
rade hier würde ja auch die allergenaueste
100 Briefe an Einen und Viele
Kenntnis von der Besonderheit jeder ein‐
zelnen Seelenkraft nicht das mindeste im
Sinne des Notwendigen zuwege bringen,
denn die Einung der Seelenkräfte ist aus‐
schließlich eine Sache des Willens, der
ihnen allen, ohne Ausnahme, die Wirkungs‐
richtung gibt durch seine eigene klare Be‐
stimmtheit.
.Das Schwere dabei ist: ‒ den Willen selbst
unausgesetzt in der gleichen Richtung zu
erhalten, von der er auch nicht eine Se
kunde bewußterweise abweichen darf, was
immer in der Außenwelt ihm dazu Ver‐
suchung bieten möge.
.Es ist das Schwerste, was auf dem Wege
zu Gott bewältigt werden muß, aber man
kann dieses Schwere bewältigen, und Un‐
zähligen ist es im Verlaufe der irdischen
Menschheitsgeschichte gelungen. Mit die‐
ser Aufgabe identisch ist die Formung des
eigenen Ewigen, von der ich in einem
101 Briefe an Einen und Viele
früheren Briefe schrieb, daß ihr der ir‐
dische Körper Werkstatt sei... Man muß
solche Dinge aus verschiedenen Aspekten
heraus sehen lehren, wenn das Wirkliche,
das da in Worten Darstellung sucht, erkannt
werden soll.
.Hoffentlich wird Ihnen dieser Brief nun
Beruhigung bringen, und Ihre Besorgnisse
entkräften, daß mehr von Ihnen verlangt
werde, als Ihnen aus Ihren eigenen Kräf‐
ten möglich werden könne. Noch sind Sie
ja „in Ihrer Werkstatt” und mit Hilfe der
in ihr dargebotenen Werkzeuge imstande,
Ihre ewige Form selbst zu bestimmen! Nach‐
dem Sie diesen Erdenleib verlassen haben,
hört freilich jeder weitere von Ihnen selbst
bestimmte Einfluß auf Ihre Eigenform im
Ewigen auf. Aber wir wollen hoffen, daß
Sie sich bis dahin bereits gestaltet haben,
wie Sie gestaltet sein wollen!
.Seien Sie gesegnet aus ewigem Licht!
102 Briefe an Einen und Viele
DREIZEHNTER BRIEF
Als Goethe, nach dem Erscheinen der
Bühnenbearbeitung seines „Götz”, von be‐
freundeter Seite die wohlgemeinte Anre‐
gung erhielt, doch diese Umarbeitung sei‐
nes Werkes einem ihm bekannten älteren
adeligen Herrn zukommen zu lassen, der
schon am „Ur-Götz” seine helle Freude
bekundet, ja sich selbst gerne „in die Per‐
son des alten biedern Helden” ‒ wie Goe‐
the sagt ‒ „gewissermaßen... versetzt”
hatte, lehnte der Dichter diesen Wunsch
entschieden ab, mit der Begründung, daß
es dem Bewunderer der ersten Fassung
„gewiß nicht angenehm sein würde, nun‐
mehr manches ausgelassen, umgestellt, ver‐
ändert, ja in einem ganz andern Sinne be‐
handelt zu sehen.”
.An diese, in richtiger psychologisch be‐
stimmter Voraussicht erfolgte weise Wei‐
103 Briefe an Einen und Viele
gerung wurde ich unwillkürlich erinnert,
als ich jetzt Ihren mir so lieben Brief ge‐
lesen hatte. Ich wußte nicht, daß Ihnen
zuerst noch die frühere Ausgabe der ver‐
schiedenen von mir dann erweiterten und
dabei nochmals besonders überprüften Bü‐
cher in die Hand gekommen war, so daß
Sie erst neuerdings von den zuletzt ent‐
standenen endgültigen Ausgaben dieser
Lehrtexte hörten. Es läßt sich aber gut
nachfühlen, wie Sie sich „an Einzelnes in
den alten Fassungen derart gewöhnt”
hatten, daß Sie ihm „bei allem Einver‐
ständnis mit der nun um so vieles deut‐
licheren neuen Fassung”, doch sozusagen
nachtrauern. Auch mir war ja die erste Fas‐
sung lieb, sonst hätte ich sie doch niemals
in die Öffentlichkeit gegeben, obwohl der
ebenso liebenswürdige wie regsame Leiter
des großen Verlags, in dem diese ersten
Fassungen ehedem herauskamen, mir da‐
104 Briefe an Einen und Viele
mals die Manuskripte ‒ fast buchstäblich
zu verstehen: ‒ aus den Händen riß, so
daß mir meistens recht wenig Möglichkeit
zu letzter Kontrolle blieb. (Es war bei
einem der Bücher sogar das Kuriosum vor‐
gekommen, daß mir die Post das fertige
Buch ins Haus brachte, während ich kaum
den ersten Korrekturabzug erwartete!)
.Der Verzicht auf die vormalige Fassung
ist mir in jedem Einzelfall schon deshalb
schwer geworden, weil sie ja doch ebenso
wie das Verbleibende, der getreuen Befol‐
gung geistiger Lautwertgesetze zu danken
war. Wo ich trotzdem die alte Fassung zu‐
gunsten der nunmehr bestehenden einge‐
schmolzen habe, dort waren sehr triftige
Gründe bestimmend. Von vielen groben
Druckfehlern ganz abgesehen, ‒ die ja
durch die berichtete eilebestimmte Praxis
meinen Manuskripten gegenüber unver‐
meidlich waren, und an den bedeutsamsten
105 Briefe an Einen und Viele
Stellen den Text mitunter ins Gegenteil
verkehrten, ‒ war auch manche Sprach‐
form noch auszumerzen, die sich aus mei‐
ner stark durch mainfränkische Mundart be‐
stimmten Sprechweise zwar erklären ließ,
aber doch in einem Lehrbuch über geistige
Dinge störend wirken konnte, und weiter
war mir im Verlaufe brieflicher Mitteilun‐
gen, wie mündlicher Unterredungen auch
manche Textstelle bekannt geworden, die
im Interesse des gesicherten Verstehens
eine andere Fassung wünschbar erscheinen
ließ oder geradezu nach ihr verlangte.
.Daß derartiges Umarbeiten eines bereits
der Öffentlichkeit zugänglichen Buches
eine recht undankbare Sache ist, war mir
wahrhaftig bewußt, durfte mich aber von
dem was nötig war, nicht abhalten.
.Ich erlebte aber überraschenderweise die
Freude, eine große Menge dankerfüllter
Zuschriften zu erhalten, aus denen immer
106 Briefe an Einen und Viele
wieder aufs neue zu ersehen war, wie leb‐
haft und geradezu begeistert der Leserkreis
um diese Bücher die Neuformung begrüßte.
Da ich vorher die Schwierigkeit für den
Leser, sich an eine für ihn zuerst befrem‐
dend erscheinende Lesart zu gewöhnen,
wohl erwogen hatte, war mir solche Zu‐
stimmung sehr unverhofft gekommen. Sie
stehen mit Ihrer etwas elegischen Trauer
um gewisse, von mir nun formell anders
bearbeitete Textstellen, ziemlich allein,
denn ein einziger ähnlicher Hinweis den
ich erhielt, kam von einem Freunde, dessen
Muttersprache nicht das Deutsche ist, und
dem ich mit den Neubearbeitungen gewiß
keinen Dienst geleistet habe, da er nun not‐
wendigerweise an Worte gelangte, die das
von ihm ehedem in anderen Worten Erfaßte
offenbar zunächst eher störten.
.Ich hoffe aber, Sie werden sich dennoch
fortan nur an die Neubearbeitungen der hier
107 Briefe an Einen und Viele
in Betracht kommenden meiner Bücher hal‐
ten und dann immer deutlicher gewahren,
daß diese Bearbeitungen vorgenommen
werden mußten, und ganz gewiß nicht
Folge ästhetischer Laune oder aber nur der
Notwendigkeit des Neudrucks waren. Lehr‐
bücher wie ich sie schreibe, ändert man
wahrhaftig nicht, wenn die eigene Verant‐
wortung gegenüber den diese Bücher Ge‐
brauchenden eine neue Bearbeitung nicht
unerbittlich verlangt! Das Bessere ist frei‐
lich immer des Guten Feind. Sicher aber
darf uns das nicht verleiten, um des Guten
willen, das Bessere ungeschehen zu lassen.
.Der Himmel segne Sie!
108 Briefe an Einen und Viele
VIERZEHNTER BRIEF
Wenn Sie auf den Gedanken gekommen
sind, daß vielleicht manche Vorstellungen,
die in den alten polytheistischen Religionen
lebendig waren, ebenso aber auch die in
asiatischen Religionsformen und schließ‐
lich im byzantinischen und römischen
Christentum anzutreffenden Heiligenkulte
durch die Existenz der Leuchtenden des
Urlichtes „eine undiskutable Rechtferti‐
gung erfahren”, so sind Sie gewiß auf den
Spuren der Wahrheit.
.Um aber diese meine Zustimmung vor
möglicher Fehldeutung geschützt zu wis‐
sen, muß ich hier gleich sagen, daß Sie
freilich in argem Irrtum wären, wenn Sie
etwa annehmen wollten, alle die aus den
antiken Religionen wie aus den verschie‐
denen Heiligenkulten bekannten Gestalten
der Verehrung müßten in der Art, wie sie
109 Briefe an Einen und Viele
Legende und Andacht geformt haben und
fromme Vorstellung sie glaubt, auf be
stimmte Glieder der geistig gegebenen Ge‐
meinsamkeit der Leuchtenden des Urlich‐
tes zurückzuführen sein, ‒ oder die Hei‐
ligsprechungen der römischen Kirche seien
vielleicht in früherer Zeit aus geheimer
Kenntnis solcher Zusammenhänge er‐
folgt.
.Daß unter diesen Gestalten auch weib
lich gedachte sind, während sich der Leuch‐
tende des Urlichtes nur in einem männ‐
lichen Erdenkörper manifestieren kann,
bildet hingegen keinen Gegengrund zu
Ihrer Annahme, da ja jeder Leuchtende,
trotz ausgeprägter Männlichkeit seines ir‐
dischen, ihm nur für die kurze Lebens‐
epoche auf dieser Erde dienenden, verwes‐
lichen Körpers, im Geistigen doch auch
dem „Ewig Weiblichen” unlösbar vereint
ist, und daher seine Gestalt sowohl dem
110 Briefe an Einen und Viele
geistig Männlichen, wie dem geistig Weib‐
lichen Ausdruck geben könnte.
.Es gibt nun wohl im Vorstellungsschatz
alter polytheistischer Religionen ebenso
wie im Geltungsbereich der verschiedenen
Heiligenkulte gewiß Gestalten, die man
tatsächlich, und wenn sie auch die hiera‐
tische Auszeichnung einer Heiligsprechung
tragen mögen, auf Leuchtende des Urlich‐
tes zurückverfolgen dürfte, ohne dabei fehl‐
zugehen. Aber, wenn man eine solche „Ab‐
stammung” auch mit den besten Beweisen
sicher aufzeigen könnte, so wäre man doch
noch ziemlich weit von der Erkenntnis ent‐
fernt, zu der Ihre Vermutung hinweist: ‒ daß
nämlich jedem Anruf einer jeglichen aus
Legende und Verehrungsbedürfnis hervor‐
gegangenen Gestalt, mag sie als rein himm‐
lisch oder als vormaliger Erdenmensch
gedacht sein, die helfende geistige Kraft
und Segensbereitschaft der Leuchtenden
111 Briefe an Einen und Viele
des Urlichtes, als einzige hier in Betracht
kommende Wirklichkeit, antwortet.
.Wie die von dem Gläubigen um Hilfe an‐
gerufene Gestalt von ihm genannt wird,
und wie der Hilfesuchende die Befähigung
zur Hilfeleistung dabei sich erklären mag,
bleibt für den Vorgang der sich wirklich
abspielt, ganz belanglos. Dieser Vorgang
aber ist von dem das Ewige der seelisch
Suchenden erweckenden und ihre Seelen
leitenden Akt der Hilfe, den ich Ihnen vor
einiger Zeit unter gleichnismäßiger Erinne‐
rung an ein mit Elektroden übersätes Schalt‐
brett darstellte, nur sehr wenig verschieden,
und diese Verschiedenheit ist nur durch die
Aufnahmefähigkeit und Vorstellungswelt
der Anrufenden bestimmt.
.Man darf aber nicht außeracht lassen, daß
es in der seelischen Situation und bei dem
gegebenen Grade der Aufnahmefähigkeit
dieser Anrufenden, für viele, wenn nicht
112 Briefe an Einen und Viele
für alle, eine intensive Vertiefungsmög
lichkeit für ihren Anruf bedeutet, wenn sie
die Gestalt ihrer Verehrung mit möglichst
konkreten Zügen in ihrer Vorstellung aus‐
statten können. Wenn zum Beispiel von dem
großen Heiligen Paduas, den das Volk längst
„heiliggesprochen” hatte, bevor ihm diese
posthume Ehrung auch durch den Papst
zuteil wurde, gesagt wird:
        „Um was ihr fleht, gewähret euch
        Antonius, an Wundern reich.
        Not, Aussatz, und des Irrtums Nacht,
        Die Hölle selbst, weicht seiner Macht!
        Er stillt des Meers empörte Flut,
        Er schafft herbei verlornes Gut!
        Die harte Fessel bricht entzwei;
        Das kranke Glied wird schmerzenfrei!
        Wer zu ihm rufet, alt und jung,
        Fühlt Trost durch ihn und Linderung.”
‒ so liegt hier ein typisches Beispiel dafür
vor, wie kräftigend und sein Vertrauen för‐
113 Briefe an Einen und Viele
dernd die Vorstellung einer konkreten,
ihrem Verehrungskreis allgemein bekann‐
ten irdischen Persönlichkeit auf den An‐
rufenden zurückwirkt. (Sie werden viel‐
leicht wissen, daß der Paduaner Heilige
ein gewaltiger, hinreißender Prediger war,
‒ ein portugiesischer Mönch, der nach
vielen Predigtfahrten schließlich in Padua
starb, aber nichts zu tun hat mit dem viel
früheren Antonius dem Eremiten, mit dem
Wilhelm Busch, dem das Heiligenwesen
nicht gar zu vertraut gewesen war, in seiner
Satire ihn verwechselt hat.)
.Für den Anrufenden kommt es darauf an,
daß er auf seinen Anruf hin „Trost und
Linderung” empfindet, und wenn sein An‐
ruf ohne eine handfeste historisch geglaubte
Vorlage für die Vorstellung, die verlangte
Kraft nicht aufbringen würde, die ihn den
wirklich Helfenden „vernehmbar” machen
kann, dann muß man ihm wohl oder Übel
114 Briefe an Einen und Viele
den Gebrauch einer solchen Vorstellungs‐
krücke zugutehalten.
.Um sehr Ähnliches handelt es sich bei
den örtlich und zeitlich entstandenen
Abwandlungen einer Verehrungsgestalt.
Apollo, Aphrodite, Artemis, und so man‐
che andere, sehr plastisch gestaltet vorge‐
stellte „Gottheiten” der antiken Welt wur‐
den an verschiedenen Orten in nicht min‐
der verschiedener Auffassung verehrt, wie
heute noch die „Muttergottes”, an ihren
zahllosen Gnadenorten aus einem jeweils
anderen Aspekt gesehen, der Gläubigen
mannigfaches Vertrauen entzündet. Es ist
durchaus nicht so lächerlich, wie eine sich
hoch überlegen dünkende, aber nur das
Äußere und die Oberfläche beurteilende
Betrachtungsweise feststellen zu können
meint, wenn sie gewahrt, daß die Anrufen‐
den in verschiedenen Anliegen auch zu
verschiedenen Gnadenorten der Madonna
115 Briefe an Einen und Viele
wallfahren. Es handelt sich da nicht um
ein „götzendienerisches” plumpes Verviel
fältigen der geliebten und mit einer Über‐
fülle des Vertrauens bedachten Verehrungs‐
gestalt, ‒ die einst aus dem sublimen Kult
der „Hagia sophia”: der „Göttlichen Weis‐
heit”, als Inbegriff des „Ewig Weiblichen”
hervorgewachsen war und späterhin mit
Jesu Mutter identifiziert wurde, ‒ sondern
um ein psychologisch sehr differenziertes
Empfinden örtlicher, bildmäßiger und
legendärer Einflüsse auf die jeweils erreich‐
bare größte Intensität des Anrufs! ‒
.Auf diese Intensität aber kommt es
wesentlich an, wenn die Anrufung im ewi‐
gen substantiellen Geiste durch die „ver‐
nommen” werden soll, die hier zur Lenkung
der Kräfte geistiger Hilfe gesetzt sind, und
mit genügender Resonanz zu ihnen gelan‐
gende Anrufungen eines frommen Bud‐
dhisten des „großen Fahrzeuges” an eine
116 Briefe an Einen und Viele
seiner Verehrungsgestalten ebenso durch
Hilfe in dem jeweils geistesgesetzlich mög‐
lichen Grade beantworten, wie jeden aus
anderen religiösen Vorstellungsbereichen
an sie gelangenden Ruf.
.Ich bitte Sie inständig, diese hier heute
gegebenen Aufschlüsse sich ganz zu eigen
machen zu wollen. Aus eigenem Vermögen
werden Sie sich dann noch weit mehr er‐
schließen...
.Seien Sie gesegnet aus ewigem Licht!
117 Briefe an Einen und Viele
FÜNFZEHNTER BRIEF
Nicht zum erstenmal wird mir geschrie‐
ben, daß durch die von mir verkündeten
Lehren an sich schon so vieles, was früher
schwere Fragen hervorgerufen habe, plötz‐
lich klar und verständlich werde, oder, um
mit Ihren Worten zu reden, daß „alles ein
neues Gesicht” bekomme.
.Das ist jedoch kein Wunder, denn ich
erzähle ja nicht etwas, das ich mir lustig
ausgedacht habe oder in schwerem Nach‐
denken fand, sondern berichte von der ge‐
gebenen Struktur des Lebens im ewigen
Geiste, weil sie mir bekannt ist aus eigenem
lichten Erleben, und bekannter als alles,
was ich außer ihr jemals kennen lernte.
Da aber alles Leben aus dem ewigen, sub‐
stantiellen Geiste hervorgeht und das erden‐
menschliche Gehirnbewußtsein, bei aller
darüber verhängten Dunkelheit der Tier‐
118 Briefe an Einen und Viele
natur, dennoch Einflüsse aus dem ewigen
substantiellen Geiste fortwährend emp
fängt, ob es sie nun auffassen mag oder zu
dumpf ist dazu, so kann schon das bloße
Aufzeigen der Struktur ewigen Geistes‐
lebens zu einem ersten Erwachen führen,
wonach man die Welt freilich etwas anders
betrachten wird als früher.
.Ob einer damit schon alles hat, was er
sich vordem für seine Seele wünschte, oder
ob er sich nun erst recht veranlaßt sieht, in
die ihm von mir gezeigten weiteren Grade
des Erwachtseins vorzudringen, das wird
zwar von ihm allein abhängen ‒ aber
nicht überall von ihm abhängig sind die
irdischen Voraussetzungen zu solcher Ent‐
scheidung.
.Es mag bei manchen viel guter Wille vor‐
handen sein, seelisch wacher und wacher zu
werden, aber nicht die Kraft, alle irdischen
Hindernisse, die ein helleres Erwachen un‐
119 Briefe an Einen und Viele
möglich machen, aus dem Wege zu räumen.
Bei anderen mag diese Kraft schon da sein,
aber zugleich auch die Einsicht, daß an die
Beseitigung vorhandener Hindernisse nicht
gedacht werden darf, weil übernommene
Pflicht dadurch verletzt werden würde. Da
es aber nicht die Aufgabe des Menschen auf
der Erde ist, alles was er hier zu guter Er‐
füllung und zu einer wenigstens relativen
Vollendung zu bringen vermöchte, stehen
und liegen zu lassen um nur seiner Erkennt‐
nis zu leben, ‒ ja, da er, wenn er so han‐
deln wollte, sich ganz sicher um die Frucht
seines Mühens bringen würde, so fördert
sich der Suchende nur durch sein Genü
gen an dem, was ihm seine irdischen Um‐
stände gewähren. Alles Weiterverlangen,
über das hinaus, was die äußeren Um‐
stände zulassen, ist hingegen ein Daneben
langen und kann selbst das in äußerste
Gefahr bringen, was ganz gewiß erreichbar
120 Briefe an Einen und Viele
wäre, und Zuwachs geistigen Besitzes wer‐
den könnte.
.Es ist nicht viel anders, als mit den all‐
täglichen irdischen Dingen: ‒ Wer zuviel
verlangt, kommt zu nichts! Man soll nicht
zu algebraischen Aufgaben und zum Inte‐
gralrechnen aufsteigen wollen, wenn einem
das Einmaleins noch nicht gehört.
.Aber die Suchenden machen sich auch
viel zu phantastische Vorstellungen von
dem, was sie sich im Geistigen erreichbar
glauben, und keine Belehrung vermag sie
davon abzuhalten, statt dem Erleben gei
stigen Lebens, die wunderlichsten Sensa‐
tionen und Ausweitungen im erdenkörper
lich bedingten, mit all seinem Inhalt der‐
einst sein sicheres Ende findenden Erleben
zu suchen. Ein exaltiertes Übersteigern an
sich wertvoller, den Gehalt der Seele ge‐
wichtig bereichernder und auch im körper‐
lichen Sinne urgesunder Empfindungen zu
121 Briefe an Einen und Viele
bedenklichster Nervenerregung, bedeutet
den meisten schon „geistiges Erlebnis”.
Vielen gilt es noch immer als notwendiges
und darum höchst erstrebenswürdiges Ziel,
den Körper immer mehr zu „vergeistigen”,
was sie natürlich von einer Selbsttäuschung
zur anderen führen muß. Zur geistgesetz‐
lich geforderten Verkörperung des Geistes
gelangen die Allerwenigsten: ‒ jene allein,
die nur das Wirkliche wollen, aber keine
Sensationen.
Es kann der Wissensmensch
Im Irdischen nicht leicht begreifen:
Daß alles ewige Erleben
Selbst sich Inhalt ist, ‒
Daß der Erlebende im Ewigen
Kein „Anderes” erlebt,
Das ihm ‒ dem irdischen Erleben gleich ‒
Durch sein Erlebnis nahe käme.
122 Briefe an Einen und Viele
Im Ewigen
Bleibt irdische Erlebensweise
Schein und Schaum...
Erst ein sich selbst erschließendes Erleben
Öffnet ewigkeitsgezeugten „Raum”!
*
.Wenn Paulus, der Zeltmacher aus Tarsus,
‒ dieser von den Heutigen nur mit einer,
die größte Distanz schaffenden, scheuen
Ehrfurcht zu verstehende größte Gewalt
mensch unter jenen ersten Kleinasiaten,
die Jesu Lehre zu sich selber und zu eige‐
nem Erleben brachte, ‒ den Ausspruch
wagt: „Kein Auge hat es gesehen, kein
Ohr gehört, was Gott denen bereitet hat,
die ihn lieben!” ‒ so hat er damit aufs
deutlichste alles wirkliche geistige Erleben
umschrieben. Doch, man hat dieses Wort
eines Wissenden in der Ausdeutung ge‐
radezu umgekehrt, und ihm den törichten
Sinn unterlegt, als ob das den Gottliebenden
123 Briefe an Einen und Viele
Vorbehaltene ein wahrer Sinnenschmaus
wäre, von einer Art, die über alles der‐
gleichen im Irdischen Erlebbare weit hinauf
gesteigert sei. ‒ Aber: ‒
Im Lichte ist Erkenntnis und Erkanntes
Dem Erkennenden vereint,
Und was im Irdischen getrennt erscheint,
Ist nun nicht mehr entfernt
In Raum und Zeit,
Denn alles ist zugleich
Und gleichen Ortes,
In der Ewigkeit...
Wie diese Dinge sich geheim begeben,
Weiß keine Sprache faßbar darzustellen,
Denn niemals läßt in Worten sich erhellen,
Was nur erfahrbar wird als lichtes Leben!
*
.Ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen,
daß es mein, erdenmenschlich betrachtet,
124 Briefe an Einen und Viele
sehnlichster Wunsch wäre, Sie noch in Ihrem
Erdenleben zugleich in diesem lichten Le‐
ben des ewigen Geistes finden zu dürfen.
Meine immerdar segnende Hilfe wird Ihrem
Streben stets nahe sein!
125 Briefe an Einen und Viele
SECHZEHNTER BRIEF
Daß Ihnen die in meinem letzten Briefe
geschehene Erwähnung des Apostels Pau‐
lus ‒ der, wie Sie ja aus meinem Buche
„Das Geheimnis” wissen, als angenomme‐
ner, geistig dazu vorbestimmter Schüler
der Leuchtenden des Urlichtes, schließlich
zu Jesu wahrer Lehre gefunden hatte ‒
nun Anlaß zum Nachdenken über seine
vermeintlich ohne Vorbereitung erfolgte
„Bekehrung” werden könnte, hatte ich
nicht vermutet, da ich doch in dem ge‐
nannten Buche deutlich genug gezeigt zu
haben glaubte, wie die ganze Damaskus‐
erzählung nur als Symbol für ein weit we‐
niger effektvolles Geschehen aufgefaßt wer‐
den muß, wenn man den darin enthaltenen
Wahrheitskern herausschälen will.
.Ich muß Sie auf das dort Gesagte ver‐
weisen, wenn ich es nicht hier abschreiben
126 Briefe an Einen und Viele
soll. Um aber jedes Mißverstehen meiner
dort gegebenen Worte auszuschließen, sei
eindeutig gesagt, daß es sich bei jener an‐
scheinend so unvermittelt erfolgten Umge‐
staltung des fanatischen Feindes der Lehre
Jesu in ihren gewaltigsten Exegeten, um
eine, aus tiefstem Drang nach Wahrheit,
mit fast übermenschlicher Kraft seit langem
umkämpfte, und schließlich auch kontinu
ierlich, nach und nach erreichte Erwek‐
kung handelte, die freilich dann zu reso‐
lutem Erstreben einer Wiedergutmachung
des vordem ‒ wenn auch guten Glaubens ‒
Verschuldeten führen mußte.
.Wenn Ihnen jemand von urplötzlich er‐
folgten Erweckungen zu berichten hat, oder
wenn Sie in alten Erzählungen dergleichen
begegnen, tun Sie immer gut, vorsichtig zu
werden und sich zu fragen, ob es sich denn
da tatsächlich um ein Erleben geistiger
Wirklichkeit, oder nicht vielmehr um sehr
127 Briefe an Einen und Viele
Irdisches handle, wie etwa bei dem so viel‐
seitig gelehrten armen Swedenborg, der
gerne gut und viel aß, und dem, nach sei‐
nem eigenen Bericht, plötzlich beim Essen
ein an der Erde sitzender Mann erschien,
der ihm zurief: „Iß nicht so viel!” und
sich sodann in Nebel und Nichts auflöste,
aber leider Swedenborgs latente „mediale
Veranlagung „erweckt” hatte, die ihm
dann dazu dienen mußte, die seltsamsten,
mit krausen Wissenschaftstrümmern unter‐
mischten „himmlischen” Einsichten zu pro‐
duzieren und einen recht umfassenden ver‐
meintlichen „Geisterverkehr” zu pflegen.
.Die wirklichen Erweckungen zum Be‐
wußtwerden im ewigen substantiellen Gei‐
ste erfolgen niemals erschreckend, sondern
immer in sukzessiver Aufeinanderfolge
der Grade des Wachwerdens. Jeder Grad
muß sich aus dem vorhergehenden von
selbst ergeben. Sollte Ihnen jemals ‒ viel‐
128 Briefe an Einen und Viele
leicht infolge arger Überarbeitung oder
sonstiger Überlastungen Ihres Nervenhaus‐
haltes ‒ ein Geschehnis zustoßen, das Sie
bewegen könnte, es als „plötzliche Er‐
weckung” zu deuten, so gehen Sie baldigst
zum Arzt und möglichst zu einem, der
von gehirnlichen Dingen etwas versteht,
aber kein wissenschaftliches Steckenpferd
reitet!
.Die beste Sicherung gegen solchen Ge‐
hirnaufruhr, der durchaus nicht ungefähr‐
lich ist und zur schönsten Bewußtseinsspal
tung führen kann, ist das gelassene Abwei‐
sen jeglicher Ungeduld in bezug auf das
Erreichen der Erlebensfähigkeit für Gei‐
stiges. Wenn Sie dem nachleben, was in
meinen Lehrbüchern als generelle Anwei‐
sungen gegeben ist, und sich daneben auch
an das halten, was Ihnen als „besonders”
für Sie geschrieben erscheint, dann wird
Ihr allmähliches Erwachen von zentraler
129 Briefe an Einen und Viele
Stelle aus geleitet werden, und ganz so er‐
folgen, wie es für Sie am besten ist.
.Gehen Sie nur in aller Ruhe den Weg
weiter, den Sie in so erfreulicher Weise be‐
gonnen haben! Sie sind auf gut abgesteck‐
tem, sicher zum Ziele führenden Pfade und
kennen wahrhaftig durch meine Schriften
die Wegmarken auf die Sie von sich aus
zu achten haben. Überlassen Sie aber ganz
Ihrer inneren geistigen Führung, über
deren Wirkungsweise Sie ja nun gut unter‐
richtet sind, was Ihnen bei Ihrem zielge‐
wissen Voranschreiten bereits gezeigt wer‐
den kann, und was Sie erst späterhin er‐
warten dürfen! Und vergessen Sie nicht,
daß es sich ja auf Ihrem Pfade nicht etwa
um ein Erwerben irgendwelcher neuen
Wissensgüter handelt, sondern ‒ um ein
Werden, das in vielen Dingen des alltäg‐
lichen Lebens gewiß zu einem allmählich
immer deutlicher fühlbaren Anders-werden
130 Briefe an Einen und Viele
führt, aber gerade dadurch Sie nach und
nach so umwandelt, daß Sie schließlich
fähig werden, Ihr Ewiges bewußtseinsge‐
wiß in sich zu erleben.
.Alle hohe Hilfe sei mit Ihnen!
131 Briefe an Einen und Viele
SIEBZEHNTER BRIEF
Jakob Böhme war wahrhaftig nicht nur
„der Görlitzer Schuster”, wie ihn Leute
eines mehr als nur fragwürdigen Ge‐
schmacks zu bezeichnen lieben. Er war
auch nicht bloß „ein Schuhmacher, und
Poet dazu”. Alle diese platten Anspielun‐
gen auf sein, gewiß keine höhere Wissens‐
bildung voraussetzendes, brotbringendes
Gewerbe sind unzulässig. Was ich in der
kleinen Sammlung einzelner für sich be‐
stehender Abhandlungen, die ich unter
dem Titel „Wegweiser” herausgab, über
Jakob Böhme gesagt habe, will, wie Sie
richtig verstehen, darauf hinweisen, daß
Böhme angenommener, geistig berufener
Schüler der Leuchtenden des Urlichtes war.
Ihm selbst war dieser Umstand etwas so
Heiliges, daß er eine Wolke von Geheimnis
darüber zu legen wußte. So viel auch über
132 Briefe an Einen und Viele
Böhme geschrieben wurde, so war doch
niemand in der Lage, dieser geistigen Be‐
ziehung gerecht zu werden. Allerdings gibt
Jakob Böhme die Schilderungen seiner gei‐
stigen Erlebnisse und Einsichten auch in
so barocker und eigenwilliger Form, die
durch den falschen Gebrauch der ihm durch
seine gelehrten Freunde bekannt gewor‐
denen lateinischen und latinisierten Worte
nur noch krauser wird, daß man schon selbst
sehr genau um solches Erleben wissen muß,
um zu erkennen, was er jeweils darstellen
wollte.
.Anders aber steht es um die deutschen
Mystiker, wie den Frankfurter Deutsch‐
ordensherrn unbekannten Namens, der die
„Theologia deutsch” geschrieben hat, um
Tauler, Seuse, Meister Eckhart.
.Das waren grundgelehrte Männer, die
auf harten philosophischen Wegen zu ihren
Erkenntnissen kamen, die sie dann nur
133 Briefe an Einen und Viele
schwer vor der kirchlichen Verdammung
bewahren konnten.
.In der entgegengesetzten Situation war
der gelehrte Dichter Johann Scheffler (An‐
gelus Silesius), der sich als Protestant zu‐
letzt in den Katholizismus rettete, indem
er sich jegliche katholische Lehre in ein
poetisch gesehenes Symbol umdeutete.
.Eine für mein Gefühl ganz für sich zu
betrachtende Erscheinung ist der im tief‐
sten Sinne „fromme” Kanonikus Thomas
a Kempis, der die von so viel ruhegeben‐
der Gütigkeit erfüllten, freilich ganz ka‐
tholisch gemeinten vier Bücher von der
Nachfolge Christi geschrieben hat.
.Aber alle diese Männer standen keines‐
wegs in einem bewußten Verhältnis zu den
Leuchtenden des Urlichtes, wenn sich auch
bei ihnen allen einzelne Aussprüche finden
lassen, durch die man versucht werden
könnte, doch anzunehmen, daß wenigstens
134 Briefe an Einen und Viele
die verborgene Existenz der Leuchtenden
des Urlichtes in den Kreisen mittelalter‐
licher deutscher Mystiker geahnt wurde.
.Daß aber diese, ohne es zu wissen, so
manche geistige Hilfe und Leitung von der
vielleicht geahnten Quelle her empfingen,
ergibt sich schon aus dem, was ich Ihnen
seinerzeit über die Natur dieser Geisthilfe
mitteilte, ist aber auch aus den Predigten
und Schriften Taulers, Seuses und Meister
Eckharts deutlich zu ersehen, sobald man
gewissen Bekenntnissen und Lehrworten
das ihnen oft recht schlecht passende kirch‐
liche Gewand behutsam von den Schultern
nimmt, auf die es gelegt worden war, um die
also Lehrenden vor dem Scheiterhaufen zu
schützen. Auch bei Thomas a Kempis und
dem in erster Linie als mystisch empfinden‐
den Dichter zu betrachtenden Angelus Sile‐
sius zeigt sich der geistige Einfluß der Leuch‐
tenden des Urlichtes an vielen Stellen.
135 Briefe an Einen und Viele
.Bei aller Verehrung aber, die ich für diese
alten deutschen mystischen Theologen und
Philosophen hege, ‒ bei aller Liebe die ich
dem wundersam stillen und feinen Thomas
a Kempis entgegenbringe, und bei aller
Freude an dem prachtvoll knappen, auch
manchmal gar streitbaren Angelus Silesius,
muß ich Ihnen aber einstweilen doch raten,
vorläufig noch mit dem Studium irgend‐
welcher mystischen Schriften solange zuzu‐
warten, bis Sie fühlen, Ihres eigenen Weges
so sicher zu sein, daß auch gelegentliches
Begehen von Seitenwegen Sie nicht mehr
in der Richtung auf Ihr Ziel irremachen
kann.
.Dieser Rat soll Sie aber nur vor allzulan‐
gen Aufenthalten auf Ihrem Wege bewah‐
ren, denn während der Zeit, die Sie benö‐
tigen würden, sich ein Urteil zu bilden, das
Ihnen später ohnedies ganz von selbst zu‐
fällt, können Sie schon wieder ein gutes
136 Briefe an Einen und Viele
Stück näher zu Ihrem Ziele gelangt sein.
Vergessen Sie auch nicht, daß es sich bei den
Schriften aller der genannten Männer ‒
mit alleiniger Ausnahme Jakob Böhmes
um in hartem Ringen mit sich selbst er‐
dachte und erglaubte, wenn auch zuweilen
bis zum inbrünstigen Gefühls-Erlebnis ver‐
dichtete Ansichten über die Welten des
ewigen Geistes handelt, während Sie das
fast unbegreifliche Glück genießen, von An‐
fang an auf den Weg in die ewige Wirklich
keit geführt worden zu sein...
.Seien Sie mit allem Segen gesegnet, der
mir anvertraut ist als durch meinen Willen
lenksame, geistige reale Kraft!
137 Briefe an Einen und Viele
ACHTZEHNTER BRIEF
Menschen, die in ihrem besonderen Le‐
bensgebiet derart „daheim” sind, daß ihnen
alles Große und Kleine, was von diesem
Gebiet ihrer Verankerung umfaßt wird,
bis ins Letzte vertraut ist, werden zuweilen
plötzlich gewahr, daß sie unwillkürlich
gleiche Vertrautheit mit allem ihnen so
Verständlichen auch bei anderen Menschen
voraussetzen, denen dieses Lebensgebiet
entweder gänzlich fremd oder doch neu
ist. Recht ähnlich geht es auch mir, wenn
ich von den Dingen der Ewigkeit: ‒ den
Dingen des ewigen substantiellen Geistes,
‒ in Worten Darstellung formen soll. Es
bedarf da gar oft erst eines immer wie‐
derholten Wägens und Wertens der ge‐
brauchten Worte nach allen Seiten hin, bis
ich dann doch zuletzt bemerke, daß eine
Redewendung der Gefahr nahe ist, miß‐
138 Briefe an Einen und Viele
verständlich ausgelegt werden zu können,
oder daß Bezeichnungen, die ich synony
misch verwende, der Meinung Nahrung
geben, ich wolle sie in verschiedenem Sinne
aufgefaßt wissen. Da ich der Struktur des
Lebens im ewigen Geiste durch mein eige‐
nes ewiges Leben in ganz selbstverständ‐
licher Weise bewußt bin, kann mir meine
Darstellungsweise unmißdeutbar erschie‐
nen sein, bis ich dann eines Tages durch
eine an mich gerichtete Frage mit einigem
Entsetzen entdecken muß, daß man mich
dennoch mißzuverstehen verstand.
.Aber Ihre, den Begriff „Gott” betreffende
Frage in Ihrem kürzlich an mich gelangten
Briefe ist anders zu nehmen. Während mir
sonst, wie ich eben darlegte, die Neigung
begegnete, von mir synonym gebrauchte
Worte als Bezeichnungen für voneinander
verschiedene Begriffe aufzufassen, gewahre
ich Sie vielmehr bei der Meinung, von mir
139 Briefe an Einen und Viele
für zu unterscheidende Begriffe gebrauchte
Worte seien wohl als Synonyme anzuspre‐
chen. Das ist aber hier nicht richtig, wenn
ich auch gut begreife, was Sie zu Ihrer
Meinung bewogen hat.
.Es handelt sich hier um Gegebenheiten
innerhalb der Struktur geistigen Lebens,
die dem irdischen Verstande kaum faßbar
und in Worten fast nicht unmißverständlich
darzustellen sind, wobei nach dem Irrtum
geradezu gerufen wird durch das, was als
herkömmliche Gottesvorstellung in den
Gehirnen aufbewahrt, und sogleich als das
Gemeinte betrachtet wird, auch wenn in
einem davon recht verschiedenen Sinne von
„Gott” zu sprechen ist, ‒ nicht als einem
Postulat des Glaubens, sondern als dem
innersten Selbstbewußtsein aller ewigen
geistigen Wirklichkeit. ‒ Nur so will ich
das Wort „Gott” erfaßt wissen, wo immer
es von mir gebraucht wird. Aber es ist
140 Briefe an Einen und Viele
hier nicht etwa an ein verstandesmäßiges
Eigenbewußtsein zu denken, sondern die‐
ses innerste Bewußtsein, das sich immer‐
fort aus dem ewigen Geiste aufs neue er‐
zeugt, ‒ diese, dem unermeßlichen All des
einzigen Seienden entströmende sublimste
Selbstüberlichtung und innerste Essenz des
ewigen substantiellen Geistes, ‒ ist zu‐
gleich ewig wirkender Wille und uner‐
schöpfbare Kraft, in Maß und Milde allein
sich offenbarend, bewogen, einzig durch
eigenes innewohnendes Gesetz.
Suchet nicht Gottheit im Grauen der
        Gründe
Drohender Tiefe und schauriger Schründe!
Suchet nicht Gott im brüllenden Brausen
Brandender Meere, wenn Sturmwinde
        hausen!
Suchet nicht Gott in den Donnergewittern,
Denen die Felsen der Erde erzittern!
141 Briefe an Einen und Viele
Suchet ihn nicht über Welten und Sonnen, ‒
Nicht im Genießen von maßlosen Wonnen!
Wollt ihr einst Gott in euch selber finden,
Müßt ihr die Furcht wie die Gier über‐
        winden!
Träumt nicht von euch unerreichbaren
        Fernen: ‒
Gott ist euch näher als jeglichen Sternen!
*
Alles ist in Gott, und Gott ist in Allem!
Primär in seinen ihm eigenen Wurzelbe‐
zirken: „Ursein”, „Urlicht” und „Urwort”,
wie in seiner Selbstgestaltung, dem „Va‐
ter” ‒ sekundär in allem unsichtbaren,
wie in allem sichtbaren Leben.
.Das darf aber nicht etwa so verstanden
werden, als predigte ich da eine Art „Pan‐
theismus”, und ebensowenig ist es mein
Wille, das was Gott ist, als „Person” er‐
scheinen zu lassen. Auch „Ursein”, „Ur‐
142 Briefe an Einen und Viele
licht” und „Urwort” sind wahrhaftig nicht
„Personen”, wie etwa im christlichen Tri‐
nitätsdogma: Vater, Sohn und Geist! Und
was den Leuchtenden des Urlichtes „der
Vater” ist, darf hinwiederum nicht im
Sinne dieses Dogmas aufgefaßt werden.
.Wir kennen und lehren die Wirklichkeit,
nicht irgendeine Glaubenslehre!
.Im Wirklichen aber: ‒ in der Struktur
des geistigen Lebens, besteht ein Mono‐
theismus, der auch polytheistische Ausle‐
gungen verträgt, ohne dadurch zu sich selbst
in ein Mißverhältnis gebracht werden zu
können.
.Der Gott der Wirklichkeit ist nicht, wie
gesagt wird: „das höchste Wesen”! ‒ Das
ist vielmehr ‒ der Vater, der sich selbst
in die Formen der zwölf Väter ausstrahlt,
die seine Wirkungsaspekte sind. Gott aber
ist nicht „Wesen”, sondern: ‒ hier in be‐
sonderem, einmaligen Sinne gemeint, ‒
143 Briefe an Einen und Viele
die Wesenheit in allem, was wesenhaft
wirklich ist. So im „Ursein”, „Urlicht”
und „Urwort”! So im „Vater” in allen
seinen Aspekten!
.Der Vater aber ist ‒ „Mensch” im Ur‐
sein, im Urlicht, im Urwort: ‒ der sich
selber ewig zeugende Ur-Geistesmensch
und das Maß aller Dinge die aus ihm Ge‐
staltung erlangen, daher auch des Ewigen
im Erdenmenschen! ‒
.Gott ist ebenso absoluterweise Gott in
den „Vätern”: ‒ der Offenbarungsform
des Vaters, ‒ wie im Ursein, Urlicht und
Urwort. Für sich selber aber ist das, was
Gott ist, auch nur in sich selber „Gott”: ‒
die Wesenheit an sich selbst, ‒ aber von
allem anderen in ihm Seienden im ewigen,
substantiellen geistigen Leben aus „ge‐
sehen”, ist Gott Wesenheit allen Wesens!
‒ Und „Wesen” ist Wirklichkeit aus „We‐
senheit”!
144 Briefe an Einen und Viele
.Ich stelle aber hier kein „Nebeneinan‐
der” oder „Übereinander”, sondern das
„Ineinander” der Struktur ewigen, geistig‐
substantiellen Lebens dar, soweit ich es
durch Worte irdischer Sprache vermag.
.Man sage nicht, daß die Darbildung des
ewigen Wirklichen für den Menschen auf die‐
ser Erde praktisch zwecklos sei, da dieser
hier für ganz andere und ihn leiblich näher
angehende Fragen nach Lösung zu suchen
habe! Kein Mensch auf Erden kann vielmehr
die von jedem bewußt oder unbewußt er‐
sehnte innere Ruhe und Erlösung seiner
Seele finden, solange sein Vorstellungs‐
haushalt noch nicht gänzlich konform mit
der Struktur ewigen geistigen Lebens ge‐
ordnet ist.
.Sie sehen, daß Ihre Frage bei mir gewiß
nicht in die Gefahr geraten konnte, für
„unangebracht und überflüssig” gehalten
zu werden, wie Sie meinten, denn die ge‐
145 Briefe an Einen und Viele
ringste von der Wirklichkeit abweichende
Vorstellung von der Struktur des ewigen
geistigen Lebens läßt Sie nicht zu der Auf‐
nahmefähigkeit für Geistiges kommen, die
Sie doch zu erlangen suchen.
.Bleiben Sie im Segen des Lichtes!
146 Briefe an Einen und Viele
NEUNZEHNTER BRIEF
Sie irren, wenn Sie glauben, ich könnte
am Ende doch „ungeduldig” werden, weil
Sie nun „schon wieder zu einer Frage ge‐
zwungen” sind. Ich kann es vielmehr recht
gut nachfühlen, daß Sie den Gebrauch des
Wortes „Wesen” bisher von sich aus an‐
ders gewohnt waren, und darum beun‐
ruhigt sind, wenn Sie die bei mir an an‐
deren Orten auch synonymisch gemeinten
Worte „Wesen” und „Wesenheit” auch
als zwei verschiedener Begriffe Zeichen ge‐
braucht sehen.
.Nun will ich gewiß die Dinge, die ich
darstelle, möglichst konturklar zur Dar‐
stellung bringen, aber gerade hier sehe ich
mir sprachlich keine andere Möglichkeit
gegeben, das, was ich sagen will, zu sagen,
als indem ich verlange, daß man den Be‐
griff „Wesenheit” für das Wesen-Gebende
147 Briefe an Einen und Viele
gelten läßt. Das höchsteWesen” aber ist
dadurch „Wesen”, daß es in derWesen
heitist wie sie in ihm, und wenn ich
darstellen will, was ich darzustellen habe,
müssen mir beide Worte als Bestimmungen
zur Verfügung stehen. Nicht anders, als
wenn ich einem Menschen, der nach hun‐
dert Jahren wieder irdisch auferstanden
wäre, nun klarmachen sollte, daß ein Elek‐
tromotor sich nur dann bewegt, wenn er
unter Elektrizität steht. Auch da müßten
mir die Worte für Bewegtes und für das
Bewegende, zu Gebote stehen. Dieser Ver‐
gleich hinkt jedoch beträchtlich, denn mir
ist „Wesenheit” nicht bloß das Bewegende
des Wesens, sondern vielmehr in erster
Hinsicht des Wesens Allerinnerstes, ‒ ver‐
gleichend gesagt: sein lebendiger „Kern”!
.Aber ich bin weit davon entfernt, hier
ein Spiel mit Worten treiben, oder darum
streiten zu wollen, welche konventionelle
148 Briefe an Einen und Viele
begriffliche Bedeutung den hier in Rede
stehenden Worten zugemessen werden darf.
Ich gestehe Ihnen ohne weiteres das Recht
zu, für das, was ich die „Wesenheit” nenne,
durch die allein „Wesen” möglich ist, ein
anderes, zu Ihnen eindringlicher sprechen‐
des Wort zu setzen.
.Einzig „wesentlich” ist ja nur, daß Sie
nachfühlend erfassen, was ich meine, denn
das Gemeinte ist so ganz und gar allen Ge‐
dankenbereichen entrückt, daß es nie und
nimmer zu erdenken wäre, auch wenn die
scharflinigsten Gedankenbilder es zu ge‐
danklicher Gestalt zu bringen suchen woll‐
ten.
.Aber die Mühe, das von mir hier Ge‐
meinte im Nachfühlen fassen zu lernen,
kann ich Ihnen allerdings nicht ersparen,
wenn ich Sie geschützt sehen will vor Irr‐
tum gegenüber dem, was ich von der „Ge‐
burt” Ihres „lebendigen Gottes” in Ihrer
149 Briefe an Einen und Viele
ewigen Menschenseele sage, denn eben hier
handelt es sich um nichts anderes, als um
die von mir gemeinte „Wesenheit”, die
auch dem individuellen Erdenmenschen in
der, seiner Individualität auf das genaueste
entsprechenden Form bewußt werden kann
und durch die allein er wesenhaft zu wer‐
den vermag in Ewigkeit wie Zeit. ‒
.Der „Vaterist nur den Leuchtenden
des Urlichtes, die seine eigene Zeugung
durch seine Offenbarungsform: ‒ die
zwölf „Väter” ‒ darstellen, bewußtseins
zugänglich, und zwar jedem einzelnen
Leuchtenden in der Form dessen unter
den zwölf mit dem Vater alle identischen
Vätern, der diesen individuellen Leuchten‐
den individuell im Urwort „zeugte”. Der
lebendige Gott” aber, von dem ich als
von der einzigen, allen Erdenmenschen
praktisch erreichbaren Selbstoffenbarung
Gottes spreche, kann jedem Menschen auf
150 Briefe an Einen und Viele
Erden, ‒ soweit dieser selbst sich dazu
vorzubereiten weiß, ‒ seelisch erlebbar
werden, was ich mit einer „Geburt” Gottes
in der Seele vergleiche.
.Meine Bücher sind ja nur deshalb ge‐
schrieben, damit durch sie die hier er‐
wähnte unumgänglich notwendige Vor‐
bereitung in die rechte Bahn gelenkt
werde. Da aber fast alle Menschen ‒ mit
verschwindenden Ausnahmen ‒ so tief
in ihrem Verstandesbewußten versunken
sind, daß auch der Dumpfeste, der nur mit
ein paar kläglichen Gedanken sich beschei‐
det, dennoch sein Leben, statt in seiner
Wirklichkeit, nur „in Gedanken” lebt, und
dieses In-Gedanken-leben ebenso für sein
wirkliches Leben hält, wie der an Gedanken
Reichste, so war es nötig, aufzuzeigen, wo
die für das Erleben ihres lebendigen Gottes
der Seele gesetzte Vorbereitung innerhalb
der Struktur des ewigen substantiellen gei‐
151 Briefe an Einen und Viele
stigen Lebens ihren Platz hat. Das konnte
aber nicht anders geschehen, als nur durch
eine Darstellung alles dessen, was vom ewi‐
gen Leben des substantiellen Geistes um‐
faßt wird, und ich durfte nichts, was irgend‐
wie Klärung zu bringen geeignet war, nur
deshalb unerwähnt lassen, weil es nicht für
jeden erlebbar wird. Ich mußte sehr vieles
bringen, wenn ich bewirken wollte, daß
sich doch mancher zu dem Wenigen ent‐
schließen würde, was meine Bücher von
jedem, den sie erreichen, als Mindestes
erwarten.
.Empfangen Sie meinen Segen und ler‐
nen Sie immer mehr erkennen, daß jede
Bezeichnung geistiger Dinge mit der Un‐
möglichkeit rechnen muß, wirkliches gei‐
stiges Leben durch ein Wort der Sprache
zu umschließen!
152 Briefe an Einen und Viele
ZWANZIGSTER BRIEF
So fraglos bereit Sie mich immer finden
werden, wo ich Ihnen oder Anderen helfen
kann auf dem Wege zum Bewußtwerden
im ewigen Geiste, ‒ so freudig ich alles
aufbiete, um Ihnen und Anderen die Vor‐
bereitungen treffen zu helfen, die unum‐
gänglich von Ihnen getroffen werden müs‐
sen, wenn Ihr lebendiger Gott sich leibhaf‐
tig und Ihnen bewußt in Ihrer Seele „ge‐
bären” können soll, so sehr muß ich doch
darum bitten, daß man niemals versuche,
mich in Gebiete nötigen zu wollen, deren
‒ ach so sehr ‒ zeitbedingte Probleme ich
mir kategorisch fernzuhalten gezwungen
bin, wenn ich dem mir allein Möglichen
geistig gerecht werden soll.
Ich muß mir meine Zelle gut verwahren,
Vor all dem Lärm um nichtiges Geschehen,
Vor allem großgebärdigen Gebaren
153 Briefe an Einen und Viele
Um Dinge, die sich wandeln,
Wie der Winde Wehen.
Ich kann unmöglich allen Rede stehen,
Und allzugleich, in geistigem Geschehen,
Die Bande lösen, die doch alle binden,
Und die gelöst sein müssen,
Soll sich Irdisches
Im Lichte finden.
*
.Es ist wahrhaftig keine Gleichgültigkeit
gegenüber den alltäglichen Erdensorgen
meiner Mitmenschen, die zu diesem, streng
von mir geforderten, Abweisen aller dem
ewigen Geistigen fernen Fragen führt! Es
gibt Menschen genug, die sich der Lösung
solcher Fragen widmen, aber es gibt in der
Gegenwart und bis auf sehr ferne Erden‐
zukunft hin keinen einzigen Menschen
außer mir, der das Werk rein geistiger Se‐
gens-Hilfe an Allen, die sie zu empfangen
vermögen, zugleich mit der mir obliegenden
154 Briefe an Einen und Viele
wortgeformten Kündung aus einem irdi‐
schen Sprachbereich her, geistig gültig
durchzuführen vermöchte. So erfordert
schon eine bloße Ökonomie der Nutzung
erdmenschlicher Möglichkeiten, daß ich
mich nur da ausgebe, wo singuläre Leistung
für meine Mitmenschen hier auf Erden mir
allein ermöglicht ist, wo aber jeder andere
heutige Mensch seine Kräfte nutzlos ein‐
setzen würde, wollte er, etwa vom Irdischen
her, den törichten Versuch unternehmen,
den Dingen vorzustehen, die ich nur darum
zu leiten vermag, weil ich sie aus meinem
ewigen Sein beherrsche.
.Ich will nicht Worte gebrauchen, die im
Laufe zweier Jahrtausende den sie ver‐
ehrenden Menschen auf eine einmalige
Weise heilig wurden, aber ich muß hier
dennoch auf meine ewige geistige Her‐
kunft hinweisen, in der ich unlösbar im
Vater” und mit ihm Eines bin in dem
155 Briefe an Einen und Viele
individuell bestimmten, der zwölf „Väter”,
durch den mich der Vater geistig im Ur‐
licht „zeugte”. So sind es auch nur die
Dinge des Vaters, denen ich heute, ‒ hier
nun dem Irdischen in dem verbunden,
der sich mir, vordem die Erde ward, im
Geiste dargeboten hatte, ‒ Ausdruck zu
schaffen trachte. Mein irdisches Dasein be‐
sitzt seinen Sinn nur in dem vor Ewig‐
keiten zugeschworenen Dienste, den es
mir, dem Geistgezeugten, heute darzu‐
bieten hat in seiner ihm bestimmten Er‐
denzeit.
.Verwunderlich wäre wahrhaftig, wenn
es auch Anderem dienen könnte!
.Wie die Dinge zwischen Geburt und Grab
so gestaltet und gelebt werden können, daß
die durch sie entstehenden Wirkungen ins
Unsichtbare und bis in die Welten des ewi‐
gen Geistes hinein, der Seele zu kraftvoller
Förderung werden, habe ich an jeder Stelle
156 Briefe an Einen und Viele
meiner Schriften gezeigt, an der ich diese
Dinge erörtere.
.Wer sich Rat holen will, muß ihn darum
in diesen Schriften suchen, wo er ihn leicht
finden kann, wenn er das dort Gesagte auf
den besonderen Fall anwendet, der ihn be‐
ratungsbedürftig findet, auch wenn sein
Einzelfall dabei erst aus der Verstrickung
der zeitlichen Umstände gelöst werden
muß, sollen die auf ihn beziehbaren Worte
erkennbar werden.
.So kann ich auch Sie nur darum bitten,
das, was ich geschrieben habe, zu befragen,
denn es würde der Struktur des ewigen
geistigen Lebens, ‒ in die ich eingeordnet
bin und aus der ich zu wirken habe, was
meines Werkes ist, ‒ diametral entgegen
handeln heißen, wenn ich mich in die ir‐
disch gegebenen, wechselreichen Probleme
und Fragen einmischen wollte, die eines
jeden Einzelnen selbst zu verantwortende
157 Briefe an Einen und Viele
und nur von ihm allein zu entscheidende
Angelegenheiten sind.
.Sie werden verstehen, daß es mir, wenn
ich ohne entgegenstehende Verpflichtung
zu urteilen berechtigt wäre, wahrhaftig
leicht fallen würde, Ihnen eine Antwort zu
formulieren, der Sie auch dann genötigt
wären, zuzustimmen, wenn sie Ihrer eige‐
nen Meinung recht fern stünde. Aber ge‐
rade solche Nötigung, die unwillkürlich
entstünde und unvermeidbar wäre, ver‐
bietet mir verpflichtendes geistiges Ge‐
setz. ‒
.Mögen Sie im Segen des Lichtes das für
Sie Richtige in sich selber finden!
158 Briefe an Einen und Viele
EINUNDZWANZIGSTER BRIEF
Wenn Sie den „Vater”, ‒ der Ihnen ja
nicht bewußtseins-zugänglich ist, obwohl
auch Sie aus ihm leben, ‒ als „sich in zwölf
Selbstreflexionen erlebende Einheit” auf‐
fassen wollen, so entfernen Sie sich durch‐
aus nicht von der Wirklichkeit. Nur müssen
Sie dann die alle zwölf „Selbstreflexionen”
umfassende zwölfeigene Einheit als ein
Dreizehntes hinzufügen, wie es wohlweis‐
licher Gebrauch „Wissender” der Vorzeit
war. Es ist mit Sicherheit zu sagen, daß
die in den Evangelien berichtete Zwölfzahl
der Jünger, mit Jesus als dem sie alle gei‐
stig umfassenden Dreizehnten, hierher‐
gehört, während ich gerne der Archäologie
das Urteil darüber anheimstelle, ob nicht
auch die „Zwölf Götter” der Ägypter, der
Griechen und der frühesten Einwohner
Italiens, wie der späteren Römer, in glei‐
159 Briefe an Einen und Viele
chem Sinne aufzufassen sind, wobei es
durchaus belanglos ist ‒ wie ich ja schon
in einem früheren Briefe bei anderem An‐
laß erklärte ‒ daß unter diesen „Zwölf
Göttern” auch weiblich gedachte zu finden
sind. Wenn ich auch für manche, meinem
geistigen Erfahren bedeutsame äußere Be‐
richte der archäologischen Wissenschaft
dankvoll verpflichtet bin, so weiß ich doch
leider nicht, ob Anhaltspunkte gegeben
sind, eine alle „Zwölf Götter” umfassende
oder ihnen allen innewohnende Gottgestalt
in geglaubter Beziehung zu ihnen zu ver‐
muten. Auf diese dreizehnte Gestalt aber
käme es an, wenn man ebenso mit aller
Sicherheit den „Zwölf Götter”-Kultus auf
den ewigen „Vater” bezogen sehen sollte.
Was aber den Kreis der „Zwölf” um Jesus
angeht, von denen jeder Zugehörende in
den Berichten namentlich aufgeführt ist,
so taste ich nicht etwa die Geschichtlichkeit
160 Briefe an Einen und Viele
dieser Männer an. Man hätte nur auch we
niger oder ebenso mehr der Schüler Jesu
in so besonders betonter Weise nennen
können, wenn hier nicht eine Parallele zu
dem Vater-Mysterium hätte sichtbar wer‐
den sollen, das ja zu Jesu Zeit nicht nur
einzelnen „Wissenden”, sondern ganzen
Mysterienvereinen bekannt war, aus denen
später viele Anhänger der Lehre Jesu
kamen.
.Ihre Frage zeigt Sie mir aber in einer
gewissen Bereitschaft, sich unnützen Grü
beleien zu überlassen, was keinesfalls för‐
dernd für Sie wäre. ‒
.So bedeutungsvoll es auch für Sie ist,
zu klarer richtiger Gottesvorstellung zu ge‐
langen, so wenig kommt es darauf an, die
auf Ihrem Wege Ihnen erscheinenden neuen
Einsichten, und die sich aus ihnen ergeben‐
den Begriffe auf alle möglichen Auffassungs‐
arten hin zu untersuchen. Wenn die Turm‐
161 Briefe an Einen und Viele
uhr „Sieben” schlägt, so genügt es durch‐
aus, daß Ihnen diese Stundenzahl bewußt
wird, und dabei bleibt es sich gleich, ob
Sie nun dahinter gekommen sind, daß man
den in genau gleichen Intervallen ertönen‐
den Schlägen unwillkürlich einen von aller‐
lei Körperlichem bestimmten Rhythmus
unterlegt, der ebensogut:
1234567 lauten kann,
wie auch: 1234567,lauten kann,
oder: 1234567.lauten kann,
.Meldet sich in Ihrem Gehirn plötzlich
der Gedanke, daß man einer geistigen Tat‐
sache, von der Sie durch mich gehört ha‐
ben, auch auf irgendeine andere Art ge‐
dankliche Darstellung zu geben versuchen
könne, so folgen Sie ihm ruhig, aber neh‐
men Sie das Resultat als etwas ganz Selbst‐
verständliches hin, ohne sich in eine Art
Entdecker-Erregung bringen zu lassen, die
162 Briefe an Einen und Viele
Ihnen nur die Perspektive verdirbt, aus
der Sie das, was Ihnen bereits klar wurde,
sehen und fassen lernten. So viel Blick‐
punkte, so viel Auffassungen sind möglich,
und alle können richtig sein, wenn sie nur
alle das klare, unverzeichnete Bild dessen
ergeben, was aufgefaßt werden soll!
.Und das Resultat Ihres Mühens allein
gibt diesem Mühen die Rechtfertigung,
einerlei, ob Sie die Schranktüre öffnen,
indem Sie den Schlüssel krampfhaft in sei‐
ner Lage im Schloß erhalten und durch
zwei Männer den Schrank um die Schlüssel‐
achse drehen lassen, oder ob Sie die etwas
einfachere Methode wählen, den Schlüssel
ins Schloß zu stecken und umzudrehen,
während Sie den Schrank ruhig stehen
lassen, wo er steht. ‒
.So ist auch die gehirnliche Konzentration
auf ein bestimmtes, seelisch zu Erfassen‐
des, keine über die Kräfte des Einzelnen
163 Briefe an Einen und Viele
gehende Aufgabe. Man darf allerdings nicht
damit anfangen, allen anderen Gedanken
Krieg zu erklären, in der holden Illusion,
dann auf dem leeren Schlachtfeld sich so
recht ungestört mit dem gewünschten Ge‐
danken unterreden zu können! Eine richtig
eingeleitete gedankliche Konzentration ‒
die man ja auch im Alltagsleben oft recht
nötig haben kann ‒ läßt sich vergleichen
mit dem Suchen eines bestimmten Ortes
am Horizont, von einem Aussichtspunkte
her. Unzählige Formen überfliegt der Blick
auf der Suche nach dem Gesuchten. Diese
Formen verschwinden nicht etwa, noch
werden sie von dem sein bestimmtes Ob‐
jekt Suchenden als Belästigung empfunden.
Er trägt viel zu intensiv das Nahbild des
Gesuchten in sich. Aber es ist gerade dieses
Nah-Bild des Gesuchten, das zuerst am
Auffinden hindert, ‒ bis dann dem Sucher
zu Bewußtsein kommt, daß er ja jetzt das
164 Briefe an Einen und Viele
Fern-Bild allein zu erwarten hat, wonach
er dann bald das Gesuchte am Horizont ge‐
wahren wird. War das Nahbild vielleicht
ein mächtiger Turm, so ist allerdings viel‐
leicht jetzt nur eine aus den vielen an‐
deren Formen herausragende Silhouette
von der Größe einer Nadelspitze als Fern‐
bild gegeben, aber nun weiß der Sucher
dieses gesicherte Fernbild leicht festzu‐
halten oder sogleich wieder aufzufinden,
ohne sich im mindesten durch die vielen
anderen Formen am Horizont irgendwie
gestört zu fühlen.
.Die Nutzanwendung dieses Vergleiches
ist leicht zu finden.
.Will man zur wirklichen Konzentration
kommen, dann muß man sich vor allem
darüber klar werden, wie sich das Objekt,
auf das man sich zu konzentrieren beab‐
sichtigt, von dem eingenommenen eigenen
Standpunkt her erkennen lassen kann.
165 Briefe an Einen und Viele
Auch in der Gedankenwelt gelten Gesetze
einer Art „Perspektive”!
.Hat man sich dann vorgestellt, in welcher
Form das Objekt der Konzentration ver‐
nünftigerweise fixiert zu werden vermag,
dann ist es in dieser Form aufzusuchen und
gedanklich zu „betrachten”, wobei alle
anderen gegenwärtigen Gedanken nur zu
ignorieren sind, aber niemals bekämpft
werden dürfen, weil sie ja gerade dadurch ‒
zur Aktion aufgerufen ‒ das Ignorieren
unmöglich werden lassen müßten. Auch
der Wanderer, der von seinem Aussichts‐
punkt aus die von ihm gesuchte Kirchturm‐
spitze gefunden hat, sieht optisch zugleich
alles, was sich in seinem Gesichtsfeld be‐
findet, ‒ mag es sich um unbewegliche Ge‐
staltungen handeln, oder um das, was
kommt und geht. Alles das aber wird ihm
kaum bewußt, solange ihm das gefundene
Fernbild Anlaß bietet, sich mit der Wirk‐
166 Briefe an Einen und Viele
lichkeit, die ihm entspricht, innerlich zu
beschäftigen.
.Möchte Ihnen mein heutiger Brief wie‐
der über einige Schwierigkeiten hinüber‐
helfen!
.Empfangen Sie allen Segen!
167 Briefe an Einen und Viele
ZWEIUNDZWANZIGSTER BRIEF
Was Ihnen da jetzt klar geworden ist, kann
ich freudig begrüßen, und ich begreife, daß
Ihnen bei dieser „Entdeckung” zumute
war, als seien Ihnen endlich die Augen „ge‐
öffnet” worden. Ich weiß ja sehr wohl auch
heute noch die Gründe zu achten, die mich
damals, als ich „Das Buch vom lebendigen
Gott” schweren Herzens der Öffentlichkeit
übergab, bewogen hatten, mich zuweilen
schützender Verhüllung zu bedienen, aber
es ist mir auch möglich, nachzufühlen, wie
befreiend das Bewußtsein empfunden wer‐
den mag, nun mit aller Gewißheit zu wissen,
was unter der Hülle sich vor wenig erfreu‐
lichen Blicken verbirgt.
.Mit Willen hatte ich aber zugleich durch
solche Verhüllung dem Leser die Möglich‐
keit gelassen, sich die geistige Gemeinsam‐
keit der Leuchtenden des Urlichtes nach
168 Briefe an Einen und Viele
seiner eigenen Weise vorzustellen, damit
er nicht zurückscheue vor einem vermeint‐
lichen Glaubenspostulat. Daß der Wahrheit
aber nirgends Gewalt angetan wurde, wis‐
sen Sie jetzt ja am besten selbst zu beur‐
teilen, nachdem Sie nun erkannt haben,
daß das „Oberhaupt”, von dem ich sage,
es werde „nicht gewählt” und „nicht er
nannt”, aber dennoch sei niemals einer
aus der Vereinung der Leuchtenden im
Zweifel, wer es sei, ‒: der „Vater” ist, als
dessen geistgezeugte Söhne wir Leuchten‐
den des Urlichtes uns innerhalb der Struk‐
tur des geistigen Lebens an der uns ge‐
gebenen Stätte wissen. Daß ich die ge‐
brauchten Bilder und Gleichnisse mißver‐
standen sehen würde, bezweifelte ich nicht,
aber niemals hätte ich geglaubt, daß einer
von denen, für die meine Bücher wirk‐
lich geschrieben wurden, mich falsch ver‐
stehen könne, wenn ich es nicht bisher
169 Briefe an Einen und Viele
oft genug hätte erleben müssen. Sie selbst
sagen ja, daß es Ihnen erst jetzt endlich
„wie Schuppen von den Augen gefallen”
sei...
.Solche „Schuppen” scheinen aber noch
viele Augen zu bedecken, die ich wahrlich
von ihnen frei geglaubt hatte und nicht
erst befreiungsbedürftig.
.Ist denn so schwer, richtig seinem tie
feren Sinne nach, zu deuten, was ich nur
deshalb so behutsam umkleidet habe, da‐
mit es den unsauberen Blicken derer ent‐
gehen möge, für die es nicht erkennbar
sein soll?! Was mich betrifft, so bin ich ja
oft versucht, mich manchen Danebenver‐
stehens, das mir begegnet, erleichtert zu
freuen, weil es mir wirklich wenig ange‐
nehm wäre, von jedem verstanden zu wer‐
den. Allein um der zum Erwachen im
Geiste Fähigen willen muß ich mich offen‐
baren! Aber was hier zu offenbaren ist,
170 Briefe an Einen und Viele
macht diese Pflicht zu einer wahrlich nicht
begehrten Last. ‒
.Zahlreich sind daher auch die Stellen, be‐
sonders in den zuerst erschienenen meiner
Bücher, an denen ich ‒ kaum daß ich mich
im Irdischen überwunden und zu mir selbst
im ewigen Geiste bekannt hatte ‒ mich
sogleich wieder hinter meinem Nur-erden‐
haften zu verbergen suchte. ‒ Möglichkeit
zu solchem Mich-verschwindenlassen hin‐
ter meinem Zeitlichen bot diesem ja immer
der glückhafte Zustand, daß in meiner
Selbstbezeichnung „Ich” ebenso mein ir
disch Vergängliches wie mein urewiges
substantielles geistiges Sein sich ausspre‐
chen kann, da sie ja allem mich ewig Dar‐
bildenden wie allem mir nur auf Zeit
dauer Eigenen dient.
.Ich verrate Ihnen freilich hier kein Ge‐
heimnis, nachdem ich mich aus Gründen,
die mir wahrhaftig beträchtlich genug er‐
171 Briefe an Einen und Viele
schienen, entschloß, die drei nun neuer‐
dings veröffentlichten kleinen Bände dar‐
zubieten, die in rhythmisch geordneter
Form eine Folge von Bekenntnissen ent‐
halten, wie sie der irdische Mensch sich
nur schwer, und nur im Angesichte der
letzten Dinge allenfalls abringen läßt.
.Aber selbst hier betrachtet der Verkün‐
der immer wieder gerne sein Ewiges eben‐
so, wie mein mir von Ewigkeit her Be‐
wußtes auch aus der erdgemäßen Perspek‐
tive seiner zeitbedingten Vergänglichkeit,
und es wird also auch hier, wie schon an
anderen Orten, Ihnen überlassen bleiben
müssen, zu erfühlen, was jeweils spricht,
da ich durchaus nicht gesonnen war, die
Empfindungen des Zeitlichen, das die
Möglichkeit meiner Offenbarung schafft,
um meines ewigen Seins willen ohne Not‐
wendigkeit zu unterdrücken.
.Die Empfindungen des Ewigen sind aber
172 Briefe an Einen und Viele
in der Seele wesentlich verschieden, je
nachdem, ob ein Irdischer sich von seinem
Standort her in Meditation und seelischem
Ringen Einsicht in Geistiges erwarb, oder
ob er teilhat an seinem Ewigen durch ein
ihm geistig wie leiblich vereinigtes ewiges
Sein, dessen Werkwirker er ist für die
Erdenwelt.
.Ich wußte von Anfang an sehr wohl, wie
viel ich bei meinen Mitmenschen voraus‐
setzen müsse, wofür die Vorstellungsfähig‐
keit nur selten gefunden wird.
.Ein Träger ewigen Bewußtseins ‒ wie
man ihn auch benennen möge ‒ der sich
einem irdischen Menschen: dessen ewiger
Seele wie dessen zeitlich vergänglichem
Leibe, vereinigt, ja geradezu amalgamiert,
und das auf Grund freiwillig übernom‐
mener, um unvorstellbare Zeiträume zu‐
rückliegender Verpflichtung der ewigen
geistigen Individualität dieses Erdenmen‐
173 Briefe an Einen und Viele
schen, ‒ das ist für den modernen Euro‐
päer nichts als eine Reihe absurder Träume‐
reien, die er lediglich als Resultat einer
Gehirnerkrankung noch entschuldbar fin‐
det. Und man darf ihm bei seiner absoluten
Ahnungslosigkeit überzeitlichen Dingen
gegenüber, seine seelische Ignoranz nicht
einmal übelnehmen. Er kann nicht anders!
.Es ist nicht verwunderlich, daß es mich
desto mehr freut, wenn ich so viele unver‐
hoffte Ausnahmen gewahre, so daß mir auch
Ihr eingehender lieber Brief, der Sie mir
ja wahrhaftig wieder als erfreulichste Aus‐
nahme in dem hier gemeinten Sinne zeigt,
für mich eine ganz große Freude war und
bleiben wird.
.Wenn Sie sich entschließen können, alle
meine Bücher, die Sie bisher verstandes‐
mäßig durchzuarbeiten und seelisch sich
zu eigen zu machen suchten, nun an Hand
Ihrer neuen Erkenntnis sogleich nochmals
174 Briefe an Einen und Viele
im Ganzen vorzunehmen, werden Sie glau‐
hen, Sie hätten die Texte überhaupt noch
nicht gelesen. So anders wird sich Ihnen
der Sinn erschließen in vielem, was vorher
unerfaßt blieb.
.Aller Segen aus dem ewigen geistigen
Lichte, in dem ich lebe, sei mit Ihnen!
175 Briefe an Einen und Viele
DREIUNDZWANZIGSTER BRIEF
Die Grenzen zwischen dem, was der Seele
eines jeden Erdenmenschen im ewigen Gei‐
ste zu erleben möglich ist, und dem, was
nur der Leuchtende des Urlichtes zu er‐
fahren vermag, sind allerdings in meinen
Schriften nicht immer scharf gezogen. In‐
sofern sind Sie durchaus im Recht. Was Sie
aber unmöglich wissen konnten, ist, daß
diese scheinbar einen Mangel darstellende
unscharfe Scheidung durch das in der Wirk‐
lichkeit Gegebene gefordert und bestimmt
ist, so daß mir keineswegs die schärfere
Scheidung möglich gewesen wäre.
.Überlegen Sie, daß in jedem Erden‐
menschen, bei aller Tiergleichheit in bezug
auf den Leib und die wieder auflösbare
„Tierseele”, die Funktionsergebnis dieses
Leibes ist, auch ein Ewiges sich darlebt,
mag es auch bei vielen zeitlebens latent
176 Briefe an Einen und Viele
bleiben. Dieser ewige „Geistesfunke”, dem
die aus ewigen Seelenkräften sich gestal‐
tende und daher ewige Seele Darstellungs‐
bereich ist, erfüllt innerhalb der Struktur
ewigen geistigen Lebens ebenso seine ihm
allein vorbehaltene Stätte, wie der ewige
Leuchtende des Urlichtes die seine ein‐
nimmt. Dem Leuchtenden, der erdenkör
perlich wirkt, ist ein solcher Geistesfunke
seit unermeßlicher Zeit geistig vereinigt,
und mit ihm dessen ewige Seelenkräfte,
so daß zuletzt auch Tierseele und Leib die
Influenzwirkungen des ewigen Leuchten‐
den erfahren, dessen zeitliche Werkzeuge
sie sind, solange sie auf Erden im Physi‐
schen lebensbeständig bleiben können.
Während aber dem Leuchtenden des Ur‐
lichtes alle Erlebensmöglichkeit, die das
Leben des ewigen Geistes umschließt, bis
ins Innerste dieses Lebens gegeben sind,
da er ja von ihm aus bewußt ist, kann er
177 Briefe an Einen und Viele
doch nur dem ewigen Einzelmenschen‐
geiste, dem er sich im Ewigen vereinigte,
um durch ihn einst dann auf Erden die
Möglichkeit zu geistiger Hilfeleistung zu
haben, Anteil an seiner, alles geistige Le‐
ben in sich durchdringenden Erlebensweise
geben, indem er ihn, Jahrtausende vor der
ihn später tragenden „Tierwerdung” auf
Erden, in sich realiter „hineinnimmt” und
so ihn an allem teilnehmen läßt, was in
ihm selber Leben ist. Dieses „Hineinneh‐
men” ist geistesgesetzliche Folge der un‐
darstellbare Zeit vordem dargebotenen frei‐
willigen Verpflichtung, die der von nun an
geheimnisvollste Vorbereitung Genießende
eingegangen war. Allen anderen im Irdi‐
schen inkarnierten ewigen Geistesfunken
vermögen jedoch die Leuchtenden des Ur‐
lichtes nur dazu zu verhelfen, ihrer ewigen
Seelenkräfte habhaft und Herr zu werden,
um im Bewußtsein der Seele sich selbst
178 Briefe an Einen und Viele
zu finden und die ihnen gemäße Form der
Seele sich bilden und vereinigen zu können.
Da nun zwischen den ewigen Seelenkräften
und dem gehirnbedingten Erkennen, Emp‐
finden und Erlebenkönnen stete Influenz‐
wirkungen bestehen, so kann dieses see‐
lische Erwachen in entscheidender Weise
von den Vorstellungsbereichen des Erden‐
menschen her gefördert werden, wie an‐
dererseits auch die Einflüsse aus dem ewigen
Geiste über die Individualgestaltung des
Geistes, die in dem ewigen Geistesfunken
des Menschen gegeben ist, allmählich den
ganzen tiernahen Leib derart zu durch‐
dringen vermögen, daß er zur Verkörpe‐
rung des Geistes auf Erden zu werden ver‐
mag.
.Dem Geistigen eines jeden Erdenmen‐
schen entsprechen nun aber ganz be‐
stimmte, nur ihm allein zugängliche gei‐
stige Erlebensformen und die hier mög‐
179 Briefe an Einen und Viele
lichen Kombinationen sind der Zahl nach
unendlich, so daß es ganz unmöglich wäre,
sie alle jemals darzustellen, ja nur gruppen‐
weise zu charakterisieren. Da nun aber der
Erziehung des Vorstellungslebens so uner‐
meßliche Bedeutung zufällt, und der vom
Irdischen her nach dem Geistigen Suchende
möglichst von dem schon irdisch erfahren
haben sollte, was ihm geistiges Erleben
werden kann, so ist es besser, er weiß von
allem, was an diesen Dingen Menschen er‐
fahrbar zu werden vermag, als wenn ich
nur das Allgemeinste erörtern, alles Be‐
sondere aber verschweigen wollte. Ich sagte
Ihnen schon einmal, daß jeder, sich selbst
gegenüber ehrliche Suchende alsbald wissen
wird, was ihm in meinen Lehrtexten im
Besonderen gilt, wobei es ihm nur zu grö‐
ßerer und tieferer Einsicht in die Natur
alles Geistigen dienen kann, wenn er auch
von anderen Möglichkeiten erfährt, denen
180 Briefe an Einen und Viele
gegenüber er spontan fühlt, daß sie der
Art nach nicht für ihn in Frage kommen,
auch wenn Andere so zum gleichen Ziele
gelangen.
.Es sind dunkle triebdumpfe Atavismen
die durch unsere tierleibliche Herkunft
aus der Substanz des Planeten nur zu sehr
erklärlich werden, wenn immer wieder der
widergeistige Gedanke in den Köpfen auf‐
lebt, alle Menschen seien „gleich” vor
Gott. Tröstlich bleibt dabei nur, daß dieser
„Gott” der Langweile das Erzeugnis gleich
wertiger Ursache ist. ‒ Die Wirklichkeit
aber kennt in den Beziehungen zu Gott
innerhalb der Struktur des Lebens im ewi‐
gen Geiste nur unendlichfältige Verschie
denheit. Eine Gleichheit vor Gott darf le‐
diglich insofern zu Recht behauptet wer‐
den, als sie sich auf die allen Erdenmen‐
schen gemeinsame leibliche Tiernatur be‐
zieht, die von dem Planeten genommen
181 Briefe an Einen und Viele
ist und ihm wieder anheimfällt. Soweit aber
das Doppelwesen, das sich auf Erden be‐
scheidenerweise für den Inbegriff des „Men‐
schen” hält, geistiger Natur zugehört, sind
seine einzelnen Geistesfunken verschie
dener voneinander als alles Verschiedene,
was es auf Erden an irdischen Formen zu
unterscheiden gibt! Und zwar nicht nur
im Nebeneinander gesehen, sondern eben‐
so in bezug auf die hierarchisch unfaßbar
scharf bestimmte Stufe der Eigenkapazität
innerhalb des geistigen Lebens!
.Hier läßt sich nichts abhandeln durch
philosophische Begriffsbildungen, die in
der Sphäre der Wirklichkeit so wenig Hei‐
matrecht haben, daß man sie nicht einmal
als Schatten und Schemengebilde wahr‐
nimmt.
.Hier läßt sich aber auch nichts erkaufen,
denn alles was der Andere hat, ist in glei
cher Weise wie das Eigene, in der Struktur
182 Briefe an Einen und Viele
des geistigen Lebens gründender, ewig un‐
veräußerlicher Besitz.
.Sie sehen, daß sogar sehr scharfe Gren‐
zen zwischen den Erlebensmöglichkeiten
der einzelnen geistigen Individualitäten
bestehen, aber Sie werden auch bereits
entdeckt haben, daß die Oberfläche der
Erde nicht ausreichen dürfte, diese Gren‐
zen alle aufzuzeichnen, und daß die von
Ihnen vermißte „schärfere Scheidung”
dessen, was nur dem Leuchtenden des Ur‐
lichtes zu erleben möglich ist, und dessen,
was jeder Menschengeist nach dem Er‐
wachen seiner Seele aufzunehmen vermag,
schon dadurch ganz unmöglich würde, daß
es sich in dem einen Falle um eine, Un
endliches in sich fassende, im anderen um
die denkbar differenteste Erlebensfähig‐
keit des Selbstbegrenzten handelt! ‒
.Leben Sie im Segen des Lichtes!
183 Briefe an Einen und Viele
VIERUNDZWANZIGSTER BRIEF
Daß ich diese Frage eines Tages von Ihnen
hören würde, konnte ich als gewiß erwarten.
Ich wundere mich nur, daß ich sie nicht
längst vorgelegt erhielt. Ich staune auch
darüber, daß sie mir so selten von Suchen‐
den vorgelegt wurde. Es ist, als fürchte
man, ich könne sie so beantworten, wie
man sie eben doch nicht beantwortet sehen
möchte...
.Von Jesus wird erzählt, wie allen Christ‐
gläubigen bekannt ist, daß er einmal ge‐
sagt haben solle: „Wer mich vor den Men‐
schen verleugnet, den werde ich auch vor
meinem Vater verleugnen, der im Himmel
ist.” In dieser Fassung: ‒ als Drohung, ‒
ging dieses Wort gewiß nicht über Jesu
Lippen, aber diese Drohung war einer
heranwachsenden, eifersüchtig um ihren
zahlenmäßigen Vorrang vor anderen Kult‐
184 Briefe an Einen und Viele
vereinen damaliger Zeit ringenden My‐
steriengemeinschaft, die eben im Begriffe
war, sich aus dem Volksverband des antiken
Judentums zu lösen, der sie durch einen
der Seinen, wenn auch ungewollt, hervor‐
gebracht hatte, recht aus dem Herzen ge‐
kommen. So „mußte” der Gesalbte, dem
man nun, frei nach den umgebenden Vor‐
bildern, imMysterium” nahte, gespro‐
chen haben und darum „hatte” er so ge‐
sprochen! Die Berichte über sein Leben
und seine Lehre waren ja vorläufig nur kul‐
tisch verwendete Rezitationstexte, ‒ noch
nicht wie später: ‒ „Heilige Schrift”.
Aber ein belegbildender Anlaß, diese Dro‐
hung zu formulieren war für die Gestalter
der Texte dennoch gegeben, denn Jesus
hatte einst wirklich darauf hingewiesen,
daß der Mensch unmöglich „zwei Herren
dienen”, ‒ also im äußeren irdischen Leben
sich anders verhalten könne, als ihm seine
185 Briefe an Einen und Viele
seelische Einsicht vorschreibe, wenn er
nicht zum Verräter an sich selbst werden
wolle. Das hieß freilich nur, daß irdisches
Verhalten ewigem Gesetz entsprechen
müsse, und daß der Mensch nicht etwa nach
einem System sein irdisches Leben führen
könne und dabei nach einem anderen in
sein ewiges Heil zu kommen vermöge. Aber
daraus ließ sich mit Leichtigkeit die Dro‐
hung drechseln, die man brauchte, um die
allein der Tierseele entstammende Seelen
angst in den Dienst der Propaganda für
den neuen Mysterienkult zu zwingen. Man
ließ nicht Raum für Zweifel. Das war da‐
maliger Art nicht gemäß. Der Meister, der
Kyrios, der Gesalbte, hatte von nun an
„gesagt”, daß er jene vor seinem himm‐
lischen Vater nicht anerkennen werde, die
ihn ‒ was hier heißen will: den ihn in einem
neuen Mysterium kultisch erlebenden Ver‐
ein ‒ nicht als Erfüller ihres seelischen
186 Briefe an Einen und Viele
Vorahnens vor allen Andersdenkenden zu
propagieren bereit gewesen seien, während
ihres Erdenlebens. Daß die psychologische
Beurteilung ihrer Nebenmenschen von sei‐
ten der ersten Leiter des damaligen neuen
Mysterienkultes richtig war, wird man nicht
bezweifeln. Aber man wird auch nicht be‐
zweifeln dürfen, daß die nur gelegentliche
Befolgung geistiges Leben betreffender An‐
weisungen ‒ und um solche handelt es sich
wesentlich in Jesu Lehren ‒ nur frivole
Spielerei ist und vor dem ewigen Geiste
gegenstandslos, wenn sie nicht gar Abwehr‐
kräfte im Geistigen auslöst, deren unheim‐
liche Gerechtigkeit jedem, der sie schon
in ihrer Auswirkung an Anderen auf Erden
gewahrte, erschütternde Schauder der Seele
erregen mußte. In gewissem Sinne ist also
doch aus der nach Jesu Zeit formulierten
Drohung die harte Wahrheit herauslesbar,
daß alle Beschäftigung mit geistgegebenen
187 Briefe an Einen und Viele
Anweisungen nicht zum erstrebten Ziele
führt, wenn nicht der, diese Anweisungen
Kennende, die aus ihnen hervorgehenden
Konsequenzen zieht, aller Außenwelt
gegenüber. Auch Sie gewahren sich nun
vor der Notwendigkeit, im Außenleben,
Ihrer Mitwelt gegenüber, die Konsequen‐
zen aus den durch mich erhaltenen Lehren
zu ziehen und erklären sich bereit dazu,
kommen aber noch nicht recht mit sich
darüber ins reine, wie das geschehen müsse.
Ich habe allerdings in meinem Buche „Der
Weg meiner Schüler” schon gezeigt, wie
fehlwegig das „Bekehrenwollen” zu den in
meinen Büchern dargebotenen Lehren ist,
so daß ich Sie davor wohl kaum noch zu
warnen brauche. Aber man verkennt auch
von Grund aus den Sinn der Existenz dieser
Bücher und ihre in Wahrheit „einzig-artige”
Verankerung im Ewigen, wenn man voll
gutgemeintem Betätigungsdrang im Sinne
188 Briefe an Einen und Viele
ihrer Verbreitung glaubt, es müsse ihnen
eine „offizielle” Wirkungsbasis geschaffen
werden.
.Ihre Frage, wie Sie auf richtige Art die
Konsequenzen Ihres geistigen Voranschrei‐
tens nun auch in der Außenwelt ziehen
sollen, muß von den in diesem Zusammen‐
hang von Ihnen erwähnten Möglichkeiten
in bezug auf meine geistigen Lehrbücher
scharf getrennt werden.
.Gewiß will ich es durch meine Erörte‐
rungen in dem Buche „Der Weg meiner
Schüler” nicht etwa als unerwünscht an‐
gesehen wissen, wenn man eines meiner
Bücher ebenso weiter empfiehlt, wie einen
Romanband durch den man selbst künst‐
lerisch beeindruckt wurde. Ich warne in
meinem Buche lediglich vor einem sich
mehr oder weniger aufdrängenden „Missio‐
nieren”, ‒ vor der Selbstberufung zu
einem vermeintlich nötigen Apostolat.
189 Briefe an Einen und Viele
.Es ist auch eine Selbstverständlichkeit
und nur Erfüllung literarischer Anstands‐
pflicht, daß man die Quelle deutlich nennt,
wenn man Zitate aus meinen Büchern
bringt, oder durch ihre Wortbildungen sich
„anregen” läßt. Schließlich sind die Ver‐
kündungen meiner Bücher von mir in Form
gefaßt, und diese Form ist mein geistiges
Eigentum, das ich nicht unter dem köst‐
lichen Vorwand: es handle sich doch um
geistig gegebene Lehren, zur Freibeute
gemacht wissen will. Und nicht nur die
künstlerische Form ist mein ausschließ‐
liches geistiges Eigentum, sondern auch
die rein gedankliche Darlegung!
.Aber das alles geht Sie hier wohl kaum
an, denn es handelt sich bei den aus der
Aufnahme meiner Lehrtexte erwachsenden
„Konsequenzen” überhaupt nicht um die
Bücher, sondern um Ihr praktisches Ver
halten im äußeren Leben, und hier dürfte
190 Briefe an Einen und Viele
es doch wahrlich nicht gar zu fernliegend
sein, zu erkennen, daß alles allmählich aus
diesem Leben schwinden muß, was sich
mit einem Befolgen der Ratschläge und
Lehren in meinen Büchern nicht einwand‐
frei vereinigen läßt. Ebenso ist doch auch
leicht zu verstehen, daß es mit dem bloßen
Vermeiden des Unvereinbaren nicht ge‐
tan ist, sondern daß Sie nun auch die mo‐
ralische Pflicht haben, Ihr Leben mehr und
mehr durch bewußtes und gewolltes Ge‐
stalten des meinen Räten entsprechenden
Positiven, in Ihrem ganzen Tun, Reden
und Verhalten, zu bereichern! Mit dem
„Reden” meine ich aber beileibe nicht
etwa ein stetes Im-Munde-Tragen meiner
Worte! ‒ Ihr Reden soll sich vielmehr in
Ihnen selbst ‒ vor meinen Worten stets
verantwortbar erweisen! ‒
.Andererseits steht es Ihnen jederzeit frei,
sich, wo Sie es für angebracht halten, auch
191 Briefe an Einen und Viele
namentlich zu mir zu bekennen, ‒ nur
sollte das, wo es geschieht, in einer Art
geschehen, die einigermaßen der Würde
solchen Bekennens entspricht, ‒ also etwa
auf ähnliche Weise, wie sich wissenschaftlich
tätige Menschen mit Selbstverständlichkeit
zu den Begründern ihrer „Schulen”, ‒
ihrer auf Grund gewisser Erkenntnisse ge‐
einigt strebenden Gruppe, bekennen.
.Damit werde ich wohl heute meinen
Brief beenden dürfen, wobei ich hoffe, Ihre
Frage von allen Aspekten her beantwortet
zu haben.
.Je mehr Sie Sorge tragen, daß sich Ihre,
durch meine geistigen Lehrbücher in Ihnen
erweckten Erkenntnisse in Ihrem Leben
praktisch auswirken, desto mehr werden
Sie auch Ihrem Außenleben dienen.
.Seien Sie gesegnet in allem, was Sie,
geistigem Gesetz entsprechend, an Gutem
in die Außenwelt tragen!
192 Briefe an Einen und Viele
FÜNFUNDZWANZIGSTER BRIEF
Ihre Auffassung jener Stellen meiner Bü‐
cher, an denen davon die Rede ist, daß
auch ein Mensch, der zum Meister geistigen
Wirkens auf dieser Erde vollendet war,
durch eigene furchtbare Schuld aus dem
hohen Leuchten fallen könne, und daß es
von alter Zeit her solche durch eigenen
Frevel Gestürzte gibt, entspricht durchaus
dem, was von mir bei der Erwähnung die‐
ser Unseligen gemeint war. Da Sie aber
ausdrücklich um Antwort bitten, ob Ihre
Auffassung durch mich bestätigt werden
dürfe, so sei ihr hier die Bestätigung ebenso
ausdrücklich gegeben. Wohl wäre es ja prak‐
tisch für Sie kaum von Bedeutung gewesen,
wenn Sie möglicherweise zu Vorstellungen
geneigt hätten, die abweichend von dem
Gemeinten gewesen wären. Um Ihren eige‐
nen Weg zum Erlebenkönnen ewigen Gei‐
193 Briefe an Einen und Viele
stes zu finden, brauchen Sie wirklich den
hier herangezogenen Stellen meiner Bü‐
cher die ausführliche Deutung nicht geben
zu können, die Sie ihnen aus Ihrem pri‐
vaten Interesse heraus schließlich fanden.
Es ist aber gewiß besser, man duldet in
seiner Vorstellung auch nicht die kleinsten
vermeidbaren Unklarheiten, und darum
begrüße ich es doch, daß Sie sich nicht
eher Ruhe ließen, als bis Sie auch dieses
Schrecklichste, was sich auf der Erde zu‐
tragen kann, unbeirrbaren Blickes durch‐
drungen hatten.
.Als ich die betreffenden Stellen nieder‐
schrieb, dachte ich allerdings nicht, daß sich
irgendein Leser darüber Kopfzerbrechen
machen würde, sonst hätte ich dem, was
ich da nur um der Lückenlosigkeit meiner
Darstellungen willen zur Sprache brachte,
wahrhaftig noch weitere Erläuterungen bei‐
gegeben. Aber weshalb hätte ich sie für
194 Briefe an Einen und Viele
nötig erachten sollen? Ich konnte doch un‐
möglich annehmen, daß ein denkender
Mensch etwa zu der Meinung käme, ein
aus dem „Vater” in diese Erdenwelt ent‐
sandter geistgezeugter Leuchtender des
Urlichtes, als ewiges Wesen, könne unter
wie immer gearteten Umständen in grauen‐
voller, Äonen lang währender Umnach‐
tung seine geistige Auflösung erfahren, und
ebensowenig durfte ich nach allem, was
ich über den „ewigen Geistesfunken” im
Erdenmenschen an anderen Orten gesagt
hatte, vermuten, daß man am Ende diesen
ewigen geistigen Pol des Erdenmenschen
für auflösbar halten würde. Deutlich hatte
ich ja auch von der Seele gesprochen, die
zu einem „Reiche” der Ewigkeit geworden
sei, dessen „Krone und Zepter” dem „Auf
genommenen” in die Gemeinschaft der
Leuchtenden durch nichts verlierbar wer‐
den könne, außer durch ihn selbst. Ich habe
195 Briefe an Einen und Viele
allerdings auch, abgesehen von Ihrem letz‐
ten Briefe, niemals eine Zuschrift erhalten,
aus der zu entnehmen gewesen wäre, daß
meine Worte einem Leser Schwierigkeiten
bereitet hätten. Wie man sieht, ist es ja
auch Ihnen gelungen, sich auf alle Fragen,
die Sie sich selbst an den bewußten Stellen
vorlegten, die richtige Antwort zu geben.
.Da der Leuchtende des Urlichtes, der in
erdenmenschliches Wirken eintritt, sich
mit dem ihm seit unvorstellbaren Zeiten
aus freien Stücken verpflichteten Men‐
schengeiste und dessen dann gegebener
erdenmenschlicher Darstellung so ganz ver‐
bindet, daß während des Erdenlebens ge‐
radezu von einer Verschmelzung gespro‐
chen werden muß, so ergibt sich infolge
solcher Verbindung auch eine Form der
Seele, die alles hier Verbundene in sich
zu empfinden vermag und an allem hier
gegebenen Bewußtsein teilnimmt. Wo diese
196 Briefe an Einen und Viele
Seelenform nicht durch Willenswahn des
Irdischen zur Auflösung verurteilt wird,
dort geht sie nach der Beendung des erden‐
körperlichen Lebens nicht nur dem ewigen
Menschengeiste nicht verloren, sondern
bleibt mit ihm zugleich auch dem ewigen
Leuchtenden erhalten und sich selbst in
ihm. Aber auch dort, wo ihre Auflösung,
die allein durch die Willensüberheblich
keit des in dem geschilderten Verbande zu
findenden irdisch vergänglichen Teiles
möglich werden kann, unvermeidbar wird,
gehen natürlich keineswegs die ewigen
Urseinskräfte, die in ihrer hohen Form
als „Seelenkräfte” einst eine dem Leuch‐
tenden wie dem ihm verbundenen ewigen
Geistesmenschen gemeinsame Seelenform
gestaltet hatten, „verloren”, sondern wan
deln sich nur zurück in ihre eigene Aus
gangsform, nachdem sie sich, wie geschil‐
dert, aus dem voreinst so vollkommenen
197 Briefe an Einen und Viele
Seelengebilde lösten. Es ist eine Bewußt‐
seinsauflösung durch Verlust des ewigen
Ich, das selber jedoch ebenso unverletzlich
im Geiste bestehen bleibt wie der Leuch‐
tende, dem es sich voreinst verpflichtet
hatte.
.Für irdisches Vorstellungsvermögen ist
freilich das, was da von mir angedeutet
wurde, nur dann leidlich erfaßbar, wenn
man sich, wie Sie, bei dem Schluß be‐
scheidet: „Ewiges kann nicht zerstörbar
sein, folglich muß es sich da um eine Be‐
wußtseinsform handeln, die zwar dazu ge‐
staltet war, auch Ewigem zu dienen, sich
selbst aber zu groß geworden fand, um sich
ihres nur im Ewigen und für das Ewige
gegebenen Seins gegenwärtig zu bleiben”.
Im Kleinen ereignet sich solcher Seelen‐
verlust tagtäglich tausendfach unter Men‐
schen auf Erden, die gewiß nicht einem
Leuchtenden des Urlichtes vereinigt sind.
198 Briefe an Einen und Viele
Auch darüber habe ich ja genug geschrieben.
Ganz ähnlich erfährt auch hier der seelen‐
los Gewordene nach seinem leiblichen Tode
die qualvolle Bewußtseinsauflösung in ir‐
disch unvorstellbarer grauenvoller Nacht,
äonenlang noch dazu verdammt, um das
Unvermeidbare zu wissen, ohne ihm weh
ren zu können. ‒ Und auch alle diese vielen
Seelenzerstörungen berühren in keiner
Weise die ewige Natur der Seelenkräfte,
die bei der Formung der nun in Auflösung
endenden „verlorenen” Seelen beteiligt
waren. Verursacht aber wird all dieser Mord
an der eigenen Seele immer wieder durch
das überhebliche Verlassen der Bewußt
seinsgegenwart vor dem Ewigen.
Sich nur im Ewigen achten
Und nur in ihm sich zu leben,
Wahrlich, ist schwerer
Als jegliches irdische Streben! ‒
199 Briefe an Einen und Viele
Hart wird es Zeitlichem,
Hierfür sich selbst zu entsagen: ‒
Kaum vermag irdisches Trachten
Solchen Verzicht zu ertragen.
*
.Es ist die seit der Urzeit immer wieder‐
kehrende Tragik des Erdenmenschen, daß
er sich selbst gerade damit zerstört, womit
er sich zu erhalten und über das ihn Er‐
haltende emporzuschwingen meint...
.Möge Ihnen meine Antwort auf Ihren,
mich recht erfreuenden Brief in mancher
Hinsicht auch noch Ungefragtes beant‐
worten!
.Seien Sie stets im Segen des Lichtes!
200 Briefe an Einen und Viele
SECHSUNDZWANZIGSTER BRIEF
Tragen Sie nur ganz unbesorgt den mir
geschilderten kunstreich gestalteten Ring,
der Ihnen als kostbares Familienerbstück
zugefallen ist, auch wenn Ihr, auf astro‐
logische Ansichten eingeschworener Be‐
kannter Sie mit seiner törichten Warnung
ängstet: Aquamarin sei nicht „Ihr Stein”!
Die „überaus sympathischen Empfindun‐
gen”, die Sie dem Stein gegenüber er‐
füllen, sind weit sicherere Beweise dafür,
daß der Stein zu Ihrer Natur verwandte
Schwingungsbeziehungen hat, als alle heu‐
tigen astrologischen Berechnungen wären,
die ‒ notgedrungen ‒ unvollkommene
Resultate liefern müssen, wenn sie auch in
einzelnen Punkten gewiß zutreffend sein
mögen. Es ist zu viel von dem ‒ wirklichen
und auch nur vermuteten ‒ alten Erfah‐
rungswissen verlorengegangen, vielleicht
201 Briefe an Einen und Viele
nie vorhanden gewesen, oder aber heute
allem Fehldeuten ausgesetzt, und bis sich
hier ein neues Erfahrungswissen einwand‐
frei sichern läßt, wird man sich nur auf die
charakterologischen Vermutungen der Ho‐
roskope einigermaßen stützen dürfen, und
auch auf diese nur dann, wenn es möglich
war, ganz genaue und sichere Angaben über
die Geburtszeit des astrologisch zu Analy‐
sierenden zu erhalten. Daß im Massen‐
betrieb hergestellte sogenannte „Horo‐
skope”, wie sie im Annoncenteil der Tages‐
zeitungen permanent angeboten werden,
hier ganz außer Betracht bleiben müssen,
brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu be‐
kräftigen.
.Was aber die Zuteilung gewisser Steine
zu verschiedenen Menschen betrifft, so sind
dafür sehr viele Aussagen des astrologischen
Befundes in Wirklichkeit als bestimmend
zu werten, während die meisten ‒ wenn
202 Briefe an Einen und Viele
nicht alle ‒ heutigen Liebhaber und Kun‐
digen der Astrologie sich zu sehr durch
den jeweiligen Hauptbefund leiten lassen.
So kann es vorkommen, daß astrologische
Errechnung und traditionelle Horoskop‐
deutung Steine bestimmen für Leute, die
gerade diese Steine nur mit Widerwillen
ansehen können, was der beste Beweis da‐
für ist, daß die „verordneten” Kristalli‐
sationserscheinungen zu der betreffenden
menschlichen Natur und ihrem Lebens‐
rhythmus keinerlei, oder gar entgegen
wirkende Strahlungsbeziehungen haben.
Mir sind viele Fälle solcher Art bekannt
geworden. Ich habe immer geraten, sich
nur durch das eigene Gefühl leiten zu
lassen, das gerade Edelsteinen gegenüber
weit sicherer anspricht und entscheidet, als
das beste Horoskop, aus dessen Deutung man
„befreundete” Steine zu bestimmen sucht.
.Vergessen Sie aber auch nicht, daß es
203 Briefe an Einen und Viele
sich bei der Einwirkung der Edelsteine auf
ihre menschlichen Träger einzig und allein
nur um die Region der tierhaft gestalteten,
vergänglichen irdischen Erscheinung des
Menschen handelt, so daß naturnotwendig
nicht etwa ein günstiger oder ungünstiger
Einfluß auf die geistige Entwicklung er‐
wartet oder befürchtet werden darf! Allen‐
falls dürfte man von einem indirekten för‐
dernden oder hemmenden Einfluß insofern
sprechen, als der durch die Steine, die er
trägt, zu einer gewissen Harmonie in seinem
Tiermenschlichen angeregte Mensch bei
seinem Ringen um geistiges Bewußtwerden
weniger Störung aus seinem Nur-irdischen
heraus erfährt, während einer, der ihm
gleichgültige oder gar unsympathische
Steine ‒ vielleicht nur um ihrer Kostbar‐
keit willen ‒ in irgendeinem Schmuck‐
stück an sich duldet, bewußt oder unbe‐
wußt unter dem Einfluß solcher Dishar‐
204 Briefe an Einen und Viele
monie steht, also einer Unruhe, die der für
alles Streben zum Geiste so nötigen ‒ in
neren ‒ Ruhe entgegenwirkt.
.Ganz im allgemeinen ist festzuhalten,
daß die Steine ‒ mag es sich um Edelsteine
oder Bachkiesel handeln ‒ zahlbestimmte,
kosmisch begründete Beziehungen zu ih‐
rem Träger haben, durch die in erster Linie,
ihre günstige oder ungünstige irdische
Strahlungswirkung bestimmt wird. Diese
Wirkung kann fast unwahrnehmbar, aber
auch ganz unglaublich stark sein, wobei die
Stärke der Wirkung immer der Stärke der
Sympathie für den Stein parallel geht.
Allerdings meine ich hier nicht jene „Sym‐
pathie”, die man eher doch wohl nur Be‐
sitzgier nennen muß.
.Es handelt sich um wesentlich Anderes,
als um das wirkende Agens in Amuletten
und Talismanen, vorausgesetzt, daß diese
nicht auch zugleich Steine sind, wobei dann
205 Briefe an Einen und Viele
eine kombinierte Wirkung vorhanden sein
kann. Wo aber die Steinstrahlung ausschei
det, dort wirkt in einem Amulett oder
einem Talisman lediglich die Willens
ladung, mit der das Stück durchtränkt ist,
was immer auch für Zeichen darauf zu sehen
sein mögen, und was immer dieser Zeichen
oder bildhaften Darstellungen offener oder
geheimer Sinn sein mag. Alle Zeichen oder
Darstellungen besitzen nur Wert als „Ver‐
ankerungen” der Willensladung. Hier aber
kommt es lediglich auf die Kraft der „La‐
dung” an, und der unscheinbarste Gegen‐
stand, den eine Mutter glühenden Herzens
ihrem, Gefahren ausgesetzten Sohn mit‐
gibt, kann ein, durch nichts anderes zu er‐
setzender Talisman werden. Aber das alles
finden Sie ja hinreichend erörtert in dem
Kapitel „Glaube, Talisman und Götter
bild”, womit wir wieder beim „Buch vom
lebendigen Gott” angelangt sind.
206 Briefe an Einen und Viele
.Sie sehen, daß bei allen diesen Dingen
nichts Unheimliches im Spiele ist, und daß
man sich nicht erst, wie die ganz unglaub‐
lich wenigen echten Adepten auf diesen
Gebieten, geheimen Studien hinzugeben
braucht, wenn man sich die „planetarischen
Hilfskräfte”, die aus Steinen und Metallen,
Farben und Naturformen strahlen, nutz‐
bar machen, oder aber den Schutz wirk
licher Amulette und Talismane, soweit sie
solchen darzubieten haben, genießen will.
Auf keinen Fall jedoch dürfen Sie sich in‐
stinktunsicher machen lassen durch über‐
aus anfechtbare Errechnungen! Je deut‐
licher Sie Ihr Gefühl „sprechen” lassen,
ohne es durch gedankliche Einwände zu
verwirren, desto gewisser werden Sie bei
allem, was hier in Betracht kommen kann,
die rechte Wahl treffen und richtig ver‐
fahren.
.Empfangen Sie aber dazu noch außer‐
207 Briefe an Einen und Viele
dem den Segen des ewigen Lichtes, der
Ihnen dort die Kraft mehren möge, wo
Ihnen mit „planetarischen” Hilfskräften
nicht geholfen wäre!
Was planetarische Kraft
.dir hier zu geben vermag,
Kann nur dir Hilfe sein,
.hier im Planetentag!
Hast du einst dieses „Tages”
.trügendes „Licht” überwunden,
Hast du auch ewigen Tages
.Licht in dir selber gefunden!
*
208 Briefe an Einen und Viele
SIEBENUNDZWANZIGSTER BRIEF
Sie sind gewiß schon auf der Spur, allein
Ihre „bärenstarke” Konstitution, die Sie
„niemals so recht erfahren” ließ, „was
körperliches Leiden ist”, braucht kein
Hindernis zu sein, wenn Sie ganz erfassen
wollen, was unter meinen Worten von der
„Entwertung des Leides” verstanden wer‐
den soll. Aber vor allem bitte ich, daran
erinnern zu dürfen, daß durchaus nicht
nur das körperlich empfindbare Leid allein
gemeint ist, wenn ich von der Notwendig‐
keit spreche, das Leid zu „entwerten”.
Seelisches Leid kann aber auch Menschen
zustoßen, die praktisch vor allen Plagen
die den Körper zu peinigen vermögen, frei
sind, und das quälendste seelische Leid ist
Leid um Andere. ‒
.Mag man aber mehr an seelisches, oder
mehr an körperliches Leid denken bei
209 Briefe an Einen und Viele
meinen Worten, so bleibt doch die Forde‐
rung der „Entwertung” die gleiche. Diese
„Entwertung” besteht in erster Linie da‐
rin, daß man dem Leide das große Pathos
entzieht, das ihm durch viele Jahrhunderte
hindurch immer erneut zugestanden wur‐
de, so daß geradezu Ehrfurcht vor dem Leid,
an Stelle der Leid-Verachtung, und Leid‐
Bekämpfung trat. Es ist unumgänglich gei‐
stig notwendig, daß man die ebenso törich‐
ten wie: satanisch-frivolen Vorstellungen
in sich und anderen tilge, die das Leid als
ein von Gott verordnetes Erziehungs- oder
Strafmittel angesehen wissen wollen und
dabei nicht einmal soviel Raum zu höherer
Einsicht lassen, daß der Mensch gewahr
werden könnte, welche furchtbare Gottes‐
auffassung sie verraten. Es ist für den Gott‐
bewußten kaum zu ertragendes Leid um
Andere, sehen zu müssen, was man da
einem geglaubten „Gotte” an Scheußlich‐
210 Briefe an Einen und Viele
keit zuzutrauen wagt, und was gar noch
armen gequälten Menschen dabei als
„Trost” herhalten muß! Und noch schau‐
derhafter ist die so vielfach vor Augen lie‐
gende Tatsache, daß von den Leidenden
solcher Trostgrund angenommen wird,
denn hier zeigt sich erst der unglaubliche
Grad der Widerstandslosigkeit, mit dem
solche Glaubenszumutung rechnen darf...
.Demgegenüber ist es Bedingung für je‐
den Erdenmenschen, der im ewigen Geiste
bewußt werden und seinen lebendigen Gott
in sich selbst empfangen will, ‒ daß er
lerne, das Leid nach Möglichkeit zu igno
rieren, jedenfalls aber ihm alle und jede
moralische Bedeutsamkeit abzuerkennen!
Aber Sie dürfen diese Worte beileibe nicht
so verstehen, als werde bei der geforderten
Entwertung des Leides übersehen, daß see‐
lisches Leid ein dumpf und stur dahin‐
lebendes Gemüt zu neuer Willensbildung
211 Briefe an Einen und Viele
aufzurütteln vermag, und daß körperliche
Schmerzen Faktoren der Gesundung, ‒
Bedingungen der Heilung sein können.
Doch, das sind Folgen, für die das Leid die
Ursache gewesen sein kann, während es
nach wie vor „Lüge” bleibt, da es dem
Geistigen im Menschen eine Bindung vor‐
täuscht, die sich ihm nur hier im tiernatur‐
bedingten Irdischen vortäuschen läßt, bis
es ihre Ohnmacht erkennt.
.Alles Leid ist nur in der Tiernatur ge‐
geben, die uns hier auf Erden zeitweilige
Darstellungsform ist, und selbst das er‐
greifendste seelische Leid, das hier emp‐
funden wird, gründet lediglich in der Tier
seele, die Funktionsergebnis des vergäng‐
lichen irdischen Leibes ist. Gewiß dürfen
Sie sich die Tierseele des Erdenmenschen
nicht derart beengt vorstellen, wie die
Tierseelen anderer Erdentiere! Durch die
Verbundenheit mit den ewigen Seelen‐
212 Briefe an Einen und Viele
kräften der geistig nur dem Menschen ge‐
gebenen, vom Tode des Körpers nicht zu er‐
fassenden Seele und mit dem individuellen
ewigen Geistesmenschentum, empfängt die
menschliche Tierseele derart hohe In‐
fluenzwirkungen, daß fast alles, was der um
sich selbst am wenigsten wissende Erden‐
mensch „seelisches” Empfinden nennt, ‒
und dabei an ewig Seelisches oder an ein
dem Tierhaften doch weit übergeordnetes
Vergängliches denkt, ‒ nur innerhalb der
hochgezüchteten erdmenschlichen Tier
seele erlebt wird, die ebenso Funktions‐
ergebnis des vergänglichen Menschtierlei‐
bes ist, wie das gehirnbedingte Denken, das
gleichfalls im Erdenmenschen das Denken
der Tiere um Gewaltiges überstiegen hat.
.So aber, wie ich das gehirngebundene
Denken, dort wo es in seinem Bereich
bleibt, wahrhaftig zu schätzen weiß, aber
nachdrücklich auch von einer anderen Art
213 Briefe an Einen und Viele
des Gedankens spreche: ‒ von dem Ge‐
danken, der sich selber denkt und, gänzlich
unabhängig von den Funktionen des Ge‐
hirns, diese nur dort benützt, wo er sich er‐
denmenschlich mitteilbar gemacht wissen
will, ‒ so spreche ich, bei aller Bewunde‐
rung für das, was die Tierseele im Menschen‐
leib aus sich zu gestalten vermochte, doch an
den Stellen meiner Schriften, die von der
Seele handeln, fast ausschließlich nur von
der aus ewigen Seelenkräften gebildeten,
unter allen Tieren allein dem Menschen,
aus seinem Geistigen heraus gegebenen
Seele, während mir die Tierseele des Men‐
schen, als dem Vergänglichen an ihm zu‐
gehörend, keinen Anlaß zu besonderen
Ratschlägen für ihre weitere Entwicklung
bietet. Sie ist ja im Verlaufe der Jahrtau‐
sende allmählich zu solcher Entwicklung
gelangt, daß sie in den meisten Menschen
die Seele der Ewigkeit fast gänzlich über
214 Briefe an Einen und Viele
deckt, und es tut wahrlich not, erkennen
zu lernen, daß unsagbar vieles, was der
Erdenmensch zu seinem höchsten Vermö‐
gen rechnet, nur das Werk seiner Tierseele
ist, ‒ auch dort, wo sie sich mit dem ihr
unzugänglich bleibenden Ewigen auf ihre
Art zu befassen trachtet. ‒ Und noch inner‐
halb dieser Tierseele wird auch das emp‐
funden, was wir auf Erden „seelisches”
Leid zu nennen pflegen.
.Wenn ich sage: „Alles Leid ist Lüge”
‒ so verneine ich, als guter Kenner viel‐
fachen tierseelisch empfindbaren und erd‐
körperlich erlebbaren Leides, wahrhaftig
nicht die intensive und bis zu vermeint‐
licher Un-Ertragbarkeit reichende Pein
gewalt des Leides, ‒ wohl aber seine ihm
vom Erdenmenschen zuerkannte, pathe‐
tisch betonte Bedeutsamkeit, ‒ im Sinne
einer vom Ewigen her dirigierten Erzie‐
hungs-Maßnahme, ‒ durch deren perma‐
215 Briefe an Einen und Viele
nente Anerkennung er nur für sich und
andere dem Leide Zuwachs auf dieser Erde
schafft, statt alle irdischen Möglichkeiten
zu seiner Vermeidung aufzurufen...
.Die von einem Leuchtenden des Urlichtes
in seiner erdmenschlichen Darstellung dar‐
gebotene irdische Leidens-Bereitschaft ge‐
hört nicht hierher, denn sie gleicht ja frei
willig dargebotenem „Tribut” an den
„Fürsten der Finsternis”, in dessen Ge‐
biet der Leuchtende ‒ die Gesetze der
Finsternis verletzend ‒ vorgedrungen ist.
Jedes Leid aber muß entlarvt werden als
ein in der Tiernatur gründendes Übel,
dessen Erduldenmüssen einen rein gesetz
mäßig zu erklärenden Zwang darstellt,
unendlich fern aller „erzieherisch” ge‐
dachten, göttlichen „Fügung”, wohl aber
Aufruf aller Kräfte des Menschen, die Leid
zu lindern, Leid zu tilgen vermögen. ‒
.Der Glaubens-„Trost”, unter göttlicher
216 Briefe an Einen und Viele
Zuchtrute zu stehen, hat unter den Men‐
schen auf dieser Erde mehr verhütbares
Leid entstehen lassen als alle tiermensch‐
liche Bosheit! ‒ Und das lediglich durch
folgerichtigen Ablauf des durch solchen
Glauben zur Auswirkung angeregten Ge‐
schehens im unsichtbaren Teil der physi‐
schen Welt!
.Hier sind jene „Peiniger” am Werk, von
denen ich im „Buch der Königlichen
Kunst”, Neuausgabe, Seite 101, gespro‐
chen habe!
.Das sind organisch gestaltete Intelligen‐
zen der unsichtbaren physischen Welt, in
denen alles Leid, das in einem sichtbaren,
greifbaren physischen Körper und der als
seinem Funktionsergebnis während seiner
Lebenszeit bestehenden Tierseele erlebt
werden kann, unbändige Wollustempfin
dungen auslöst, so daß diese vampirhaften
Lemuren ihre ganze, keineswegs unbe‐
217 Briefe an Einen und Viele
trächtliche Kraft anwenden, um von ihrem
Bereiche her das Leid der Tiere und Men
schen, ‒ ja auch selbst das, was im Leben
der Pflanzen dem Leide entspricht, ‒ zu
veranlassen, zu erhalten, und auf den
höchsten Grad zu steigern.
.Durch die stete Anerkennung des Leides
als vermeintlicher „göttlicher” Schickung
wird aller Widerstand jener Abwehrkräfte
illusorisch, die, aus dem unsichtbaren Phy‐
sischen des Erdenmenschen her, den Über‐
wältigungsanstürmen dieser unsichtbaren
Peiniger begegnen könnten, ‒ ja der arme
ahnungslose Mensch öffnet ihnen selbst alle
Wege zur Vermehrung des Leides in sei‐
nem Lebensbereich, während das Tier doch
wenigstens noch durch instinktive Abwehr
dessen, was ihm Unlustgefühle bereitet,
dem drohenden Schmerz auszuweichen
sucht...
.Es ist wahrlich nötig, das Leid zu ent‐
218 Briefe an Einen und Viele
werten, und jeder soll dabei mithelfen, so‐
bald er in sich selbst zur Einsicht kam,
was die hier von ihm geforderte Wandlung
seiner Vorstellungen für ihn und seine Mit‐
menschen zu bedeuten hat.
.Auch Sie sind zu solcher Mithilfe auf‐
gerufen!
.Das Licht der Ewigkeit erleuchte Sie!
219 Briefe an Einen und Viele
ACHTUNDZWANZIGSTER BRIEF
Wenn ich auch ‒ obgleich um das zum
Ausdruck kommende Wirkliche wissend ‒
bis heute das Wort „Segenswunsch” oft
genug gebrauche, so muß ich Ihnen doch
bestätigen, daß Ihr Fühlen Sie richtig zu
leiten wußte, wenn es Sie zu der Erkennt‐
nis drängte, daß wirklicher Segen etwas
viel Konkreteres” sein müsse, als ein
wohlmeinender Wunsch. Das konventio‐
nell gegebene Wort „Segenswunsch” wurde
und wird denn auch von mir immer nur
als Bezeichnungsform für das wirkliche Ge‐
schehen gebraucht, das vorliegen muß,
wenn von einem echten und berechtigten
Segnen die Rede sein soll, und keineswegs
nur in seinem allgemeinen Sinn, der be‐
sagt, man wünsche, daß dem Angesproche‐
nen Segen zufließe. Wer wirklich zu segnen
vermag, ‒ wie es mir aus meinem inner‐
220 Briefe an Einen und Viele
sten Sein heraus irdisch möglich ist, ‒
der muß sich dieses Vermögens auch dann
aktiv erinnern, wenn ihm ein konventio‐
nelles Wunschwort gerade gelegen kommt,
um die innere hohe Feierlichkeit unter der
allein wahrhafter Segen erteilt werden
kann, nach außen hin lieber zu verbergen.
Grund dazu bietet in der westlichen Welt
zumeist schon das Nichtwissen des Geseg‐
neten um die Möglichkeit des geistig sub
stantiellen Segnenkönnens. ‒ Daneben
aber kamen für mich auch noch andere
Gründe in Betracht, die mich die längste
Zeit bewogen, nur in besonderen Fällen
ausdrücklich zu sagen, daß der Vorgang des
Segnens aus ewigem substantiellen geisti‐
gen Licht vollzogen sei. Mir könnte natür‐
lich niemals ein Satz der irgendwie vom
Segnen handelt, zu einer Redefloskel wer‐
den. Dazu weiß ich zu bewußt um die
„Natur” der mir anvertrauten ewigen Sub
221 Briefe an Einen und Viele
stanz des Segens und ihre Auswirkungen.
Wenn Sie also am Ende meiner Briefe je‐
weils ein Wort vom Segnen finden, so dür‐
fen Sie wahrhaftig überzeugt sein, daß da
jedesmal der Vorgang des Segnens in ewi‐
gem Geiste für den berechtigten Empfänger
des Briefes vollzogen wurde, und daß ihm
dieser Segen bei jedem neuen Lesen aufs
neue zufließen wird, auch wenn solches
Wiederlesen ‒ das allerdings ein leben‐
diges Aufnehmen meiner Worte ins eigene
Innerste sein muß ‒ erst nach Jahrzehnten
erfolgen würde. Da ich Sie zudem nicht
aus bestimmter, in Ihrer Persönlichkeit
begründeter Veranlassung gesegnet habe
und segne, sondern immer im Zusammen‐
hang mit meinen Worten, als den Ange
sprochenen, der diese Worte in sich auf
nimmt, so ist dieser vollzogene Segen zu‐
gleich jedem Anderen erteilt, den Sie etwa
an meinen Briefen teilhaben lassen werden,
222 Briefe an Einen und Viele
insofern er sich selbst derart entfaltet zeigt,
daß er Segen empfangen kann... Ich spre‐
che hier nur von nüchtern zu betrachten‐
den trockenen Tatsachen, damit Sie über
die Natur dieses wiederkehrenden Segens
soweit unterrichtet sind wie das immerhin
möglich ist.
.Wirklicher Segen ist, wie ich schon eben
sagte, eine geistige Substanz, von der eine
Kraft ausgeht, deren Wirkungsgrad auf das
Genaueste der inneren Haltung des Ge‐
segneten entspricht.
.Segen ist also weder Gebet, noch Wunsch,
noch an irgendeine Geste des Segnenden
geknüpft und von keinem ausgesproche‐
nen oder auch nur gedachten Worte ab‐
hängig, sondern willensbestimmte ewige
Geistsubstanz in zeitliche Auswirkung ge‐
leitet durch einen Geistigen, der in irdi‐
scher Verkörperung lebt. Solche Vereinung
mit einem erdentierhaften Körper ist un
223 Briefe an Einen und Viele
umgängliche Notwendigkeit, wenn Segen
sich auch im äußeren Irdischen des zu
Segnenden auswirken können soll.
.Ich sehe mit geistigem „Auge” den Se‐
gen, den ich erteile, wie eine helle, strah‐
lende Lohe, weißleuchtend, im Irdischen
nur vergleichbar dem unter einem Mikro‐
skop wahrnehmbaren Leuchten des Radi
ums in verdunkeltem Raum. Allerdings ist
das Leuchten ganz unvergleichlich stärker
und nur sein Charakter erinnert mich an
das Leuchten des irdischen Elements. Die
strahlende Helligkeit der geistigen Segens‐
Substanz ist derart intensiv, daß ich aus der
irdischen Gewohnheit heraus, das Auge vor
zu starken Lichteindrücken zu schützen,
oft unwillkürlich im Reizreflex momentan
die Augenlider schließe, obwohl doch nur
das geistige „Auge” hier wahrnimmt, das
allen geistigen Lichtgraden angepaßt ist. ‒
.Segnen als Tätigkeit ist für den, dem
224 Briefe an Einen und Viele
es möglich ist, eine Reihe von Willensak
ten, durch die sich die Segen-Substanz, die
geistig-sinnlich als leuchtende, vorerst noch
„ungeformte”, unregelmäßige „Lohe” er‐
scheint, in die, für den zu spendenden
Segen notwendigen geistigen Formen um‐
gestaltet, um sodann, gemäß der ihr ge‐
gebenen Bestimmtheit, in nächster Nähe,
oder über Länder und Meere hinweg sich
auszuwirken. Auch wiederholte Auswir‐
kung kann durch willentlich gegebene Be‐
stimmtheit veranlaßt werden.
.Sie haben mehrfach in Ihren Briefen an
mich besonders betont, daß Sie den Emp‐
fang meines Segens in einer alle Selbst‐
täuschung ausschließenden Weise „körper
lich” empfänden. Ich bin auf diese Berichte
absichtlich nicht eingegangen, weil ich ‒
ohne alle Prophetie ‒ voraussah, daß hier
eines Tages ja doch eine umfassendere Be‐
sprechung nötig werden würde. Aber Ihr
225 Briefe an Einen und Viele
Empfinden hat Sie keineswegs getäuscht.
Sie haben „Körperliches”, ‒ allerdings
geistsubstantiell Körperhaftes, ‒ das aber
erdenkörperlich empfindbar ist, erdenkör‐
perliche Erkraftung und Bereicherung be‐
wirkt, in meinem, von Ihnen angenomme‐
nen Segen tatsächlich empfangen. Hierbei
sei gleich vermerkt, daß Sie wirklichen Se‐
gen auch ablehnen können. Bewußten Wil‐
lens, oder ungewollt, nur durch Ihre inne‐
re Haltung! Er kehrt dann zurück, als wenn
er an einer Granitwand abgeprallt wäre,
zu dem, der ihn ausgesandt hatte.
.Für mich ist im Geistigen die lohende
Substanz des Segens, ihrer Konsistenz nach,
zugleich so greifbar „körperlich”, wie etwa
im irdischen Außenleben der Formsand
der Erzgießer, und ebenso formbar. Noch
niemals, seitdem ich zu segnen vermag,
habe ich gesegnet, ohne an den Gesegneten
des Segens Wirkung in gleicher Weise geistig
226 Briefe an Einen und Viele
„körperlich” zu gewahren, wenn der Se‐
gen angenommen worden war.
.Sie sehen, daß es sich wahrlich hier um
ein Anderes handelt, als um das, was man
so gemeinhin „Segen” nennt, wo auf Grund
geglaubter Amtsbefugnis unter Anwendung
feststehender Wortformeln und Ausfüh‐
rung erlernter Gesten eine Zeremonie dar‐
gestellt wird, die bestenfalls nur dann eini‐
gen wirklichen Wert erhalten kann, wenn
der sie Darstellende wenigstens entspre‐
chende Gedankenkräfte durch inbrünsti‐
gen Willen zugunsten des vermeintlich von
ihm „Gesegneten” anzuregen vermag, wie
das ja einem jeden Menschen bis zu ge‐
wissem Grade möglich ist. Der „Segen der
Eltern” ist hierzu das bekannteste Beispiel.
.Um jedoch wirklichen, aus dem leben‐
digen geistigen Lichte stammenden Segen
spenden zu können, muß man selbst in
diesem ewigen Lichte sein, und ‒ Segen
227 Briefe an Einen und Viele
besitzen. Nur sich selber darf einer, der
wirklichen, ewigem Lichte entstammenden
Segen in sich verwahrt, nicht segnen. Doch
leidet er dadurch auch keinen Mangel, da
er ununterbrochen im Segen anderer steht,
die zu segnen vermögen.
.Seien Sie mir heute als ein nunmehr um
das, was geschieht, einigermaßen durch
meine Worte Wissender, in feierlichster
Weise aus meinem Segen gesegnet!
228 Briefe an Einen und Viele
NEUNUNDZWANZIGSTER BRIEF
Waren mir schon Ihre letzten lieben Briefe
deutliche Anzeichen Ihrer ganz allmählich
wachsenden, aber unverkennbar immer
größeren Aufgeschlossenheit für geistige
Wahrnehmungen, ‒ selbst dort, wo Sie
noch mit Ihrem Irdischen zu ringen hatten
oder sich noch nicht mit Sicherheit ver‐
trauen zu können meinten, ‒ so brachte
mir nun Ihr neuester Bericht eine Gewiß‐
heit, die ich dennoch kaum jetzt schon zu
erwarten gewagt hätte. Aber nun ist ja nicht
mehr daran zu zweifeln, daß Ihr geistiges
Auge sehend wurde, und daß Sie im ersten
klar bewußten Erleben Ihres Ewigen stehen.
Es ist aber auch durchaus nicht verwun‐
derlich, daß Sie, bei aller seelischen Be‐
glückung, sich des Unvermögens bewußt
werden, dem Erlebten Ausdruck in der
Sprache zu schaffen, so daß Ihnen alles,
229 Briefe an Einen und Viele
was Sie mir berichten, nur „wie ein ganz
unzulängliches Stammeln” vorkommt. Das
ist noch jedem so gegangen, der zum ersten‐
mal Gleiches wie Sie in sich erlebte, und
meistens muß es auch bei diesem Unver‐
mögen, Ewiges in Worten darzustellen,
bleiben.
.Wir können uns im Bereiche irdischer
Dinge nur verständlich machen, indem wir
das, was wir sprachlich erkennbar darstellen
wollen, mit bereits Dargestelltem verglei
chen. Eine solche Vergleichsmöglichkeit
auf der selben Ebene fehlt uns, sowie wir
Ewiges schildern wollen, und doch drängt
unser Erleben auch hier zum Wort, auch
wenn wir das Erlebte nur für uns selber
im Worte aufzeichnen wollen, und nur in
unserem Gedächtnis. Aus solcher Not her‐
aus greifen wir dann doch nach Irdischem,
das uns bei aller Unzulänglichkeit dienen
muß, so gut es geht. Und es geht nur, wenn
230 Briefe an Einen und Viele
eben diese Unzulänglichkeit bewußt und
gewollt ignoriert wird: ‒ wenn man das
Inkommensurable der zum Vergleich her‐
angezogenen Erlebensmöglichkeiten ab‐
sichtlich übersieht.
.Alles Erleben des Ewigen ist eine dau‐
ernde Lotung der Tiefe des ewigen Augen
blicks, der kein Hintereinander, kein Vor‐
her und Nachher, sondern geistig-„räum‐
lich” gegebenes, irdisch ganz undarstell‐
bares In-einander ist, das nicht erst infolge
eines unermeßlichen Nacheinanderbeste‐
hens „ewig” wird, sondern in sich, anfang‐
los ‒ endlos, Unendlichkeit „bleibt”. Wer
den ewigen Augenblick: ‒ die ganze, in
ihrer Selbstbegrenzung dem Kreis ähn‐
liche, unendliche Ewigkeit nicht in sich zu
jeder Sekunde zu erleben vermag, dem
kann man sie nicht schildern, denn alle
Schilderung geschieht in der irdischen Zeit
und wird nur als Zeitliches erfaßt. So ist
231 Briefe an Einen und Viele
denen, die nie in der Ewigkeit waren,
„Ewigkeit” zur Vorstellung einer unend‐
lich langen Zeit geworden, und schließlich
kommt auch jeder, der von überzeitlichen
Dingen wirklich reden darf, in die Zwangs‐
lage, diese Zeitvorstellung durch das glei‐
che Wort zu bezeichnen, ja, das Unend‐
liche für die Vorstellung zuweilen gleich‐
sam „einzuteilen”, so daß aus der einen,
in Wirklichkeit selbstverständlich unteil‐
baren Ewigkeit gar „Ewigkeiten” werden
können, ‒ Aeonen, ‒ als Verbildlichungen
unermeßlich langen Zeit-Raumes. Und je‐
dem, der Ewiges noch nicht in sich selbst
erlebt, wird es unsagbar schwer, die irrige
Vorstellung in sich aufzugeben, als ob Ewig‐
keit stete Gegenwart aller Zeit sei und ihr
Inbegriff einfach „die Fülle aller Zeiten”
ausmache.
.Sie sehen jetzt selbst, wie Ewiges allen
in der Zeit gegebenen Vergleichen aus‐
232 Briefe an Einen und Viele
weicht, weil es ein wesentlich Anderes ist
und nur ewiger Anschauungsart zugänglich,
zu der Sie meine Bücher unvermerkt ge‐
leitet haben. Aber wie viel „Skizze” von
allen Seiten her war nötig, um nach und
nach das Gefühl für geistig Räumliches in
Ihnen zu erwecken! ‒ Fern von jedem Wert‐
vergleich, erinnern mich meine Abhand‐
lungen über geistige Dinge immer an ge‐
wisse Zeichnungen Rembrandts, auf denen
sich die gemeinte Darstellung erst aus un‐
zähligen Strichen, die der Vorstellung im‐
mer deutlicher zu folgen suchen, herausge‐
staltet. Es ist aber nicht nur mir anders un‐
möglich, Dinge der Ewigkeit für Andere in
den Bereich ahnenden Vorfühlens zu brin‐
gen, sondern jedem, der die ewige Wirk‐
lichkeit kennt! Denen, die sie kennen aber,
genügen die geringfügigsten Andeutungen
schon, um sich untereinander zu verstehen
und jeweils zu wissen, was gemeint ist. Sie
233 Briefe an Einen und Viele
haben mir aber weit mehr als nur „Andeu‐
tungen” hingezeichnet, und ich muß Sie
eher warnen, nicht allzu deutlich werden
zu wollen, als daß ich in Ihrer Darstellung
etwas vermissen könnte...
.Bleiben Sie im Licht und seien Sie alle‐
zeit gesegnet!
234 Briefe an Einen und Viele
DREISSIGSTER BRIEF
Ich „fordere” nicht! ‒ Ich bringe! Und
jeder kann aus dem, was ich gebracht habe,
das für ihn Willensbestimmende wählen.
Was Sie meine „Forderungen” nennen,
deren Erfüllung Sie jetzt so freudig Ihr
geistiges Erlebenkönnen danken, sind le‐
diglich von mir aufgezeigte Notwendig‐
keiten, die sich aus der Struktur des Lebens
im ewigen Geiste ergeben. So ist es uner‐
läßliche Notwendigkeit, und hoch jeder
auch nur scheinbaren Willkür einer „For‐
derung” entrückt, daß Sie erst dann zu
Gottes Wiege werden können: ‒ daß erst
dann Ihr lebendiger Gott sich in Ihnen
„gebären” kann, wenn Sie dahin gelangt
sein werden, nichts mehr aus sich selbst
bedeuten zu wollen. Jede Zubilligung, die
Sie sich selber noch machen zu dürfen glau‐
ben, verrammelt das Tor der Seele mit
235 Briefe an Einen und Viele
Palisaden! Nicht das Geringste dürfen Sie
vor Ihrem Selbstbewußtsein festhalten wol‐
len als ein Ihnen Gehörendes! Gott wohnt
nicht irgendwo zur Miete. ‒ Er geht nur
in Eigenes ein! ‒ So müssen Sie Ihrem le‐
bendigen Gott alles zu eigen lassen, was
Sie bisher noch sich selbst reservieren zu
können meinten. Selbst Ihr Bewußtsein
müssen Sie Gott geben, wenn Gott Ihnen
bewußt werden soll! ‒
.Hier wird nirgends und von keiner Stelle
her etwas „gefordert”, sondern nur gezeigt,
wie die Dinge liegen, damit nicht Unmög‐
liches erhofft und dann Enttäuschung ge‐
erntet werde. Auch im Irdischen halten Sie
sich, wenn Sie erfolgreich in Ihrem Tun
sein wollen, genau an die gegebenen Be‐
dingungen, unter denen ein Vorgang mög‐
lich ist. Hier wissen Sie um diese Be‐
dingungen durch Ihre und vieler anderen
stets bestätigte Erfahrung. Im Ewigen aber
236 Briefe an Einen und Viele
können Sie solche Erfahrung erst machen,
wenn Sie erreicht haben, was Sie erreichen
wollen, und deshalb muß man Ihnen vom
Ewigen her zeigen, was nötig ist, damit Sie
zu der von Ihnen ersehnten Erfahrung ge
langen. Sie sind ja jetzt auf dem besten
Wege dazu.
.Sehr schön sind Ihre Ausführungen über
die nun erlangte Erlebensgewißheit im
Ewigen, die Ihnen erst letzte Bestätigung
dafür gab, daß es schlechterdings keine
Möglichkeit geben kann, die Seele eines
der Erde Verstorbenen irdisch wahrzuneh‐
men, da, wie Sie bereits erkennen, alle
Lebens-Äußerungen der irdisch Entkör‐
perten außerhalb der Erfahrungsbereiche
erdkörperlicher Sinne liegen. Aber auch
Ihr nunmehr seine ersten Erfahrungen be‐
ginnendes Bewußtwerden im Ewigen liegt
weitab von allem, was die tiergemeinsame
Seele und was Körpersinne erfahren kön‐
237 Briefe an Einen und Viele
nen. Eben darum muß ich auf die leise
Warnung am Schluß meines letzten Briefes
doch noch einmal zurückkommen, und Sie
bitten, Ihren Drang, das geistig Erlebte um
der Deutlichkeit der Mitteilung willen in
irdische Erfahrungsreihen einzubeziehen,
nach Möglichkeit zu dämpfen. Ich weiß
auch dann, was Sie meinen, wenn Sie nur
die allernötigsten Andeutungen geben. Er‐
leben im Ewigen kann nicht in die nur für
das zeitliche Erleben ausreichende Sprache
„übersetzt” werden, auch wenn man eine
erdenmenschliche Sprache um Tausende
und Abertausende von Worten und Be‐
griffen vermehren wollte. Unsere irdischen
Sprachen sind in der Zeit entstanden um
Zeitliches zu bezeichnen, und können un‐
möglich der ihnen ganz inkommensurablen
Art sich gefügig erweisen, in der Ewiges zu
Bewußtsein kommt. Der wiederholte ei‐
genwillige Versuch, das Unmögliche „viel‐
238 Briefe an Einen und Viele
leicht doch” möglich zu machen, kann
aber zu einer Lähmung Ihrer geistigen
Aufnahmeorgane führen, noch bevor sie
hinreichend entwickelt sind, um Sie das
Gefährliche Ihres Drängens nach irdischer
Verdeutlichung erkennen zu lassen. So be‐
greiflich Ihr Wunsch ist, das innerlich nun
so stark zu Bewußtsein Gelangende in Wor‐
ten der gehirnbedingten Sprache auszu‐
drücken, so verhängnisvoll kann er für Sie
werden. Ich will Sie aber gewiß vor dem
was hier droht, bewahrt sehen.
.Führen Sie auch keine Selbstgespräche
in sich, in der Meinung, mit Gott zu reden!
Gott „spricht” erst dann in Ihnen, wenn
Sie in sich vollkommen still zu bleiben ver‐
mögen. Gott „hört” nur, was ihm Ihr
Stillesein sagt. ‒ Und niemals „spricht”
Gott in Ihnen in Worten einer irdischen
Sprache!
.Empfangen Sie allen Segen, den Sie
239 Briefe an Einen und Viele
brauchen, und gehen Sie freudig und
sicher, aber dennoch behutsam, den Ihnen
erst seit so kurzer Zeit nun geöffneten
Weg!
Gott kann nur soviel „geben
.wie er „nimmt”,
Denn aller Gabe Maß
.ist ihm bestimmt
Durch das, was der Begabte
.freudvoll gibt,
Der seines Gottes Gabe
.mehr als alle Habe
.liebt!
240 Briefe an Einen und Viele
SCHLUSSWORT
Strenge versage ich mir
.hier über Dinge zu richten,
Die meinem Rechtspruchrechte
.erdenhaft nicht unterstehen.
Allen Gewichtigen aber,
.wie allen windigen Wichten,
Weiß ich die Wägung sicher,
.der sie gewiß
.nicht entgehen...
Jeder muß selber dereinst sich
.auf unerbittlicher Waage,
Klar offenbaren vor Allen
.an seinem Selbstrichte-Tage!
*
242 Briefe an Einen und Viele
Es wäre gewiß möglich, diese Briefe um
viele andere zu vermehren, und es mag
nicht ausgeschlossen sein, daß ich eines
Tages dem vorliegenden Zyklus einen zwei‐
ten folgen lasse. Fürs erste aber ist genug
gegeben! Wenn das, was vorliegt, in dem
dafür ausersehenen Leser den Wunsch er‐
wecken kann, mehr in dieser Form Ge‐
staltetes zu eigener Förderung dargeboten
zu erhalten, so ist damit der Aufgabe die‐
ses Buches besser entsprochen, als wenn
ich den Inhalt so umfangreich hätte werden
lassen, daß notwendigerweise die leben‐
dige Übersicht über das Ganze erschwert
worden wäre. Das ganz kleine Schriftchen:
In eigener Sache” hat in zahlreichen
Beweisen wieder aufs deutlichste gezeigt,
wie die Klärung, die von Worten aus‐
gehen kann, nicht vom seitenmäßigen
Umfang einer Bekundung abhängig ist,
wohl aber von der Möglichkeit, das Ge‐
243 Briefe an Einen und Viele
gebene in einem Blick innerlich umfassen
zu können.
.Absichtlich unerwähnt ließ ich in den
Briefkapiteln des vorliegenden Buches die
durch mein ewiges Sein allein bedingte
sprachliche Selbstdarstellung in den drei
Silben „Bô Yin Râ”, die vielen an mei‐
nen Lehrschriften Vorübergehenden immer
noch „Pseudonym” heißt, und Gegenstand
beharrlichster Fehldeutung bleibt... Ich
hatte für die Reihenfolge der Briefe einen
Entwicklungsgang zur Richtschnur genom‐
men, der mir mit allen seinen Zwischen‐
spielen aus vielen Einzelfällen her bekannt
ist, wobei aber der Suchende jeweils schon
lange bevor er das erste Wort an mich rich‐
tete, sich den konventionellen Fesseln ent‐
wunden wußte, die andere an gewissen gar
zu niedrigen Blickpunkten festhalten, von
denen aus nur die grotesken Zerrgebilde
der „Froschperspektive” zu erlangen sind.
244 Briefe an Einen und Viele
Unmöglich konnte ich daher in dem von
mir gewählten Zusammenhang einen der
wenigen Briefe reproduzieren, die ich vor
vielen Jahren gelegentlich auch über die
mir äquivalenten drei Silben und ihre „tra‐
genden” Buchstaben zu schreiben genötigt
war. Hier aber das im Buchverlauf absicht‐
lich Unterlassene nicht zum Schluß doch
noch nachholen zu wollen, wäre kaum ver‐
antwortbare Versäumnis. Andererseits aber
liegt kein Grund vor, für das, was diesbe‐
züglich zu sagen ist, die Briefform beizu‐
behalten, obwohl nichts anderes zur Er‐
örterung gelangen kann, als was in den
oben erwähnten seltenen Briefen dargelegt
wurde.
Immer wieder muß ich gewahren, daß man
in bezug auf die Silbenformel, die meinem
ewigen Sein entspricht, das Ungewohnte
eines Buchstabenbildes und seines laut‐
245 Briefe an Einen und Viele
lichen Ausdrucks mit dem Begriff des
„Fremdländischen” verwechselt.
.Der angeblich „indische” Name, dem
man hier zu begegnen glaubt, würde aber,
‒ wenn die drei Silben so gemeint wären, ‒
in keiner Weise einem sprachlichen Kanon
indischer Namensgestaltung entsprechen.
Ebensowenig ist etwa hier Chinesisches
gemeint. Ich bitte Indologen und Orienta‐
listen, mir verzeihen zu wollen, daß ich
solche Selbstverständlichkeit überhaupt er‐
wähne. Ich bin leider genötigt dazu!
.Wenn ich mir ein „Pseudonym” hätte
schaffen wollen, dann wäre ja nur Wahn‐
sinn imstande gewesen, den Decknamen
aus Sprachbezirken herleiten zu wollen,
die zu meiner amtsnotorischen kurmain‐
zisch-fränkischen Abstammung von bäuer‐
lichen Winzern, Forstleuten und ländlichen
Handwerksmeistern, und meinen zu keiner
Zeit verdunkelten äußeren Lebenswegen,
246 Briefe an Einen und Viele
auch nicht die leiseste Beziehung haben!
Könnte aber auch eher ein abenteuerlicher,
kauziger Sonderling, der Jahr und Tag in
asiatischen Ländern den ihm von Hause aus
Nahen verschollen war, vielleicht auf die
romantische Idee kommen, sich hinter ein
exotisches Pseudonym zu verstecken, so
müßte er doch schon recht weltfremd ge‐
worden sein, wenn er etwa zu glauben ver‐
möchte, seine Maskerade werde heute in
Europa von einsichtigen Menschen noch
ernst genommen. Alles was ich je geschrie‐
ben habe, wendet sich einzig und allein an
Menschen, denen ein Europäer, der sich
hinter einem asiatischen Decknamen ver‐
birgt, nur an Stätten der Kurzweil: ‒ bei
Künstekundigen seltsamen Könnens oder
körperlicher Kraft und Kühnheit, ‒ noch
allenfalls erträglich ist. So geht es mir na‐
türlich auch selbst, und ich weiß von mir
auf Andere zu schließen. Zudem habe ich
247 Briefe an Einen und Viele
nicht eine einzige Zeile im Namen der
meinem Ewigen äquivalenten Silbenfor‐
mel ‒ oder auch nur ihrer „tragenden”
Buchstaben ‒ veröffentlicht, ohne eine
recht ansehnliche Zahl mir Nahestehender
genau über das geistig Gegebene orientiert
zu wissen, das mir die Pflicht auferlegte,
meinem bürgerlichen Familiennamen nicht
zuzuschreiben, was ihm nicht zukommt.
Es war jedoch nicht der mindeste Grund
vorhanden, der mich hätte veranlassen kön‐
nen, ein „Pseudonym” zu verwenden, und
überdies waren mir durch verschiedene
Fügungen meines Lebens, lange bevor ich
selbst Bücher zu veröffentlichen hatte, mehr
als hinreichende Einblicke in die Praxis
verlegerischer und redaktioneller Urteils‐
bildung zuteil geworden, als daß ich mich
‒ selbst wenn mir ein „Pseudonym” nötig
erschienen wäre ‒ auch nur der leisesten
Täuschung darüber hätte hingeben dürfen,
248 Briefe an Einen und Viele
daß nichts verkehrter sein könne, als es
von asiatischen Sprachen herzuholen.
.Mit Recht weigern sich in aller Welt alle
Urteilsfähigen, auf irgendeine törichte Mas‐
kierung einzugehen, die nur ein kläglich
Urteilsloser als Förderung der Aufmerksam‐
keit auf ihn und seine Sache werten könnte.
Über die drei Silben „Bô Yin Râ” äußerte
ich mich schon vor geraumer Zeit in einer
Verlags-Flugschrift dem Sinne nach dahin:
‒ daß es sich hier nicht etwa um drei
„Worte” handelt, aus deren „Bedeutung”
man irgend etwas herausgeheimnissen
könnte, trotzdem sie als Silben auch
Sprachwurzeln alter Sprachen entsprechen,
sondern, daß diese sieben Buchstaben den,
meinem substantiellen urgeistigen Sein
äquivalenten „Namen” bilden, weil ihre
Laut- und Zeichenwerte meiner ewigen gei
stigen Wesensart entsprechen, so, wie eine
249 Briefe an Einen und Viele
bestimmte, in Buchstaben bezeichenbare
Notengruppe einem bestimmten Akkord
entspricht. (Das „Y” in „Yin” ist als „Ü”‐
Laut zu sprechen, verwandt dem althoch‐
deutschen „Win”, und kann nicht durch
„J” ersetzt werden. Die Dachstriche über
„o” und „a” sind Dehnungsanweisungen.)
.War ich auch in meinem Ewigen immer
in dem bewußt, was die Formel der drei
Silben Bô Yin Râ meint, so mußte ich
dessen doch erst im Laufe der Zeit auch in
meinem Gehirnbewußtsein bewußt ge‐
macht werden. Hiervon handelten an der
genannten Stelle einige Worte, in denen
ich darlegte, wie mir meine geistige Schu‐
lung sehr entscheidend andere Begriffe
vom Wesen eines wahren „Namens” nahe‐
brachte, als sie landläufig hier auf Erden
zu finden sind. Ich berichtete kurz davon,
daß ich durch meine seelische Erziehung
zum Bewußtsein der geheimnisvollen Wege
250 Briefe an Einen und Viele
gelangt war, die von einem „Namen” zu
einem neuen „Namen” führen, wobei ge‐
wisse Buchstaben dieser „Namen” wie
geistige „Antennen” wirken, über die dem
auf solche Weise unsichtbar Geführten stets
neue geistige Hilfe zukommt. Und im wei‐
teren bekannte ich, daß ich während meiner
geistgeleiteten Schulung selbst manche
solche „Namen” getragen hatte, die ich
erst in stets erneuter Selbstüberwindung
wieder überwinden lernen mußte, bevor ich
meines urewigen Namens auch in meinem
vergänglichen Irdischen geistig wahrhaft
würdig werden konnte, soweit das äußere
natürliche Entwicklung sukzessive zuließ.
.Lange genug war ich bereits den mir vor‐
bezeichneten Weg der „Namen” entlang
geschritten und wußte wahrhaftig aus eige‐
ner Erfahrung um der geistgeformten Na‐
men kräfteweckende Natur, aber es schien
mir unmöglich, meinem mir damals seit
251 Briefe an Einen und Viele
Jahren schon auch irdisch in seiner Sub
stanz bewußten urewigen Namen ein
Äquivalent in Lauten und Buchstaben
zu schaffen, bis mir mein geistiger Erzieher
inmitten anderer, mir gleich ihm im Geiste
Vereinten, in einer gesegneten Nacht an
hellenischem Meer, Augen und Ohren da‐
für öffnete, wie dies dennoch möglich, ‒
ja notwendig sei... Von da an hatte ich
nun auch die irdische Lautformel und ihre
Zeichen für das, was im Ewigen substan
tiell mein „Name” ist: ‒ geistig in ewiger
Zeugung durch den Vater bestimmte Kraft
form und diese Form ewig nach einmalig
gesetztem Impuls aus dem Vater bewegen‐
der Wille.
.Das ist das wirkliche Geheimnis um den
angeblich „indischen” Namen, in dem man
aus gewohnter eigener Perspektive her ein
„fremdländisches” Pseudonym zu erken‐
nen glaubt!
252 Briefe an Einen und Viele
Da aber nichts im ewigen Sein, und daher
auch nichts im irdischen Dasein isoliert in
sich selbst ruht, so ist auch das, was ich in
meinem ewigen Namen bin, dem die For‐
mel: Bô Yin Râ ja nur irdischen Ausdruck
schafft, mit unendlich vielem in enger und
ferner Verbindung, wodurch denn auch in
mancher Deutung, die man dieser erden‐
sinnlich faßbaren Formel gibt, ‒ sei es auf
Grund von sprachlichen, laut- und tonmäßi‐
gen, oder aus den Buchstabenzeichen her‐
stammenden Assoziationen, ‒ mehr Wirk
lichkeitsentsprechung steckt, als die je‐
weiligen „Entdecker” und zu den merk‐
würdigsten Vergleichen greifenden „Deu‐
ter” ahnen können.
.Daß es mir wider den guten Geschmack
geht, die auf Grund gegebener Assozia‐
tionen möglichen Analysen der drei Silben
auch noch gar durch Hinweise selbst zu
fördern, ‒ wie es oft genug von mir ver‐
253 Briefe an Einen und Viele
langt wurde, ‒ wird man wohl verstehen
lernen müssen. Keinem einzigen, der meine
Lehrschriften Befragenden könnte sein Weg
leichter gangbar werden, wenn er auch ge‐
nauestens wüßte, welche Lande uralter re‐
ligiöser Kultur mir zur Zeit der Vorberei‐
tung auf mein irdisches Wirken seelisch‐
geistig schon heimliche Heimat waren, und
ebensowenig würde es einem Suchenden
auch nur das geringste nützen, wenn er
alle ‒ mir selbst sehr gleichgültigen ‒ ge‐
heimen Bedeutungen der Buchstaben in
den drei Silben, sowie ihre im Orient tra‐
ditionellen Zahlwerte entdeckt hätte. Man
darf nicht von mir Erörterungen über
Dinge erwarten, denen ich selbst in mei‐
ner eigenen Lebenssphäre bewußten Wil‐
lens alle besondere Beachtung versage, weil
sie in der mir dargebotenen Zeit, inner‐
halb der Welt, die mir Wirkungsbereich
ist, ohne Gegenwartsbedeutung sind.
254 Briefe an Einen und Viele
.Wer es nicht lassen kann, jeglichen Fähr‐
ten nachzuspüren, die seinen Pfad zum
Lichte auf allen Höhenlagen von irgend‐
einer Richtung her kreuzen, der wird
schwerlich in diesem Erdenleben dahin ge‐
langen, wohin besonnenes Weiterschreiten
ihn gelangen lassen könnte. Auch die edel‐
ste Wißbegier wird Verführung, wenn sie
vom eigenen Wege abziehen will, und ich
kann unmöglich dem Vorschub leisten, was
ich als den Suchenden hindernd erkenne.
Es gibt auch wirklich noch genug Aufgaben,
die mir näherliegen, als die Befriedigung
grübelnder Neugier!
.So schließe ich heute dieses Buch, wie
ich es geschrieben habe: ‒ seine, ihm von
mir geistig erlesenen, zubestimmten Le
ser segnend aus dem ewigen Licht, ‒ in
meinem ewigen Namen
Signatur
255 Briefe an Einen und Viele
ENDE
DIE EHE
Verlagslogo
KOBERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG AG
BERN
Bô Yin Râ ist der geistliche Name von
Joseph Anton Schneiderfranken
6.Auflage
Erste Auflage: Richard Hummel Verlag Leipzig 1925
Ungekürzte wohlfeile Auflage daselbst 1929
© 1950, 1978, 1986 und 1988
Kobersche Verlagsbuchhandlung AG
3001 Bern
INHALT Seite
Erstes Kapitel
Von der Ehe hehrer Heiligkeit 4
Zweites Kapitel
Von der Liebe 29
Drittes Kapitel
Von der Gemeinsamkeit 59
Viertes Kapitel
Von Leid und Freude 85
Fünftes Kapitel
Von Versuchung und Gefahr 107
Sechtes Kapitel
Vom Zwang des Alltags 137
Siebentes Kapitel
Vom Willen zur Einigkeit 167
Achtes Kapitel
Von der Vererbung des Glücks 199
Neuntes Kapitel
Von ewiger Verbundenheit 219
Originalscan
ALLEN,
DIE DAS GLÜCK DER EHE
SUCHEN!
ERSTES KAPITEL
VON
DER EHE HEHRER HEILIGKEIT
HEILIG dreimal heilig, die Ver
einigung von Weib und Mann
zu engverschmolzener Gemein
samkeit des Erdenlebens! ‒
Heilig der Geschlechter Inbrunst, sich
zu einen! ‒
Heilig das Mysterium des Zeugens
und Gebärens! ‒
Heilig das unsichtbare Band, das
längst Gewordenes vereint, auf
daß es neuem Werden eine Stätte
schaffe! ‒ ‒ ‒
Glückselig Mann und Weib, die solches
fassen, und sich in liebender Vereinung
zu erkennen wissen, so wie der Ur
sprung alles Seins alsMannund
Weibsich selbst erkennt, in ewig
licher Liebeseinung! ‒ ‒ ‒
5 Die Ehe
Glückselig ist das Haus, das Gottes
hehrster Tempel hier auf Erden wird,
da eine wahre Ehe sich in ihm vollzieht,
geschlossen vor dem Angesicht der
Ewigkeit, von Menschen, die um
ihres Menschtums hohe Würde wis
sen! ‒ ‒ ‒
Was hier Erfüllung findet, ist geheim
nisreiches Wunder, Wenigen auf die‐
ser Welt nur kund, und denen selbst
verborgen, die es wirken! ‒ ‒ ‒
Wie so unsagbar töricht klingt es
meinen Ohren, ‒ wie aller Weisheit
wüstenweit entfernt, ‒ so man mir
von „Vollendung” reden möchte, dort,
wo sich Mann und Weib auf ihren Le‐
benswegen meiden, um der vermeint‐
lich höheren Entfaltung ihrer Seelen
willen! ‒ ‒
6 Die Ehe
Teilgestaltung wähnt Vollendung
sich zu schaffen, ‒ jeder Ahnung bar,
daß sie ihr nur erreichbar wäre in Ver
schmelzung mit dem anderen, einst im
Geiste ihr vereinten, nur hier im Er
dendasein körperlich von ihr getrenn
ten Teil! ‒ ‒
Beklagenswert vielmehr der Mann,
beklagenswert das Weib auf dieser Erde,
wenn es dem einen Teile hier in seinem
Dasein nicht gelingt, den ihm gemäßen
anderen Teil zu finden, mit dem ver
eint er erst ein Ganzes bilden würde,
er-gänzt in dem, was seines Einzel‐
poles Eigenschwingung ihm nicht ge‐
ben kann! ‒ ‒
Beklagenswert, wie manches Andere
in dieser Erdenwelt, das gleicherweise
sich behindert findet, die Entfaltung
wirklich zu erreichen, zu der latent
7 Die Ehe
die Möglichkeit sehr wohl gegeben
wäre...
Oft bietet Sehenden in solchen Fällen
sich der Anschein dar, als wolle selbst
Natur sich dieser armen, auf ihr uner‐
löstes, halbes Menschtum nur Ver‐
wiesenen erbarmen, indem sie ihre
schöpferische Phantasie erregt, sich
irgend ein Idol des anderen Geschlechts
im Außerweltlichen zu schaffen, das den
auf Erden hier vermißten Ausgleich
durch den körperlichen Gegenpol, auf
kümmerliche Weise dann ersetzt. ‒ ‒
Wer die Geschichte der Ekstase und der
Mystik kennt, wird unschwer Beispiel
hier auf Beispiel häufen können...
Gewiß wird dann das so Erlebte umge
deutet und als sublimste geistige Er‐
fahrung aufgewertet, allein, was solcher‐
art erfahren werden kann, ist immer
8 Die Ehe
nur aus körperlicher Regung und Er‐
regung zu erklären! ‒ ‒ ‒
Kein Mensch der Erde ‒ mag er Mann
sein oder Weib ‒ der körperlich zur
Ehe tauglich, und nicht durch unerbitt‐
lich hartes Schicksal oder unbehebbar
schweren Grund von ihr sich ausge
schlossen sieht, wird hier auf Erden
schon sein Geistiges in letzter Klar
heit zu erleben fähig, solange er aus
freien Stücken den realen, hier natur
gegebenen Ausgleich der Geschlech
ter flieht! ‒ ‒ ‒
Hier ist nichtsabzuhandeln”, nichts
zu drehen und zu deuteln!!
Keiner derer, die sich selbst auf Erden
zu „vollenden” wähnen, und die Ehe
als Behinderung im Vorwärtsschreiten,
9 Die Ehe
oder gar als etwas zu Vermeidendes
betrachten, kann sein Ziel erreichen, ‒
sei es, daß nur verkappte Eigensucht
ihn zu verblenden weiß, ‒ sei es, daß
religiöser” Wahn ihn zu dem irren
Glauben führt, ‒ hier, wo die Gottheit
sich zutiefst zu ihm herabneigt,
müsse er sich vor des „TeufelsSchlin
gen hüten, um einer „Heiligkeit” teil‐
haft zu werden, die nur als tolle Aus
geburt phantastischer Asketenhirne
Scheindasein genießt, und leider hier in
dieser Scheinwelt wahrlich unheil
bringende Verehrung fand, ja stets
noch findet! ‒
Dem Wüstling wird das heiligste
Mysterium des Menschen nur zum An‐
laß, Nervenreiz zu schaffen, und in Be
friedigung des Reizes: Lust zu suchen.
10 Die Ehe
Er ist ein Verirrter, der die Würde
seines Menschtums nicht erfühlt, und
Heiligstes mit Schmutz besudelt! ‒
Verirrte aber sind nicht minder alle
jene, die auf dem Wege zur Vollkom‐
menheit vorangelangen wollen, ohne
zu erkennen, daß sie des Gegenpols
bedürfen, sollen sie ein Ganzes wer‐
den! ‒ ‒ ‒
Verirrte sind die töricht Überhebli
chen, die gar in ihrer Ehelosigkeit Ge
währ zu haben glauben, daß sie auf dem
rechten Wege seien, und die sich hoch
erhaben wähnen, weil sie, ‒ vermeint
lich um des „Himmelreiches” willen, ‒
auf der Ehe Einung mit dem ande
ren Geschlecht verzichten! ‒ ‒ ‒
Wohl kann zwar auch der Ehelose
seinen Weg zur Vollendung wahrlich
11 Die Ehe
allein durchmessen und sein höchstes
Ziel auf seine Art dereinst erreichen,
auch wenn ihm während seiner Er
dentage niemals die Erfüllung werden
kann, die nur die Ehe ihm erreichbar
machen würde. ‒ ‒
Stets kann er nur als Teil sich Teilvoll
endung zu erringen suchen, und wird im
Erdenleben nie zu jener Klarheit kom‐
men, die nur erreicht wird, wo der Mensch
die neue Einheit eines Ganzen, ‒
aus Männlichem und Weiblichem ver‐
eint, ‒ in einer wahren Ehe schuf. ‒ ‒
Doch wird der Ehelose dann nur sich auf
seine Weise Teilvollendung schaffen
können, wenn wirklich Gründe, die nicht
Menschenwahnwitz erst ergrub, vor
Gott die Ehelosigkeit als nicht ge
wollt bezeugen! ‒ ‒
12 Die Ehe
Weit seltener jedoch als Wahn es will,
sind solche Gründe vor dem Urteil Got
tes aufzufinden...
Keiner möge sich auf sie berufen, der
nicht in tiefster Einkehr mit sich
selbst zu Rate ging, und nicht gewiß
ward, daß er Gottes Stimme, in der
Stille ruhevoller Selbstversenkung, hör
te! ‒ ‒ ‒
Keiner aber möge andererseits Verei
nigung mit einem Gegenpole ande
ren Geschlechts nur aus Begier erstre‐
ben, und bevor er in sich selber sich
belehrt fand, daß solche Einigung nur
dann ihm Heil verheißt, wenn er sich
willig weiß, allein für sie die ewige
Verantwortung zu tragen, ‒ ganz
einerlei, ob auch der andere Eheteil sie
für sich selber tragen will, oder von
solcher Pflicht nichts ahnen mag! ‒ ‒
13 Die Ehe
Der Irrwahn ist alt, daß: „heiraten
gut” sei, „nichtheiraten” aber „bes‐
ser”, ‒ und der ‒ vor solcher Torheit
nicht geschützt ‒ ihn erstmals aus
sprach, hatte wahrlich hohe Einsicht in
gar manche geistige Verborgenheiten, so
daß hier geistiges Gewicht von unge‐
heuerlicher Schwere seitdem auf den
Gewissen aller Nachgeborenen
lastet...
Es ist an der Zeit, daß endlich hier
der Wahn des Weisen seine Macht ver‐
liere!
Es ist an der Zeit, daß endlich nun die
Ehe, die man als „Sakrament”, zu
deutsch ‒ als Mittel, seine Heiligung
sich zu erwirken, ‒ betrachtet sehen will,
obwohl man Ehelosigkeit als unver‐
gleichbar „heiligmäßiger” erklärt, der
14 Die Ehe
Schändung enthoben werde, die darin
ausgesprochen ist, daß man: ‒ das reife
Weib, dem höchstes, heiligstes Erfüllen
seines Weibtums fremd bleibt, höher
stellt, als jede Frau die ihre Mutter
würde zu erlangen wußte, ‒ den ste‐
rilen Selbstling aber, der seine Man
neskraft in sich verzehrt und seines
Blutes Wert der Erde raubt, im Wahn
befangen, über jeden Mann zu stellen
sucht, der hier auf Erden Vater neuen
Lebens wurde! ‒ ‒ ‒
Es ist wahrhaftig an der Zeit, daß sich
die Ehe ihres Heiligsten zu wehren
wisse, wenn man den Zeugungsakt: „Be
fleckung” nennt, so daß man sich nicht
scheut, der alten „Heiden” Wundermär
zu übernehmen, um die Geburt des Gott
erhabensten der Menschen, nach alter
Mythen Weise, einer „Jungfrau” zu‐
15 Die Ehe
zuschreiben, ‒ nicht ahnend, daß die
alten Mythen von der Gottgeburt im
Menschenherzen tiefverhüllte Kunde
geben, ‒ der Geburt des „Gottessohnes”
in der Seele, die nur der Gottesgeist
befruchten kann...
Hoch aller Ehrung würdig ist wahr‐
haftig jene Frau, die Mutter eines
Sohnes werden konnte, dessen lichte
Lehre aller Welt das Heil bereiten wür‐
de, wollte man nach ihr zu handeln sich
bequemen, soweit man sie noch wahrhaft
kennt! ‒
Allein, nicht minder sollte man den Vater
eines solchen Sohnes ehren, denn: wer
den Sohn hier sieht, der sieht auch den,
der ihn erzeugte, da Bluteserbe sich be‐
reits im Dasein finden muß, bevor es
Erbe werden kann! ‒ ‒ ‒
16 Die Ehe
Hier ist die Ableugnung der Zeugung
aus des Vaters Blut nur Ausdruck je‐
ner Mißachtung, die anderenortes auch
die Ehelosigkeit für „heiligmäßiger
erklärt, als Ehe! ‒ ‒ ‒
Ehe” heißt mir freilich nicht: ein
dumpfes, triebversklavtes Beieinander
leben, um gegenseitig seiner Sinne
trübe Glut zu löschen! ‒ ‒
Ehe” heißt mir nicht die Mischung der
Geschlechter, die im Kinde nur das Übel
sieht, das ihre Lust bedroht! ‒ ‒
Ehe” aber ist auch nicht: die unver
antwortliche Zeugung neuen Le
bens, dem die Bedingungen zu se
gensreicher Selbstentfaltung nicht
gegeben werden können! ‒ ‒ ‒
17 Die Ehe
Wahrhaftig: es gibt auf dieser Erde
keinen Lebenszustand, der mehr Be
herrschung seiner selbst, mehr Mit
empfinden mit dem Anderen, mehr
Verantwortungsbewußtsein for‐
dern würde, als die rechte Ehe! ‒ ‒ ‒
Nur, wer hier alle hohe Forderung er
füllt, darf hoffen, daß er auch das Glück
der Ehe finde, das doch so viele suchen,
und so wenige erfahren, da es die
allermeisten heischend ‒ als ihr „gutes
Recht” ‒ erlangbar glauben, statt ein‐
zusehen, daß es der Mensch ‒ wie alles
Glück ‒ sich selber auferbauen, sich
selber schaffen muß! ‒ ‒ ‒
In diesem Buche wird nunmehr von dem
die Rede sein, was wahre Ehe ist, und
was sie fordert.
18 Die Ehe
Ich werde zeigen, daß es zwar unbeirr
bare Bereitschaft, geschulten Willen
und erzogene Kraft verlangt, die Ehe,
wie sie sein muß, aufzurichten, ‒ daß
es jedoch viel leichter ist, die wahr
haft gute Ehe und ihr Glück zu schaf‐
fen, als die vielen unglücklichen Ehen
glauben machen möchten...
Für alle, die noch vor der Ehe stehen,
möge das Folgende zur Vorbereitung
dienen.
Die längst in einer Ehe leben, ‒
sei sie nun glücklich, oder getrübt, ‒
mögen aus meinen Worten wählen, was
ihnen noch nützen kann!
Wer aber vor der furchtbar ernsten Frage
keinen Ausweg sieht, ob er die Ehe, die
er einst in froher Glückserhoffung schloß,
nun lösen soll, da alle Glückes-Mög
19 Die Ehe
lichkeit ihr längst erstorben scheint, der
frage sich nach der Lektüre dieses Buches,
ob er zu solcher Lösung wirklich sich
berechtigt weiß, und ob er die Ver
antwortung dafür auch vor dem An
gesicht der Ewigkeit noch tragen
will?! ‒ ‒ ‒
Gewiß soll unrettbar Zerrüttetes nicht
jedem neuen Glück im Lichte stehen
bleiben!
Gewiß soll man in einem Lebensbunde,
der Enttäuschung an Enttäuschung
reihte, und nun Tag für Tag nur Gram
und Unheil schafft, nicht bis zum letz
ten Fluch verharren!
Allein: ‒ gar manche Ehe wurde unter
Menschen schon gelöst, obwohl sie
keineswegs vor Gott die Schäden
zeigte, die zur Lösung die Berechtigung
gegeben hätten...
20 Die Ehe
Gar oftmals hätte ernster Neubeginn
der Ehe, auch zu neuem und nun dau
erbaren Glück den Grund gelegt, wären
nicht vorschnell alle Brücken zuein
ander abgebrochen worden, da man
bereits nach neuem Glück an eines an
deren Menschen Seite schielte. ‒ ‒ ‒
Wer da hören will, und fühlt, daß
es ihn angeht, ‒ möge hören!
Der aber der Ehe fernbleiben muß, ‒
sei es nun Schicksal, daß sie ihm ver
sagt bleibt, oder werde er durch Pflicht
gezwungen, ehelos zu bleiben, weil er
Verantwortung für eine Ehe niemals
tragen könnte, ‒ ‒ der lege dieses
Buch zur Seite, denn nicht für ihn ist
es geschrieben worden! ‒
Ich schreibe hier für Menschen, die durch
keinen unabänderlichen und vor Gott
21 Die Ehe
gegebenen Grund behindert werden,
die Vollendung in der Einheit einer
Ehe zu erstreben. ‒
Nur diesen gilt, was hier zu Worte
wird!
Wohl sind mir auch die Truggespen
ster irren Fühlens sehr bekannt, die
an dem Heiligtum der Ehe rütteln wie
an altersgrauen Mauern, die man stür
zen müsse, wolle man den Weg zur
Freiheit finden.
Hier aber ist nicht eindringlich ge
nug zu warnen, vor verhängnis
voller Täuschung!
Aus wilder Herdengemeinschaft, in
der sich ‒ kurz und derb gesprochen ‒
jedes Weib noch jedem Mann ergeben
22 Die Ehe
mußte, der es zu bezwingen fähig war,
führte unsagbar weiter Weg den
Erdenmenschen endlich zu dem hohen
Tempel in der Geisteswelt, der einen
Mann dem einen Weibe eint. ‒ ‒ ‒
Die Tierheit ward dem Geiste unter‐
tan, auch wenn sie sich noch immer sträu
ben mag, ihm willig zu gehorchen. ‒ ‒
Und wenn es auch noch heute Millionen
gibt, die nicht auf solcher Stufe stehen,
‒ wenn auch noch ganze Völker in
dem Weibe einzig die Gebärerin und
das Gefäß der Lust erblicken, oder gar
das Arbeitstier, das man erhandelt
wie das liebe Vieh, so daß die Anzahl
Frauen, die der Mann „besitzt”, zum
Zeugnis seines Reichtums wird, wie
seine Herden auf der Weide, ‒ so ward
auf höherer Stufe doch auch längst er‐
23 Die Ehe
kannt, daß nur die Ehe, die das eine
Weib dem einen Mann verbindet,
geistig-göttlichem Gesetz ent
spricht. ‒ ‒ ‒
Wehe denen, die in unbezähmter
Gier die eigene Ehe unterwühlen, ‒
nicht fähig, einen Menschen anderen
Geschlechts zu sehen, ohne seiner zu
begehren! ‒ ‒
Man nenne es nicht „Zufall”, sondern
fühle einen Willen hier am Werke, wenn
die von jeder anderen Geschlechtsver‐
mischung sorglichst reingehaltene
Ehe, aus dem Geschlechtsverkehr
her, unerreichbar bleibt für jene fürch‐
terliche Seuche, die aus kurzer Augen‐
blicke unbezähmter Lustgier: Fluch
und Unheil über Generationen
bringt! ‒ ‒ ‒
24 Die Ehe
Hier zeigt Natur mit aller Deutlichkeit,
was sie, auch schon von sich aus, von
dem Erdenmenschen dieser Tage for
dert!
Wer es auch sei, und welche Gründe
ihn bestimmen mögen, ‒: der Mensch,
der an der Ehe, die das eine Weib dem
einen Mann verbindet, freventlich zu
rütteln wagt, indem er solcher Ehe Bin
dung und Verpflichtung nicht beachtet,
ladet schwerste Schuld auf sich: ver‐
sündigt sich an aller Erdenmensch
heit, und schafft kosmische Verwirrung,
‒ ‒ ganz abgesehen von der unge
heuerlichen Schändung eines Tem
pels, der dort, wo eine Ehe sich voll‐
zieht, im reinen, wesenhaften Geiste
aufgerichtet wurde! ‒ ‒ ‒
Nur hohe Gnade kann den so mit
Frevelschuld beladenen Verbrecher
25 Die Ehe
an der Ehe noch entsühnen, und nur:
wenn selber er die Sühne sucht! ‒ ‒
Doch, nicht viel kleiner ist auch jene
Schuld, die jeder auf sich bürdet, der
sich vermißt, hier eine Form zu spren
gen, die ihm „überlebt” erscheint, da
er sie nicht mit wahrem Leben zu er
füllen weiß! ‒ ‒
Vergeblich bleibt auf dieser Erde alles
Streben, etwa eine neue, bessere Form
der Einung der Geschlechter zu gestalten,
denn: ‒ was die Menschheit in der
Ehe eines Mannes mit dem einen
Weibe zu erringen wußte, gründet
in der Gottheit innerster Gestal
tung! ‒ ‒ ‒
Wer hier zerstören will, was hohe Ein‐
sicht auferbaute, der ist sich nicht der
Folge seines Tuns bewußt!
26 Die Ehe
Ein Sanktuarium des Geistes würde
so vernichtet, an dem Jahrtausende die
Weisesten der Erde bauen sahen!
‒ ‒ ‒
Es müßten kommende Jahrtausende
vergehen, sollte es dereinst erneut
errichtet werden, so dies möglich wäre,
läge es in seinen Trümmern! ‒ ‒ ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
*
27 Die Ehe
ZWEITES KAPITEL
VON DER LIEBE
SO, wie der Ehe heilighoher Bund,
wie ich ihn sehen lehren will, vor
allem in der Liebe sich vollendet, und
ohne Liebe nicht bestehen kann, ‒ so
sei auch hier, vor allem Anderen, nun
der Liebe ein Betrachtungswort geweiht.
Es wird die Rede sein zuerst von einer
Form der Liebe, die zwar im Irdischen
zur Wirkung kommt, doch tief im
Geiste gründet. ‒
Auch im Tiere ist diese Liebe zu finden,
wie in allem, was lebt!
Jedoch, das Tier vermag es nicht, die
Geistbegründung dieser Art der Liebe
zu erfühlen, und so bleibt es beschränkt
auf Trieb und Brunst, ‒ auf dumpfes
Suchen seiner Mutterschaft und Sorge
für denWurf”. ‒
31 Die Ehe
Nur allzuoft ist aber leider auch der
Mensch der Erde ganz in gleicher Weise
seiner Tierverhaftung Sklave: ohne
jede Sehnsucht, sich als Herr und Mei
ster seiner Tierheit zu bewähren...
Erbarmen faßt den Sehenden, erblickt
er solche Schmach an Wesen seiner
Art, ‒ sieht er die jämmerliche Selbst
erniedrigung, die sich genügen läßt an
geiler Lust und viehischem Behagen,
wo Macht gegeben ist, die göttlich
reinsten Freuden zu erleben! ‒ ‒
So mancher aber, der zwar nicht die
tiefsten Gründe allen Daseins offen sah,
jedoch in sich die Ahnung von der Würde
seines Menschtums trug, ward seines
Ekels nicht mehr Herr, sah er den Men‐
schennamen solcherart entweiht. ‒
32 Die Ehe
Er wähnte nun, daß alle Liebe, die der
Tierheit Kräfte auslöst um sich zu er‐
leben, auf gleicher abgrundtiefer
Stufe stehen müsse, und konnte nicht
mehr fassen, daß auch der Tierheit
Trieb dem Geiste Anlaß eigenen Er
lebens werden kann...
Fluchend grollte er dem Schicksal, das
ihn zwang, in seinen Adern „Tierisches
zu fühlen, dem er sich niemals ganz ent‐
winden konnte. ‒ ‒
In solcher Wirrnis qualbefangen, über‐
gab er sich alsdann dem Wahn, daß alle
Liebe, die sich in ihm irdisch-tierhaft
äußern wolle, eine Ausgeburt der Hölle
sei, und seine Seele zu vernichten
drohe. ‒
Wo hätte er auch die Belehrung suchen
sollen, die seiner Selbstqual Auflösung
geschaffen hätte durch Erkenntnis?!?
33 Die Ehe
Die Einen suchten nur sein Wähnen zu
bestärken, da sie selbst im gleichen
Wahn befangen waren, ‒ die Anderen
‒ ‒ verlachten ihn...
Die aber selbst das Glück des seligsten
Gewährens kannten, ‒ das Glück der
Liebe, die dasTierder Gottheit
eint: die alle „Ächtung” von ihm nimmt,
indem sie seine Triebe läutert und zum
Dienste seelischen Erlebens schult,
‒ wußten nur selten über das zu reden,
was ihnen heiligste Erfahrung war.
‒ ‒ ‒
Wo aber wird Belehrung mehr ent‐
behrt, als auf den Wegen durch der
Liebe irdische Gefilde, da allenthalben
giftgeschwängerte Gewächse in den
gleichen gluterfüllten Farben sprießen,
34 Die Ehe
wie jene reinsten Blütenkelche, die in
ihrer Tiefe Tau des Himmels bergen!?
‒ ‒
Man wird nicht lange suchen, will man
Menschen finden, die nur ironisch
bitter lächeln können, hören sie die
Liebe preisen...
Man wird die Ehen leichthin zählen
können, in denen Mann und Weib in
solcher Art die Liebe kennen, wie sie
jede Menschenehe kennen sollte! ‒ ‒
Die Einen glauben, wahre Liebe müsse
sich allein im Seelischen erschöpfen
lassen, und ihre Leiber werden ihnen
gegenseitig fast zum Greuel, da sie eben
doch noch Anderes heischen...
Die Anderen aber glauben ihre Liebe
nur in der Befriedigung der Triebe
zu genießen, bis sie zuletzt in Über
35 Die Ehe
sättigung sich voneinander wen
den. ‒ ‒
Beides ist freilich nicht die rechte Art,
um jene Form der Liebe zu erleben, die
eine wahre Ehe braucht!
Die Liebe, die allhier allein Erfüllung
geistigen Gesetzes schafft, will weder
Geistiges, noch Tierhaftes in ihrer
Auswirkung entbehren.
Das durch die Tiernatur des Erdenmen‐
schen aber einmal nun Gegebene, soll
keineswegs nur tierisch, „viehisch”,
ausgekostet werden, sondern, vom Gei‐
stigen durchdrungen und dadurch ver
wandelt: ‒ selbst ins Geistige er
hoben, ‒ zu Bewußtsein kommen.
So sollen Mann und Weib, in geistig
körperlicher Einung, sich ineinander
36 Die Ehe
nun erkennen, wie Mann und Weib
im Göttlichen vereinigt waren, einst
vor dem „Fall” in diese physisch-sinn‐
liche Erscheinungswelt, ‒ und wie das
Männliche dem Weiblichen erneut ver‐
einigt wird, sobald erst beide Mensch‐
tumsteile die Erlösung sich erwirkten
in der Geisteswelt...
Für diese Worte wird dem geilen Wüst
ling ganz in gleicher Weise das Ver
ständnis fehlen, wie dem Asketen, der
in jeder Regung seiner ‒ durch ihn
selbst allein beschmutzten ‒ Tiernatur,
nur „teuflischeVersuchung wit‐
tert. ‒ ‒
Die aber Ähnliches, wie das, was meine
Worte darzustellen suchen, auch nur
einmal in sich selbst erfahren haben,
37 Die Ehe
werden wahrlich wissen, was die Worte
meinen! ‒ ‒ ‒
Wer aber auch nicht aus Erfahrung
weiß, von welchem heiligen Myste
rium, ‒ erlebbar in der körperlichen
Leibvereinung, ‒ ich hier rede, der wird,
so er nur reinen Herzens ist, erahnen
können, was er dann erst wissen kann,
wenn er es selbst erlebt! ‒
Jegliches Weib, und jeder Mann, wird
nur in diesem, hier auf Erden höchsten,
körpersinnlich-geistigen Erleben
neuer Einheit die Erfüllung finden,
die ‒ ohne jeden schalen Rest an
unbefriedigter Empfindung ‒ erst
völlig jenes heiße seelisch-körper
liche Sehnen stillt, das die Geschlech‐
ter, ‒ wo nicht Tierbrunst nur Befrie‐
38 Die Ehe
digung erheischt, ‒ in Liebe bis zum
Selbstvergessen, zueinander zieht!
‒ ‒ ‒
Doch nur in einer wahren Ehe, die Mann
und Weib in neuer Einheit faßt, und ‒
mindestens dem ernsten, festen Wil
len nach ‒ für beider Lebenszeit ge‐
schlossen wurde, kann sich Geschlechts‐
vereinigung zu solcher Höhe heben,
da hier nur jene Einheitsform im we
senhaften Geiste sich gestaltet fin
det, die so erlebbar wird. ‒
Immer aber wird nur höchste Zucht
der Sinne, höchste Zucht der Phan
tasie, das Unbegreifliche: Ereignis
werden lassen im Erleben! ‒ ‒ ‒
Gewiß ist das Kind jeder wahren Ehe
Ziel und Wunsch!
39 Die Ehe
Und dennoch ist, nach geistigem Ge
setz, das durch die Ehe zur Erfüllung
kommen will, ‒ die Zeugung und Ge
bärung neuen Lebens erst der zweite
Zweck der ehelichen Einung! ‒ ‒ ‒
Ihr erster ist die Bildung einer neuen
Geisteseinheit, in der sich Teil und an‐
derer Teil zu jenem Ganzen ineinander‐
schmelzen, das nur auf geistig-kör
perliche Weise für den Menschen dieser
Erde noch empfindbar ist, ‒ dann
aber auch, in Auswirkung des so Er‐
lebten, ‒ dem ganzen Dasein einen
Kräftezuwachs schafft, den nur das
geistige Ganze spenden kann, und den
kein Teil, wie immer er sich strebend
recken mag, für sich allein erreicht!
‒ ‒ ‒
So ist die Ehe, schon um der in ihr
allein nur möglichen Erfüllung allen
40 Die Ehe
Sehnens reiner geistig-körperlicher
Liebe willen, eine hohe Hilfe auf dem
Wege zur Vollendung, ‒ eine tief
geheimnisvolle Vorbereitung auf
die Rückkehr in das Reich des we
senhaften Geistes, ‒ eine Pforte,
die zu seligstem Erahnen überer
denhaften Lebens alle jene führt,
die willens sind, den Schlüssel zu
gebrauchen, der ihnen hier in diesem
Buche dargeboten wird! ‒ ‒ ‒
Wäre der Erdenmensch nur wesenhafte
Geistgestaltung, so würde wahrlich
alles, was die Ehe ihm erlebnisnahe
bringt, auch nur in seiner Geistgestalt
erlebbar sein.
So aber ist der Mensch, der einst aus sei‐
nem hohen, göttergleichen „Leuchten
fiel, um sich in physisch-sinnlicher Er‐
41 Die Ehe
scheinungswelt nun zu erleben, ‒ ‒
wie er vermeinte: als sein eigener,
seinem Ursprung nicht mehr einge
borenerGott”, ‒ ‒ allhier dem Tie
rischen verhaftet worden, so daß ihm
alles, was er noch im Geistigen emp‐
finden will, nur faßbar wird in leib
hafter Empfindung durch der Tierheit
ihm vertraute Kräfte. ‒ ‒
Und fühlt er sich, ‒ obwohl ihn nur des
Erdentieres Körper trägt, solange er auf
Erden lebt, ‒ in eitlem Wahn dem Tier‐
haften enthoben, so trügt er nur sich
selbst und hindert seine eigene Ent
faltung, vermeintlich „geistiges” Er‐
leben kennend, das ‒ ‒: nur des
Tieresirrgeleitetes Empfinden
ist! ‒ ‒ ‒
Nichts aber schützt vor solcher Irre
leitung tierhaften Empfindens wir
42 Die Ehe
kungsvoller, als die rechte Ehe, in der
die geistig-körperliche Liebe ihre
reinste, höchste Form gefunden hat!
Doch ist die Liebe, die in einer wahren
Ehe alles lenkt und leitet, keineswegs
allein darauf verwiesen, sich ausschließ‐
lich nur in geistig-körperlicher Art
zu zeigen: ‒ gebunden an die Sehnsucht
der Geschlechter, sich zu einen.
Bleibt diese geistig-körperliche Liebe
auch stets Vorbedingung einer ehe‐
lichen Einung, ansonst ein „Ehebund”
zum eklen Spottbild seiner selbst her‐
abgeschändet wird, so überstrahlt doch
auch zu gleicher Zeit die Liebe noch in
anderer Form das Leben zweier Men‐
schen, die sich in der Ehe fanden und um
ihre Zweieinheit im Geiste wissen...
43 Die Ehe
Ich rede hier jetzt von der Liebe ohne
Gegenstand der Liebe: ‒ von einer
Form der Liebe, die des Gegenstandes
nicht bedarf! ‒
Auch sie wird Irdischem nur dann
empfindbar sein, wenn sie durch Ir‐
disches vermittelt wird...
Wenn aber geistig-körperliche Liebe,
wie sie zur Einung der Geschlechter
in der Ehe führt, stets ihren Liebes‐
Gegenstand benötigt, um sich in Ver‐
einungsglut zu fühlen, ‒ ja, wenn selbst
jene Liebe, die das Kind umhegt, und
rückstrahlt auf das Elternpaar, nicht
ohne Gegenstand der Liebe ist, so han‐
delt es sich hier nun um die völlig los
gelöste Liebe, die nichts im Äußeren
begehrt, und auch nicht Gegenliebe
fordert, da sie Erfüllung findet in sich
selbst, wo immer sie im Dasein ist. ‒ ‒
44 Die Ehe
Nicht allzuvielen ist diese Liebe
bekannt!
Nicht allzuoft wird sie im Erdenleben
ausgewirkt!
Und doch ist sie weit häufiger zu fin‐
den, als jene höchste Form der ehe
lichen Liebe, die es vordem zu um‐
schreiben galt!
Schon darum, weil sie durchaus nicht
nur in der Ehe sich allein Erfüllung
schaffen kann...
Es darf jedoch die Ehe, soll sie wahr‐
haft glücklich sein, auch diese Liebe
ohne Gegenstand der Liebe nicht ent‐
behren müssen! ‒
Nicht nur im heilighehren Tempel
ehelicher Lagerstätte, ‒ zu dem die
45 Die Ehe
kleinste, engste, arme Hütte wird, in der
sich Mann und Weib vereint in jener
höchsten Form der geistig-körper
lichen Liebe finden, ‒ wirkt sich das
Leben zweier Ehegatten aus!
Die wahre Ehe ist Gemeinsamkeit des
Lebens in der weitesten Bedeutung
dieses Wortes!
Es läßt sich aber dieses Erdenleben nicht
gemeinsam führen, ohne beiden Teilen
stets auf Schritt und Tritt zu zeigen, daß
sie trotz aller geistig-körperlichen
Einung, doch in der Außenwelt noch
zwei getrennte Teile eines Geistes
Ganzen bleiben, deren jeder von Na‐
tur aus eigenen Gesetzen unterordnet
ist. ‒ ‒
Zwei Eigenleben stehen sich auf solche
Weise gegenüber, und sollen doch in
46 Die Ehe
einem neuen Leben der Gemein
samkeit vereinigt werden!
Sie müssen diese Einung ebenso er‐
reichen, ‒ wollen sie ihr Glück nicht
von sich jagen, wie sie in ihrer geistig
körperlichen Liebe eine neue Einheit
wurden...
Hier aber ist die geistig-körperliche
Liebe nicht mehr tauglich, Einung zu
bewirken, ‒ und so liegt hier die Wur‐
zel jenes Wahnes bloß, der da vom an‐
geborenen „Hasse der Geschlechter
zu orakeln weiß. ‒
Ach nein, meine Freunde, ‒ wahr
lich, solcher Haß ist nicht begründet
im Geschlecht an sich, wenn er zu‐
weilen dort sich zeigt, wo Menschen
im Zusammenleben sich begegnen,
47 Die Ehe
die verschiedenen Geschlechtes sind!
‒ ‒
Stets handelt es sich dann nur um den
Widerstreit erotischen Vereinungs
willens gegen jenen anderen Willen,
der den Teil allein als Ganzes aner‐
kannt, und seines Eigenlebens Norm
allein in Geltung sehen möchte!
Aus solchem Widerstreit kann dann ein
Haß erstehen, den man sehr zu Unrecht
so zu deuten sucht, als sei er schon
naturgegeben im Geschlecht!
Ihn aber zu besiegen ist nur jene Art
der Liebe fähig, die nicht durch einen
Gegenstand der Liebe erst entzündet
wird, und die sich auswirkt, ohne einen
Gegenstand zu suchen, da sie in sich
selbst Erfüllung ist. ‒ ‒
Nur diese Liebe um der Liebe willen
lehrt auch stets die rechte Weise fin‐
48 Die Ehe
den, nach der sich Teil und anderer
Teil in einer Ehe immerdar zu for
men und zu schleifen suchen müssen,
wollen sie in Lebenseinheit zuein
anderpassen! ‒ ‒
Selbst manche sogenannte „Ehe”, die
von der wahren Ehe nur den Namen
borgt, wird oftmals noch zu einer leid‐
lichen Gemeinsamkeit geformt, wenn in
dem einen dieser Ehegatten, oder gar
in beiden, etwas von der Liebe um
der Liebe willen wirkt, ‒ auch wenn
die geistig-körperliche Liebe nie zu
ihrer höchsten Form gefunden hatte, ja
wenn sie selbst in niederen Formen
kaum vorhanden war...
Sprichwörtlich ist die „heiße Liebe”,
die dann später zum „Erkalten” kam!
49 Die Ehe
Doch: ‒ echte Liebe kann niemals „er
kalten”, weil sie nur dort entzündet
wird, wo ihre helle Lichtglut uner
schöpflich reiche Nahrung findet! ‒ ‒
Sie kann zum wilden Feuer werden,
aber niemals, ‒ möge man sie auch
mit allen Mitteln zu ersticken su
chen, ‒ kann sie verlöschen: kann sie
zum Erkalten kommen!
Was solcher Glut der Liebe aber nicht
entspricht, mag sinnlicher Rausch sein,
oder eine künstlich aufgestachelte
Erotik, ‒ mag Freundschaft miß
verstehen, mag Bewunderung,
mag Dankbarkeit vielleicht in „Liebe
fälschen, ‒ ‒ mit echter Liebe aber hat
dann dieses Fühlen nur das Wort ge‐
mein...
Niemand soll sich viel verwundern,
50 Die Ehe
wenn hier Pseudo-Liebe früher oder
später zum „Erkalten” kommt!
Nie aber darf derartig aufgenährtes
Scheingefühl in einem Menschen so zur
Macht gelangen, daß er sich selbst
betört und überredet, als sei der Un
terbau gegeben, eine Ehe aufzurich
ten! ‒ ‒
Unsägliches Unglück würde auch ver
mieden, wollten Mann und Weib, die
sich im Leben irgendwie begegnen, nicht
gleich aus jeder leisen Regung der
Erotik einen Fetisch machen, den sie
ihre „Liebe” nennen!
Es ist naturbegründet, daß zwischen
jedem Mann und jedem Weibe Schwin
gung der Erotik stets vibriert, und sei
auch dieses feine, stetige Vibrieren
51 Die Ehe
unsichtbarer Kräftewellen, ‒ wie
bei allen Menschen seelisch reiner Art,
so leise, daß es im Bewußtsein
völlig unbeachtet bleibt.
Gefahr liegt hier nur dadurch vor, daß
ungefestigte Naturen, deren Phan
tasie nicht ahnt, was Zucht und Herr
schaft eines reinen Herzens heißt,
an solcher leisen Schwingung schon die
Freude der Berauschung suchen, von
sich aus stetig dann die Schwingung
steigern, und nicht eher ruhen, als bis
aus Übersteigerung: ‒ Begehren wird...
Dieses Begehren aber nennen sie dann
Liebe”, und leiten gar das Recht, ein
eheliches Bündnis zu erstreben, aus
solcher Ausgeburt haltloser Phanta
sie-Entartung ab, ‒ um Wüstenweite
ferne jeglicher Oase des Verantwor
tungsbewußtseins, ‒ fast monoma‐
52 Die Ehe
nisch nach Erfüllung des Begehrens
strebend, ‒ um schließlich, nach Errei
chung ihres Zieles, dem einst so heiß
begehrten anderen Teil der so erstreb‐
ten „Ehe” jede Neigung zu entziehen,
da ja längst schon wieder anderes Be‐
gehren lockt...
Ich brauche kaum zu sagen, daß es sich
in solchen Fällen meistens nur um Män
ner handelt, die das Weib begehren,
denn selten nur ist auch die Phantasie
des Weibes so entartet, daß sie das
Weib die gleichen Wege gehen heißt.
Wer anders über Weibesart Bescheid
zu wissen glaubt, der möge sich erinnern,
daß seine Weisheit solchenfalles
sicherlich von ‒ ‒ Männern stammt,
die allzuunverhohlen ihre Wesensart
am liebsten auch im Weibe wiederfinden
53 Die Ehe
möchten, ‒ es sei denn, daß er selber
nur die Dirne kenne, und Dirnenart
in jedem Weibe wittere! ‒ ‒
Gar vielfach aber läßt sich leider auch
das Weib verleiten eine „Ehe” ohne
Liebe anzustreben, um später in die
Klage auszubrechen, daß es „kein Glück
in seiner „Ehe” finde.
Doch schafft das Weib sein Unheil meist
aus anderen Gründen, und vielfach sind
sie weit verzeihlicher als die des
Mannes. ‒
Ehrgeiz, den Mann, den es bestaunt
in irgend einer Leistung, sich vor an
deren zu erringen, ‒ der Wunsch,
versorgt” zu sein, oder dem allzu
strengen Elternhause zu entfliehen,
‒ das sind zumeist die Gründe, die das
54 Die Ehe
Weib bestimmen können, eine „Ehe”
einzugehen, ohne Liebe zu empfinden,
wenn nur die Schwingung der Erotik
soweit steigerbar erscheint, daß sie
ihm einen sinnlich-äußeren Ersatz für
Liebe bildet. ‒
Auf welcher Seite aber auch die Schuld
am schwersten lasten möge: ‒ stets
wird ein solcher „Lebensbund”, der oft
kaum Jahre schlecht und recht noch
überdauert, nur arges Zerrbild einer
wahren Ehe sein! ‒ ‒
Das geistige Gesetz, das unerbittlich
fordert, daß man ihm genüge, wo sich
Mann und Weib zur Ehe einen wollen,
ist nicht zu „biegen” und zu „brechen”,
wie man eine „Ehe” biegt und bricht,
die da in Wahrheit keine ist, und nie‐
55 Die Ehe
mals eine war, wenn solches sich ereig‐
nen kann, ‒ auch wenn die beiden Ehe‐
gatten einstmals glaubten, daß sie die
Ehe eine, und es solange glauben
mochten, bis dann Prüfung dieser Ehe
Unterbau erprobte. ‒ ‒ ‒
Wo darum wahre Ehe werden soll,
dort frage man vor allem nach der wahren
Liebe! ‒ ‒ ‒
Sie ist gar leicht zu erkennen, und
unmöglich wird es ihr, sich zu ver
bergen! ‒ ‒ ‒
Man kann sich aber niemals früh genug
aus Träumen reißen, die eine Pseudo
Liebe hätscheln wollen, und niemals
kann man streng genug sich selber
jedes Tun verweisen, das einen Ne‐
benmenschen, der, gefühlsbetört, in
56 Die Ehe
solcher Pseudoliebe sich gefällt, auch
noch in seinem Wahn bestärken
könnte...
Doch, wahre Liebe ist nicht nur „Ge
fühl”, und nicht im Fühlen läßt sie sich
erschöpfen! ‒
Liebe ist vor allem Kraft! ‒
Wer sie mißbraucht, kann diese gleiche
Kraft im ‒ Hasse kennenlernen!
Dort wirkt sie dann in ihrer Selbst
verzerrung...
Wer aber Liebeskraft in ihrer höchsten
und erhabensten Entfaltung in sich
selbst empfindet, der strahlt Liebe
aus und wird sie sicherlich auch dort
erwecken, wo sie noch im Schlafe ruht,
sobald er fühlt, daß ihm der Mensch be‐
57 Die Ehe
gegnet ist, den ihm sein Schicksal zube‐
stimmte, um in einer wahren Ehe sich mit
ihm zu einen. ‒ ‒ ‒ ‒
Wo beide Teile fühlend voneinander
wissen, daß sie echte Liebe eint, dort
soll wahrhaftig aus der Liebe auch die
Ehe aufgerichtet werden!
Glückselig jede Ehe, die auf solchem
Fundamente baut!
Sie wird durch keinen Sturm, der sie um‐
tost, erschüttert werden, und keine
Brandung kann sie jemals unter
wühlen!
*           *
*
58 Die Ehe
DRITTES KAPITEL
VON DER GEMEINSAMKEIT
AUCH das allerengste Beieinander
leben zweier Eheleute schafft noch
lange nicht Gemeinsamkeit, während
sie dort gar oft besteht, wo Mann und
Weib ‒ sehr gegen Wunsch und
Willengezwungen sind, meist lange
Zeit in äußerer Entfernung zu ver
harren: nur kurz und selten unter glei‐
chem Dach vereint. ‒
Wenn aber auch Gemeinsamkeit nicht
abhängt von der steten Bindung an die
gleichen Räume, so wird doch jede wahre
Ehe Raumgemeinschaft zu erstreben
suchen, wo immer dies mit der gebotenen
Sorge für des Lebens Notdurft, mit den
Pflichten, die Beruf und Stand erheischen,
zu vereinen ist.
Aber ein Anderes ist das Beieinander
leben in den gleichen Räumen, nur weil
61 Die Ehe
man das Alleinsein nicht erträgt: die
Gegenwart des Anderen nicht missen
möchte, ‒ und wieder ein Anderes ist
Gemeinsamkeit! ‒
Gemeinsamkeit ist Einung zweier
Menschen, auch in allem Denken, al
lem Fühlen, allem Handeln!
Sie wird nicht durch das nahe Beiein‐
anderleben etwa erst erzeugt!
Wo innere und äußere Gemeinsamkeit
nicht schon bestand, bevor man Raum‐
gemeinschaft suchte, dort kann das enge
Beieinanderwohnen, statt Gemeinsam‐
keit zu fördern, ihr die grimmigsten
Gefahren schaffen. ‒ ‒
Es ist darum für Alle, die sich in der Ehe
einen wollen, bitter nötig, nach Ge
meinsamkeit, im hier gemeinten Sinn
62 Die Ehe
zu streben, noch bevor sie ihre Ehe
schließen! ‒
Wie vieles Unheil wäre schon verhü
tet worden, hätte man zur rechten Zeit
erkannt, daß diese Forderung sich nicht
umgehen läßt, statt sorglos sich dem
falschen Glauben hinzugeben, daß Ge
meinsamkeit, wie sie vonnöten ist in
jeder wahren Ehe, sich ganz von selbst
im Eheleben finde! ‒ ‒
Das Streben nach Gemeinsamkeit in
allem Denken, allem Fühlen, allem Han‐
deln, wird aber niemals zu Erfolgen füh‐
ren, dort, wo der eine Teil den anderen
stets durch Wort-Turniere überzeu
gen will, daß er nur seiner Ansicht sich
bequemen müsse, um allsogleich „Ge‐
meinsamkeit” mit ihm zu haben...
63 Die Ehe
So kann der eine Teil gewiß den anderen
ermüden, und ihn dann endlich zwin
gen, um des lieben Friedens willen, sich
zu fügen, allein, was so zustande‐
kommt, ist alles andere eher, als Ge
meinsamkeit, und früher oder später
hinkt die böse Folge nach!
Nie kann ein Zwang, ‒ und sei es selbst
der „süße Zwang der Liebe”, ‒ in
einer Ehe die Gemeinsamkeit begrün‐
den, die ihr nicht minder nötig als die
Liebe ist!
Willst du, o Liebender, Gemeinsam
keit zu schaffen suchen, die dich mit dem
geliebten Menschen, dem du in der Ehe
dich vereinen willst, hinfort nun auch
in allem Denken, allem Fühlen, allem
Handeln einen soll, dann wirst du dich
64 Die Ehe
vor allem selbst an straffem Zügel
halten müssen!
Du mußt dich selber in die „hohe Schule”
nehmen, damit du zu Beweglichkeit ge‐
langst und dich auch anderer Gangart
anzupassen lernst!
Bisher warst du dir selbst das Maß
der Dinge!
Ob du vom Elternhause her die Art
des Denkens, Fühlens, und des durch
Beides dann bestimmten Handelns,
übernommen haben magst, die dir nun
eignet, oder ob du selbst dich Schöpfer
der Maximen deines Lebens weißt, ‒
stets bist du nur zu sehr geneigt, dein
eigenes Ermessen sehr zu überwer
ten, und alles, was dir auch entgegen‐
treten mag, durch deine selbstgefärb
te Brille zu betrachten. ‒ ‒
65 Die Ehe
Hier aber steht, mein Freund, nunmehr
ein zweiter Mensch vor dir, dem es
kaum anders gehen mag, und der in
gleicher Weise alles nur durch seine
Brille sehen möchte!
Ihr werdet beide euch entschließen
müssen, eure „Brillen” abzulegen, auch
wenn sie euch bisher die Dinge in den
denkbar schönsten Farben zeigten,
so daß ihr jetzt kaum glauben wollt,
daß man sie offenen Auges auch noch
anders sehen könne...
Ihr werdet aber nicht erwarten dürfen,
daß ihr von heute auf den anderen
Tag euch schon verstehen lernen könn‐
tet, denn: wenn ihr auch die gleichen
Worte braucht, so redet ihr doch stets
von anderen Dingen, weil jeder noch
66 Die Ehe
die Dinge nur nach seiner Weise sieht,
und nur nach seiner Weise sie bezeich‐
nen kann!
Es wird euch ja noch kaum recht glaub‐
haft scheinen, daß wirklich jedes Ding
in jedem von euch beiden anders zu
Bewußtsein kommt!
Noch glaubt ihr, von dem gleichen Ding
zu reden, und redet doch von völlig
Anderem, da jeder nur von seinem
Bild des Dinges redet! ‒ ‒
Hier ist Geduld vonnöten, die sich nicht
erschüttern läßt, wenn man sich einstens
in der gleichen Weise des Betrachtens
finden will!
Es wird hier jeder Teil erst zur Er
kenntnis kommen müssen, daß seine
Art zu sehen, ‒ mochte sie ihm auch
67 Die Ehe
bisher als Norm erscheinen, ‒ keines
wegs die einzige, ihm mögliche Be‐
trachtungsweise darstellt...
Auch wird man nicht allein die Worte
hören dürfen, sondern stets auch zu er‐
fühlen suchen müssen, was der Andere
mit seinen Worten meint, und ob sich
dies auch ganz mit jenen Dingen decke,
die man selbst mit gleichen Worten
meinen würde. ‒
Zu oft nur hört man Menschen bitter
streiten, weil sie Gegensätze zu er‐
kennen glauben, die als unvereinbar
gelten, wo nur das falsch gewählte Wort
den Anschein schafft, als seien Gegen‐
sätze aufzufinden.
Und oftmals glauben Menschen sich durch
eine „tiefe Kluft” getrennt, wo nur die
68 Die Ehe
Nacht der Nichterkenntnis solchen
Trug ermöglicht, weil sie zu sehen hin
dert, daß die scheinbar „tiefe Kluft” nur
ein willkürlich, und mit sehr bezweifel‐
barem Rechte, ausgehobener seichter
Graben ist, den man mit Leichtigkeit
zu überschreiten wüßte...
Mit unbeirrbarer Gelassenheit und
liebevollem Geltenlassen aber, wird
man auch dort zuletzt doch zuein
anderfinden, wo wirklich Gegensatz
besteht: wo wahrhaft eine „tiefe Kluft
für immerdar zu trennen schien, weil
man erst lernen mußte, sie zu über
brücken. ‒ ‒ ‒
Gemeinsamkeit in allem Denken, al‐
lem Fühlen, allem Handeln, schafft jeder
Ehe eine hohe Mauer sicherster Be
schützung!
69 Die Ehe
Ehe verträgt es nicht, daß sie im Außen‐
leben ohne sichere Umhegung bleibe!
Die Lebenseinung zweier Menschen in
der Ehe darf niemals allen Winden,
jedem Wetterwüten, jeder Überflu
tung offenstehen! ‒
Wie immer auch zwei Menschen, die sich
in der Ehe fanden, Geselligkeit und
heiteren Verkehr mit anderen Men
schen suchen mögen, ‒ stets muß die
sichere Umhegung ihnen fühlbar blei‐
ben, und niemals darf der heilige Be‐
zirk, der ihnen nur allein gehört, vor
Anderen eröffnet werden! ‒ ‒ ‒
Auch hier ist, ‒ wie bei jeglichem Ver‐
hältnis menschlicher Verbundenheit, ‒
das Schweigenkönnen eine rechte
„Kunst”, die jeder zu erlernen hat, der
sie noch nicht beherrscht! ‒ ‒ ‒
70 Die Ehe
Was nur die Eheleute selber angeht,
hat niemals laut zu werden vor den
Ohren Anderer, und wenn die Ande‐
ren auch die nächsten Freunde und
Verwandten, ‒ ja selbst die Eltern
wären! ‒ ‒ ‒
Sehr zweifelswürdig bleibt die
Hilfe”, die man vielleicht auf solche
Weise finden mag, ‒ auch wenn die
Menschen, denen man sich so vertraut,
den redlichsten und reinsten Willen
haben, wahre Hilfe darzubieten!
‒ ‒
Weit öfter, als man wirklich Hilfe fin‐
det, wird das Unheil, dem man wehren
wollte, nur genährt, so daß es erst zum
Wachsen und zum rechten Wuchern
kommt, obwohl es anfangs schnell im
Keim erstickt gewesen wäre, hätte man
71 Die Ehe
sich selbst bemüht, es zu ersticken, und
nicht den Anderen vorgeklagt, wie
sehr man schon darunter leide! ‒ ‒ ‒
Doch auch sein Glück soll man für sich
verwahren und nicht in eitler Rede zum
Verströmen bringen! ‒
Auch nicht in Worten soll man es mit
Anderen teilen wollen! ‒ ‒
Es geht nur beide Eheteile an, wenn
sie, als geistgeeintes Ganzes, sich ihr
Glück zu schaffen wußten...
Vor allem aber sei man auf der Hut, den
Neid zu wecken, der ‒ oft nur künst
lich eingeschläfert ‒ sich gar leicht
erwecken läßt, wenn eine redefrohe Zunge
allzusehr ein Eheglück lobpreist! ‒
Man schädigt sonst den Neider, wie
72 Die Ehe
sich selbst, da Neid stets eine Kraft
zur Wirkung bringt, die das verneint,
was Neid erregte, und die sich gegen
Neider und Beneideten in gleicher
Weise richtet, da sie den Wert ver
nichtet sehen will, den der Beneidete
besitzt, der Neider aber nur zu gern
besitzen möchte...
Ist aber schon bei Glück wie Unheil‐
drohung: Schweigen angezeigt, so
schweige man erst recht, wo platte,
widerliche Witzelei und ein im „Hän‐
seln” Anderer sich sielendes Behagen,
die Ehe in den seichten, trüben Tüm‐
pel kläglich-armer Geistverlassenheit
herabzuziehen suchen, um meckernd
ihre Hintertreppenweisheit anzubringen
und in Bierbankblödigkeiten sich genug‐
zutun!
73 Die Ehe
Jeder der dies liest, wird unschwer wis‐
sen, was ich meine...
Nur glaube man nicht, daß solche öde
Witzelei doch wohl zu dulden wäre,
wenn sie Menschen üben, die sich
gewiß nicht vorzuwerfen haben,
daß sie je im Ernst die Heiligkeit
der Ehe angetastet hätten!
Das Heilige darf nie zum Stoff des
schalen Witzes werden, wenn es der
Meltau der Zersetzung nicht berühren
soll, und selbst der gütigste Humor
wird sich hier Zügelung gefallen lassen
müssen, auf daß er nicht zerstöre, was
er nicht zerstören will! ‒ ‒
Heilig bleibt dem Menschen nur, was
er als „heilig” noch empfinden kann:
‒ was stets bewahrt bleibt vor er
niedrigenden Worten, und unan
74 Die Ehe
tastbar aller Lebensäußerung ent
rückt, die nicht mit Ehrfurcht ihm zu
nahen weiß...
Der heilige Bezirk, den nie ein ande
rer Mensch betreten darf, als nur
die beiden Ehegatten, ist aber wahr‐
lich weiter ausgesteckt als ihres Schlaf
gemaches Wände!
Es wird von ihm so manches noch um‐
schlossen, was durchaus nicht an und
für sich schon Verborgenheit erfor
dern würde...
Gemeinsamkeit will manches vor der
Außenwelt verborgen wissen, auch
wenn es nicht die Ehe selbst be
trifft. ‒
Gemeinsamkeit braucht unverbrüch
liches Vertrauen, und fordert, daß man
75 Die Ehe
jederzeit vor dem vereinten Men
schen stehen könne, wie vor sich
selbst! ‒ ‒ ‒
Gemeinsamkeit kennt keinen Spott
und kein Verhöhnen!
Gemeinsamkeit weiß nichts von liebe‐
leerem, überheblichen Verlachen!
Gemeinsamkeit ist stets darauf be‐
dacht, daß man sich gegenseitig schone:
‒ seine Schwächen zu bedecken suche,
und sich Hilfe biete!
Ein Leben in Gemeinsamkeit ist nur
zu führen, wenn beide Ehegatten wis
sen, daß keiner etwas, das er vor sich
selbst gesteht, dem anderen verber
gen muß. ‒ ‒ ‒
Nur so kann die Gemeinsamkeit zu
einer äußeren Schule innerer Voll
endung werden!
76 Die Ehe
Liebe und Nachsicht werden aber we
nig nur vermögen, solange nicht die
absolute Sicherheit besteht, daß dieser
Schule Pforte stetig fest verschlossen
bleibt, und sich nur beiden Menschen
öffnet, die in ihr sich gegenseitig
durch ihr Leben zu belehren suchen!
Es muß erst völlig alle Furcht verschwin‐
den, daß eines Tages unbehütet leichte
Rede Andere von Dingen hören lassen
könne, die man in Gemeinsamkeit be
schlossen glaubte!
Niemals darf die Gefahr bestehen, daß
Anderen zu Ohren kommen kann, was
Ehegatten gegenseitig sich ver
trauten!
So manche werdende Gemeinsam
keit ist schon durch unbedachte Rede
früh vernichtet worden! ‒ ‒ ‒
77 Die Ehe
Gemeinsamkeit erstreckt sich aber end‐
lich auch auf alles Ungemach und Leid,
von dem man seinen anderen Eheteil be‐
troffen findet, auch wenn man selbst nicht
mitbetroffen ist und auch den Anlaß
der Bedrückung nicht in gleicher Weise
wertet, ‒ sei es, daß man den Um
fang seiner Auswirkung nicht kenne,
sei es, daß man anders ihn empfin
den möge.
Hier ist das Tragenhelfen oftmals gar
nicht möglich, aber immer wird das
Tragenhelfen-Wollen möglich sein und
dem von Leid Betroffenen Erleichte
rung gewähren. ‒ ‒ ‒
Man sage sich nicht los von solcher
willigen Bereitschaft, auch wenn man
sicher weiß, daß man nicht helfen kann,
denn schon der Wille, Hilfe darzu
78 Die Ehe
bieten, wird dem Anderen Hilfe bringen
helfen! ‒ ‒ ‒
Auch läßt sich nicht Gemeinsamkeit er‐
halten, solange einer beider Eheteile
bitterlich empfindet, wie er mit seiner
Last, ‒ sei sie nun wirklich, oder nur
in seiner Vorstellung so drückend
schwer ‒ allein zu Berge gehen muß,
und daß der andere Eheteil an solcher
Not kaum Anteil nimmt. ‒
Es ist gewiß nicht mehr als selbstver
ständlich, daß man des Leides Last ge
meinsam trägt, dort, wo das Schicksal
sie auf beider Ehegatten Schultern bür‐
det, allein, sehr oft verkennt auch
tiefste Liebe ihre Pflicht zur Anteil
nahme, wenn sie sich außerstande
sieht, das Leid, dem nur der Andere
verhaftet ist, in gleicher Weise mitzu
tragen oder auch nur zu verstehen..
79 Die Ehe
Suchst du das Glück der Ehe, dann
strebe nach Gemeinsamkeit in allen Din‐
gen dieses Erdenlebens, die gemein
sam sich erleben lassen, und ziehe
diese Grenze weiter, als der erste
Anschein dich bestimmen könnte, sie
zu ziehen! ‒
Es ist für jeden Teil der Ehe ratsam,
daß er auch dort wo ihn des anderen
Eheteiles Angelegenheiten nicht von
allem Anbeginn her interessieren, in sich
Interesse dafür wecke...
Es ist jedoch nicht minder nötig, daß
man den anderen Eheteil für die ihm
fremden Angelegenheiten einzuneh
men suche und ihm den Zugang öffne,
so daß er sie verstehen lerne...
Doch wisse auch, daß jede Seele ihre
eigenen Bereiche hat, die auch der aller
80 Die Ehe
nächsten anderen Seele sich nicht öffnen
können!
Wisse auch, daß oftmals Pflicht gebietet,
gewisse Dinge in Verborgenheit zu hal‐
ten, und ehre dann, vertrauend, was
deinem Miterleben sich entziehen muß! ‒
Du wirst vertrauen können, wenn in
allem, was Gemeinsamkeit verträgt,
das lauterste Vertrauen zwischen
dir und deinem, in der Ehe dir ge
einten Gegenpole herrscht! ‒ ‒
Hüte dich vor der Neugier, die so gerne
dich verleiten möchte, dich in Bereiche
des Erlebens einzudrängen, zu deren
Pforte man den Schlüssel nicht be
sitzt, oder durch Pflicht gehalten ist,
ihn dir nicht darzureichen! ‒
In einer wahren Ehe wird auch dort, wo
sich das eigene, gesonderte Erleben
81 Die Ehe
der Gemeinsamkeit nicht öffnen läßt,
der so Erlebende gewiß den anderen
Teil hinlänglich noch zu unterrichten
wissen, von welcher Art das jeder
Mitteilung Entrückte ist, so daß auch
hier kein Riß durch innigstes Gemein‐
samkeits-Erleben geht...
Wo gegenseitiges Vertrauen herrscht,
dort wird sich niemals Argwohn zu er‐
heben suchen, auch wenn nur ganz im
Allgemeinen angedeutet wird, um was
es sich bei jenen Dingen handelt, die
nicht ausgesprochen werden können,
oder die durch Schweigepflicht der
Mitteilung entzogen bleiben müssen, ‒
und wahre Liebe wird gewiß nicht wei
terforschen wollen, wo sie erfühlt, daß
ernste Gründe die Verhüllung for
dern...
Doch treibe man auch nicht mit Dingen,
82 Die Ehe
die sich nicht in Worte fassen lassen,
oder die Verpflichtung ein für allemal
dem Wort verwehrt, unnötige und
künstliche Geheimniskrämerei, um so
die Neugier stetig wach zu halten, oder
gar sich selbst mit einem Nimbus des Ge‐
heimnisvollen zu umgeben!
So handelt ärgste Torheit nur, und sol‐
ches Handeln straft sich selbst durch
Folgen, die gewiß sehr weit von seiner
eitlen Absicht liegen...
Wenn wirkliche Gemeinsamkeit be‐
stehen und erhalten werden soll, dann
muß man ehren, und zuweilen auch ver
ehren können, was der Andere ‒ auch
wenn er gerne davon reden würde, so
er könnte ‒ verborgen halten muß!
‒ ‒ ‒
Dann aber läßt man sich an dem ge
83 Die Ehe
nügen, was man sich gegenseitig offen‐
baren kann, und wahrlich: es wird mehr
sein als genug um einer Ehe auch im
innersten Erleben beider Teile die Ge
meinsamkeit zu sichern, die sie braucht,
da ohnehin noch keine Seele hier auf
Erden restlos alles auszusprechen
wußte, was in ihr Erlebnis war! ‒ ‒ ‒
*           *
*
84 Die Ehe
VIERTES KAPITEL
VON LEID UND FREUDE
ES gab noch niemals eine Ehe, die –
allzeit jedem Leid entrückt
nur Freuden kannte.
Leid und Freude mischen dieses Er‐
denlebens ‒ nicht jedem bekömmlichen
‒ Trank, und doch ist es an uns: die
Art der Mischung zu bestimmen, auch
wenn wir leider nicht verhindern können,
daß sich nun einmal Leid mit Freuden
mischen muß!
Besonders aber in der Ehe wird es tief
bedeutsam sein, wie weit sich unsere
Kraft bewährt, das Leid zu mindern
und die Freude zu vermehren...
Gewiß bleibt Leid stets Leid, auch wenn
so manches Wort uns trösten möchte,
als könne Leid sich selbst in Freude
wandeln.
Hier weiß das Wort der Rede nur von
87 Die Ehe
Aufeinanderfolge: ‒ von Leid-Ver
drängung durch der Freude Wieder
kehr!
Allein, wir haben Macht, der Freude
Wiederkehr zu fördern, ‒ wir haben
Macht, der Erde Freuden zu vermeh
ren!
Es ist gewiß nicht nötig, daß man einen
Menschen etwa lehre, Leid zu schaffen,
‒ und auch wenn nie ein Mensch dem
anderen Leid bereitet hätte, wäre
wahrlich Leid genug auf Erden anzu‐
treffen, denn alles, was in dieser Außen
Welt: Erscheinung bildet, hat Da-Sein
nur durch Leid: ‒ vermag sich nur im
Da-Sein zu erhalten, indem es seinet‐
wegen Anderes leiden läßt...
Nur dort, wo Güte: ‒ träumendes
88 Die Ehe
Verlangen, Mitleid: ‒ Wahnwitz
zeugte, kann sich des Erdenmenschen
Denken so ver-messen, daß es die
Weise findbar glaubt, das Leid aus
dieser Außen-Welt, ‒ in der es Folge
ihrer Raum verdrängenden und Eigen‐
Raum verschließenden Struktur ist, ‒
zu verbannen. ‒ ‒
Wo immer Außen-Welt den an sich
homogenen Raum zerstückelt, dort
ist Leid, ‒ und Menschenmacht ver‐
möchte dann nur dieses Leid zu tilgen,
wenn sie imstande wäre, alle „Außen”‐
Welt für immer zu vernichten, womit
jedoch zugleich auch alle „Innen”‐
Welt Vernichtung fände...
Ist aber diese äußerste der „Außen”‐
Welten, die wir, in tierverhafteter Ge‐
staltung, durch den Tier-Sinn wahrzu‐
89 Die Ehe
nehmen uns gezwungen fühlen, auch
erfüllt von Leid, und sind auch weite
unsichtbare Reiche dieser „Außen”‐
Welt noch ganz in gleicher Weise ‒
manche sogar mehr ‒ dem Leide aus‐
geliefert, da auch dort noch alles Da
Sein nur besteht in Raum-Verdrän
gung und in Eigen-Raum-Verschlie
ßung, so stehen doch dem gegenüber
unzählbare „Innen”-Welten, in denen
alles Sein, ‒ dem homogenen Raume
keineswegs etwa entrückt, ‒ sich
gegenseitig öffnet und durchdringt,
so daß hier jede Möglichkeit des Lei‐
den-Könnens völlig fehlt. ‒ ‒ ‒
Nie aber läßt sich eine Welt vom Leid
befreien, die nur bestehen kann durch
Leid, ‒ und alles Mühen Einzelner,
durch Da-Seins-Unterdrückung und
Verzichtleistung auf Da-Sein, dieser
90 Die Ehe
Erde Leid zu mindern, bleibt ergeb
nislos: ist nur des Mit-Leids tröstende
Betäubung...
In diesem Erdenleben ist des Menschen
ganze Macht darauf allein beschränkt,
daß er zwar dieser Erde Leid ins Un
gemessene und niemals Nötige zu
steigern fähig ist, ‒ doch ebenso ver
mag, das Leid zurückzudrängen in die
urgegebenen Bereiche, aus denen es nicht
lösbar werden kann, wenn diese „Au
ßen”-Welt ‒ und mit ihr jede „Innen”‐
Welt ‒ bestehen bleiben soll, und wahr‐
lich „sollen” sie bestehen! ‒ ‒ ‒
Es kann sich jeder Mensch von vielem
Leid befreien, das er in törichter Ver‐
blendung selbst sich schuf, ‒ und
vieles Leid kann er vermeiden, macht
er nur Gebrauch von seiner Kraft!
91 Die Ehe
In gleicher Weise aber hat er Macht,
gar manches Leid von seinen Neben
menschen abzuwenden!
Wo immer Menschen sich begegnen
mögen, dort wird es ihnen Pflicht, ihr
eigenes wie des Nebenmenschen
Leid zu mindern! ‒ ‒
Wenn aber Menschen, die sich nie im
Leben sahen, niemals wiedersehen wer‐
den, hier ein Pflichtgebot erkennen
müssen, so gilt es heiliger und bin
dender fürwahr noch für die innigste
Vereinung zweier Menschen, die in der
Ehe eine neue Lebenseinheit bilden,
um sich gegenseitig durch Er-gänzung
zu vollenden! ‒ ‒ ‒
Und wo ist leichter Leid von seinem
Nebenmenschen abzuwenden, als hier,
wo Weib und Mann in einem Leben der
92 Die Ehe
Gemeinsamkeit von allen Leidgefahren
wissen, die ihnen gegenseitig und ge
meinsam drohen können!? ‒ ‒
Die Ehe kann ein Born der Freude
sein, ‒ man kann sie aber auch zu
einem Pfuhl des Leides wandeln!
Wer nicht des anderen Eheteiles Glück
in seiner Ehe als sein höchstes Ziel er‐
strebt, der wird gar leicht sich um sein
eigenes Glück betrügen, ohne es zu
ahnen! ‒ ‒
Wer aber wirklich in der Liebe ist, der
wird weit eher selber leiden wollen,
als daß er je den anderen Eheteil im
Leide sehen könnte. ‒ ‒ ‒
Es wird ihm nichts beschwerlich fallen,
wenn er weiß, daß er des anderen Tei‐
les Leid dadurch vermindern kann...
93 Die Ehe
Nun aber ist es keineswegs damit
getan, daß man sich nur darauf be‐
schränke, allem Leid zu wehren, dem
man wehren kann! ‒
Erst dort ist höchste, schönste Menschen‐
pflicht erfüllt, wo man das Leid des
Anderen durch Freude, die man in sein
Leben bringt, verdrängt!
Wo aber läßt sich schöner noch, als in
der Ehe, solche Liebespflicht erfüllen?! ‒
Es sind im Leben einer Ehe viele Dinge
aufzufinden, die der Freude Anlaß wer‐
den können, sich zu äußern und ein
großes Leid im Keime zu ersticken...
Doch ist es hier vonnöten, daß man zu
erfühlen suche, was der Andere er
sehnt: was er als Freude zu empfin
94 Die Ehe
den weiß, denn allzuleicht kann hier
auch bester Wille irren, wenn er dazu
verleitet, nur das eigene Empfinden und
Ersehnen als das allgerechte Maß der
Dinge anzusehen. ‒ ‒
Was dir gewißlich höchste Freude
wäre, kann deinem Gegenpole kaum
beachtsam scheinen, und seine Freude
mag vielleicht nur dort erstehen, wo
dein Empfinden völlig unberührt ge‐
blieben wäre...
Wie aber dem auch sei, und wie gar sehr
du auch „daneben greifen” magst, so
darfst du doch in keinem Falle eine
Kränkung” darin sehen, daß dein Be‐
streben nicht zum Ziele führte, weil deine
liebevoll erdachte Freude für den An‐
deren nicht als solche aufgenommen
wurde! ‒ ‒
95 Die Ehe
Soll dir Erfahrung wirklich Nutzen
bringen, dann wirst du mit dir selbst zu
Rate gehen müssen, um am Ende zu er‐
kennen, daß du verabsäumt hattest, dich
in anderes Empfinden einzufühlen,
denn wenn auch innigste Gemein
samkeit euch beide eint, so bleibt doch
jeder von euch beiden noch in seinem,
ihm nur eigenen Empfindungs-Leben,
und dessen Ablaufsrhythmus wird be‐
stimmen, was er, im jeweils sich erge‐
benden Moment, als Freude werten
kann...
Suche also nicht dich selbst, in deinem
Willen, Freude für den Anderen zu
bereiten! ‒
Wer sich stets Freude schaffen will, der
suche stetig seine Freude darin: Ande‐
ren auf ihre Weise Freude zu bereiten!
‒ ‒ ‒
96 Die Ehe
Vergeblich aber wirst du Freude
spenden wollen, solange du noch
Zweifel hegst an deiner Kraft, die
Freude zu erzeugen! ‒
Nie darfst du etwa glauben, daß dir
nicht gelingen könne, was dir, aus
irgend einem Grunde, leider oftmals
nicht gelang!
Du mußt dich selber aber erst zur Freude
stimmen”, bevor du dem mit dir ver‐
einten Menschen Freude bringen willst!
‒ ‒
Nur, wer im Überflusse „hat”, kann
Freude überfließen lassen in den An
deren! ‒
So suche denn vor allem eine Quelle
steter Freude in dir selber zu erschür‐
fen, so daß du unabhängig wirst von
97 Die Ehe
allem äußeren Geschehen, und nicht der
Freude Anlaß erst von außenher er
warten mußt, auch wenn du solchen
Anlaß, wo er sich auch immer bieten
mag, stets nützen sollst! ‒
Du wirst jedoch am besten jene Freude
übertragen können, für die du keinen
Grund im Außenleben anzugeben weißt!
Durch solche Freude wirst du mehr be‐
glücken können als durch jede andere
Art der Freude, die von außenher ver‐
anlaßt wird! ‒ ‒ ‒
Vergesse aber trotzdem auch die klei
nen Freuden nicht, zu denen jeder Tag
dir ja so manchen Wink und Hinweis
bringt!
Achte nichts als zu gering, wenn es dir
98 Die Ehe
dazu dienen kann, auch nur die aller
kleinste Freude zu bereiten! ‒ ‒
Oftmals gebar die kleinste Freude
schon ein großes, lang ersehntes
Glück! ‒ ‒ ‒
Im Leben einer Ehe gibt es täglich „tau‐
send” Möglichkeiten, kleine Freuden
zu er-finden, die gegenseitige Be
glückung bringen, und sei es auch für
kurze Augenblicke nur...
An keiner solchen Möglichkeit darf man
vorübergehen, ohne sie zu nützen! ‒ ‒
Wo immer du das Glück in einer Ehe
dauernd heimisch weißt, dort wirst du
auch bemerken, daß man sehr erfinde‐
risch die kleinen Freuden zu gestalten
sucht, zu denen jede Stunde neuen An‐
laß bringt...
99 Die Ehe
Der gute Gärtner wird in seinem Blüten‐
garten auch die allerkleinsten Blüm‐
lein niemals übersehen, mögen sie auch
recht bescheiden scheinen, neben jenen
hochgestielten Farbenwundern, deren
Beet sie rings umfassen.
So aber ist auch in der Ehe: selbst der
kleinste Freuden-Anlaß nicht bedeu
tungslos, und darf nicht übersehen
werden, will man des ehelichen Blüten‐
gartens schönste Harmonie gestalten!
‒ ‒ ‒
Ist aber Ehe einer Zweiheit wahre Ei
nung, und muß Leid ertragen werden
im Verlauf des Lebens, das oft nur in
Vereinung zweier Willen noch ertrag‐
bar ist, ‒ so bleibt auch Freude zu er‐
streben, wie sie die Zweiheit dann nur
100 Die Ehe
schaffen kann, wenn sie Verschmelzung
fand in neuer Lebenseinheit. ‒ ‒
Hier ist dann jeder Teil der Schen
kende und der Beschenkte, und beide
nur gemeinsam sind imstande, diese
Freude, die der Einheit Farbe trägt, zu
mehren!...
Nur wo der Wille beider Teile völlig
sich geeinigt findet, ist solcherart dem
Leide zu begegnen, und kann in gleicher
Weise höchste Freude aus der Einung
sprießen! ‒
Die Ehe, die hier weiß um ihre Macht,
und sie gebraucht, wird nie im Leide
Schaden nehmen können, und nie an
Freude Mangel leiden! ‒ ‒ ‒
Sie kennt die Kunst, das Leid in seine
engste Grenze einzubannen!
101 Die Ehe
Sie weiß von einer Freude, die auch
alles Leid nicht mehr verdunkeln kann!
Und solche Freude, solche Kraft der
Leidverdrängung wird aus dieser Ehe
auch auf alle anderen Menschen über‐
strahlen, die mit den Ehegatten in Be‐
rührung kommen...
So wird dann diese Ehe segensreiche
Wirkung schaffen, weit über ihren
eigenen Bereich hinaus, und wahrlich
unvergleichlich mehr an Gutem för
dern als so mancher andere Ehebund,
in dem die beiden Ehegatten längst ver
lernten, sich noch gegenseitig Freude
zu bereiten, und von der Freude, die aus
ihrer Einung kommen könnte, keine
Ahnung haben, ‒ weil sie vor lauter
Sorge, anderen Menschen in geschäf
tiger Betätigung zu helfen, nicht mehr
die erste Pflicht erkennen, ihre eigene
102 Die Ehe
Ehe erst harmonisch zu gestalten.
‒ ‒ ‒
Im stärksten Gegensatz zu einer sol‐
chen irrig überwerteten Geschäftig
keit, die ihre Pflicht zur „Nächsten
liebe” bei den Allerfernsten erst be‐
ginnen fühlt, und Andere beglücken
will, derweil sie alles Glück aus ihrem
eigenen Hause scheucht, ‒ wird eine
Ehe, die das Glück der Einheit in der
Freude aus der Einung kennt, kaum
wissen, daß sie Anderen hilft, indem
sie, nur in ihrem eigenen Bereich, das
Leid der Erde mindert, und das den‐
noch unvermeidbar bleibende durch
Freude zu verdrängen sucht. ‒ ‒ ‒
Solche Ehe aber ist ein wahres Heilig
tum der Freude, aus dem noch fernsten,
103 Die Ehe
kommenden Geschlechtern Segen strö‐
men wird! ‒ ‒ ‒
Ein Heiligtum der Freude in der Welt
des Leides aber sollte jede Ehe hier
auf Erden sein, und eine jede Ehe kann
zu solcher Höhe sich erheben, so es nur
nicht am Willen beider Eheteile fehlt,
die reine, hehre Freude zu gestalten, die
nur in der geeinten Zweisamkeit der
Ehe sich gestalten läßt! ‒ ‒
Soll diese Erdenmenschheit einst zu der
Vollendung kommen, die ihr auch hier:
in dieser „Außen”-Welt schon werden
kann, ‒ dann wird allein die wahre Ehe
dieses Wunder wirken müssen: ‒ die
Ehe, die sich selbst in Freude zu
vollenden weiß! ‒ ‒ ‒
Damit sie es auch wirken könne, muß
104 Die Ehe
sie vertausendfacht erstehen, wis
send um die hohe Macht, der Erde Leid
zu bannen und der Erde reinste Freu
den zu vermehren! ‒ ‒ ‒
*           *
*
105 Die Ehe
FÜNFTES KAPITEL
VON
VERSUCHUNG UND GEFAHR
WO Liebe eine Ehe schuf, dort ist
die Einheit beider Eheteile so
gegründet und umhegt, daß selten
nur von außenher noch Störung gegen‐
seitigen Empfindens kommen kann...
Und doch bleibt keine Ehe so geschützt,
daß ihr Versuchung nicht zu nahen
wüßte!
Stets aber wird es sich beim Nahen der
Versuchung zeigen, ob eine Ehe wirk
lich in der echten Liebe wurzelt, oder
ob nur Neigung Mann und Weib zu‐
sammenführte, ‒ Neigung, die auf bei‐
den Seiten auch sehr leicht durch andere
Neigung wieder zu verdrängen ist...
Wo eine Ehe wurzelfest in echter Liebe
gründet, dort wird auch heftigste Ver‐
suchung ihr nicht Schaden bringen
können!
109 Die Ehe
Selbst wenn Versuchung nur durch
schweren Kampf sich noch besiegen
läßt, wird doch zuletzt die Liebe Sieg
erringen, denn alle Kräfte der Versu‐
chung sind nicht fähig, weiter Wider
stand zu leisten, sobald sich echte Liebe
ihrer Kraft bewußt wird, und aus dieser
Kraft heraus bekämpft, was sie be‐
drohen will! ‒ ‒
Trotz allem aber sollst du wachsam
sein, und nicht erst warten, bis Versu‐
chung so erstarkt, daß sie nur noch
durch schweren Kampf besiegbar ist!
Du kannst dich selbst zu solcher Wach‐
samkeit erziehen, so wie du dich auch
leichten Sinnes der Versuchung über
lassen kannst, bis sie dich hart be
drängt und starke Gegenwehr er‐
fordert. ‒ ‒
110 Die Ehe
Versuchung kann dir allerorten nahen,
auch wenn du sie gewiß nicht suchst,
ja dann auch, wenn du sorglichst deine
Wege wählst, um ihr nur ja nicht zu be‐
gegnen, da sie deine Furcht erregt. ‒
Versuchung aber ist noch keine
Schuld”!
Erst, wenn du anfängst, ihr Gehör zu
schenken, ‒ sie dir zu nahe kommen
läßt, ‒ sie hegst und mit ihr spielst,
‒ wirst du dich wahrlich nicht mehr
schuldfrei wähnen dürfen! ‒ ‒
Auch wenn du noch zu gutem Ende
Sieger bleibst, hast du dich doch mit
schwerer Schuld beladen, und wirst
nunmehr nicht ruhen dürfen, bis alle
Folge dieser Schuld aus deinem Leben
schwindet! ‒ ‒ ‒
111 Die Ehe
Vielleicht wirst du dir selbst gestehen
müssen, daß du gar oft nicht wachsam
warst, wo Wachsamkeit von dir ge
fordert werden konnte? ‒
Vergeblich wäre es, wenn du dich nun
in Selbstqual winden wolltest!
Du wirst nun jetzt mit allen Selbstvor
würfen nichts mehr ungeschehen ma‐
chen können, und deines Fehlers Spu
ren kannst du nur aus deinem Leben
tilgen, wenn du dafür sorgst, daß alles
Übel, das aus ihm entstand und noch
entstehen könnte, an seiner Auswir
kung verhindert wird. ‒ ‒
Aus jeglicher Erfahrung sollst du Lehre
ziehen, und so wird dich dein Strau
cheln lehren können, wie du durch
Wachsamkeit dich künftig frei von
Schuld erhalten kannst, auch wenn du
112 Die Ehe
nicht imstande sein wirst, der Versu
chung immer auszuweichen...
Die leiseste Empfindung mußt du
kontrollieren lernen, mußt sie wägen,
und im selben Augenblicke von dir
weisen, in dem du fühlst, daß sich in
ihr bereits Versuchung zu verbergen
trachtet!
Erkennst du so das Feindliche so
gleich, wenn es sich naht, dann wird
es immer leicht sein, es zu überwin
den, und niemals wirst du wirklich ‒
in des Wortes letztlicher Bedeutung ‒
„in Versuchung fallen”! ‒ ‒ ‒
Nur, wenn du Wohlgefallen an der
ersten Regung der Versuchung findest,
wird Versuchung dir zur Schuld!
Es kann dir großer Kraftzuwachs aus
113 Die Ehe
der Versuchung kommen, wenn du stets
wachsam bleibst und sie in jeglicher
Verkleidung zu erkennen suchst, um ihr
den Zugang in dein Inneres zu wehren.
‒ Ein jeder Mensch hat irgendeine
schwache Seite”, und stets wird die
Versuchung seine Schwäche auszu
spüren wissen. ‒
Begegnest du jedoch dem ersten Na
hen schon mit Abwehr, und mit einem
Nein”, das kein Paktieren kennt, dann
wirst du immer mehr, ‒ gerade dort, wo
Stärkung dir vonnöten ist, ‒ erstar
ken! ‒ ‒
Du wirst durch deine Wachsamkeit dich
gänzlich wandeln, so daß dir jegliche
Versuchung ungefährlich wird, weil
Abwehr dir Gewohnheit wurde, und
die Versuchung dann vergeblich eine
114 Die Ehe
unbewachte Pforte sucht, durch die sie
Einlaß zu dir finden könnte!...
Dann aber erst bist du geborgen, und
dann erst darf man dir Vertrauen
schenken!
Dann erst wird deine Ehe so behütet
sein, daß sie dir alles geben kann, was
sie, in unerschöpflich reicher Fülle,
Mann und Weib, die wert sind, ihr My‐
sterium zu erleben, stetig neu zu geben
hat! ‒ ‒ ‒
Du trägst nicht nur für dich allein die
heiligste Verantwortung, sobald du
dich dem Anderen verpflichtet hast, mit
ihm die Geisteseinheit einer Ehe aufzu‐
richten!
Die Ehe ist auch nicht nur: ‒ „mensch
licher Vertrag”, obwohl der andere
115 Die Ehe
Eheteil ein un-bedingtes Recht an dich
erlangte, und du ihm dann selbst noch
die „Treue” schuldest, wenn er be
trügerisch sie bricht. ‒ ‒ ‒
Ein jegliches Gelöbnis zwischen Mann
und Weib, in dem sich beide Teile ehe
liche Einung dargeloben, stellt vielmehr
ein kosmisches Geschehen dar, und
bindet nicht nur beide Ehegatten, ‒
bindet nicht nur aller Menschheit ge
genüber, sondern reicht mit seinem
Jawort” auch hinein in höchste Gei
steswelt! ‒ ‒ ‒
Es wird nur lösbar, wenn der „Tod
die beiden Eheteile scheidet, oder, wenn
durch triftigste und schwerste
Gründe ‒ beide Teile sich gezwungen
sehen, sich gegenseitig voneinander zu
befreien, indem sie, ‒ ebenso gemein
sam, wie es einst geschlossen wur
116 Die Ehe
de, ‒ ihr Gelöbnis vor einander,
vor aller Menschheit, wie auch vor
dem wesenhaften Geiste wider
rufen, ‒ es sei denn, daß der eine Teil,
auch ohne solchen Widerruf, den an
deren verlasse, oder sonstwie ihm
unmöglich mache, das Gelöbnis auf
rechtzuerhalten...
Solange also dein Gelöbnis noch zu
Recht besteht, bist du in dreifacher
Verpflichtung, aus der keinGott
dich zu befreien wüßte! ‒ ‒
Es wird Verantwortung von dir ge‐
fordert werden, auch wenn du während
dieser kurzen Spanne Zeit, ‒ die auch
das längste Erdenleben darstellt vor
der Ewigkeit, ‒ dich jeglicher Verant‐
wortung entzogen wähnst! ‒ ‒ ‒
Daß Andere Versuchung suchen und
117 Die Ehe
ihr keinen Widerstand entgegensetzen,
kann niemals dich von deiner Schuld
entlasten!
In deiner Ehe bleibst du für dich selbst
verantwortlich, und Niemand kann dir
helfen die Verantwortung zu tragen,
Niemand kann sie von dir neh
men, ‒ wenn man dich hier auf Erden
auch entschuldbar finden mag!
Auch vor dem Angesicht der Ewig
keit magst du vielleicht „entschuld
bar” sein, und doch bleibst du verhaftet
der Verantwortung, so daß du alle
Folge deiner selbstgeschaffenen Im
pulse tragen mußt, bis auch der letzte
seine Auswirkung erreichte in der
Kette des Geschehens! ‒ ‒ ‒
Einst lehrte Einer, der dies wahrlich
118 Die Ehe
aus dem Geiste lehren durfte, daß da
ein Jeglicher schon Ehebruch begehe,
der durch den Anblick eines Weibes sich
verführen lasse, es auch leiblich zu be
gehren.
Man hat an diesem Wort vielfach sehr
wenig Wohlgefallen, und suchte es zu
drehen und zu deuteln, da es so manchen
nicht behagen will. ‒
Ich aber muß dir sagen, daß auch schon
jedes Hegen und geflissentliche
Steigern der naturbedingten
Schwingung der Erotik zwischen
Mann und Weib, ‒ sobald es einem
anderen Menschen, als dem eigenen
Ehegatten gilt, ‒ die Ehe schändet,
auch wenn sich solche Steigerung noch
keineswegs dem leiblichen Begehren
nähert, und somit noch nicht zum Ehe
bruch im Unsichtbaren führt! ‒ ‒ ‒
119 Die Ehe
Selbst wenn du durch ein Abbild dich
verleiten läßt, geschlechtsbewußte
Regung zu empfinden und dich ihr
zu überlassen, ‒ schändest du die
Ehe! ‒ ‒ ‒
Du mußt dich selbst dazu erziehen,
Schönheit auch am anderen Ge
schlecht bewundernd zu betrachten,
ohne auch die leiseste Erregung der
Erotik ins Bewußtsein einzulassen!
Jeder wahre Künstler, dem die mensch‐
liche Gestalt zum Vorbild seiner Schöp‐
fung wird, muß solcherart sein Vor
bild sehen lernen und kann dir sagen,
daß in seinem, von Erotik völlig los
gelösten Schauen, wundersame see
lische Beglückung möglich ist, die
jedem sich versagt, der hier ge
120 Die Ehe
schlechtsbewußte Regung hegt, und
niemals dem Begehrenden erreich
bar wird...
Daß du auch Künstler finden kannst, die
selbst ihr Können noch zum Makler
der Begehrlichkeit erniedrigen, kann
dir nur zeigen, daß auch Künstlertum
nicht schützt vor niedriger Verskla
vung an die Tiernatur, wenn sich der
Mensch nicht selbst aus solcher Skla‐
verei befreien will. ‒ ‒ ‒ ‒
Du kannst nicht streng genug dich
selber kontrollieren, willst du dich
lösen aus der Hörigkeit, und dein
Geschlechtliches beherrschen lernen!
‒ ‒ ‒
Jede dich umschleichende Empfindung,
die vor allerstrengster Prüfung nicht
121 Die Ehe
bestehen kann, mußt du entweder von
dir weisen, oder aber sie in Bahnen
zwingen, die sie völlig der Geschlecht‐
lichkeit entziehen!
Laß' dich nicht irreführen durch die laxe
Art, in der man meistens diesen Dingen
gegenübersteht und sie als leichthin läß‐
lich „Menschliches” betrachtet, ohne
sich der Schmach bewußt zu werden,
die man schon durch das Wort allein
auf seinen Menschennamen wirft! ‒ ‒
Wo immer du es nicht vermagst, die
Anderen aus ihrer Tiergebundenheit in‐
soweit loszulösen, daß sie selbst zu
Willen kommen um sich völlig ihr
dann zu entwinden, dort sollst du Nach
sicht üben, bis auch einst noch ihre
Stunde schlagen wird!
Wo sie jedoch dich selbst behindern
122 Die Ehe
wollen, deine Freiheit zu erringen,
dort ist Abkehr heilig-hohe Pflicht!
‒ ‒ ‒
Ich lehre nicht, daß man Versuchung
immer meiden könne, sondern zeige,
wie man ihrer sich erwehren kann!
Auch wenn du aus der Welt entfliehen
wolltest, würde dich Versuchung noch
in deiner fernsten Einsamkeit zu
finden wissen...
Du mußt dich so erziehen, daß du ihr
allerorten und zu jeder Zeit begeg
nen kannst, ‒ des Sieges schon im
voraus sicher, ‒ nicht mehr erregbar,
mag sie auch mit allen Künsten locken:
gelassen in der Abwehr, und be
stimmten Willens!
Dann wirst du nicht nur deine Ehe heilig
123 Die Ehe
halten und vor jeglicher Beschmutzung
wahren, sondern dir und dem mit dir
vereinten Menschen auch gar vieles
Leid ersparen, selbst wenn es nur das
Leid vorübergehender Betrübung
wäre, was der nächste Tag schon wieder
wenden könnte. ‒ ‒ ‒
Noch andere Gefahr jedoch, ‒ kaum
minder groß als die Versuchung, die
von außenher zu kommen scheint, da
du im Äußeren den Anlaß ihrer Aus
lösung gewahrst, ‒ kann aus Empfin‐
dungstiefen her der Ehe Glück bedrohen.
Auch hier ist Warnung nötig, und auch
hier ist vieles Unheil leicht noch abzu
wehren, wird sogleich erkannt, daß
Pflicht besteht, Gefahr zu bannen...
Es gibt in jedem Menschen dieser Erde
124 Die Ehe
einen inneren Bereich, den er kaum sel
ber kennt, und den er noch viel weniger
vor irgend einem Nebenmenschen völlig
offenbaren kann, ‒ nicht, weil hier
Heimliches verschwiegen werden
müßte, oder zu Erhabenes sich nicht
in Worte fassen ließe, ‒ sondern:
weil der Mensch hier selbst zu we
nig von sich selber weiß...
Nun kann es kommen, daß die Einung
zweier Menschen in der Ehe sie ver
leitet, auch noch dort nach gegenseitiger
Entschleierung zu streben, wo unab‐
weisliches Gebot: Verhüllung heischt,
‒ und daß sie dann urplötzlich in Ent‐
setzen sich vor einer gegenseitigen Ent
täuschung sehen, die sie selbst herauf‐
beschworen haben, und der nur selbst
geschaffene Phantome, die das Eigen‐
bild in wahrheitswidriger Verzerrung
125 Die Ehe
zeigen, mehr als fragliche Gewähr
verleihen. ‒ ‒
Man glaubt, man müsse sich einander
bis ins Innerste enthüllen, und
schreckt alsdann zurück, wenn man sich
endlich seelisch nackt zu sehen meint,
‒ nicht ahnend, daß man vor einander
gegenseitig nur Popanze schuf und
ihnen nun mehr glaubt als aller Wirk‐
lichkeit. ‒
Zwei Menschen, die sich stets im Aller‐
tiefsten nur als Eines fühlten, werden
sich nun fremd, weil sie in Worten wahr
sein wollten, dort, wo Worte nie die
Wahrheit wissen können...
Ein äußeres Geschehen, ein Begegnen,
oder sonst ein Anlaß, der von außen
kam, läßt unversehens Zweifel keimen:
126 Die Ehe
ob man sich noch ganz „gehöre”, und
allsobald mißtraut man aller Sicher
heit des Fühlens, um in sich zu wühlen
und zu bohren, bis man sich endlich nun
in Herz und Nieren aufgefunden wähnt.
Lebendigen Leibes hat man sich seziert,
und da man sich auf diese Weise nie‐
mals finden konnte, formte man aus
eigenen Eingeweiden das Phantom, in
dem man so recht eigentlich sich selbst
zu haben meint. ‒
So zeigt man nun einander diese Aus‐
geburt des Wahns, und, schreckerfüllt,
fühlt man sich von dem Anblick abge
stoßen. ‒ ‒
Gar arges Unheil ist auf solche Art aus
reiner Torheit nur geschaffen worden,
und manche Ehe, die vor Gott bestehen
bleiben sollte, wurde so zerstört durch
127 Die Ehe
einen Wahrheitswillen, der zum Irr
tum führen mußte, da er den Worten
mehr vertraute, als der inneren Ge
wißheit fühlenden Erlebens, in der
allein die Wahrheit für ihn auffind
bar gewesen wäre...
Es ist jedoch nicht nur nicht nötig, daß
man alles voreinander auszukramen
suche, was dort, wo man sich selbst kaum
kennt, als dunkle Regung das Ge
fühl beirren will: ‒ es ist vielmehr in
jedem Fall verderblich, diese Dinge,
die im Lichte eigenen Bewußtseins noch
molluskenhafte Formen zeigen, und
bald hell, bald dunkel, in der wider
streitendsten Verfärbung schillern,
geflissentlich hervorzuzerren, um sie
in die Form bestimmter Worte einzu‐
pressen! ‒ ‒
128 Die Ehe
Schnell ist ein Wort gesprochen, dessen
Folgen selbst in einem langen Menschen‐
leben nicht mehr auszumerzen sind!
Bei solchen dunklen Regungen jedoch,
die keine klarbestimmten Formen zeigen
können, wird außerdem das Wort stets
fälschen, wird vergröbern und ver
stärken müssen, soll es das noch Un
sagbare, Ungeformte formen und zu
sagen suchen...
Es werden Worte dann gesprochen, vor
denen man erschrickt, noch während
sie die Zunge schrill hervorzustoßen sich
gezwungen fühlt, als hetzten sie Dä‐
monen...
Im nächsten Augenblicke möchte man
das so Gesagte auch schon widerrufen,
hätte man nicht, ungewollt, schon wie‐
der weit verletzenderes Wort auf
seinen Lippen...
129 Die Ehe
Worte die man gar nicht sagen
wollte, tauchen aus Tiefen auf, um die
man niemals wußte, und diese Worte
haben überzeugende Gewalt, für
uns, wie für den Andern, obwohl sie
alles Andere eher, nur nicht der Wahr
heit Zeugnis sind...
Wurden sie jedoch nun einmal ausge
sprochen, so holt sie keine Macht der
Erde wieder in das Unerkennbare zu
rück, und selbst dem späteren, ernsten
Widerruf wird man nur zögernd
schwachen Glauben schenken können.
‒ ‒
Und doch hat man sich gegenseitig nur
aus einem tollen Wahn heraus belo
gen, ‒ derweil man sich nun endlich,
‒ so als ob es nie geschehen wäre, ‒
die Wahrheit” sagen wollte! ‒ ‒
130 Die Ehe
Besonders dann, wenn gar noch Zorn
und Heftigkeit den Worten Wirkungs
kraft zu sichern suchten! ‒ ‒ ‒
Bei ruhigem Betrachten wird man
bald bemerken, wie der Schein der
Wahrheit solchen Worten schwindet,
‒ ja, oft wird man entdecken, daß nur
das Gegenteil von dem, was man in
seinem Wahn alswahrempfun
den hatte, der Wahrheit unverfälschte
Darstellung geschaffen hätte...
Nun aber kommt Erkenntnis leider viel
zu spät, und Reue wird jetzt wenig
ändern können. ‒ ‒
Will man das Unheil, das sich aus zu
früh geborenen Worten immer neue
Nahrung saugt, dann wieder aus der
Welt zu schaffen suchen, so hat man
131 Die Ehe
wahrlich seine bittere Not, ‒ und schafft
man es auch endlich fort, so wird es doch
noch immer Spuren hinterlassen, die
niemals gänzlich zu verwischen
sind. ‒ ‒
Unendlich leichter aber wäre es ge‐
wesen, sich die Rede vorher zu ver
wehren, und Dinge, die kein Recht be‐
saßen, Wort zu werden, niemals aus
zusprechen! ‒ ‒ ‒
Was sich in jenem inneren Bereich, in
dem der Mensch sich selber fremd
bleibt, zu verbergen trachtet, das hat
guten Grund, Verborgenheit zu for‐
dern, und niemals soll man es gewalt‐
sam in das grelle Licht des Tages
zwingen wollen!
Was Ruhe braucht, wird man am besten
stets in seiner Ruhe lassen, damit es
132 Die Ehe
nicht in wilder Wut zerstöre, was es
auferbauen soll! ‒ ‒
Auch in dem Streben, seine eigene
Tiefe zu ergründen muß man sich be
meistern lernen, damit man nicht ver‐
sucht wird, Tiefen auszuloten, die grund
los sind, ‒ und dort das Leben störe,
wo es erst nach Formung drängt,
die nur in steter Ruhe sich gestalten
kann...
Dann aber wird sich jede dunkle Re
gung innerer Beirrung als ein Durch
gangsstadium völlig andersartiger
Empfindungsbildung zeigen, ‒ denn
stets, wenn sich Empfindung feste Form
erschaffen will, bedarf sie eines Gegen
satzes, den sie sich selber setzen
muß, um ihn zu überwinden! ‒ ‒ ‒
Zwei Menschen, die in ihrer Ehe ihrer
133 Die Ehe
Liebe sicher sind, und doch sich täglich
neu erproben wollen, um sich auch in
Worten ihre Liebe zu „beweisen”,
begeben sich nur in Gefahr, das Glück,
das sie sich schaffen sollen, zu zerstö
ren, noch bevor es sich aus seinen Fun‐
damenten frei erheben kann! ‒
Was dir dein innerstes Gefühl beweist,
dem sollst du nicht noch Wortbeweis
zur Seite stellen wollen!
Auch dann nicht, wenn dich eine dunkle
Regung unklar wogenden Empfindungs‐
webens in dir selbst beirrt, so daß,
was vorher im Gefühl gesichert war,
dir nun zur Frage wird! ‒ ‒
Warte gelassen in dir selber Ant
wort ab, und übe Schweigen, bis du
sie erhalten hast!
134 Die Ehe
Im Schweigen wirst du alle Störung
deines Fühlens sicher meistern!
Im Schweigen wird dir deine Ruhe
wiederkehren, und bald wirst du erneut
auch wieder deines Fühlens sicher
sein!
Dann aber wirst du dich vor jedem
Wort entsetzen, das da vordem schon
auf deiner Zunge schwebte!
Dankbar wirst du deinem Schwei
gen sein!...
Vor vielem Unheil hat es deine Ehe
dir behütet. ‒ ‒ ‒
Jetzt aber wirst du wahrlich reden
dürfen!
Glück und Freude hast du neu errun
gen, und von Glück und Freude wird
nun jedes deiner Worte zeugen!
135 Die Ehe
Nur schaudernd denkst du noch zurück
an jenen dunklen Tag, der dich schon in
Versuchung und Gefahr sah, zu verflu
chen, was du nunmehr aus ganzer Seele
segnen mußt! ‒
Wahrhaftig: ‒ daß du schweigen konn‐
test, wo die Rede Fluch gewesen wäre,
‒ das wird nun deiner Ehe Segen!
‒ ‒ ‒
*           *
*
136 Die Ehe
SECHSTES KAPITEL
VOM ZWANG DES ALLTAGS
UNZÄHLIG sind die „unglückli
chen Ehen”, in denen sich einst
beide Teile als zu allem Glück berech
tigt glaubten, bis dieser Traum in Reue
und Verzicht sein armes Ende fand. ‒ ‒
Es gibt ja leider nur zu viele Gründe,
die zu so bitterer Enttäuschung führen
können! ‒
Doch geht man sicherlich nicht fehl, wenn
man sehr vieler Ehen vornehmlich
stes Unglück darin grundverankert
sucht, daß beide Teile in der Ehe die
Erfüllung eines Lebenswunsches zu
erreichen glaubten, der, ‒ durch Ver
stiegenheiten töricht-lebensferner
Vorstellung genährt, ‒ im Glück der
Ehe sich ein Glück des steten fest
lichen Erlebens vorbehalten sah. ‒ ‒
Die Ehe aber ist gewiß kein ewiger
139 Die Ehe
Feiertag und läßt sich niemals aus dem
Zwang des Alltags lösen!
Man kann in ihr nicht immer Feste
feiern und, beglückt im Liebesrausch,
die Welt vergessen! ‒
Gedeihliches Leben braucht seinen
Rhythmus: braucht Steigerung und
Senkung seines Ablaufs, ohne Unter
laß! ‒
So aber muß auch in der Ehe steter
Lebensrhythmus herrschen!
Auch dort, wo aller Reichtum dieser
Erde zur Verfügung steht, kann eine
Ehe nur gedeihen, wenn sie, außer
ihren Festen, einen Alltag kennt! ‒
So aber ist auch da, wo sich die Not
des Daseins solchen Alltag zu er
zwingen weiß, durchaus kein Grund
140 Die Ehe
gegeben, einer Ehe Glück gefährdet zu
erachten, wenn nur die beiden Ehegatten
diesen Zwang des Alltags so zu
nützen suchen, daß er dem inneren Le‐
bensrhythmus ihrer Ehe Kräfte bringt,
aus denen ihm auch Feste einst erstehen
werden. ‒ ‒
Wohl ist es freilich leichter, sich im
Festgewande zu gefallen, als im All
tagskleide! ‒
Und leichter ist es, sich gemeinsam
heiterem Genießen hinzugeben, als
des Alltags schwere Forderungen
zu erfüllen! ‒
Die Ehe aber kann kein stetes „Arm
in-Arm”, ‒ kein stetes Liebeskosen
sein und wenn auch jeder Eheteil dem
anderen nur zu gerne stete Zärtlich
keit bezeigen möchte, so wird gar oft
141 Die Ehe
die Sorge um des Lebens Notdurft, oder
sonstige Verpflichtung, Anderes erhei‐
schen, und Liebesstunden werden Feier
stunden bleiben! ‒ ‒
Hierfür fehlt aber allzuoft das rich
tige Verstehen!
Man möchte auch den Alltag in der Ehe
nur als Fest erleben, und fühlt sich „um
sein Glück betrogen”, wenn er sich
als Alltag zeigt. ‒ ‒ ‒
Zu allem Überfluß läßt es sich meistens
nicht verhüten, daß jeder Eheteil in sei‐
nem Alltag einem anderen Bereich des
Lebens dienen muß.
Nun kann es sich ereignen, daß der eine
nach getanem Werke sich auf einer
Wellen-Höhe des Empfindens fühlt,
indessen sich der andere in einer Nie
derung weiß, die er erst überwinden
142 Die Ehe
muß, um seine Höhe wieder zu er
reichen.
Wenn man sich nun begegnet, und nicht
liebendes Verstehen alsbald aus
zuspähen sucht, wie es dem ande
ren Teil zumute ist, dann müssen
beide Teile aneinander leiden, ob‐
wohl sich dieses Leid so leicht vermei
den ließe, würde man nicht gar zu sehr
von seinem eigenen Erleben einge‐
nommen sein. ‒ ‒
So mancher Zwist wird nur hervorge‐
rufen, weil der eine Eheteil nur seinen
Alltag kennen will, und für den Alltag
seines Gegenpoles kein Verstehen
zeigt!
Man spricht da aus verschiedenen Er
lebnishöhen zueinander, und ist „ge
kränkt”, wenn man sich nicht ver
143 Die Ehe
standen sieht, statt erst einmal des
Anderen Erlebnislage zu erfassen...
Dies alles aber ist nur Folge einer Sucht,
den Alltag um sein Recht zu brin
gen: ‒ sich seinen Forderungen
möglichst zu entziehen! ‒ ‒ ‒
Die Sitte, seine Ehe, nach erfolgter äuße‐
rer Bestätigung, sogleich mit einer Reise
zu beginnen, mag manches für sich
haben, und doch trägt sie recht oft die
Schuld daran, wenn glückliches Be
ginnen in Enttäuschung endet. ‒ ‒
Frei von Alltagspflicht, und nur allein
dem heiteren Genießen hingegeben, be‐
ginnt ein Ehepaar auf solcher Reise sein
Gemeinsamkeitserleben unter Vorbedin‐
gungen, die selten oder nie im Leben
wiederkehren.
144 Die Ehe
Zu leicht wird man verführt, in diesem
ungestörten Beieinandersein nunmehr
des Ehelebens Inbegriff zu sehen.
‒ ‒
Die Tage dieser Reise schaffen eine holde
Täuschung, der man gerne sich ergibt,
und die man nie beendet sehen möchte. ‒
Doch, ist das Ehepaar, das nun schon
glaubt, die Ehe recht zu kennen, end‐
lich heimgekehrt, so meldet sich zu‐
meist auch schon der Alltag an und
heischt die Pflicht gesonderten Er‐
lebens.
Die eigenen vier Wände sind der jungen
Gattin fremd wie eine Gasthofstätte, ‒
nur ist der eigene Haushalt jetzt da‐
zugekommen und macht das Leben nicht
mehr ganz so leicht, wie es erschienen
war, solange auf der Reise Andere für
145 Die Ehe
alles sorgten, was man zum Behagen
brauchte. ‒
Zum erstenmal ist in der jungen Ehe
viele Stunden währende, ja oftmals
tagelange Trennung beider Ehegatten
nötig, und jeder Teil sieht sich vor Auf‐
gaben gestellt, die dem bisherigen Er‐
leben seiner Ehe völlig fremd geblieben
waren. ‒ ‒
Schon hier beginnt zuweilen die Er
nüchterung des ersten Liebesrau
sches, und wahre Liebe sieht sich schon
vor ihrer ersten Probe stehen...
Es ist nicht gar so leicht, sich aus der
Übersteigerung der Freuden seiner
Reisetage nun zu lösen und den „All
tag” zu bezwingen! ‒ ‒
In vielen Fällen hätte sicherlich sich
146 Die Ehe
Besseres ergeben, wenn die Ehe erst
im Alltag aufgerichtet worden wäre,
bevor man sie in stetem Feiertage,
und losgelöst von jeder Alltagspflicht,
erlebte. ‒ ‒ ‒
Wie aber dem auch immer sei, so läßt
sich doch hier sagen, daß recht Erheb‐
liches gelungen ist, wenn sich das junge
Paar allmählich auch vertraut mit seinem
Alltag zeigt, denn Ehe findet stets erst
dann sich in Bewährung, wenn sie den
Alltag zu bemeistern weiß. ‒
Ihr, die der Ehe heilig-hehre Bindung
nun vereint, wart euch vielleicht vor
gar nicht langer Zeit noch völlig fremd!
Jeder von euch Beiden lebte noch sein
eigenes Leben, und der Kreis von Men‐
147 Die Ehe
schen, der ihn dort umgab, war ihm ver‐
traut, wie er dem Kreise...
War es bisher das Elternhaus, das euch
umhegte, dann mag auch innigstes Ver‐
bundensein euch täglich neu umfangen
haben, und treue Eltern- und Geschwi‐
sterliebe war um euer Wohl besorgt.
Vielleicht jedoch wart ihr schon längst
dem Elternhaus entwachsen und eure
Freunde waren in der Fremde euch er‐
standen?
Jetzt aber habt ihr Beide euch gefun‐
den, und damit trat ein neues Fühlen
nun in seine Rechte, das anderer Ar‐
tung ist als Eltern- und Geschwister
liebe, ‒ anderer Artung als die tiefste
Freundschaft, und das allein euch
Beiden gegenseitig gilt: niemals mit
Anderen zu teilen ist...
148 Die Ehe
Glaubt nicht, daß dieses neue Fühlen nur
bedingt sei durch das erdenhafte Glück
des körperlichen Angehörens!
Wenn echte Liebe euch vereint, dann
ist hier wahrlich Anderes in euch er‐
blüht, das euch zwar nun auch körper
lich vereint, zugleich jedoch die körper‐
liche Einung überstrahlt mit über
erdenhaftem Lichte! ‒ ‒ ‒
Nun seid ihr für das Erdenleben, ‒
zumindest eurem Willen nach, ‒ ver
einigt, ‒ doch noch sind hier zwei
Leben, die sich keineswegs von einem
Tage auf den anderen so verschmel
zen lassen, daß sie schon wirklich jenes
eine neue Leben auch im äußeren Da‐
sein bilden könnten, das höchstes Ziel
und hehrste Hoffnung eurer jungen Ehe
ist! ‒ ‒
149 Die Ehe
Vorerst müßt ihr euch noch gedulden,
und alles Streben muß darauf gerichtet
sein, in gegenseitigem Gewähren zu er
fühlen, wo sich: ‒ die Trennungs
punkte eurer beider Lebensläufe zeigen,
und: ‒ wo etwa der eine schon dem
anderen Einungspunkte darzubieten
habe...
Der Zwang des Alltags wird euch
hier ein guter Lehrer sein! ‒
Ihr werdet sicher sehr viel mehr an
Trennendem gewahren, als euch lieb
und wünschenswert erscheint, ‒
doch, wenn die Liebe eure Augen schärft,
dann werdet ihr auch bald bemerken, wo
das eine Leben sich dem anderen am
ehesten vereinen kann...
Was aber eure Leben bisher trennte,
150 Die Ehe
‒ in der ganzen Auffassung des Le‐
bens, ‒ das sollt ihr klug, und völlig
eures Tuns bewußt, stets mehr und
mehr zu übersehen suchen, ‒ doch,
was zur Einung eurer Beider, bis vor
kurzem noch getrennten Leben führen
kann, muß ebenso bewußt gesucht und
gegenseitig dargeboten werden.
‒ ‒ ‒
Der Alltag wird euch manche harte Probe
bringen, die ihr nur dann bestehen
werdet, wenn ihr euch Beide in dem ste‐
ten Streben findet: ‒ das Einigende
eurer Beider Art, dem Leben zu begeg‐
nen, in und an euch aufzusuchen, das
bisher Trennende jedoch zu ignorie
ren!
Die neue häusliche Gemeinsamkeit
schon bringt so manche, oftmals nicht
151 Die Ehe
ganz leichte Probe, die bestanden
werden will...
‒ Solange ihr im Einzel-Leben wart,
bewohnte jeder von euch Beiden seinen
eigenen Raum, den er nach seiner Weise
schmückte, und in dem er alles, was ihm
lieb und wertvoll war, nach seiner Weise
unterbrachte.
Jetzt aber lebt ihr in den gleichen Räu‐
men, und wenn auch äußere Bedingungen
es euch erlauben sollten, daß dennoch
jeder außerdem sich einen eigenen Be‐
reich für sich allein gestalten kann, so
wird auch das gewiß nicht ganz das
Gleiche sein, wie eure frühere Allein
herrschaft in dem euch zugemessenen
Raum...
In allem seid ihr Beide aufeinander
angewiesen, und eure Liebe schon
152 Die Ehe
wird euch bewegen, euer Heim doch
wohl zu gegen-seitigem Gefallen aus‐
zubauen. ‒
Manche liebgewordene Gestaltung wird,
‒ aus welchen Gründen immer es ge‐
schehen möge, ‒ letzten Endes doch dem
Anderen zuliebe aufgegeben werden
müssen, und manche alte Neigung wird
zu wandeln sein, wenn eure Räume
wirklich eurer Beider Heimstatt werden
sollen, in der sich jeder Eheteil „zu
hause” fühlt! ‒ ‒ ‒
Nicht minder wichtig als die Woh
nung ist die Speise!
Ich rede nicht hier von der Frage, ob
man Tierisches genießen solle, oder
alles, was vom Tiere stammt, zu meiden
153 Die Ehe
habe, ‒ und auch nicht von anderen
„Reformen” der Ernährung!
Wer sich der Sünde fürchtet, ‒ ein
Tier zu schlachten, oder zu erjagen, der
unterlasse solches, aber er glaube nicht
etwa, ein besserer Mensch zu sein,
und öde Andere nicht an mit Lehren,
die allzubillig sich erhandeln lassen
auf dem bunten Jahrmarkt mensch
licher Verstiegenheiten! ‒ ‒ ‒
Ich aber rede hier nunmehr nur von der
Zubereitung dessen, was dem Erden‐
körper neue Aufbaustoffe bieten soll.
Ihr stammt aus zwei verschiedenen El‐
ternhäusern, vielleicht sogar aus von ein‐
ander weit entfernten Heimatsgauen, ‒
und in jedem dieser, schon durch Lan
desart vielleicht bestimmten Eltern‐
154 Die Ehe
häuser herrschte eine andere Art der
Nahrungszubereitung.
Was jeder aber stets gewohnt war,
schätzt er über alle Maßen, ‒ und wie
die Speise zubereitet wurde, die man
ihm von Kindheit auf zu reichen wußte,
so will er sie auch weiter zubereitet
sehen...
Auch hier gibt euch der Alltag reich
liche Gelegenheit euch anzuglei
chen!
Mag man auch lächeln, finde ich hier diese
Dinge der Erwähnung wert, so wird
doch manche Ehe leider aus Erfahrung
wissen, daß schon oft ein sorglichst
wohlbereitetes Gericht die Zwietracht
an den Tisch des Hauses brachte. ‒ ‒
Ihr seid nunmehr zu Zweien, und ver‐
pflichtet, euch einander anzupassen,
155 Die Ehe
obwohl da jeder nur auf seines Eltern‐
hauses Küche schwört, und jeder seine
eigenen Vorlieben und Abneigungen
gegenüber manchen Speisen hegt.
Sehr oft jedoch ist eines Ehegatten
„Lieblingsspeise” darum nur dem an
deren ein Greuel, weil sie im Aufbau
seines Körpers nicht die gleiche Wir
kung zeitigt, ‒ und manche Ableh
nung der Zubereitung resultiert aus
instinktivem Fühlen, daß sie dem
physiologischen Bedürfnis eigener
Natur zuwiderläuft...
Da man jedoch gemeinsam speisen will,
so ist es oft recht schwer, weit ausein‐
anderstrebendes Bedürfnis zu befriedi‐
gen, zumal, da vielfach der Geruchsinn
schon durch diese oder jene, nicht der
eigenen Natur gemäße Speise bis zur
Unerträglichkeit gefoltert wird. ‒
156 Die Ehe
Hier wird nun jeder Eheteil erst zu er
fühlen suchen müssen, was dem ande‐
ren Gewohnheit lieb zu machen wußte,
oder was er aus Instinkt begehrt, und
aus dem gleichen, gut begründeten In‐
stinkt, zu meiden strebt. ‒
Auch hier wird jeder von euch Beiden
auszuspüren haben, wo die „Tren
nungspunkte” liegen, und wo ihr euch
von selbst beim gleichen Wählen und
Verwerfen findet!
Glaubt nicht, daß solches gegensei
tige Verstehen etwa überflüssig wäre,
oder, daß ich gar von jenen wunder
lichen Ehen rede, in denen nur des
Mannes Gaumenlust bestimmt, was auf
den Tisch des Hauses aufgetragen wer‐
den darf! ‒ ‒
Der Zwang des Alltags: stetig wieder
157 Die Ehe
neue Nahrung darzubieten, gibt für
beide Teile einer Ehe reichliche Gele‐
genheit, sich gegenseitig Freude zu
bereiten und die eheliche Harmonie
zu fördern, ‒ denn körperliches
Wohlbehagen löst auch seelisches Be‐
hagen aus! ‒ ‒ ‒
So mag man, wo es möglich ist, auch
zu gewissen Tagen dafür Sorge tragen,
daß nicht nur Allernötigstes den
Tisch des Hauses decke, obwohl ich weit
davon entfernt bin, hier etwa der Es
sens-Schwelgerei das Wort zu re‐
den...
Es läßt sich aber oft mit kleinen Dingen
recht viel Freude schaffen, ‒ beson‐
ders wenn aus ihrer Darbietung ersicht‐
lich wird, daß man sich gegenseitig
Freude bringen wollte, durch Erfül
lung irgend eines kleinen Lieb
158 Die Ehe
lingswunsches, der sich mit Leichtig‐
keit erfüllen ließ. ‒ ‒
Wie hier die Frau des Hauses ihres
Gatten Neigung liebevoll erspähen
wird, so möge aber auch der Mann ver‐
suchen, ihr die kleinen Überraschun
gen zu bieten, die Frauen meist so
sehr zu schätzen wissen! ‒ ‒
Ein wenig „Überfluß” ‒ und halte er
sich auch in sehr bescheidenen Gren
zen ‒ wird in der Ehe, wie auch sonst
in diesem Erdendasein, stets das Mit‐
einanderleben freudiger und leichter
machen, so daß man dort, wo er sich ir‐
gend noch bereiten läßt, gewiß nicht
von „Verschwendung” reden darf!
‒ ‒ ‒
Hier aber führt ein Schritt nur uns zu
159 Die Ehe
einer gegensätzlich anderen Art, den
Zwang des Alltags in der Ehe zu
empfinden, ‒ und wahrlich: ‒ hier ist
bitterer Zwang!
Ich denke an den oft so schweren
Kampf, um auch nur unentbehrlichste
Ernährung aufzutreiben, ‒ an den
Zwang zu unerbittlichster Erschöp
fung aller Kraft, um soviel zu verdie‐
nen, daß man die dringendsten Er‐
fordernisse seines Lebens gerade noch
bestreiten kann. ‒ ‒
Wahrlich: ‒ die Ehe, die mit solchem
harten Zwang des Alltags rechnen
muß, sieht beider Eheteile Liebe täglich
neu vor ernster Prüfung stehen! ‒ ‒ ‒
Zugleich ist aber beiden Teilen hier ‒
wie nirgends sonst ‒ Gelegenheit ge‐
schaffen, sich ihre Liebe zueinander
160 Die Ehe
täglich neu zu offenbaren durch die
Tat: ‒ sich gegenseitig Hilfe darzu‐
bieten, und sich das Allzuschwere ge‐
genseitig zu erleichtern, wie nur Liebe
hier erleichtern kann. ‒ ‒ ‒
Mehr noch, als in erfreulicheren
Lebenslagen, werdet ihr euch seelisch
ineinanderschmiegen müssen, wenn
sich der Zwang des Alltags eurer Ehe
in so harter Weise fühlbar macht!
Gebt nicht dem leisesten Empfinden
in euch Raum, das euch gerade hier die
innere Gemeinsamkeit verlieren lehren
könnte, wo sie am allernötigsten ge
fordert wird, wollt ihr als Sieger einst
aus solchem Kampfe schreiten!
Auf Schritt und Tritt könnt ihr euch hel
fen, ‒ selbst, wenn es nicht von
außen her geschehen kann, wenn nur
161 Die Ehe
der eine Eheteil auf seine Weise stets
des anderen verbrauchte Kraft in Liebe
zu erneuern: ‒ des anderen Teiles
schon gesunkenen Mut aufs neue auf
zurichten sucht! ‒ ‒ ‒
Vergeßt jedoch auch nicht, daß ihr euch
zum Verhängnis werden könnt, wenn
beide Teile, ‒ statt sich aneinander im‐
mer wieder zu erheben, ‒ einander
niederziehen, weil euch die Not ver‐
führt, zu glauben, daß sie leichter trag‐
bar sei, wenn man sie stetig sich vor
Augen halte, und auch Sorge trage,
daß der Andere sich ja nicht etwa da‐
zu aufzuschwingen wisse, seiner Last
zu spotten! ‒ ‒ ‒
Ihr könnt euch dann nur wirklich hel
fen, wenn Einer stets im Anderen
lebt, und ihr die Zwangslast, die der
Alltag auf euch bürdet, gemeinsam zu
162 Die Ehe
ertragen sucht, ‒ verbergend, daß
sie euch in gleicher Weise wie den
Anderen drückt! ‒ ‒
Nichts ist törichter, als einen Zustand
zu bejammern und durch stete Kla
gen unerträglich zu gestalten, den
man durch eigenes Tun nicht ändern
kann!
Ist man jedoch imstande, ihn zu än
dern, dann wird erst recht die stete
Klage nichts verbessern, sondern nur
den Antrieb hemmen, der in ganzer
Kraft vonnöten ist, will man aus sei‐
ner üblen Lage sich befreien. ‒ ‒ ‒
In welcher Weise aber auch der
Zwang des Alltags sich in eurer Ehe
äußern mag: ‒ er kann in jeder Form
163 Die Ehe
euch Segen bringen, wenn ihr ihm
richtig zu genügen wißt!
Und ist auch anderes Leben in ihn ein‐
bezogen, so wird auch dieses Leben
Segen oder Fluch erfahren, je nach
eurer Art, dem Alltag zu begegnen...
Man kann nicht segnen und zugleich
auch an der gleichen Stelle fluchen, ‒
und so auch kann man anvertrautes
Leben nicht mit Segen und mit Glück
erfüllen, wenn man zugleich sein eige
nes Leben ‒ durch das eigene Verhal‐
ten ‒ nur mit Fluch belädt, und ihm
auf solche Weise jede Glückesmög
lichkeit entzieht! ‒ ‒ ‒
Erfüllung aller eurer Wünsche aber
wird euch werden, wenn ihr dem
Zwang des Alltags so Genüge leistet,
164 Die Ehe
daß ihr zuletzt ihn ganz beherrschen
lernt!
Dann werdet ihr auch Feste feiern kön‐
nen, so, wie sie zu feiern sind, soll
euch aus ihnen wieder neue Kraft er‐
stehen, um den Alltag zu ertragen,
‒ ‒ den gleichen Alltag, der doch
letzten Endes immer wieder eurer
Feste frohen Anlaß schafft! ‒ ‒ ‒
*           *
*
165 Die Ehe
SIEBENTES KAPITEL
VOM
WILLEN ZUR EINIGKEIT
ES könnte so unendlich viel mehr
Glück in mancher Ehe sich entfalten,
würde man sich mehr bemühen, stets
nach Einigkeit zu streben! ‒ ‒
Man unterschätzt gar sehr den Wert
der Eintracht, als Erhalterin des
Glückes, sonst würde man sie nicht so
oft um eitler Dinge willen stören: ‒
um „Meinungen” und „Ansichten
zum Sieg zu bringen voreinander, die
wahrlich wenig wiegen, wägt man in
der anderen Hand sein Glück! ‒ ‒ ‒
Durch jegliche Lappalie bringt man
seiner Ehe Eintracht in Gefahr, ‒ und
wenn sich alle Eheleute, die ihr Glück in
Scherben gehen sahen, fragen wollten,
was der dann folgenden Zertrümmerung
einst ersten Anlaß dargeboten habe,
dann würde sich, weit öfter als man
169 Die Ehe
glauben möchte, zeigen, daß meist ganz
lächerliche Störungen der Einigkeit
Vernichtung ehelichen Glückes
wirkten, ‒ auch wenn man später dann
noch andere Gründe schuf, die nie
geschaffen worden wären, hätte man
sich vorher nicht entzweit. ‒ ‒ ‒
Ich rede nicht nur von „Rechthaberei
und „Eigensinn”, die beide nur als
Wehr der Dummheit, oder als das
kläglich armselige Schild verknöcher
ter Erstarrung anzusehen sind, als
welche sie bekanntlich ja in allen
Lebensbindungen zum „Schrecken” aller
Denkbeweglichen und seelisch
Freien werden: ‒ zu einem „Schrecken”
den nur Mitleid bannt und Ironie ver‐
scheucht! ‒ ‒
Ich rede hier vielmehr von jener Art
170 Die Ehe
der Eintrachtstörung bei der die
Gegensätze tatsächlich bedeutsam sind,
und dennoch Ausgleich möglich wäre,
würden Klugheit und Vertrauen
liebevoll versuchen, die Basis der
Vereinungsmöglichkeit zu finden, ‒
und schließlich rede ich von einer Tor
heit, der ihr Weltbild schon vernichtet
scheint, wenn um der Eintracht willen,
Weiß alsSchwarz” und Schwarz
alsWeiß” bezeichnet werden soll!
‒ ‒
Selbst wenn ganz unbestreitbar alles
Recht” auf deiner Seite ist, wirst
dennoch du versuchen müssen, einen
Ausgleich herzustellen, ‒ auch wenn
der Augenblick erfordert, daß du um
der Eintracht willen auf dein „Recht”
verzichtest, bis es der Andere aus
171 Die Ehe
freien Stücken dir dann später viel‐
leicht zugesteht!
Betrachte, was dein eheliches Glück dir
gilt, und wäge dann den Wert der
Dinge, die es in Gefahr zu bringen
suchen! ‒
Dann wähle, was dir mehr am Herzen
liegt! ‒ ‒
Sehr selten wird es sich um Dinge
handeln, die so bedeutsam sind, daß
sie dich in Bereitschaft finden müssen,
selbst dein Eheglück zu opfern, wenn
sie nicht in solcher Weise zwischen
euch Entscheidung finden, daß ihre
strenge Forderung auch im Bestehen
deines Glücks erfüllbar bleibt. ‒
Zu allermeist wird eheliche Eintracht
nur gestört durch Streiten über Fragen,
die sehr wohl Antwort der ver
172 Die Ehe
schiedensten Gestaltung finden
können...
Es kommt nur darauf an, daß du den
Anderen alsdann gewähren läßt, wie
er nun einmal will, und ruhig wartest,
bis er seinen Irrtum einsieht, oder
‒ ‒ bis du selbst erkennst, daß du
im Irrtum warst. ‒ ‒ ‒
So wird dann Harmonie erhalten und
euer Eheglück wird durch ein wenig
Selbstbeherrschung der Gefahr ent‐
zogen.
Wille zur Einigkeit muß euch zur
unbedingten Forderung des
Glückes werden, und keiner beider
Teile darf sich dieser Forderung ent
ziehen wollen!
173 Die Ehe
Es hängt zu viel von ihrer stetigen
Erfüllung ab! ‒ ‒
Bei jeder Möglichkeit, die zur Ent
zweiung führen könnte, ‒ und sei es
auch Entzweiung nur für eine kurze
Stunde, ‒ müßt ihr euch klar zu machen
suchen, daß doch der Mensch vor
allen Dingen steht, so daß die Auf‐
fassung der Dinge, die in Frage
kommt, doch wahrlich erst in zweiter
Linie der Beachtung würdig bleibt, wenn
sie nicht ganz und gar belanglos
wird, wo Menschenglück Beachtung
heischt!...
Ihr dürft auch nie vergessen, daß diese
Auffassung der Dinge, die euch heute
wichtig” scheinen will, zu einer
anderen Zeit ganz in Bedeutungs
losigkeit versinken kann! ‒ ‒
174 Die Ehe
Vor allem aber lernt erkennen, daß
Gegensatz nicht aus der Welt zu
schaffen ist durch Streit! ‒ ‒ ‒
Auch dort, wo ihr empfindlich leiden
möget, weil euch plötzlich Gegensätze
zu Bewußtsein kamen, die als völlig
unvereinbar gelten, werdet ihr mit
allem Streiten, allem Überzeugen
wollen nichts gewinnen! ‒ ‒
Ihr werdet euch nur selbst auf solche
Weise schließlich um die Möglichkeit zu
bringen wissen, eine Brücke aufzu‐
richten, auf der ihr euch begegnen
und erneut vereinen könntet...
So manche Ehe wäre heute nicht zer‐
stört, wenn man den Gegensatz, der zur
Zerstörung führte, einst in sich be
ruhen hätte lassen, ‒ der Zeit und
ihrer Ausgleichswirkung sich ver
175 Die Ehe
trauend, ‒ statt sich in Kämpferstellung
aufzurecken und sein vermeintlich
oder wahres „gutes Recht” in Wort
und Tat zu suchen, ‒ Verletzung durch
Verletzung fordernd, ‒ bis das
letzte Fünklein Liebe sich in Haß ge‐
wandelt hatte. ‒ ‒ ‒
Ihr aber, die ihr eure Ehe erst be
ginnen wollt, ‒ ihr habt die Macht
noch in den Händen, die so mancher
anderen Ehe längst verloren ging: ‒
‒ die Macht, euch bitterste Enttäuschung
zu ersparen! ‒ ‒ ‒
So hütet euch denn vor dem ersten
Streit! ‒ ‒ ‒
Sobald ihr einmal nur im Streite
euch begegnet seid, habt ihr schon
viel von eurer Macht verloren!
176 Die Ehe
Zwar mag der Streit durch eure Liebe
bald geschlichtet werden, aber in den
dunklen Schächten unbewußten Füh‐
lens bleibt Erinnerung zurück, auch
wenn im Denken alles längst ver
gessen wurde...
Bei jedem neuen Anlaß, der zum
Streite führen könnte, fühlt ihr euch
aus dem Unbewußten nun zur Wieder
holung aufgefordert, und ihr erliegt
dem dunklen Raunen, ohne recht zu
wissen, wie euch das geschieht...
Wo einmal Streit war, will er immer
wiederkehren, wie sehr der Mensch
sich auch dagegen sträuben mag, ‒
und stetig wird er neue Gründe auszu‐
heben wissen, aus denen er gespenstig
sich beleben kann, wenn man ihn nicht
begräbt, noch während er versucht,
aufs neue zu erstehen! ‒ ‒ ‒
177 Die Ehe
Darum: ‒ solange ihr den ersten Streit
vermeiden könnt, strengt alle eure
Kräfte an und sucht ihn zu ver
meiden! ‒ ‒ ‒
Es wird euch weitaus schwerer,
seine Wiederkehr ihm zu versagen,
als es euch schwer sein mag, ihm
seinen ersten Eintritt in das Leben
eurer Ehe zu verwehren!
Habt ihr ihm einmal Rechte zuge
standen, so wird er sie zu wahren
wissen, ‒ und schließlich wird es euch
unmöglich scheinen, in eurer Ehe ohne
Streit zu leben...
Es gibt genugsam Menschen, die es
niemals fassen können, daß auch der
kleine Streit, der ihnen längst alltäg
liche Gewohnheit wurde, aus einer
178 Die Ehe
Ehe zu verbannen ist, wenn beide
Teile ernstlich ihn verbannen wollen!
So, wie dem Fuchs der Fabel jene
Trauben „sauer” heißen, die er sich nicht
holen kann, so suchen sie nun sich
und anderen Eheleuten einzureden, daß
eine Ehe, die nur Eintracht kennt, für
sie ganz unerträglich wäre, und wohl
nur bei Menschen möglich werden könne,
die zu keiner resoluten Lebens
äußerung befähigt seien...
So töricht solche Rede ist, so frevel
haft ist es, den Streit gleichsam als
integrierenden Bestandteil ehe
lichen Lebens aufzufassen!
Wie oft ward leider schon der kleinste,
halb aus Scherz geführte Streit, zum
ersten Anlaß ehelicher Auseinander‐
179 Die Ehe
setzungen, die endlich alles Glück zer
rütten mußten! ‒ ‒
Wo solches aber möglich ist, da ist
fürwahr die Pflicht gegeben, alle
Kräfte aufzubieten, um die Eintracht
stetig in der Ehe zu erhalten! ‒ ‒ ‒
Doch, auch das beste Wollen mag zu‐
weilen unterliegen, wenn Affekt es
plötzlich rücklings überfällt...
Ist so der Streit hereingebrochen,
gleich einer Wasserflut, die ihre Dämme
brach und nun das blühende Gefilde
plötzlich in ein Schlammfeld wandelt,
dann muß es eure erste Sorge sein,
so bald als irgend möglich solchen
Zustand wieder aufzuheben, ‒ und
nie ist es zu früh, will man die alte
Ordnung wiederkehren sehen...
180 Die Ehe
Jetzt ist es mehr als sonst noch nötig,
daß ihr Beide guten Willens seid und
gegenseitig euch zu helfen sucht,
damit euch Harmonie in eurer Ehe
wiederkehre!
Nie darf es dazu kommen, daß der eine
Eheteil dem anderen weiter grollt,
auch wenn er dessen Absicht sieht, Ver
söhnung anzubahnen!
Doch sollt ihr euch auch jetzt nicht vor
einander reinzuwaschen suchen,
ängstlich bestrebt, nur ja die liebe eigene
Eitelkeit vor Schaden zu bewahren!
Und noch viel weniger sollt ihr nun‐
mehr beginnen, festzustellen, wen die
Schuld an dem Zerwürfnis trifft: ‒ wer
etwa mehr, wer nicht so sehr im Un
recht war!
Es ist töricht, und kann nur zu leicht zu
181 Die Ehe
neuem Streite führen, wenn ihr nunmehr
mit vielen Worten euch beweisen wollt:
‒ „warum” ‒ „weshalb” ‒ „wie
so” ‒ ihr euch vergessen konntet!
Stets sucht dann nur die Eitelkeit des
Einzelnen, ‒ und sei es auch nur völlig
unbewußt ‒ zu Wort zu kommen, und
will um jeden Preis verhüten, daß
sie bei dem Friedensschluß etwa
Terrain verliere”...
Oft ist der eine Eheteil schon längst
bereit, den Frieden anzubieten, und
nur die Furcht, durch Abweisung in
seiner Eitelkeit gekränkt zu wer
den, hält ihn zurück, und läßt ihn nicht
zum ersten guten Worte kommen. ‒ ‒
So steht ihr Beide euch dann gegenüber,
und keiner wagt, sich selbst zu über
182 Die Ehe
winden, ‒ keiner will „der Erste
sein, der sich versöhnlich zeige...
In kindlich lächerlicher „Pädagogik”,
wollt ihr, die ihr euch eben noch so
unerzogen zeigtet, nun euch gegen‐
seitig zu erziehen suchen, wobei ihr
ganz im Stillen hofft, erneuten Streit
am besten dadurch abzuhalten, daß
ihr euch jetzt, ‒ im Herzen längst ver‐
zeihend, ‒ nach außenhin recht un
versöhnlich zeigt, da so der Andere
sehen könne, wie es schwer sei, nach
dem Streite wieder Frieden zu er‐
langen...
Ihr solltet euch fürwahr ein wenig vor‐
einander schämen, ‒ vielleicht, daß
dann die Scham euch schneller zu‐
einander führen könnte! ‒ ‒
In eurer Art, Versöhnung zu ver‐
183 Die Ehe
suchen, werdet ihr euch gegenseitig nur
stets weiter quälen und wenn kein
äußeres Geschehen euch zuhilfe
kommt, das euch zu zwingen weiß,
euch wieder zu vereinen, dann könnt
ihr tagelang so weiterschmollen, ohne
euch zu finden! ‒ ‒
Ihr kompliziert das ohnehin euch nicht
ganz einfach Scheinende in eurer Vor
stellung nur immer mehr, und immer
schwerer wird es euch, Nächst
liegendes zu tun, indem ihr gegen‐
seitig eines jeden Mund, ‒ der doch
nicht weiß wie er die erste Rede
formen soll, ‒ mit einem resoluten,
heißen Kuß verschließen würdet...
Damit es aber niemals euch begegnen
kann, daß ihr wie trotzig-ungezogene
184 Die Ehe
Kinder aufeinander wartet: ‒ „Wer
wird nun der Erste sein, der nach
gibt?” ‒ so will ich euch raten, daß ihr
gegenseitig euch in guten Tagen streng
gelobt, euch niemals abzuweisen,
wenn, nach einer Trübung eures Einver‐
nehmens, der eine Eheteil den anderen
versöhnen will! ‒ ‒
Ihr sollt euch dabei feierlich ver
pflichten, daß eure Aussöhnung auch
niemals durch die liebe Eitelkeit
behindert werden darf, und daß der
Erste, der Versöhnungswillen zeigt,
nicht etwa fürchten muß, sich durch sein
Wiedernahenwollen als am meisten
schuldhaft zu bekennen! ‒ ‒
Ihr sollt euch weiter streng geloben,
daß nach erfolgter Aussöhnung, der
Grund” des beigelegten Streites nicht
mehr Gegenstand erklärender Erör
185 Die Ehe
terungen werden darf, und daß es nie
für einen von euch Beiden etwa „Unter
werfung” heißen soll, wenn er, als
bald nach einem Zwist, dem anderen
Teile in Versöhnlichkeit zu nahen
sucht! ‒ ‒
Wenn es euch schon unmöglich wurde,
stete Eintracht zu erhalten, so wird
euch wenigstens nun das bestehende
Gelöbnis helfen, Trotz und Eitel
keit zu überwinden, wenn sie euch
hindern wollen, euch erneut in Eintracht
zu begegnen. ‒ ‒ ‒
Besser freilich ist es, ihr erzieht euch
gegenseitig durch das Beispiel und die
Tat, und gegenseitig wissend, daß ihr
euch dazu erziehen wollt: ‒ zum Wil
len zur Einigkeit!
186 Die Ehe
Auch da muß aber alle Eitelkeit von
vornherein beseitigt werden!
Es muß unmöglich sein, daß einer von
euch Beiden etwa „triumphiert”, weil
er den anderen in Schwäche sah, und
nur durch eigenes kluges Handeln
einen Streit vermied! ‒ ‒
Ihr sollt vielmehr, ‒ des Glückes einge‐
denk, daß ihr euch helfen könnt, ‒ in
jedem Augenblicke eures Lebens euch
auch helfen wollen, ohne aber jemals
euch zu überheben, wenn ihr helfen
durftet! ‒
Der einen Streit vermeiden half, weil
er in kluger Weise „einzulenken”, ‒
nachzugeben” wußte und nicht noch
Öl ins Feuer goß, darf sich wahrhaftig
seiner Kraft der Mäßigung er
freuen, ‒ allein, in gleicher Weise
187 Die Ehe
wird der andere Teil, der sich zur
Ruhe wenden ließ, auch wenn ihn
schon Erregung fassen wollte, sich
in Freude fühlen dürfen, weil es ihm
gelang, sich selbst erneut in eigene
Gewalt zu bringen. ‒ ‒
Nur dann seid ihr in rechter Auffassung
der Dinge, wenn ihr euch gegenseitig
immerdar zu danken wißt, daß es
durch eurer Beider guten Willen
wieder möglich war, die Glücksge
fahr zu bannen!
Es ist jedoch auch hier nicht gut, etwa
nachher davon zu sprechen, wie man
der Gefahr entronnen sei, ‒ wo
sich der Fehler finde, der sie immer‐
hin heraufbeschwor, und wer wohl
richtiger gehandelt habe...
Auch ohne jegliche Erwähnung weiß
188 Die Ehe
der Teil, der sich vorher „vergessen
hatte, daß er fehlte.
Er wird dir sehr zu danken wissen,
wenn du es ihm allein nun überlassen
willst, in sich die rechte Art und Weise
aufzufinden, wie solches Fehlen künf
tig meidbar werden könne! ‒ ‒
Nichts aber rächt sich bitterer in
einer Ehe, als ein Zwang, sich ge
genseitig voreinander zu ernied
rigen!
Demütigungen voreinander sind das
fürchterlichste Gift für eine jede Ehe,
und nach Jahrzehnten noch kann die‐
ses Gift zur Wirkung kommen! ‒ ‒ ‒
Ihr sollt euch gegenseitig nur in Ehr
furcht sehen wollen, und müßt ihr
euch zuweilen auch in euren Schwä
189 Die Ehe
chen sehen, so dürft ihr doch die Ehr
furcht voreinander nicht verlieren!
Überseht, bewußt, die Schwächen, ‒
redet nie davon, ‒ und zeigt einander
nicht, daß einer um des anderen Schwäche
weiß! ‒ ‒ ‒
Stärkt ständig gegenseitig euer
Selbstvertrauen, und lehrt euch, durch
die Art, wie ihr euch zu begegnen wißt,
die Achtung vor euch selbst! ‒ ‒ ‒
Verpflichtet euch, daß ihr allein das
Gute, Starke und Erfreuliche an euch
beachten, ‒ was fehlerhaft und
schwach ist, aber ignorieren wollt!
‒ ‒ ‒
In keinem menschlichen Verhältnis ist
es so verhängnisvoll, dem Neben‐
menschen seine Fehler vorzuhalten,
als in einer Ehe...
190 Die Ehe
Was man sich in der Ehe gegenseitig
lehren kann, das muß für jeden beider
Teile aus dem eigenen Erleben re
sultieren!
Nie darf man etwa gegenseitig sich „be
lehren” wollen, so wie der Lehrer
seinen Schüler lehrt! ‒ ‒ ‒
Es ist zu tief schon im Geschlechtlichen
begründet, daß jeder Teil vom anderen
nur in der denkbar schönsten Form
gesehen werden will, als daß ein stetes
Lehrenwollen, oder gar ein täppisch‐
tölpelhaftes stetes Fehlerkorrigieren,
nicht die unheilvollsten Folgen haben
müßte, selbst wenn sich diese Folgen
nicht im Augenblicke zeigen! ‒ ‒ ‒
Wie sollen in der körperlichen Einung
sich die Seelen einen können, wenn
stetig der Gedanke Störung schafft, daß
191 Die Ehe
hier nur körperlicher Trieb befriedigt
werden will, derweil dem anderen Teil
nichts recht an einem ist, ‒ es sei
denn eben dieser Leib, der sich miß
braucht fühlt, wird er nur zum Spiel
ball der Begierde von dem Anderen
herabgewürdigt!? ‒ ‒ ‒
Kein Mensch ist ganz von allen Fehlern
frei, doch ist es nur naturbedingt, daß
er sie dort, wo er Geschlechtsverei
nung sucht, von seinem Gegenpole
übersehen wissen will! ‒
So mancher Ehebruch ist nur begangen
worden, weil ein Mensch in seiner eige‐
nen Ehe sich um seiner Mängel wil
len so gering geachtet wußte, daß es
ihm wie „Erlösung” schien, als er den
anderen Menschen außer seiner Ehe
fand, der ihn ‒ trotz seiner Mängel ‒
schätzte, und ihn in jener Art zu
192 Die Ehe
sehen suchte, wie er selbst gesehen
werden wollte...
Gewiß ist hier zu sagen, daß das Leben
einer Ehe einen Menschen anders zeigt,
als er sich dort gibt, wo kein rechter
Anlaß ist, der seine Fehler offenbaren
könnte!
Allein: ‒ gerade so, wie er sich ohne
seine Fehler gibt, will jeder Mensch
von Anderen „genommen” werden...
Da es nun in der Ehe aber unvermeid
bar bleibt, daß man sich auch in seinen
Fehlern kennenlernt, so ist da nur zu
helfen, wenn man gegenseitig sich
verpflichtet, daß man mit aller Ab
sicht seine Fehler übersehen will.
‒ ‒ ‒
So nur wird man sich vieles Leid er
193 Die Ehe
sparen und sich gegenseitig wirklich
Glück ins Leben bringen!
Versteht ihr, was es heißen will, ein
Glück der Einheit als ein Glück zu
Zweien in der innigsten Vereinung
aufzurichten, dann wird es euch gewiß
gelingen, eure Ehe rein zu halten von
Verärgerung und Zwist!
Ihr werdet jeglicher Gefahr begegnen
können, wenn ihr nur euch vereinigt
wißt im Willen zur Einigkeit! ‒
Auch hier wird bloßer „Wunsch” nur
wenig helfen können!
Es wird nur selten Menschen geben, die
nicht „wünschen” würden, Einigkeit in
ihrer Ehe zu erhalten...
Wenn es nun trotzdem so viel Streit
194 Die Ehe
und Zank in manchen Ehen gibt, und
auch die scheinbar „guten” Ehen sich
noch Überfluß an Leid durch manche
Trübung ehelichen Einvernehmens schaf‐
fen, so ist das daran nur gelegen, daß
der Wille mangelt! ‒ ‒ ‒
Meist ist man solchen Mangels nicht
bewußt, da man den „Wunsch” schon
für den Willen hält...
Wille zur Einigkeit lebt aber nicht, wie
jeder bloße „Wunsch”, nur aus der
Hoffnung, daß vielleicht gelingen
möge, was man wünscht!
Wille zur Einigkeit ist unverbrüchliche
Gewißheit, daß man Einigkeit erhal‐
ten kann und Einigkeit erhalten wird!
‒ ‒ ‒
Wille zur Einigkeit kennt keine
Grenze des Vertrauens zu sich
195 Die Ehe
selbst, und weiß sich unbesiegbar
auch wenn ständig ihn Gefahr um‐
droht! ‒ ‒ ‒
Von solchem Willen aber, ‒ nicht von
„Wünschen” hängt es ab, ob eurer Ehe
stete Einigkeit erhalten bleibt! ‒
So werdet ihr euch nun entschließen
müssen, diesen Willen aus dem „Wun‐
sche” zu erwecken und ihn stetig in
euch wach zu halten! ‒ ‒ ‒
Seid ihr im wahren Willen zur Einig
keit, dann wird Zwietracht eure Ehe
nicht erreichen können!
Nichts wird euch gleichen Wertes dün‐
ken, wie euer Glück, das nur errichtet
werden kann, wenn Eintracht in der Ehe
unverletzlich bleibt! ‒ ‒ ‒
Dann aber wird die Liebe erst in eurer
196 Die Ehe
Ehe die Erfüllung finden, die sie in
jeder Ehe finden sollte!
Dann ist die Liebe eurer Ehe wahrlich
stärker als der Tod”, und bleibt
bestehen, wenn auch dieses Erd
balls Trümmer längst im Raum zu
Weltenstaub zermahlen wurden! ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
*           *
*
197 Die Ehe
ACHTES KAPITEL
VON DER
VERERBUNG DES GLÜCKS
WO jemals hier auf Erden Glück
erstand, da mehrte es die Glückes‐
Möglichkeiten dieser Erde noch für
fernste Generationen!
Glück aber läßt sich in gewissem Sinne
auch „vererben”, und wie sich erden
hafter Reichtum fortvererben läßt auf
Kind und Kindeskinder, so kann ein
Elternhaus sein Glück: ‒ das Glück
der wahren Ehe, allem was aus ihm
hervorgeht, hinterlassen...
‒ Von seinen frühesten Tagen an wird
es dem Kinde einer Ehe fühlbar
werden, ob seiner Eltern Lebensbund
mit Glück gesegnet ist, wie es auch
fühlen muß, ob Hader und Zerwürf
nis beide Menschen trennt, die ihm sein
erdenhaftes Leben gaben. ‒ ‒
Wohl kommt es dem Kinde noch nicht
201 Die Ehe
zu Bewußtsein, was es fühlt, und doch
ist es, ‒ noch nicht imstande, sein
Empfinden sich zu deuten, ‒ ge
zwungen, jede Schwingung auf
zunehmen, die aus dem Blute derer
kommt, die sich in ihm auf Erden
irdisch weiterzeugten...
Man weiß sehr wohl, daß sich im Blute
Kraft wie Krankheit fortvererben: ‒
Begabung und Talent, wie stumpfes
Unvermögen, allein man ahnt zur Zeit
noch nicht, daß Blut Aussender und
Empfänger feinster Strahlen ist, für
die das Instrument, das sie bezeugen
könnte, noch nicht erfunden wurde, ‒
vielleicht auch nie erfunden werden
kann. ‒ ‒
So weiß man denn auch nicht, daß
dieser Strahlen Schwingungsart
202 Die Ehe
bestimmt wird durch das Eltern
paar, ‒ durch Zeit und Ort der väter‐
lichen Zeugung, wie der mütterlichen
Schwangerschaft, ‒ und daß natur‐
gegebene Verbindung zwischen Kind
und Eltern bleibt, solange dieser Eltern
Erdenleben währt. ‒ ‒ ‒
Man weiß nicht, daß hier steter
Schwingungsaustausch wirkt, durch
den der Vater unbewußt des Kindes
Seele formt, die Mutter aber noch
weit stärker dieser Seele Formung
mitbestimmt vom ersten Tage an. ‒ ‒
Auch wenn das Kind erwachsen ist,
bleibt dieser Schwingungsaustausch stets
bestehen, mag ihm dann auch des
Kindes Eigenleben stärkere Verdrän
gung schaffen, oder mag er nach wie
vor in gleicher Weise aufgenommen
werden. ‒
203 Die Ehe
Nur dann ist eine Art der Trennung
hier bewirkbar, wenn das Kind bewußt,
durch eine neue intensive Einstellung
des Fühlens, sich einem anderen Men‐
schen durch die Strahlungen des Blutes
zu verbinden sucht.
Dann wird der Austausch zwischen Kind
und Eltern zwar nicht völlig auf
gehoben, jedoch in seiner Wirkung
ausgelöscht.
Doch kann er jederzeit erneut in Wir‐
kung treten, durch bloße Willens-Ein‐
stellung. ‒
Von diesen Dingen wußten immer nur
sehr Wenige auf Erden, obwohl auch
Andere sie erahnten, so daß man von
dem „Band des Blutes” sprach, und
Blutsfreundschaft” besiegelt wähnte,
204 Die Ehe
wenn zwei Menschen sich zusammen‐
fanden und symbolisch Tropfen ihres
Blutes mischten...
Soll ich hier aber geben, was zu geben
ist, so muß ich das Bestehen dieser
Strahlungen des Blutes vorerst zur
Erwähnung bringen, da auf ihnen jene
Möglichkeit beruht, das Kind vom ersten
Tage seines Daseins an zur Glücks
gestaltung anzuregen, wie auch, der
Kindesseele Kräfte umzukehren, so
daß sie dann in seinem ganzen Leben
triebhaft alles aufzusuchen streben, was
dem Kinde Unheil bringen muß. ‒ ‒ ‒
Sobald das Kind ins Dasein tritt, wird
einer Ehe neue unerhörte Pflicht er‐
wachsen, durch Verantwortung für
neues Leben, dem man Glück nur dann
205 Die Ehe
vererben” kann, wenn man sich
selber Glück zu schaffen wußte...
Während irdischer Besitz dem über‐
lebenden Geschlechte aber dann erst
Erbe” werden mag, wenn die Voran‐
gegangenen von dieser Erde scheiden,
wird Glück und Unglück schon vom
Mutterleibe hervererbt”. ‒ ‒
Und stets wird dieses Erbe dann ver
mehrt, und auch vermindert werden
können, bis an der Eltern Lebensende
auf der Erde...
Ausschlaggebend aber bleibt, was in
der Kinderzeit dem neuen Leben dar‐
geboten wurde!
Zwar kann das Kind auch später gegen
dieses Erbe kämpfen, ‒ mag es
sein Glückeserbe nicht zu schätzen
wissen, oder sich aus seinem Unheils‐
206 Die Ehe
erbe lösen wollen, ‒ allein, was ihm
die Eltern in der Kinderzeit „vererb‐
ten”, wird niemals gänzlich zu ver
nichten sein, ‒ ‒ wie mancher dank‐
bar anerkennen wird, der sich sein
Glück zu schaffen wußte auf dem
Unterbau, den ihm das Elternhaus
bereitet hatte, und was auch leider
mancher täglich neu bestätigt findet, der
schwer zu kämpfen hat, um sich
von seinem Unheilserbe zu be
freien. ‒ ‒ ‒
Ich muß jedoch ausdrücklich hier beto‐
nen, daß ich noch immer von dem „Erbe
rede, das durch des Blutes Strahlung
jedem Kinde mitgegeben wird, und daß
es sich dabei um weitaus Wichtigeres
und Bedeutenderes handelt, als
alles darstellt, was durch äußere Er
207 Die Ehe
ziehung dargeboten werden kann!
‒ ‒ ‒
Wo eine Ehe sich ihr eigenes Glück
noch nicht zu schaffen wußte, dort ist
das Kind sehr in Gefahr, durch Strahlun‐
gen geformt zu werden in der Seele, die
aus dem Blute noch sehr schwanken
der und disharmonischer Erzeuger
kommen, so daß es dann ein „Erbe
mit durchs Leben schleppen muß, das
ihm wahrhaftig nicht viel Segen
bringen kann...
Nicht unbekannt ist vielen Ehepaaren,
die arm an äußeren Gütern sind, die
Sorge, ob sie auch ein Kind ernähren
könnten, ‒ und manches neue Leben
muß durch solche Sorge seiner Zeuger
schon im Mutterleib erfahren, daß es
unerwünscht ins Dasein treten wird.
208 Die Ehe
Viel wichtiger jedoch als diese Eltern‐
sorge, die ja doch dann meistens irgend‐
wie noch zu beheben ist, muß stets
die Sorge bleiben um das Glückeserbe,
das man seinem Kinde darzubieten hat.
‒ ‒ ‒
Doch ist auch diese Sorge weitaus
leichter aus der Welt zu schaffen,
wenn man nur selbst sich zur Erkenntnis
durchzuringen weiß, daß man ver
pflichtet ist, sein Eheglück sich zu ge‐
stalten, wodurch man dann auch seinem
Kinde Glück „vererben” kann. ‒ ‒
Wie aber Eheglück zu schaffen ist, das
wurde hier in mannigfacher Weise
wahrlich schon genugsam dargelegt.
‒ ‒
Zwar weiß ich nur zu gut, daß dieses
209 Die Ehe
Buch nicht all' die tausendfältigen
Gegebenheiten in Betrachtung zie
hen kann, die da im Einzelfall von
denen, die es angeht, weise zu beachten
sind, ‒ doch sind hier alle Einzelfälle
durchaus einbezogen, so daß sich jede
Ehe das, was ihren Sonderfall betrifft,
leicht aus des Buches Worten abzuleiten
wissen wird...
Ich aber weiß auch, daß es mir unmög
lich bleibt, durch Worte der Belehrung
nun auf einmal allen Ehen, die bisher
ihr Glück versäumten, ohne Zutun
der zunächst Beteiligten, das große
Glück zu bringen. ‒
Bei keiner menschlichen Beziehung hier
auf Erden läßt sich von außenher so
wenig helfen, Glück zu schaffen, als
bei der Ehe!
210 Die Ehe
Hier finden die nur Hilfe, die sich lehren
lassen wollen, wie sie selbst sich hel
fen können! ‒ ‒ ‒
Ihnen nur ist dieses Buch gewidmet!
Wo wahres Eheglück besteht, dort
wird das Kind der Ehe aber nicht nur
jenes Glückeserbe mitbekommen, das
aus dem Blut der Eltern auf das neue
Leben überstrahlt und seinem Blute
Rat und Richtung gibt, sondern solches
Erbe wird auch Zuwachs finden in dem
Außenleben eines Elternhauses. ‒
So wie das Wort nur dann „erzieht”,
wenn es durch Beispiel die Bestäti
gung empfängt, so wird, was Gutes
aus dem Blute überstrahlt, verdoppelt
wirken, wenn das Elternhaus in dem ein
Kind heranwächst und in dem es selbst
211 Die Ehe
als mitbeteiligt sich erlebt, von Glück
und Frieden zeugt und ihm den Ein‐
druck in die Seele prägt, daß eine an
dere Art zu leben, als sie hier sich
auswirkt, gar nicht möglich sei.
‒ ‒
Mag auch dann später arges Ungemach
in eines solchen Kindes Leben treten, so
wird es dennoch über dem Geschehen
stehen, denn, was das Elternhaus ihm
mitgegeben hat, bleibt starker Halt,
auch dann, wenn alles Andere wankt!
Wer da aus eigener Erfahrung aus dem
Elternhause her noch weiß, wie reich die
Glückes-Möglichkeiten dieses Erden‐
lebens sind, der wird dem Leben nie
mals fluchen können, auch wenn, ‒
verschuldet, oder unverschuldet, ‒ bit
teres Leid durch Andere ihm wider
fahren mag! ‒
212 Die Ehe
Er findet in sich selbst die Kraft zum
Neubeginn, und wird sich, ‒ selbst
aus Trümmern noch, ‒ sein neues
Glück zu schaffen wissen! ‒ ‒ ‒
Alles Glückeserbe trägt ja dadurch in
sich selbst den hohen Wert, daß es den
„Erben” lehrt, sein eigenes Glück zu
schaffen! ‒ ‒
Es ist einErbe”, das man nur ge
nießt, indem man es benützt zu eige
nem Wirken! ‒ ‒ ‒
Vergeblich suchen die nach Glück, die
immerfort nach neuen Wegen Ausschau
halten, auf denen sie ihm wohl begeg
nen könnten! ‒
Vergeblich wird man auch das Glück
erwarten, so als ob es eines Tages
213 Die Ehe
kommen müsse, weil man ein Recht zu
haben glaubt auf Glück! ‒ ‒
Man hat kein „Recht” auf Glück, ‒ wohl
aber hat ein jeder Mensch die Pflicht,
sein Glück zu schaffen, was schon das
Volkswort ahnt, wenn es von einem,
den es „glücklich” nennt, zu sagen weiß:
Er hat sein Glück „gemacht”! ‒ ‒ ‒
Nirgends wird man wahres Glück
auf Erden finden, ‒ es sei denn,
daß es einer sich geschaffen hätte!
‒ ‒ ‒
Auch jenes Glückeserbe, das dem Kinde
durch die Eltern werden kann, muß
erst geschaffen werden von den El
tern! ‒ ‒
Es wird erst dann dem Kinde wirken
der Besitz, wenn sich das Kind, bereits
herangewachsen, nicht mehr nur an sei‐
214 Die Ehe
nem Glückeserbe freut, sondern er‐
kennt, daß ihm nun Pflicht erwächst,
sein Erbe zu gebrauchen, und auf ihm
sein eigenes Glück sich zu erbauen.
‒ ‒
Die aber werden es am besten bauen
lernen, die schon im Elternhause mit
erlebten, wie ein Glück sich aufer
bauen läßt...
Die werden nie die Kraft verlieren,
neues Glück zu schaffen, auf die in ihrer
Jugend einst die Kraft von Eltern über‐
strömte, die da selbst das Glück zu
schaffen wußten! ‒ ‒ ‒
So wird das Glück der guten Ehe noch
auf Kindeskinder überströmen, und
immer wieder neue Glückesmöglichkeit
erzeugen!
215 Die Ehe
Selig die Ehe, die auf solche Art zu
einem Schatzhaus wird, das seinen
Glückesreichtum nie vermindert sieht,
wie überreich er sich auch in die Welt
ergießen mag!
‒ Und alles, was man sonst auf dieser
Erde finden kann, bleibt nur ein klei
nes neben jenem Glück, das in der Ehe
aufgerichtet werden soll! ‒
Was hier auf Erden sonst noch als be‐
gehrenswert erscheint, ist selten in des
Menschen freie Macht gegeben.
Stets zeigt es sich bedingt durch
Außendinge: ‒ kann durch Andere
behindert und vernichtet werden!
Das wahre Glück der Ehe aber ist im
inneren Leben nur zu gründen, und
ward es da auf festen Fundamenten auf
erbaut, dann kann nichts Äußeres
216 Die Ehe
es jemals mehr zerstören, ‒ ja selbst
den Erden-Tod wird es zu über
dauern wissen, wollen die es sich er
halten sehen, die es sich einst schufen!
‒ ‒ ‒
So aber wird auch eines Kindes
Glückeserbe aus der guten Ehe sei
ner Eltern tief verankert sein im in
neren Leben, und keine Macht der Erde
wird dem Kinde je sein „Erbe” rauben
können, das ihm erhalten bleibt, selbst
in der Ewigkeit! ‒ ‒ ‒
*           *
*
217 Die Ehe
NEUNTES KAPITEL
VON
EWIGER VERBUNDENHEIT
ALLES Glücksverlangen, das hin‐
aufreicht über niederes irdisches
Begehren, ist nur Sehnsucht nach Ver
einigung der Geister in dem Geistes‐
Urgrund, der sie ewig zeugt, und ewig
sie aus sich entläßt, um ewig wieder
sie in sich zurückzunehmen...
Noch aber ist der Menschengeist der
Erde Irdischem verhaftet, das dort, wo
seine Sehnsucht Einung will, nur Tren
nung schafft. ‒ ‒
Freundschaft entsteht, und sucht die
Trennung aufzuheben, ‒ aber siehe:
‒ Freund und Freund verbleiben den‐
noch Einer nur und Einer, die sich beide
nie im Innersten zu Einheit ineinander‐
schmelzen können! ‒ ‒
Nur die Ehe, die das Männliche dem
221 Die Ehe
Weiblichen vereint, schafft wirklich
eine neue Einheit! ‒ ‒ ‒
Hier ist nun Mensch und Mensch zu
übererdenhaftem Ganzen neu ver‐
schmolzen, so wie einst beide vor dem
„Fall” in irdische Erscheinungswelt ver‐
einigt waren! ‒ ‒ ‒
Mag das auch den Vereinten nur in sel
tenen hohen Fällen zu Bewußtsein
kommen, so ändert dies nicht, daß die
Einung nun erneut im gleichen Ur
grund allen Seins Ereignis wurde,
in dem sie einstmals urgegebenes Er‐
eignis war. ‒ ‒ ‒
Das Allerwenigste von dem, was
wirklich ist, wird Menschen je „be
wußt”, und was im Un-Bewußten,
Un-Gewußten bleibt, ist dennoch für
den Menschen mehr bestimmend,
222 Die Ehe
als alles was ihm zu Bewußtsein
kommt. ‒ ‒ ‒
Sobald auf dieser Erde Mann und
Weib sich gegenseitig angeloben, ‒
im festen Willen, ihr Gelöbnis immer
dar bis an das Ende ihres Erden
daseins aufrecht zu erhalten, ‒ er‐
steht im wesenhaften Geiste eine neue
Einheit: der Form nach völlig jener
Einheit gleich, in der einst jeder dieser
beiden, auf der Erde nun geeinten Men‐
schengeister, im Geistigen mit seinem
urgegebenen Gegenpol vereinigt war.
Für diese Erdenzeit ist stets der leib
lich sichtbare, dem anderen Teile ehe
lich verbundene Gegenpol, allein in
Wirksamkeit, ganz einerlei, ob es
sich, ‒ wie in äußerst seltenen Fällen,
223 Die Ehe
wirklich um zwei Pole handelt,
die dermaleinst vereint gewesen
waren und in der Zeiten Fülle wie
der sich für alle Ewigkeit vereinen
werden, oder um zwei urgegeben
fremde” Pole! ‒ ‒ ‒
Jeder Eheteil hat darum nur in dem ihm
hier auf Erden angelobten anderen
Eheteile seinen ihm vereinten Ge
genpol zu sehen, da während die
ser Erdenzeit kein anderer sich ihm
einen kann...
Nur mit ihm hat er die Geistes-Ein
heit aufgerichtet, von der allhier die
Rede ist, und niemals weiß hier auch
der Weiseste mit aller Sicherheit,
ob dieser, für die Erdenlebenszeit
vereinte Gegenpol ihm nicht auch
ewig als sein urgegebener Er-gän
224 Die Ehe
zungsteil verbunden bleiben wird.
‒ ‒ ‒
Nur ganz bestimmte geistige Erfah
rungsfähigkeit kann da zuweilen, ‒
wenn auch nicht ganz leicht, ‒ den
Schleier lüften...
Um aber keiner Frage Raum zu lassen,
muß ich hier erwähnen, daß auch dort,
wo sicherste Gewähr besteht, daß
zwei im Urzustand einst in Verei
nung geistgezeugte Gegenpole sich
als Erden-Menschen hier begegnet sind,
‒ die neue Einheitsform von der ich
rede, nur dann zu schaffen ist, wenn
diese beiden Erdenmenschen sich in
einer wahren Ehe hier für dieses
Erdenleben einen. ‒ ‒ ‒
Es ist diese „Einheitsform” eine gei‐
stige Gestaltung, die gleichsam latent,
225 Die Ehe
im Geiste stets als Möglichkeit gege
ben ist, doch aber nur, wenn Ehe
wille sie erneut „erregt”, zur Seins
wirkung gelangt, wonach sie dann
bestehen bleibt, solange dieser Ehe‐
Wille sich erhält. ‒ ‒
Erlischt er durch den Tod des Erden
körpers eines beider Eheteile, oder
durch die Lösung einer Ehe, so tritt
auch diese Einheitsform nun in Latenz
zurück, um stetig wieder neu zur
Seinswirkung zu kommen, wo
immer neuer, anderer Ehe-Wille sie
„erregt”. ‒ ‒ ‒
Man wähne nicht, im Ewigen sei
solches Werden und Vergehen, Ver
sinken und dann wieder Auferstehen
bestimmter Formen doch „unmöglich”,
226 Die Ehe
da Ewiges doch keinen „Anfang” und
kein „Ende” dulde! ‒
Hier tat der menschliche Verstand dem
Menschen wahrlich schlechten Dienst,
wenn er ihn zu verleiten wußte, sich nach
seinen, nur im Irdischen begründeten
Gesetzen, ein Bild des Ewigen zu
konstruieren!...
Da hier auf dieser Erde, wie im gan‐
zen sichtbarlichen Kosmos, alles, was da
Anfang” nimmt, auch „Ende” finden
wird, ‒ da hier, was sich aus „Ele‐
menten” einst zusammenfügte, auch
unerbittlich wieder auseinanderfallen
muß, ‒ so glaubt der irdische Verstand
sich sehr berechtigt zu dem billigen
Schluß: ‒ daß Ewiges dann nur im
Gegensatz zum Irdischen bestehen
könne, ‒ ‒ falls es überhaupt bestehe.
227 Die Ehe
Und die in solcher Weise klügelnd kal‐
kulieren, ‒ ihrer „Weisheit” froh, die
sie in unerschütterbaren „Denkge
setzen” felsenfest gegründet wähnen,
‒ ahnen nicht, daß sie mit einem
Maße messen, das im Ewigen nicht
existiert, da nur der wesenlose
Schein gewisser Denkvorgänge ihm
den Schein des Daseins schenkt.
‒ ‒ ‒
Mag es für irdisch-menschliche Gehirne
aber auch als völlig „unbegreifbar
gelten, so bleibt doch Ewigkeit, ‒ und
„Ewigkeit” ist nur das Sein des we
senhaften Geistes ‒ anfang- und
endlos immerdar nur Sein als stets
bewegtes Leben, von dem das
„Leben” dieser Erdenwelt, wie alles
physisch-kosmische Geschehen, nur fer
ner, letzter Abglanz ist, getrübt
228 Die Ehe
durch der „Materie” rauhen, dunklen
Spiegel. ‒ ‒ ‒
In wesenhafter Ewigkeit, ‒ im reinen
Geiste, ‒ ist die Ehe zweier Erden‐
menschen nur allein begründet! ‒ ‒ ‒
Wäre diese letztliche Begründung nicht
gegeben, dann wäre füglich nicht von
Ehe” mehr zu reden, sondern nur von
der Verbindung der Geschlechter: aus
eigenem Wohlgefallen aneinander,
und, um dieser Erdenmenschheit Nach
wuchs zu erzeugen...
Dann bliebe freilich alles Miteinander‐
leben der Geschlechter auch am besten
freier Willkür überlassen, ‒ nur dort
etwa noch eingedämmt, wo Dämme auf‐
zuwerfen wären um der Gesamtheit
Wohl nicht zu gefährden. ‒
229 Die Ehe
Nun aber ist es Erdenmenschen mög
lich, in männlich weiblicher Verschmel‐
zung einen Tempel aufzurichten, der
bis ins Innerste der Gottheit ragt!
‒ ‒ ‒
Mann und Weib und Weib und
Mann, reichen an die Gottheit an
‒ singt Weisheit wie aus Kindermund
in einem Texte, den ein naiver „Wissen‐
der” dem größten Künstlergenius seiner
Zeit zur Tongestaltung bot. ‒ ‒ ‒
Im reinen Geiste wird die Ehe zweier
Erdenmenschen geistiges Geschehen!
Auf solche Art, und nicht etwa durch
Priesterwort, noch weniger gar durch die
Anerkennung staatlicher Behörden, die
allein der Ordnung irdischen Geschehens
230 Die Ehe
dient, empfängt die Ehe ihre hohe
Weihe in der Ewigkeit! ‒ ‒ ‒
Dunkles Ahnen dieses wirklichen Ver‐
bundenwerdens in der Ewigkeit, spricht
Volksweisheit im Sprichwort aus, wenn
sie zu sagen weiß, daß „Ehen im Him
mel geschlossen” würden...
Und selbst die machtbewußte Kirche
Roms hat längst entschieden, daß das
Versprechen zwischen Mann und
Weib, einander bis zum Tode in der
Ehe zu gehören, an sich bereits die
Ehe schließt, und daß der Weiheakt
des Priesters nur die so geschlossene
Ehe segnen könne, ‒ ‒ auch wenn
man es geflissentlich vermeidet, diese,
nach dem Dogma durch denheiligen
Geistgegebene, Konzilsentscheidung
allem Volk bekanntzugeben. ‒ ‒
231 Die Ehe
Noch wirkt die alte Weisheit Wissender
auch dort sich aus, wo man den
Schlüssel längst verloren hat, der
heutigen und kommenden Geschlechtern
uralt hehre Tabernakel öffnen
könnte...
Doch auch im innersten Gefühl des
Menschen, der die Ehe kennt, wie
sie Gestaltung hier auf Erden finden
soll, wird leise zu ertasten sein, daß
ein Mysterium in der wahren Ehe sich
erfüllt, ‒ ‒ auch wenn man nicht die
letzte Wirklichkeit erschaut, die strah‐
lend über jeder wahren Ehe auf zum
Himmel ragt. ‒ ‒ ‒
Diese Wirklichkeit jedoch wird jedes
Ehepaar allmählich mehr und mehr er
fühlen lernen müssen, wenn es er‐
232 Die Ehe
kennen will, daß es im Ewigen ver
bunden ist. ‒ ‒ ‒
Im Irdischen herrscht Auswirkung des
kosmischen, unbeugsamen Gesetzes,
und Liebe kann hier nur begrenzt ins
Dasein wirken. ‒
Was man auf Erden „Liebe” nennt, ist
nur ein schwacher Wiederschein der
Liebe, die des Geistes Ewigkeit im
Sein durchflutet: ‒ der Liebe, die in
Gott und Gottes Leben ist, ‒ die alles
was das kosmische Gesetz erstrebt und
nie erreichen kann, erst zur Erfüllung
bringt! ‒ ‒ ‒
Ihr wirkungsvollster Wiederschein
auf Erden wird Erlebnis in der wahren
Ehe!
Ihn zu erleben und erlebend zu emp
233 Die Ehe
finden, ist der Ehe höchstes, ihr allein
nur vorbehaltenes Glück! ‒ ‒ ‒
Wo immer dieser reinste Wiederschein
der Liebe, die da Gottes Leben ist, in
Einheit geistigkörperlicher Ineinander‐
schmelzung zum Erlebnis wird, dort
hat das Reich des wesenhaften Gei
stes sich dem Irdischen verbunden,
‒ und ‒ wie einst alle Menschen‐
geister sich in Liebe einen werden in
der Ewigkeit, so wurden Mann und
Weib, die solches heiligste Erleben
kennen, hier auf Erden schon ge
eint. ‒ ‒ ‒
Wo aber diese Geistereinigung ein‐
mal besteht, dort wird sie auch nicht
aufgehoben, wenn in der Ewigkeit
dereinst sich jene urgegebenen Pole
234 Die Ehe
wiederfinden, die hier getrennt und
meist nicht umeinander wissend, im
Menschentieresleibe über diese Erde
schreiten. ‒ ‒ ‒
Im Geistigen durchdringt das Ein
zelne sich gegenseitig, und so auch
lebt der Geistesmensch, der in Vereini‐
gung mit seinem Gegenpol den urgege‐
benen Zustand seines Seins zurück‐
errungen hat, in gegenseitiger Durch
dringung aller anderen erneut Ge
einten. ‒ ‒ ‒
Es ist nicht etwa so, daß eine Ehe, die
sich hier auf Erden in der höchsten
Glücksvollendung fand, obwohl die
beiden Eheteile keineswegs etwa
auch urgegebene Einheitspole wa
ren, nun in der Geisteswelt durch un‐
gewollte Trennung leiden könnte!
235 Die Ehe
Nur, was getrennt sein will, ist dort ge‐
trennt, und schon der Wille eines Teils
genügt, um solche Trennung zu bewir‐
ken, bis einst beide Teile auf der glei‐
chen höchsten Stufe stehen, auf der es
keinen Trennungs-Willen gibt...
Auf jenen niederen Stufen geistig‐
wachen Seins jedoch, die nach dem „Tode”
dieses Erdenkörpers erst durchschritten
werden müssen, herrscht in gleicher
Weise Trennungs-, wie Vereinungs
wille. ‒
Wenn aber Trennungswille wirksam
ist, durchdringt das Einzelne einander
ohne gegenseitig seiner Gegenwart
bewußt zu sein, wogegen der Ver
einungswille gegenseitiges Erleben
im Durchdringen schafft, das über jede
erdenhafte Vorstellung erhaben ist,
236 Die Ehe
und sich in Worten niemals schildern
lassen würde. ‒ ‒ ‒
Schwacher Abglanz solchen geistigen
Erlebens mag sich noch erahnen lassen
in der Vorstellung, als könne man hier
auf der Erde seinen Erdenleib verlassen,
um in dem geliebten Menschen, ‒ mehr
noch als ihm selbst je zu Bewußt
sein käme, ‒ jegliche körperliche,
jede Seelenregung intensiv und
klarbewußt mitzuempfinden...
Höchstes Sehnen aller wahrhaft
Liebenden auf dieser Erde findet so
im Geistes-Sein Erfüllung! ‒ ‒ ‒
Es ist die wahre Ehe wahrlich niemals
lösbar, und auch in aller Ewigkeit
wird sie bestehen bleiben!
237 Die Ehe
Jedoch ist sie auch keineswegs in einem
Menschenleben auf der Erde einmal
nur erlebbar!
Wo „Tod” die irdische Verbindung schei‐
det, dort kann der Überlebende sehr
wohl auch eine neue Ehe schließen, und
somit eine neue Einigung im Geiste
schaffen, die der ersten keinen Abbruch
anzutun vermag. ‒ ‒
Die geistige Durchdringung derer, die in
Liebe ewiglich verbunden bleiben,
kennt keine „Eifersucht”, da nichts im
Geiste ist, das sie begründen könnte,
‒ wie denn alle Eifersucht der Lieben‐
den auf Erden letzten Endes aus der
Seele banger Sorge kommt, erstrebte
Einung könne in Gefahr geraten, nicht
bewirkt zu werden...
Im Geiste aber ist die Einigung bewirkt
und nichts kann sie gefährden!
238 Die Ehe
In gegenseitiger Durchdringung ist
im Geiste alles in Ver-Einung, was
sich nur jemals auf der Erde hier in wah‐
rer Liebe fand! ‒ ‒ ‒
Was aber einmal in der Ehe hier auf
Erden schon zur Einung kam, das kann
durch Erdentod zwar körperlich ge‐
schieden werden, doch ist es niemals
mehr im Geistesreich zu trennen!
‒ ‒ ‒
Dort mehrt es nur den Einungswillen,
der einst aller Erdenmenschheit Geist
vereinung schaffen soll, und der in
jeder neuen wahren Ehe Mann und
Weib bereits zu solcher Einung
führt. ‒ ‒ ‒
So schafft die wahre Ehe wahrlich
ewige Verbundenheit, ‒ und nicht
239 Die Ehe
nur zwischen beiden Menschenpo
len, die sie geistig eint, sondern, in
anderer Weise, dann auch zwischen
ihnen und den schon im wesenhaf
ten Geist Geeinten in der Ewigkeit!
‒ ‒ ‒
Wohl denen, die hier fassen, was
da zu erfassen ist!
Wohl denen, die es in der Ehe zu er
leben wissen!
An allen Orten dieser Erde sollten „Tem
pel der Ehe” sich erheben, ‒ Weihe‐
stätten, deren Priesteramt nur Menschen
führen dürften, die um die Möglich
keit der Geisteseinung in der Ehe
wissen, und gewillt sind, sie mit
allen Kräften zu erstreben!
Hier sollten alle Dinge würdige Bera
tung dann erfahren, die irgendwie ge‐
240 Die Ehe
eignet scheinen, um in dieser Welt: der
Ehe hehrer Heiligkeit zu dienen!
Von hier aus sollte man versuchen, allen
Ehen auch die äußeren Bedingungen
zu schaffen, unter denen sie gedeihen
könnten!
Von solchen hohen Weihestätten sollte
alle Sorge um die Jugend ihren Aus‐
gang nehmen!
Hier sollten alle Liebenden die sich
zur Ehe einen wollen, gütigen Er
fahrungsrat empfangen!
Hier sollte allen denen Hilfe darge
boten werden, die ihrer Ehe Glück
nicht schaffen konnten und sich vor
der Lösung ihrer Ehe sehen!
Wahrhaftig, ‒ hier wäre Großes
noch zu tun, und aller Menschheit
241 Die Ehe
würde Segen über Segen kommen
aus dem Wirken derer, die als wahre
Sorger um die Seelen, ‒ frei von
jeder Sucht nach Seelenfang für eine
Glaubensmeinung, ‒ hier zu helfen
suchen wollten, daß die Ehe werde,
was sie hier auf Erden sein kann,
weiß man von ihrer geistigen Be
gründung vor dem Angesicht der
Ewigkeit!!
Noch hat die Erdenmenschheit aber nicht
erkannt, daß alles Heil ihr aus der
Ehe werden könnte...
Noch sucht man nur „Verbesserung
zu schaffen da und dort mit redlichstem
Bemühen, und niemand scheint zu sehen,
daß der Menschheit nur zu helfen
wäre, würde diese Hilfe aus der
wahren Ehe sich von selbst erge
ben! ‒ ‒ ‒
242 Die Ehe
Niemand scheint zu wissen, daß die
menschliche Vereinung die das Leben
zeugt, natur- und geistgewollter Aus
gangspunkt für seine rechte Führung,
seine rechte Lenkung ist! ‒ ‒ ‒
Wenn Übel in der Menschheit zu be‐
kämpfen sind, ‒ und wer vermöchte
das zu leugnen? ‒ ‒ dann sind die
Wurzeln dieser Übel dort zu suchen,
wo man nicht um die hehre Heilig
keit der Ehe weiß, ‒ oder wo geile
Gier in Wort und Bild und Tat sie
schänden darf, ‒ oft noch des Beifalls
Solcher sicher, die ihre eigene Ehe
rein zu halten wissen! ‒ ‒ ‒
Hier muß Wandlung werden, soll die
Menschheit nicht in Lüsternheit und
seichtem Wohlbehagen an der steten,
nur zu gern gesuchten Überreizung im
Geschlechtlichen zugrunde gehen! ‒
243 Die Ehe
Vor allem aber wird das neue Leben, ‒
wird die Jugend, selbst sich schützen
müssen vor Verfall, und das kann
nur geschehen, wenn sie selbst die Ehr
furcht vor der Heiligkeit der Ehe in
den Herzen zu erwecken sucht!
‒ ‒ ‒
Nur einer Generation die um die Hei
ligkeit der Ehe weiß und so in tief
ster Ehrfurcht vor dem hocherha
bensten Mysterium des Menschen
steht, kann jene Menschheitszukunft
werden, die, von den Besten aller Völker
längst herbeigesehnt, gewiß erreichbar
ist, ‒ jedoch nur dann, wenn man sie
selber ‒ ‒ schafft! ‒ ‒ ‒
Der Wille nur, ‒ niemals der Wunsch!
‒ ‒ kann hier das hohe Wunder wir
ken!! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
244 Die Ehe
Dann wird so manche „Frage” lösbar
werden, die heute noch unlösbar
scheint, ‒ und großes Leid wird
aus der Erdenwelt verschwinden!
‒ ‒ ‒
Noch sind wir leider allzuweit von
dieser neuen Zeit die jedem Men
schen seines Menschtums heilig
hohe Würde zu Bewußtsein brin
gen wird! ‒
Und doch wird diese Zeit dereinst
erscheinen, ‒ wenn jeder Mensch der
hier zur Einsicht kommt, in sich die
Pflicht empfindet, alles was an seinen
Kräften liegt daranzugeben, um so
bald als möglich sie herbeizuführen!
Keiner glaube etwa, daß an seinen
Kräften allzuwenig nur gelegen sei!
Hier wird Jeder zum Verstärker eines
245 Die Ehe
Willens, der schon in der Welt vorhan
den ist, und dieser so geeinte Wille
wird sich seine Wege schaffen, um den
Willen Aller zu erreichen! ‒ ‒ ‒
Heilig wird dann allen heißen: ‒ der
Geschlechter Inbrunst, sich zu
einen! ‒ ‒ ‒
Heilig: ‒ das Mysterium des Zeu
gens und Gebärens! ‒ ‒ ‒
Heilig, ‒ dreimal heilig: ‒ die Ver
einung die das Weib dem Manne
eint, zu engverschmolzener Ge
meinsamkeit für Zeit und Ewigkeit!
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
*           *
*
246 Die Ehe
ENDE
EWIGE WIRKLICHKEIT
Verlagslogo
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASEL
UM DEN FORDERUNGEN DES URHEBERRECHTES
ZU ENTSPRECHEN, SEI HIER VERMERKT, DASS
ICH IM ZEITBEDINGTEN LEBEN DEN NAMEN
JOSEPH ANTON SCHNEIDERFRANKEN FÜHRE,
WIE ICH IN MEINEM EWIGEN GEISTIGEN SEIN
URBEDINGT BIN IN DEN DREI SILBEN:
BÔ YIN RÂ
BASLE 1934
COPYRIGHT BY
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
INHALT Seite
Voraussetzung 5
Geheimnis der Erwählung 9
Weg und Ziel 13
Aus geistigem Sein 17
Selbstentsprechung 21
Wiedergefunden 27
Untrennbar 31
Ehrfurcht 35
Nötigung 39
Unterschiedenheit 43
Verpflichtung 47
Werk der „Gnade” 51
Göttliches Lachen 55
Selbstüberlegenheit 59
Erlösungsmöglichkeit 63
Um der Liebe willen 69
Bändigung des „Tieres” 73
Schuld und Sühne 77
Das Ewige 81
Erneuerung 85
Unsterblichkeit 89
Wissen 93
Nachher 97
Jedem anders eigen 101
Selbstvergottung 105
Wirklich werden 109
Gotteserfahrung 113
Originalscan1  Originalscan2
VORAUSSETZUNG
Die mich „verstehen” wollen,
Werden schwerlich jemals
Meine Worte fassen,
Denn was ich gebe,
Will Erlebnis werden, ‒
Nicht verlierbares Verstandesgut!
Worte, die in dem, der sie empfängt,
Nicht in die Tiefe sinken
Und im Allertiefsten
Seine Seele wandeln können,
Mögen dienstbar sein
Dem irdisch hirnbedingten Denken,
Auch wenn sie dem, der sie empfängt,
Kein geistiges Erleben schenken.
Meine Worte aber werden dem, der sie
Empfängt, erst dann verstandeseigen,
Wenn sie Wandlung wirkten
In der Seele allertiefsten Tiefen:
Dort, wo geistlebendige Gebete
Nach Erlösung aus den Fesseln
Hirnbedingten Denkens riefen.
*
7 Ewige Wirklichkeit
GEHEIMNIS DER ERWÄHLUNG
Offen liegt vor aller Augen,
Was ich gab und gebe:
Sichtbar, bin ich selber Weg
Zu Dem, in dem ich geistgeboren lebe.
Unsichtbare aber
Spielen manchem in die Hände:
Was ich niederschrieb
Auf daß es Finder fände.
Gewahren des Erprüften Sinne
Solche Zeichen,
So wird er wachend auch dereinst
Den Weg erreichen.
Doch, bleibt er störrisch
Von sich selbst benommen,
So war, was zu ihm kam:
Zu früh gekommen!
*
11 Ewige Wirklichkeit
WEG UND ZIEL
Den Weg erreichen, den ich zeige,
Heißt das Ziel erkennen,
Das alle Erdenziele hochhin überragt,
Die wunschbeschwerte Träume
Schon „erhaben” nennen.
Hat einer erst den Weg gefunden,
Findet er auch dieses Weges hohes Ziel.
Schon nach den ersten Schritten auf dem
.Wege
Fühlt er sich gesunden,
Und nicht mehr eingezwungen hörig
Wesenlosem Spiel.
Doch: nicht im Wettlauf wird der Weg
.durchmessen,
Und keiner kann hier Mitbewerber über‐
.rennen!
Hier muß der Wanderer
Erst allen Geltungsdrang vergessen,
Nicht eher hört er sich im Ziel bei Namen
.nennen.
*
15 Ewige Wirklichkeit
AUS GEISTIGEM SEIN
Ich kann nur geben,
Was der Vater gibt.
Ich kann nur lieben,
Was der Vater liebt.
Ich kann nur künden,
Was der Vater kündet,
Dem ich, in allen Sünden,
Sohn bin: ‒ Eingebündet
Seinem ewig einen Leben,
Das er aus Ewigem
Auch Irdischem gegeben:
Um hier Versunkenes
Zu finden
Und erneut emporzuheben.
Ich bin nicht selbstgezeugt
Im Geiste,
Aus dem „Urwort”,
Wie der Vater,
Der als seine Selbstgestaltung
Stets im Geist verbleibt.
Ich bin, ‒
19 Ewige Wirklichkeit
Ein Wort der Ewigkeit, ‒
Im „Wort” gezeugt,
Urewig.
Und zu urbestimmter Zeit
Ward, zeitbedingt,
Dem Erdenmenschen
Ich ‒ der Urgezeugte ‒
Einverleibt.
*
20 Ewige Wirklichkeit
SELBSTENTSPRECHUNG
Mein ganzes Erdenleben war
Von früher Kindheit an ein stetes Geben.
Wie die Nager auf den Feldern
Immerfort in ihre Löcher bergen,
Was die Gier erreicht,
Wie die Emsen, gribbelnd,
Alles, was sie schleppen können
In die Nester tragen,
Wie die Bienen triebhaft
Honig sammeln,
Füllend ihre Waben,
So war ich, seit ich weiß um erstes
.Denken
Und aus Irdischem Erinnerung verwahre,
Aus innerlichem Drängen immerfort ge‐
.trieben:
Das, was mein Eigen hieß,
Erst als Geschenk für Andere zu lieben.
Noch niemals habe ich Besitz besessen,
Den ich nicht, leichten Herzens, gern ver‐
.gessen,
23 Ewige Wirklichkeit

Wenn ich, voll Selbstbeglückung, ihn ver‐
.schenken konnte,
Wo es Pflicht mir nicht verbot.
Doch nicht nur
Was man mit Händen greift,
Bot solcher Gebedrang
Allezeit Anderen dar.
Auch was mir geistig zugehört
Und zugehörte, lang vor meinen Erdenjahren,
Ist mir im Irdischen zum ersten darum wert,
Weil es sich weiterschenken läßt,
An Alle, die es nicht durch eigenes Erfahren,
Im geistgezeugten Licht
Als Eigentum gewahren.
Höchsten Wertes
Ward ich solcherart
Mir selbst im Unsichtbaren,
Wie ich im ewiglichen Geiste
Mir geboren bin,
Weil hier ich selber
24 Ewige Wirklichkeit
Mich verschenken kann
An Tausende und immer wieder Tausende,
Ohne doch jemals mich zu verlieren,
Ohne doch jemals mir zu mangeln,
Wenn ich immer wieder Anderen
Mich selber schenken will.
*
25 Ewige Wirklichkeit
WIEDERGEFUNDEN
Was ich im Ewigen
Jemals erfahren,
War mir vertraut schon
In kindlichen Jahren.
Und schien ich mir später
Im Trüben verloren,
So ward ich doch immer
Mir neu geboren.
Was mir im Äußeren
Mochte begegnen,
Konnte ich stets
Aus dem Innersten segnen.
Doch sah ich auch frühe schon
Mein Erfahren
Nur in der Stille
Bewahrt vor Gefahren.
So blieb ich in Gott...
Und in Gott verloren,
Fand ich mich selber
In Gott geboren.
*
29 Ewige Wirklichkeit
UNTRENNBAR
Im Geiste
Geistig aus dem Geist gezeugt,
Im Irdischen
Allerdenhafter Last gebeugt
Und dennoch erdenhafter Freude
Dankbar zugeneigt, ‒
Ist mir mein Zeitliches
Kein „Hier”,
Mein Ewiges
Kein „Dort”:
Wo immer ich mich finde,
Bin ich in mir selbst,
Und selbst an gleichem Ort.
Ich könnte niemals trennen,
Was in mir Vereinung fand:
Den Menschen dieser Erde
Von dem Geistgezeugten,
Dem der reine Wille
Des nun irdisch Einverleibten
Sich vor aller Erdenzeit
Im Geist verband.
*
33 Ewige Wirklichkeit
EHRFURCHT
Die mir als Irdische im Geiste Brüder sind,
Verehren aller Kulte heilighohe Götter,
Und keinem frommen Glauben nahen sie als
.Spötter!
Sie wissen, daß sich Gott
Nur in Verhüllung zeigt
Und denen, die ihn hüllenlos
Erkennen wollen, ewig schweigt.
So sehen sie in Brahma, Vischnu, Schiva,
Und dem Gott vom Sinai, ‒
Mag er den einen: Jahwe, anderen: Allah
.heißen, ‒
In Samtscheh Mitschebat:
Dem „Ewigen Allmächtigen” der Stämme
.Tibets,
Und Bô-Chan, oder Fô:
Dem Himmelsbuddha
Der Mongolen und Chinesen,
Nur den gleichen, ewig einen Gott,
Der aller Götter Gottheit ist
In mannigfaltiger Gestaltungsweise.
37 Ewige Wirklichkeit
Nur dem wird er in jeder Hülle sichtbar,
Den er selbst sich sehen lehrte,
Nur dem erkennbar, der es nicht begehrte,
Ihn anders, als in jener Hülle zu erkennen,
In deren Namen er einst Mutterwort
Ihn hörte nennen.
Wer reinen Herzens in sich selbst
Den Gott der Kindheit ehrt, ‒
Dem Gott sich weihend in sich selbst, ‒
Und allen trennenden Gedanken wehrt,
Den lehrt sein Gott zuletzt sich selbst er‐
.kennen,
Und ihn im ewig einen Gottes-Namen
.nennen!
Doch, der nur wird das lichte Offenbaren
Des Einen, Ewigen in sich erfahren,
Der sich in Ehrfurcht allen Göttern beugt,
In denen sich der Eine, Ewige bezeugt.
*
38 Ewige Wirklichkeit
NÖTIGUNG
Wenn ich von Dingen
Die ich denen zu bekennen schuldig bin,
Die ich belehre,
Zuweilen auch in altbekannten Worten
.spreche
Die ich hoch verehre:
In Worten, die bei vielen Gläubigen
In alter Geltung stehen,
Und die in fester Prägung
Durch die Christenlande gehen,
So ist mir solcher Wortgebrauch geboten,
Durch ihn die Wahrheitstiefe altgeglaubter
Glaubenswerter Lehren auszuloten,
Die seichter Schätzung flach versandet
.scheinen,
Obwohl sie urtief gründen
In dem ewig Einen,
In dem ich selber gründe
Und aus dem ich lebe,
Wie ich aus ihm allein nur
Lichtgezeugte Lehre gebe.
41 Ewige Wirklichkeit
Wie diese Lehre aber
Jeden religiösen Glauben
In sich selber duldet,
Weil sie ihr eigenhaftes Lehrgut
Keiner denkbedingten Meinung schuldet,
So ließe das, was sagbar werden kann,
Sich wahrlich auch in Worten sagen,
Die nie noch einer Glaubenslehre
Starre Last getragen.
Doch würde das gewiß nicht
Neuem Irrtum wehren
Und müßte nur die endliche Erlangung
Des Erlangbaren erschweren.
Denn: was ich zu erlangen lehre,
Alle, die im Innersten
Schon danach streben,
Ist weder Glaube, noch Verstandesmeinung,
Sondern urgezeugtes Licht
Und aller Todgefahr entrücktes,
Freudeklares ‒ Leben!
*
42 Ewige Wirklichkeit
UNTERSCHIEDENHEIT
Der Vater liebt mich,
Wie ich selber mich
Im Vater liebe.
Hier liebt sich Liebe
In sich selber,
Unvergleichbar
Körperhaftem Triebe,
Sind auch urverbunden
Trieb und Liebe.
So liebe ich den Vater,
Wie er selbst
In mir sich liebt,
Dem er seit Ewigkeiten
Leben aus sich selber gibt.
Doch meine Liebe
Lebt nur durch das Leben,
Aus dem der Vater
Sich den Sohn gegeben.
*
45 Ewige Wirklichkeit
VERPFLICHTUNG
Manches Wort muß ich euch sagen,
Mag es euch auch schwer erfaßbar sein,
Denn in diesen meinen Erdentagen
Ward nur mir in dieser Welt allein
Solcher Kunde Kündung aufgetragen,
Und ich würde nicht ihr Künder sein,
Wollte ich erst Erdenhörige befragen,
Was ihr Wähnen willens ist, zu tragen.
Will ich auf Erden meine Pflicht erfüllen,
Dann darf ich erdbedingtes Werden
Nicht vor euch verhüllen.
Nur wenn ich zu mir selbst
Und meiner Art im Geiste
Euch in mir erhebe,
Kann ich der Weg euch sein
Zu jenem Leben,
Das uns Irdischen nur Er verwahrt,
Dem ich auf dieser Erde
Geistverschmolzen lebe.
*
49 Ewige Wirklichkeit
WERK DER „GNADE”
Alles „Leben” lebt nur aus der Gnade,
Und nur die Gnade
Führt aus Erdentierheits-Nacht
Zu jenem einen engen, steilen Pfade
Auf dem sie alle
In das Licht geleitet,
Die sie ‒ es in sich zu ertragen ‒
Geistig vorbereitet.
Gnade ist keine Willkürspende,
Wie enger, allzuerdendumpfer Glaube
Hier zu deuten sich vermißt!
Gnade ist: ‒ Gott, ‒
Und Gott ist selbst: „die Gnade”,
So, wie Gott selbst: „die Liebe” ist.
Nicht etwa nur als irdische Vergleiche
Wollen solche Worte
Hier verstanden sein,
Denn keine Seele dieser Sinnenreiche
Geht ohne Gott: ‒ „Die Gnade” ‒
Hier in Gott: ‒ „Die Liebe” ‒ ein!
*
53 Ewige Wirklichkeit
GÖTTLICHES
LACHEN
Ich finde in mir vielerlei Gestaltung,
Jedoch in jeder bleibe jederzeit ich Dem
.geeint,
Den man allein in würdestrenger Waltung
Und in unnahbar großer Herrschergeste
Zu erkennen meint.
Mir ist die fromme Inbrunst eingeboren,
Wie der lose, heiterfrohe Spott:
Ich liebte jederzeit
Auch noch in seinem Teufel Gott,
War ich auch wahrlich
Niemals Teuflischem verschworen.
Ich wäre nicht, der ich seit Ewigkeiten bin,
Könnte verengen ich mir Blick und Sinn,
Für das, was Gott dem Erdenmenschen zu‐
.gedacht,
Damit er irdisch lachen lerne,
Wie sein Schöpfer, schöpferisch erschüttert,
Noch im tiefsten Ernst der Ewigkeiten,
Über alles ewig Lächerliche
Aus urgründig tiefer Weisheit ‒ lacht!
*
57 Ewige Wirklichkeit
SELBSTÜBERLEGENHEIT
Die armen bang Betörten, die sich „ihren” Gott
Nur als den ewig ernsten Rächer ihrer Sünden
Und den behaglichen Bestrafer ihrer Misse‐
.taten
Vorzustellen pflegen,
Werden sicherlich, ‒ ich rede ohne Spott, ‒
So manche wohlbegründete Bedenken hegen,
Hören sie von einem Gott, der lachen kann: ‒
Der selber sich das Lachen lehrte,
Und seit Ewigkeiten durch sein Lachen
Allem ewig Lächerlichen wehrte,
Das jederzeit der Menschen Götter zu ertöten
.pflegt,
Weil allzuwürdereicher Hag
Die erdgeschaffenen umhegt.
Ich kann den unwirsch aufgeregten Dienern
Eines ihnen gleichen Gottes nur verkünden:
Daß der Urewige ‒ weiß Gott! ‒
Zu lachen weiß,
Doch wahrlich nicht vermag,
Zum „Zorn” sich zu entzünden,
61 Ewige Wirklichkeit
An seiner armen Erdenmenschen
Armen Alltags-Sünden!
*
62 Ewige Wirklichkeit
ERLÖSUNGMÖGLICHKEIT
Es sprach einst einer, den die Welt
Der Gläubigen, die seinen Namen ehren,
Gut zu kennen glaubt,
Daß er gewiß nicht
In die Erdennacht gekommen sei,
Die Selbstgerechten von sich selber zu er‐
.lösen,
Sondern Befreiung bringen wolle
Für die „Sünder”.
Sein Wort hat heute lang schon
Alle Welt vernommen,
Doch alle Welt blieb fern dem,
Was der mir vereinte Künder
Durch seine Kündung alle fassen lehren
.wollte,
Damit es allen bangen Sündenängsten
In den Seelen wirksam wehren sollte.
Sünde sah er dort bereits geschehen,
Wo er die Abkehr sah
Von ewig geistbeschwingtem Leben,
65 Ewige Wirklichkeit
Verkehrung geistgezeugten Willens
In den tierbedingten Willen:
Den Willen zeitgesetzter
Unabwendbarer Vergänglichkeit.
Was er die Gläubigen und ihre Priester
„Sünde” nennen hörte,
Sah er in alldurchdringend klarem Lichte
Als das erdgewirkte Werk der Sünde:
Als erstes Glied der argen Kette
Sündbedingter Folgen,
Das die Torheit Sündiger
Auf Erden „Sünde” nennt,
Weil sie es nicht
Als ungewollte Wirkung
Selbstgesetzter Ursache
Im Geistigen erkennt.
Jedem, den in solche Kette
Er geschmiedet fand,
Verkündete er die Erlösung,
Die durch Wiederumkehr
66 Ewige Wirklichkeit
Erdverkehrter Willensrichtung
Irrig Wollenden erlangbar ist.
Die vor sich selber Heiligen
Und eitelkeitsbetörter Meinung nach:
„Gerechten”
Fand er freilich
Solchem Umkehrwillen fern.
So kam es, daß er nur dem Sündbeladenen
Jeweils verkünden konnte,
Daß durch erfolgte Umkehr
Seine Sünden ihm vergeben seien,
Und daß nur Sünder,
Die zur Umkehr willig waren,
Durch der Sünder „Heiland”
Die Erlösung fanden.
*
67 Ewige Wirklichkeit
UM
DER LIEBE
WILLEN
Keinem wird so viel vergeben,
Als dem, der um der Liebe willen
In die Sünde kam, ‒
Als dem, der um der Liebe willen
Litt, und leidend an der Liebe,
Schuld der Sünde auf sich nahm.
Und selbst der Liebe leibliches
Erleben zählt hier geistig mit! ‒
Noch jedem wurde in der Ewigkeit
Vergeben, der hier im Erdenleben
Schuld auf seine Seele lud,
Weil er an seiner körperhaft
Bedingten Liebe litt.
Nur die aus seelischer Verhärtung
Und im Haß gesetzte Sünde
Läßt sich aus der Liebe nicht vergeben.
Hier führt nur Ausgleich
Durch die härteste Gerechtigkeit
Den Sündbeladenen in Qual und Ringen
Durch Aeonen ‒ wenn es sein kann ‒
Noch in lichtes Leben.
*
71 Ewige Wirklichkeit
BÄNDIGUNG
DES TIERES
So, wie ein Unerschrockener,
Der seines Lebens Unterhalt
Sich dadurch zu erwerben weiß,
Daß er die wildesten der wilden Tiere
Unter seinen Willen zwingt,
So muß sich jeder Mensch der Erde
Mühen ohne Ungeduld,
Das „Tier” in sich zu bändigen,
Zu zähmen und zu lehren,
Soll es nicht seine wilden Kräfte
Gegen seinen Eigner kehren.
Und so, wie keiner, der ein wildes Tier
Sich willenshörig machen will,
Des Tieres Willen besser, als durch Güte
.zwingt,
So ist auch keinem noch auf Erden
Bändigung der eigenen Tiernatur gelungen,
War er nicht zur Erkenntnis durchgedrungen,
Daß aller Zwang sein Tierhaftes nicht zwingt,
Wenn nicht der Liebe zu der eigenen Tiernatur
Des Tieres Bändigung gelingt.
*
75 Ewige Wirklichkeit
SCHULD
UND
SÜHNE
Der, dem durch Willensumkehr
Ehedem bewirkte „Sünde”
Fernerhin vergeben wird,
Ist damit aller Schuld
Die seine „Sünde” auf ihn lud
Für alle Ewigkeit enthoben,
Er bleibt erlöst
Aus aller Schuldverstrickung,
Die den Unerlösten
Zeitlich und im Ewigen
An seiner Selbstvollendung hindert.
Doch solche zeitliche
Und ewige Erlösung
Ist gebunden an die Sühne,
Die sich der Erlöste
Selbst aus freien Stücken auferlegt.
Dem Unerlösten
Bleibt sie Qual und Zwang. ‒
Befreiung schafft die Sühne dem,
Dem wahre Willens-Umkehr
Hier im Erdendasein
In sich selbst gelang.
*
79 Ewige Wirklichkeit
DAS EWIGE
Willst du im zeitbedingten Leben
Dich gestalten und erhalten,
So wirst du wachsam ringen müssen
Mit vergänglichen Gewalten.
Das Ewige jedoch
Wird dir gegeben,
Weißt du dich nur
In dir noch zu erheben,
Um das, was man dir gibt
Auch zu empfangen. ‒
Nicht anders wirst du je
Zu Ewigem gelangen!
Nur, was als „Gabe”
Dich erreicht,
Wird dir im Ewigen
Zu eigen, ‒
Was aber Ungeduld
Ertrotzen möchte,
Wird sich niemals zeigen!
*
83 Ewige Wirklichkeit
ERNEUERUNG
Alles Göttliche ist kinderfaßlich einfach,
Obwohl es in sich selbst unendlichfältig,
Und klarer Form entwöhnten Augen
Kaum in seiner Einfachheit erkennbar ist.
Je weiter fort von Göttlichem
Die Denker samt den Dichtern sich begeben,
Desto verzwickter und verkröpfungsreicher
Deuten sie das Leben.
Solange wir nicht, wie die Kinder,
Auch die komplizierten Dinge
In uns selber wieder einfach sehen,
Wird alles Denken,
Alles Deuten,
Falsche Wege gehen!
*
87 Ewige Wirklichkeit
UNSTERBLICHKEIT
Es brauchte bei den Alten
Nicht erst geistige Belehrung
Um zur Erkenntnis hinzuführen,
Daß nicht äußere Bekehrung,
Und weniger noch: Glauben oder Meinen,
Vermöchte, Irdisches dem Ewigen zu einen.
Noch wußte man,
Daß nur das geistbestimmte Handeln
Die Kraft erzeugen kann,
Das Irdische zu wandeln.
Die Alten strebten nicht danach,
Zu suchen, was kein Suchen je gewahrt,
Wenn es nicht geistgerechtes Leben
Ohne alles Suchen offenbart.
Sie wußten, daß ein Irdischer
Nur dann Unsterblichkeit erlangt,
Wenn er nicht mehr genießendes „Erkennen”,
Sondern sein urgegeben ewigliches Sein
Im göttlich Ewigen für sich verlangt.
*
91 Ewige Wirklichkeit
WISSEN
Wissen” hieß den Weisen alter Völker
Die im Geiste waren,
Wahrhaftig nicht nur:
Hirngedankliches Verwahren
Von Worten, die sich irdisches Erkennen
.schuf.
Das Wissen in der Weise ihrer „Wissenden”
Galt allen Kundigen und Sehern
Als die höchste Göttergabe,
Und bestimmt durch ewigen Beruf
So daß es nie in eines jeglichen Belieben stand,
Etwa: ein Wissender zu „werden”,
Weil nur der als so Gemeinter galt,
Den ein im ewiglichen Geiste Wissender
In urgegeben geistiger Gestalt
Bereitet, und vorherbestimmt geboren fand.
Wissen” war jenen zeitlich fernen Alten:
Höchstes irdisch-geistbedingtes Seins
.gestalten, ‒
Nicht die Gedächtnisakrobatik,
95 Ewige Wirklichkeit
Die man heute Wissen nennt,
Weil keiner derer, die sich heute wissend
.wähnen,
Aus eigener Erfahrung die urgeistigen
.Domänen
Des nur im Sein gewissen Wissens
Alter Zeiten kennt.
Nur dort, wo Wissen kein Beherrschen
Hirnbedingter Worte und Begriffe meint,
Ist Wissen ewig ewiger Erkenntnis
Eingefügt und zugeeint!
*
96 Ewige Wirklichkeit
NACHHER
Von allen sichtbarlich gewirkten Werken
Die euch schöpferisch allhier gelungen,
Von allem, was ihr, es erkämpfend, euch er‐
.rungen
Bleibt euch nichts anderes im Ewigen er‐
.halten,
Als was, in solchem Tun zugleich bezwungen,
Der Seele diente, sich im Geiste zu gestalten.
Die Male, die der Nachruhm euch errichtet,
Bleiben im Land der Seele ungesichtet,
Und wertlos wird, was man euch zugedichtet.
Nur eurer Taten allerfernste Erdenfolgen
Folgen euch nach noch aus dem Erdentag
Und müssen euch durch Ewigkeiten folgen,
Bis der voreinst von euch geschaffene Impuls
.vermag,
Sich selbst in letzter Folge aufzulösen: ‒
Im ewig Guten, wie im zeitlich Bösen.
*
99 Ewige Wirklichkeit
JEDEM
ANDERS
EIGEN
Das hohe Ziel
Das jeder Irdische dereinst in sich erreichen
.muß,
Will er bewußt im Ewigen sich wiederfinden,
Ist allen Erdverkörperten gemeinsam.
Doch, dieses übererdenhafte Ziel
Ist in sich selbst unendlichfältig
Und wird von jedem, der ihm zustrebt,
Dort allein erreicht,
Wo der den Weg Erwandernde
Es in sich selbst gewahr zu werden weiß.
Von keinem, derer,
Die das Ziel erreichten,
Kam jemals Bericht
Daß er es an der gleichen Stätte
Wie ein anderer gewahr geworden wäre.
Es ist für keinen Menschen anders zu erlangen,
Als in der Fassungsform, die es in ihm emp‐
.fangen
Und die allein nur
Dem Erlangenden entspricht.
103 Ewige Wirklichkeit
Wenn ich als einer aus den Wenigen,
Die sich vor Ewigkeiten schon
Im Ziel, von dem sie ausgegangen, wieder‐
.fanden
Und sich im Geist an heiliges Gelöbnis banden:
Dereinst in urgesetzten Tagen hier auf Erden
In einem Erdgebundenen zum „Weg” zu
.werden,
Mich mühe um in lichter Klarheit
Das Ziel, das Leben ist aus Wahrheit
In Menschenworten allen zu entdecken,
So darf der Suchende sich nicht erschrecken,
Sieht er in immer wieder anderen Bildern
Mich selbst als Weg mich zeigen
Und das Ziel ihm schildern.
Nur eines dieser Bilder kann ihm gelten, ‒
Die anderen sind anderen Seelen zugedacht.
In ihm nicht zubestimmten Seelenwelten
Ist noch kein Irdischer der Ewigkeit erwacht!
*
104 Ewige Wirklichkeit
SELBSTVERGOTTUNG
Es ist nicht so, wie allzugierige
Nach Gott Begehrende in sich vermeinen,
Wenn sie sich selbst „vergottet” wähnen,
Weil sie sich „verneinen”,
Und dann in scheinbar aufgelöstem Ich
Sich selbst vereinigt glauben dem Urewig‐
.Einen!
Es mag den Hochbewunderten in solchem
.Irren
Viel Ehrfurcht um des Menschen willen noch
.gebühren: ‒
Läßt sich der Suchende jedoch dadurch ver‐
.führen,
So wird gar leicht ihn selbsterzeugter Traum
.verwirren.
Erliegt er aber einmal der Betörung,
Dann treibt er fortan trughafte Beschwörung
Und taumelt immer tiefer in sein Dunkel,
Verführt durch seiner Träume
Irrlichtschein-Gefunkel.
*
107 Ewige Wirklichkeit
WIRKLICH
WERDEN
Nicht dadurch daß man denkt
Man wäre Gott schon nahe ‒
Oder gar vereint ‒
Kommt man dem Ewig-Einen nah.
Er bleibt dem glühendsten Gedanken
Ewig unerreichbar,
Faßt nicht des Gedankens Inhalt
Ein Geschehen, das schon vor dem Denken,
Wirklichkeit geworden war.
Wer jemals Gott in sich erleben will,
Muß erst zu werden trachten,
Was alle ehedem geworden waren,
Die zu ihrer Zeit in Gott erwachten.
Doch solches Werden wird nur durch die Tat,
Und kann erst dann dereinst daneben
Dem Denken sich zu denkgemäßer Fassung
.übergeben,
Wenn ihm die Folge der Gewährung wurde,
Die sich nirgends anders kann begeben,
Als nur in Gottes Wirklichkeit:
In Seinem allumfassend-einen Leben.
*
111 Ewige Wirklichkeit
GOTTESERFAHRUNG
Alle lichtbereiten Menschen
Können Gottes Gegenwart
In sich erfahren,
Wollen sie wahrhaft Gott: ‒
Den Ewigen, Lebendigen,
Der selbst die Liebe ist ‒
In Seiner gütereichen
Ewiglichen
Menschlichkeit
In sich gewahren.
Die allermeisten aber
Die Gehirn und Herz
Nach Gottes Spur durchwühlen,
Wollen in Wahrheit nur
Verborgen Irdisches
Erschauernd und erschüttert
Als beglückenden Genuß erfühlen.
Und andere,
Die in Verzweiflung
Nach dem Gotte suchen,
115 Ewige Wirklichkeit
Den sie selbst sich schufen,
Müssen erfahren lernen,
Daß sie nur sich selber rufen,
Mögen sie beten und verehren,
Oder ihrem einst geglaubten Gotte
„Gottlos” in sich selber fluchen.
Nur der wird Gottes inne,
Selbstgewiß, wie seines Daseins
Hier auf Erden,
Der in sich selbst
Die Liebe lieben lernt,
Und um der Liebe willen
Sich von jedem haß- und neiderfüllten
Weidepferch begierdedumpfer Herden
Seelisch firnehoch entfernt.
*
116 Ewige Wirklichkeit
ENDE
FUNKEN
(Deutsche Mantra)
MANTRA-PRAXIS
Verlagslogo
ZÜRICH
4. Auflage von «Funken»
(die 1. Aufl. erschien 1924)
2. Auflage von «Mantra-Praxis»
(die 1. Aufl. erschien 1928)
© 1967 Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG,
8048 Zürich
Alle Rechte sind den Rechtsnachfolgern
des Autors Bô Yin Râ (Joseph Anton Schneiderfranken)
vorbehalten.
Schellenberg-Druck, 8330 Pfäffikon ZH
INHALT Seite
Funken 7
Mantra-Praxis 37
FUNKEN
I.
Um-mich-herum
Dring' in mich ein!
Ich:
Bin Dein Schrein!
Du:
Mein! ‒
Blumensymbol
7 Funken Mantra Praxis
II.
Wall von Kristall
Allüberall!
Schließe Dich
Rings um mich
Schließe ein
Mich im Sein! ‒
Überwölbe mich!
Überforme mich!
Laß nichts herein
Als Licht allein!
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8 Funken Mantra Praxis
III.
Ich warte, ‒
  Ich! ‒ ‒
Dunkles Tor!
  Ich! ‒ ‒ ‒
Spring' auf!!
  ‒ ‒ ‒ Ich,
Dahinter...
  Ich,
Davor.......
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9 Funken Mantra Praxis
IV.
Zacken-Berg
Über mir...
Drachen-Tiefe
Unter mir...
Ich,
Auf dem «Weg»,
Bin selbst
Der Steg! ‒ ‒ ‒
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10 Funken Mantra Praxis
V.
Feuer
In mir...
Feuer im All...
Feuer
Im Feuer...
Ich selbst, ‒
Ich!!
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Feuer!
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11 Funken Mantra Praxis
VI.
Geist-Schweben,
  oben ‒
Geist-Weben,
  unten ‒
Geist-Leben,
  mitten. ‒ ‒ ‒
Allerinnerst,
  außen ‒
Allgebreitet,
  innen ‒
‒ ‒ ‒ Ich
  darinnen! ‒
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12 Funken Mantra Praxis
VII.
O ‒ wo?! ‒
O ‒ wann?! ‒ ‒
: O ‒ hier!!
: O ‒ heute!!
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Ich weiß jetzt:
Ich kann! ‒ ‒
Blumensymbol
13 Funken Mantra Praxis
VIII.
Ich bin!
Ich lebe!
Ich: drinnen, ‒
Ich: draußen, ‒
Ich: Einer, ‒
Ich: Alle! ‒ ‒ ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Ich ‒ ‒ bin! ‒
Blumensymbol
14 Funken Mantra Praxis
IX.
I. A. O. 
    : Linie....
    : Zirkel....
    : Kreis! ‒
  Ewige Wanderung des
Punktes!
  ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
    I: spaltet!
    A: breitet!
    O: rundet!
Eines in Allem:( IAO  ‒ ‒ )
I. A. O.
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15 Funken Mantra Praxis
X.
Drei-bündig Band
Bindet Beides:
Eines in Allem:
 «Welt», ‒
Alles im Einen:
«Mensch»! ‒
Ich: «Mensch»
bin
Ich: «Welt». ‒ ‒ ‒
Blumensymbol
16 Funken Mantra Praxis
XI.
Un-gründig:
    Urgrund, ‒
Ur-gründig:
    Eingrund, ‒
Ein-gründig:
    Allgrund, ‒
All-gründig:
    Ichbin! ‒ ‒ ‒
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17 Funken Mantra Praxis
XII.
Nicht mehr, ‒
Noch nicht. ‒ ‒
Was dazwischen
Ist,
Bin ‒ ‒ Ich!
Blumensymbol
18 Funken Mantra Praxis
XIII.
Ich, verloren
Im Gefundenen,
Ich, gefunden
Im Verlorenen,
Liebe Beides
In Einem, ‒ ‒
Erkenne:
Dieses bin Ich! ‒ ‒ ‒
Blumensymbol
19 Funken Mantra Praxis
XIV.
«Verstehend» nicht,
  nicht «erkennend», ‒
Will ich,
Und fühle:
Mich selbst. ‒ ‒ ‒
Fühlend
  bin ich
Nicht-wissend,
Allwissender Weisheit
  Wissen:
«Tat twam asi»! ‒ ‒ ‒ ‒
Blumensymbol
20 Funken Mantra Praxis
XV.
Dieses ist den «Vätern»
    entschleiert!
Dieses und nichts anderes!
Dieses will ich erfahren!
Dieses und nichts anderes!
: Welches ist der «Name»
  Des Menschen,
  Der ‒ ich ‒ bin? ‒ ‒ ‒
Blumensymbol
21 Funken Mantra Praxis
XVI.
Ewig,
Das Eine, ‒
Ewig,
Das Andere! ‒
Ewig,
Das aus Beiden
Seiende! ‒ ‒ ‒
Keine «Einheit»,
Kein «Leben»,
Ohne diese Drei!
Fühlend
Erfasse ich
22 Funken Mantra Praxis
Solches in mir...
Zu mir
Mich wendend,
Rufe ich
Mich selbst,
Und rufe:
«Ich»!! ‒
Nach außen
Rufe ich
Mich selbst,
und rufe:
«AUM»! ‒ ‒ ‒
Blumensymbol
23 Funken Mantra Praxis
XVII.
    Alles ist Stufe! ‒ ‒
Über mich selbst
    Schreite ich,
Und werde mir selber:
    Stufe!...
So finde ich:
    Meine Unendlichkeit,
Indem ich ewig
    Eine neue Stufe steige
Und ewig bin ‒ ich selbst
    Die Stufe...........
Blumensymbol
24 Funken Mantra Praxis
XVIII.
Loslösend
Mich selbst
Von mir selber,
Finde ich:
Mich selbst! ‒ ‒ ‒
Im Unsichtbaren
ausatmend:
Mich selbst,
Verliere ich:
Mich selbst
Im Unsichtbaren...
25 Funken Mantra Praxis
Einatmend:
Mich selbst
Fühle ich mich selbst:
Als Unsichtbares..
Einsaugend:
Dieses Unsichtbare
In mir selbst,
Dem Unsichtbaren,
Gewinne ich mich selbst
Als Unsichtbares
Im sichtbaren Leibe...
«Jîvâtmâ»! ‒ Om!
Blumensymbol
26 Funken Mantra Praxis
XIX.
Einstmals
Lebte ich viele Leben ‒
Des Todes...
Einstmals
Lebte ich, ‒
War tot...
Nun ich «gestorben»,
Will ich leben...
Ich bin es, ‒
Der «gestorben» ist! ‒
Ich bin es, ‒
Will leben! ‒
27 Funken Mantra Praxis
Ewiges Leben, rinne
Aus urtiefem Quell
In mir
In mich selbst! ‒
Rinne
Durch Mark und Blut!
Laß' Leben leuchten!
Leuchten am dunklen Ort!
Laß' wieder werden,
Was Ursprungs war:
Mich selbst,
Der ich bin!! ‒ ‒ ‒
«Aham brahma asmi»!
    Om!
Blumensymbol
28 Funken Mantra Praxis
XX.
Wegweisender Wille!
Wolle in mir!
Wirke Werden!! ‒
O Über-Ich!
Über-zeuge mich!
Über-lichte mich!
Wirke Werden!
Werde ‒ ‒ Ich!! ‒ ‒ ‒
Blumensymbol
29 Funken Mantra Praxis
XXI.
Brenne ‒ Geist! ‒ Brenne
Durch Haut und Gebein! ‒
LichteGeist! ‒ Lichte
Den dunklen Schrein! ‒
Glühe ‒ Geist! ‒ Glühe,
Durchglühe, den «Stein»! ‒ ‒
Blumensymbol
30 Funken Mantra Praxis
XXII.
Drei ist Eines
In sich selber, ‒
Spendet:
Vier der «Lenker»
Zehn der «Gewalten»,
Zwölf der «Väter»...
Daraus sprießend:
Vielfältige Einheit, ‒
Die «Meister»...
31 Funken Mantra Praxis
Ich,
Der ich diese Worte lese,
Der ich sie höre,
Der ich sie kenne,
Der ich sie weiß,
Ich, ‒ will «Schüler» sein
All dieser Zahl!
Ich ‒ Einer
Vertraue,
Baue,
Mit Lot, Winkel, Kreis
Was ich nun weiß:
Mich selbst auf dem Grundriß:
32 Funken Mantra Praxis
«I. A. O.»
33 Funken Mantra Praxis
MANTRA-PRAXIS
Eines der bedeutsamsten Formungsmit‐
tel der Seele ist die Einwirkung bestimm‐
ter Lautfolgen der menschlichen Sprache.
.Uralt ist das Wissen um solche Einwir‐
kungsmöglichkeit und in den Liturgien
wie den volkstümlicheren Gebetsweisen
aller großen Religionssysteme der Mensch‐
heit ist seine Spur leicht nachweisbar.
.Von erleuchteten, geborenen Priestern,
die an der Wiege jeder fruchtbaren Re‐
ligionsbildung des Altertums einst stan‐
den, als heiliges Geheimnis gehütet, wur‐
de dieses Wissen in der westlichen Welt
mehr und mehr vergessen, oder doch nur
in seinen Folgerungen weitergegeben, wäh‐
rend man seine Begründung nur noch
in dunkler Ahnung allenfalls ertastet.
.Anders ist es im Orient, wo heutigen‐
tages die Weisheit der Alten zwar auch
größtenteils unter Trümmern vergraben
liegt, allwo man aber noch sehr wohl ge‐
rade um die machtvolle Einwirkung
innerlich gesprochener Worte weiß, und
sie in guter, wie in verderblicher Absicht
Tag für Tag benützt.
37 Funken Mantra Praxis
.Ich betone hier ausdrücklich das inner
lich gesprochene Wort, denn nur auf die‐
ses innere, gleichsam in sich hinein Spre‐
chen kommt es an, wobei man sich nicht
durch die Meinung der Mantrakundigen
des Orients irreführen lassen darf, die mit
einem gewissen Schein von Berechtigung
auch dem durch das Ohr vernehmbaren
Laut großen Wert zuerkennen.
.Es ist hier zwar nicht von einem
„Aberglauben” zu reden, denn der phy
sisch vernehmbare Laut ist wahrhaftig
nicht ohne eingreifende Wirkung, aber
man muß genauestens auseinanderhal‐
ten, ob man eine Einwirkung auf die Seele
erzielen will, oder nur auf die fluidalen
Zentren des physischen Organismus...
.Der Orientale erstrebt zumeist Beides
zugleich und ist auch durch eine von
frühester Jugend an geübte Selbsterzie‐
hung, durch vererbte, seit Jahrhunder‐
ten gezüchtete Befähigung und eine Le‐
bensweise die sein Vorhaben nicht stört,
sondern erheblich fördert, sehr wohl im‐
stande, beide Wirkungen nach seinem
38 Funken Mantra Praxis
Willen zu lenken, ‒ der Mensch der west
lichen Welt hingegen ist nicht in der
gleich günstigen Lage und würde bei
dem Versuch, den physisch hörbaren
Laut gleichzeitig mit einwirken zu las‐
sen, nur die Wirkung auf seine Seele in
Frage stellen, unter Umständen aber
auch schwere Schädigungen in dem fein‐
stofflichen Teil seines physischen Kör‐
pers erleben.
.Dem Abendländer ist nur eine verhält‐
nismäßig sehr harmlose Miteinbeziehung
des physisch hörbaren Lautes in seine
Mantra-Praxis ohne Schaden möglich,
wie sie zum Beispiel in der Rezitation
von Litaneien und Chorgebeten, bis zu
gewissem Grade auch in Kirchenliedern,
allenthalben erfolgt.
.Dort aber, wo man gar mit dem phy‐
sisch hörbaren Laut allein experimen‐
tiert um vermeintlich dadurch zu höhe‐
ren inneren Einsichten zu gelangen ‒
mag es nun im Orient oder im Okzident
geschehen ‒ wird man ohne es zu ahnen
nur zum wirksamsten Mithelfer aller
39 Funken Mantra Praxis
dem Menschen feindlichen (oder quasi
vergiftend” auf ihn einwirkenden) Kräf‐
te der unsichtbaren physischen Welt und
die erträumten Erkenntnisse, so erhaben
sie auch erscheinen mögen, sind nichts
als selbsterzeugte, der Wirklichkeit ferne
Phantasmagorien...
.Der Abendländer, der die Wirkung des
nach innen gesprochenen Wortes der
Formung und dem Selbsterleben seiner
Seele dienstbar machen will, wird auf alle
Fälle sicher gehen, wenn er es völlig ver
meidet, das Sprechen nach innen mit
gleichzeitig physisch hörbarem Laut zu
begleiten, und ich rate ganz entschieden
davon ab, solche nach innen gesproche‐
nen Worte auch nur leise murmelnd zu be‐
tonen, ja auch nur die Lippen bei diesem
Nach-Innen-Sprechen zu bewegen! ‒
.Ein gutes Mantram ist ein nach okkult‐
geistigen Einsichten geformter Spruch, bei
dessen Benützung es sich lediglich um die
rein geistige, dem physischen Ohre völlig
unwahrnehmbare Lautwirkung handelt. ‒
.Das Sprechen nach Innen soll so er‐
40 Funken Mantra Praxis
folgen, daß es gleichsam zu einer „Kom
munion”, zu einem geistigen Aufnehmen,
zu einem Genuß der Worte als geistiger
Speise wird. ‒ ‒
.Niemals soll irgend eine Anspannung,
niemals auch nur der geringste Selbst
zwang dabei erfolgen!
.Die kleine Folge deutscher Mantra, die
ich unter dem Gesamttitel „Funken” der
Öffentlichkeit gab, ist nicht etwa so zu
verstehen, als wolle ich anraten, womög‐
lich täglich alle einzelnen Spruchgebilde
aufzunehmen.
.Ebensowenig soll die gegebene Reihen‐
folge dazu bestimmen, eine Reihenfolge
der Aufnahme vorzuschreiben.
.Man wähle sich vielmehr jeweils den
Spruch aus, der gerade am eindring‐
lichsten empfunden wird, und spreche
ihn ohne Deklamation, ohne Emphase,
schlicht, einfach und für das physische
Ohr unhörbar, täglich zu ruhiger Stunde
in sich hinein, ohne besonders den ge‐
danklichen Sinn zu analysieren, ohne
über die „Bedeutung” nachzugrübeln.
41 Funken Mantra Praxis
.Das soll nicht heißen, daß man die
sich von selbst ergebende Bedeutung ge‐
waltsam verdrängen müsse!
.Man soll nur nicht nach der Bedeu‐
tung suchen, sondern die Worte als gei
stige Klangform in sich aufnehmen, wo‐
nach dann auch der gedanklich faßbare
Sinn sich ohne Grübelei von Tag zu Tag
mehr erschließen wird.
.Sobald man jedoch auch nur leise Er
müdung fühlt muß das Einsprechen so‐
fort beendet werden.
.Ebenso ist das jeweilige Mantram zu
wechseln, wenn die Empfindung bei der
Einsprache leer ausgeht.
.Nie darf bei dem inneren Einsprechen
das geringste Unbehagen sich einstellen.
.Die ganze Mantra-Praxis ist eine Be‐
tätigung, die nur in glücklicher Freiheit
zu gedeihlichen Resultaten führt.
.Alles Gewaltsame, alles Erzwungene
ist hier vom Übel.
.Völlig entspannt, und so als ob es sich
um eine gewohnte Alltäglichkeit handeln
würde, muß man in sein Inneres sprechen!
42 Funken Mantra Praxis
.Man soll seine Empfindungen dabei
hinnehmen wie sie kommen, aber man
soll sein Empfindungsleben nicht be
lauern: ‒ nicht unerhörte neue Empfin‐
dungen auf das In-sich-hineinsprechen
hin erwarten!
.Je ruhiger, vertrauender und gleich‐
mütiger der ganze Vorgang aufgefaßt
wird, desto gesegneter wird seine Wir‐
kung sein.
.Was in den zweiundzwanzig „Fun‐
ken”- Sprüchen gegeben ist, soll auch
nicht wie ein Aufgabenpensum innerhalb
einer gewissen Zeit „erledigt” werden!
.Die zweiundzwanzig Sprüche reichen
vielmehr für das ganze Erdenleben hin,
und wenn es auch hundertundzwanzig
Jahre währen sollte...
.(Ihre Wirkung reicht sogar über das
Erdenleben weit hinaus!)
.Wer auch sämtliche Sprüche mehr als
ein Dutzend mal in sich eingesprochen
haben mag, der wird dennoch bemerken,
daß er plötzlich zu gegebener Stunde
dem einen oder dem anderen dieser Man‐
43 Funken Mantra Praxis
tra wieder so gegenübersteht, als hätte
er es noch niemals gehört, und es wird
ihm, wenn er immer wieder die rechte
Stunde erwartet, stets neue Kraft und
neues Licht aus diesen zweiundzwanzig
Brunnenröhren heiliger Weistumsquel‐
len zufließen...
.Es kann geschehen, daß ein Mensch
hier mit sechzig Jahren einst zu seeli‐
schem Erleben kommt von dem er vor‐
dem noch nichts wußte, obwohl er seit
seinem zwanzigsten Jahre diese Mantra
gut zu kennen vermeinte, und gar man‐
ches andere seelische Erlebnis ihnen im
Laufe der Jahre verdankte. ‒ ‒
.Was die Sprüche an erkenntnismäßi
gem Inhalt umfassen, ist nicht im Denken
zu erschürfen und wird dem, der sie
geistig in sich einspricht, früher oder
später auf geistige Weise zuteil, selbst
wenn ihm die Wortbeziehungen an sich
„Rätsel” aufgeben sollten...
.Auch durch die wenigen eingefügten
Sanskritworte lasse man sich nicht be‐
unruhigen!
44 Funken Mantra Praxis
.Den meisten Suchenden dürften sie
bekannt sein. Wer sie aber als fremd
empfindet, der spreche sie dort wo sie
sich finden, geistig in sich ein, und zu
gegebener Zeit werden sie ihre Wirkung
zeigen und damit die Berechtigung ihrer
Einfügung erweisen.
.Tat twam asi” wird übersetzt:
Das bist du!
.Aum” ist nicht nur gleichbedeutend
mit der hebräischen Bestätigungsformel
„Amen”, sondern enthält, richtig aus‐
gesprochen, wobei das „A” sich der
Aussprache des „O” nähert und das „U”
nur dumpf nachklingt, auch die Laut‐
schwingungen die dem
Sein aus sich selbst
entsprechen und wurde deshalb seit älte‐
sten Zeiten in Indien als heiligstes Wort
verehrt.
.(„Om” ist eine andere Art, das gleiche
Wort ohne Sanskritbuchstaben wieder‐
zugeben. Ich habe sie dort verwendet, wo
es darauf ankam den Charakter des Wor‐
tes als feierlichste Bestätigung darzutun.)
45 Funken Mantra Praxis
Jîvâtmâ” ist:
das individuelle göttliche Leben,
insonderheit auch der göttliche Gei
stesfunke in der einzelnen Seele.
.Aham brahma asmi” heißt dem Sinne
nach:
Siehe ich selbst bin Ur-Sein!
.Das alles aber braucht man zum Ge‐
brauche der Mantra nicht zu wissen, und
ich gebe diesen Hinweis nur um authen‐
tisch festzustellen, in welchem Sinne ich
selbst diese Entlehnungen aus der indo‐
germanischen Wurzelsprache an gewis‐
sen Stellen einfügte.
.Es sind heute bereits sehr viele Men‐
schen ‒ auch solche, denen die Sprache
der Sprüche nicht Muttersprache ist ‒ mit
diesen deutschen Mantra vertraut, haben
ihre segensreiche Wirkung an sich selbst
erfahren und erfahren sie täglich aufs neue.
.Gelegentlich aber höre ich auch von
Suchenden, die offenbar nicht recht wis‐
sen, ob sie das, was da unter dem Titel
Funken” gegeben ist, als expressioni‐
stische dichterische Ergüsse oder als
46 Funken Mantra Praxis
Rätsel zur Anregung ihrer Denktätig‐
keit betrachten sollen, und daneben gibt
es andere, die wohl schon von den Wir‐
kungen hörten, die durch gewisse Laut‐
und Wortfolgen auf die Seele ausgeübt
werden können, aber nun befürchten ‒
und vielleicht mit Recht ‒ sie könnten
durch unrichtigen Gebrauch der Man‐
tra, deren wesentlichste Wirkung ab‐
schwächen.
.Sollten sich auch Suchende finden, die
etwa befürchten möchten, es könne je‐
mals durch unrichtigen Gebrauch dieser
Mantra seelische oder auch physische
Schädigung entstehen, so sei ihnen ge‐
sagt, daß es sich hier um Laut- und
Wortfolgen handelt, die mit aller Ab‐
sicht so geformt sind, daß selbst ihre
mißbräuchliche Benutzung zu lediglich
physisch hörbarer Lauteinwirkung kei
nerlei Schädigung bringen könnte, wenn
freilich in solchem Falle auch die see‐
lisch segensreichen Wirkungen ausblei‐
ben müßten.
.Ich hätte niemals die Verantwortung
47 Funken Mantra Praxis
übernehmen können, diese Mantra der
Öffentlichkeit zu übergeben, wäre auch
nur die geringste Gefahr im Falle eines
Mißbrauchs zu befürchten gewesen.
.Mit diesen Darlegungen glaube ich
wohl jede Frage beantwortet zu haben,
die sich dem einen oder anderen Suchen‐
den vielleicht aus der ersten Betrach‐
tung der zweiundzwanzig Sprüche er‐
geben könnte, die er als „Deutsche Man‐
tra” in Händen hält.
.Die Übersetzung dieser Mantra in an
dere Sprachen erschien mir lange Zeit
als unmöglich, bis ich mich überzeugen
konnte, daß die Übertragung ins Italie‐
nische gelungen ist. Ich wage somit nicht
mehr zu bezweifeln, daß diese „Funken
auch in anderen Sprachen zünden kön‐
nen, wenn sie in rechte Wortform über‐
tragen werden.
.Möge auch weiterhin Segen und see‐
lisches Selbsterleben, innere Beglückung
und Umfriedung allen denen in reichstem
Maße zuströmen, die diese Spruchfolge
in rechter Weise zu gebrauchen wissen!
48 Funken Mantra Praxis
ENDE
DAS GEBET
Verlagslogo
KOBER'SCHE
VERLAGSBUCHHANDLUNG AG
BERN
Bô Yin Râ ist der Autorenname von
Joseph Anton Schneiderfranken
3. Auflage
Unveränderter Nachdruck der
2.Auflage 1955
© 1968 Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Bern
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Übersetzung
in fremde Sprachen und der Verbreitung in Rundfunk und
Fernsehen
Druck: Schüler AG, Biel (Schweiz)
EUCH,
DIE IHR BETEN LERNEN
WOLLT
INHALT Seite
Das Mysterium des Betens 7
Suchet, so werdet ihr finden 19
Bittet, so werdet ihr empfangen 35
Klopfet an, so wird euch aufgetan 57
Geistige Erneuerung 73
So sollt ihr beten 103
Originalscan
DAS MYSTERIUM DES BETENS
Nach altgeheiligter Kunde sollen die
Schüler des weisen Zimmermanns,
des hohen «Rabbi» aus Nazareth,
vormaleinst zu ihm gekommen sein mit
der Bitte:
«Herr, lehre uns beten
Darauf, ‒ so sagt uns der alte Bericht,
‒ habe der gottgeeinte Lebenslehrer sie
unterwiesen, nun nicht mehr, gleich den
Nichterkennenden, die altgewohnten
langen Litaneien herzuplappern, son‐
dern nur jene wundersam schönen, ein‐
fachen Worte zu gebrauchen, wie sie
jetzt noch auf aller derer Lippen sind,
die sich, nach dieser oder jener Glau‐
bensform, zu des erhaben großen Gottes‐
menschen liebeerfüllter Lehre bekennen
oder zu bekennen meinen.
.Dennoch aber wissen bis auf den heu‐
tigen Tag nur gar wenige Menschen
wirklich zu «beten», und noch seltener
wird man einen finden, der da erfaßte,
9 Das Gebet
was es besagen will, auf jene heilig
hohe Weise zu «beten», die der große
Liebende befolgt wissen wollte. ‒ ‒
.Man kennt nun zwar die Worte, die
er, der alten Kunde nach, seine Schüler
gebrauchen hieß, ‒ allein, man «plap
pert» jetzt auch diese Worte nicht
anders her, wie vordem andere, von
ihm nicht sonderlich gewertete Ge‐
bete. ‒
.Es ändert nichts an der Entweihung,
wenn man auch in salbungsvollstem
Tonfall spricht, ‒ ja selbst das an
dachtsvolle Nachempfinden des
im Denken sich erschließenden Sinnes
macht aus dem Nachsprechen jener herr‐
lichen Worte noch keineswegs ein wirk‐
liches «Gebet». ‒ ‒ ‒
.So dürfte es denn wieder nötig ge‐
worden sein, zu lehren was das wirk‐
liche «Beten» in Wahrheit ist, ‒ zu
lehren, wie aus Worten menschlicher
10 Das Gebet
Sprache ein «Gebet» erstehen kann,
und was sich an tiefem Geheimnis im
Gebete verbirgt!
Die heilige Priesterkunst, «Gebete»
zu schaffen und wirklich zu «beten»,
ist heute fast verloren gegangen, und
wo sie etwa noch in Übung steht, dort
wird sie mechanisch, lebensent
laugt, oder abergläubisch betrie‐
ben. ‒
.Aber dort auch, wo man noch zu
beten meint, sieht man im Gebete nur
die Bitte an die Gottheit, den Ausdruck
des Dankes, oder die Lobpreisung
und weiß nicht mehr, daß alles dieses
zwar im Gebete zu finden sein kann,
aber mit nichten das Wesen des Gebets
ausmacht. ‒ ‒
.Man ahnt nicht mehr, daß auch ein
Gefüge herrlichster Worte des Lo
bes, des Dankes oder der Bitte erst
11 Das Gebet
wirklich «gebetet» werden muß, be‐
vor es zum «Gebete» werden kann. ‒
Daß «Gott» nur in uns selbst für uns
erreichbar ist, ‒ daß nur in unserem
Allerinnersten das Herz des reinen,
ewigen Seins sich selber «wiederzuge
bären» vermag in unendlichfältiger,
individueller Selbstzeugung ‒ das ist
die erste und unumgänglichste Erkennt‐
nis, zu der sich jeder erst durchgerungen
haben muß, der wahrhaft «beten» ler‐
nen will! ‒
.Zugleich aber muß er wissen, daß der
urewige «Vater», ‒ wie immer der
Gläubige dieses Wort sich deuten mag,
‒ weder Dank noch Lobpreis nach
menschlicher Art begehrt, ‒ und daß
es Lästerung wäre, wirklich zu glau‐
ben, das Herz des Seins erwarte erst
menschliches Flehen, um sich durch
ein solches «Bitten» schließlich «er
12 Das Gebet
weichen» zu lassen, ‒ denn «Bitten»,
im Sinne des wahren Betens, ist wahr‐
lich etwas sehr wesentlich Anderes
als das Erbettelnwollen, mit dem so
mancher vor den «Gott» seiner Vor‐
stellung tritt. ‒ ‒
.Ich betone hier das Wort vom «Gotte»
der Vorstellung, da leider die aller‐
meisten Menschen nicht weiter gelangen
als bis zu solchem Gebilde ihrer Vor‐
stellungskraft, weil sie aus unzureichen‐
der oder irriger Belehrung meinen, der
Weg zu Gott müsse hoch hinauf, aber
immer nach außen führen. ‒
.So können sie freilich lebendige
Gottheit niemals erfühlen, da sie ja
dort nicht suchen, wo der lebendige
ewige Gott für sie allein erreichbar
wäre. ‒ ‒
Es wurde jedoch, nach der alten Kunde,
auch gesagt:
13 Das Gebet
«Suchet, so werdet ihr finden!»
«Bittet, so werdet ihr empfangen!»
«Klopfet an, so wird euch aufgetan!»
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Hier wollen wir verweilen und in
aller Stille harren, bis das Geheimnis,
das in diesen Worten sich verbirgt, vor
unserem inneren Auge sich entschleiern
will...
.Ich aber will derweil versuchen, in
Worten aufzuzeigen, was sich zeigen
läßt!
*
«Suchen» kann gewiß nur dann zum
Finden führen, wenn dort gesucht
wird, wo tatsächlich das Gesuchte auch
verborgen liegt! ‒
.«Bitten», in dem hier gemeinten
Sinne, der da jegliches «Erbetteln»
völlig ausschließt, wird Empfangen nur
erwirken können, wenn der also Bit‐
tende empfangs-berechtigt ist! ‒
14 Das Gebet
.«Klopfen» aber, um im Hause Zu‐
tritt zu erhalten, hat dann nur Aussicht
auf Erfolg, wenn jener, der da klopft,
auch völlig sicher ist, wo er zu klopfen
hat, und dorten dann in solcher Weise
anzuklopfen weiß, daß man im Hause
ihn vernimmt und alsogleich erkennt
als einen, der da Einlaß zu erwarten
hat! ‒
.Hier sind jedoch «Suchen», «Bit
ten» und «Klopfen» keineswegs zu
trennen, denn nur in ihrer Verei
nung ergeben sie das ‒ «Gebet»! ‒
Wohl dem, der so zu «beten» weiß!
.Er wird «erhört» sein, während er
noch «anklopft»!
.Er wird alsbald «empfangen», wäh‐
rend er noch «bittet»!
.Er wird mit aller Gewißheit «fin
den», was er auf solche Weise «sucht»,
daß es zu finden ist!
15 Das Gebet
.In seinem Allerinnersten wird dieser
Betende erfahren, was des großen Le‐
bensbringers Wort besagen will, das er
einst denen sagte, die er weit genug ge‐
fördert glaubte:
.«Um was immer ihr den «Vater» in
meinem «Namen» bitten werdet, das
wird er euch geben
.Hell wird sich dem Beter offenbaren,
was das Preiswort enthält:
«Geheiliget werde Dein «Name»!»‐
und endlich wird er erkennen, warum
der Meister einst in seinem «Namen»
bitten lehrte, denn:
«Alles, was der «Vater» hat, ist mein
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.So wird der also Betende denn auch
im klarsten Geisteslicht erkennen, daß
alles «um was immer» man den «Vater»
in seiner Selbstdarstellung «Namen»
bitten kann, schon von aller Ewigkeit
her gegeben und dargeboten ist,
16 Das Gebet
obwohl es der «Bitte» bedarf, um
zeitlich auch «in Erscheinung» zu
treten, ‒ um zeitlich Wahrnehm
bares zu bewirken...
.Es lernt aber keiner solcherart «be
ten», außer denen, die ihren Eigen
Willen völlig mit des «Vaters» Willen
zu vereinen wissen. ‒
.Wer dann aber, mit des ewigen «Va
ters» Willen vereint zu «beten»
weiß, dem wird all sein Beten, ‒ um
was immer er beten mag, ‒ ein Beten
um «Flügel» sein: ‒ um jene Flügel,
die da wahrlich «höher tragen als
Adlerschwingen»!
*           *
*
17 Das Gebet
«SUCHET,
SO WERDET IHR FINDEN!»
Es ist das «Suchen», so wie es ver‐
langt wird, wenn man «beten»
lernen will, wahrlich alles andere
eher, ‒ nur nicht etwa ein Grübeln
im Verstand! ‒
.Schon die Verheißung, daß der Su‐
chende ‒ ganz selbstverständlich ‒
«finden» werde, weist in ihrer lapi‐
daren Einfachheit so zwingend darauf
hin, daß es sich hier um Anderes han‐
delt als um das, was man gemeinhin
«inneres Suchen» nennt, was aber
allermeist nichts anderes ist, als Wühlen
und Erspürenwollen im Gehirn
verstande, auf gutes Glück, und kei
neswegs etwa des Findens sicher, wie
bestimmt verheißen wird. ‒ ‒
.«Suchen», so wie man gewöhnlich
in sich selbst nach irgend etwas sucht,
ist immer Ausdruck innerer Unruhe,
‒ und was auch immer Gegenstand
des Suchens sein mag: ‒ stets wird er
21 Das Gebet
gesucht, um Ruhe durch sein Finden zu
erlangen. ‒
.Da könnte nun mancher meinen, auch
das andere «Suchen», dem da so sicher
«Finden» zugesprochen ist, habe doch
ebenso Ursache in einer Unruhe, die
zur Ruhe werden möchte?
.Das «Suchen» aber, das zum rechten
«Beten» nötig ist, setzt jene große
Ruhe voraus: ‒ jene Ruhe, die in sich
selbst begründet ist und nicht mehr
von außen her beeinflußbar gefunden
wird. ‒ ‒
.Es verlangt dieses «Suchen» stets
den ganzen Menschen, und nicht
nur den wie ein Spürhund immerfort
unruhig scharrenden Verstand!
.Es ist ein ruhiges Versenken in das
Innerste der Seele, ‒ ohne jede Er‐
regung, ‒ ohne alles Begehren, ‒ und
ohne alle bange Ungeduld.
.Arge Torheit wäre es, wollte einer
22 Das Gebet
vermeinen, daß durch heißes, stürmi‐
sches Erzwingenwollen das Gesuchte
etwa eher gefunden werden könne!
.So kann man sich nur selbst betrügen,
um dann zuletzt, ermattet und ent‐
täuscht, einen jeglichen Versuch zu «su‐
chen» gleich im Anfang resignierend
aufzugeben...
.Vielmehr muß der Suchende hier
wissen, daß er bei seinem Suchen nur
sich selbst im Wege steht, solange er
nicht sucht wie einer, der des Findens
sicher ist, ‒ wie einer, der einen Ge‐
genstand etwa verwahrt weiß an be‐
stimmtem Ort und ihn dort finden
muß, wenn alles fortgeräumt wurde,
was den gesuchten Gegenstand zuerst
verdeckte.
.Man darf nicht den Grund zu solcher
Sicherheit nur in der Verheißung
sehen, daß der Suchende «finden» wird!
.Hier schließt das Suchen an sich
23 Das Gebet
schon das Findenmüssen ein, da gar
nicht gesucht werden kann, ohne daß
alsogleich auch das Finden folgt. ‒ ‒
Bei diesem «Suchen» ist der Suchende
sich selbst der Gegenstand des Su‐
chens!
.Je weniger jedoch er nach sich selbst
verlangt, desto eher wird er sich sel‐
ber finden!
.Er darf sich kein Bild oder Gleich
nis dessen machen, was er zu finden
hofft!
.Sich selbst muß er in seine
eigene grundlose Tiefe sinken
lassen, ‒ furchtlos und ohne Wi
derstand!
.Aufrecht muß er sich in sich selbst
versenken, und darf nicht aus der Ruhe
kommen, auch wenn seine Füße den ge‐
wohnten Halt verlieren!
.Vertrauend muß er sich in seine
24 Das Gebet
tiefste Tiefe ziehen lassen, voll Sicher‐
heit, daß er hier keineswegs Vernich‐
tung, sondern nur sich selber finden
kann!
.Kein vorerzeugtes Werk der
Phantasie darf ihm die Blicke trü
ben!
.Er darf nicht glauben, nun werde er
«Bilder» im Innern oder im Äußeren
sehen, wie er sie noch niemals sah: ‒
Visionen von anderen Wesen und
verborgenen Welten!
.Er darf nicht Erscheinungen er‐
hoffen aus der Geisterwelt!
In seine Tiefe sich versenkend, wird er
zuerst alles im Dunkel sehen um sich
her, ‒ aber je tiefer er in sich eintaucht,
desto mehr wird dieses Dunkel neuem
wundersamen Lichte weichen, bis er
in seiner allertiefsten Tiefe dann sich
selbst durchleuchtet findet, ‒ bis er im
25 Das Gebet
innersten Abgrund seiner selbst zu kri
stallener Klarheit wird. ‒ ‒
.So wird sein Versenken ein stetes
Finden sein vom ersten Augenblicke
an, bis er zuletzt in sich gefunden hat,
was sich nicht sagen, sondern nur
emp-finden läßt, da auch das hellste
Wort noch dunkel bleibt vor solcher un‐
beschreiblich lichten inneren Klar
heit...
Wer da auf solche Weise «suchen»
will, auf daß er finde, der lasse zuerst
seinen ganzen Erdenkörper völlig zur
Ruhe kommen, so daß ihm kaum mehr
bewußt ist, daß ein tierischer Leib sein
Bewußtsein «trägt».
.Dann aber schließe der Suchende
langsam die Augen und verbinde beide
Hände miteinander, bis er fühlt, wie ein
lebendiger Kraftstrom in hoher
Ruhe ihn durchkreist.
26 Das Gebet
.Wie dieser Zustand intensiv belebter
Ruhe am besten zu erreichen ist, wird
jeder für sich selbst bald finden...
.Der eine erreicht ihn nur, indem er
sich niederlegt, ‒ der andere im
Sitzen oder Niederknien, ‒ und
wieder ein anderer wird ihn nur im auf‐
rechten Stehen erreichen können.
.Sobald der Zustand lebenserfüllter
Ruhe aber erreicht ist, soll man sich
weiter nicht mehr um seines Körpers
äußere Haltung kümmern!
.Jetzt muß man sich nur noch im In
nern zu fühlen trachten.
Nach einiger Zeit wird man sich mehr
und mehr im Innern fühlbar werden,
bis allmählich eine Empfindung ins Be‐
wußtsein Eingang findet, so, als sei man
im Innern ganz von sich selbst «er
füllt».
.Es ist, als ob man selbst ein Flüssi
27 Das Gebet
ges wäre, ‒ der Körper aber ein Ge
fäß, ‒ und als ob das Flüssige immer
deutlicher sich selbst als Inhalt des
Gefäßes fühle...
.Die Gedanken müssen dabei ru
hen, und es darf ihnen keinesfalls er‐
laubt sein, den erfühlten Zustand nun
geschwätzig zu zerdeuten. ‒
.Solange noch das Schwirren der Ge
danken anhält, lasse man es ohne
weitere Beachtung, bis es sich all‐
mählich von selber beruhigt. ‒
.Ist aber sodann die Empfindung seiner
selbst im Innern ein geschlossenes
Ganzes geworden, dann hört ohnehin
jedes weitere Denken auf, weil das
neue Bewußtsein seiner selbst alle
Aufmerksamkeit absorbiert.
Anfänglich wird es gut sein, sich vor‐
erst mit dem erreichten Empfinden
können seiner selbst im Innern
28 Das Gebet
als mit einem wahrlich schon sehr be‐
deutsamen Resultate ‒ zu begnü
gen. ‒
.Man kehre alsbald freudig zu seinen
Alltagspflichten zurück, sowie die
Empfindung sich abzuschwächen be‐
ginnt!
.Niemals darf sie auch bei Er
müdung etwa gewaltsam festge
halten werden!
.Ist man aber nach und nach, ‒ möge
es Wochen oder auch Monate brauchen,
‒ endlich dahin gelangt, daß man jeder
zeit, ohne sonderliche Mühe, in
der Stille seiner selbstgewählten Ein‐
samkeit, sich selbst auf die eben ge‐
schilderte Weise als «Inhalt» seines
Erdenleibes, ‒ geformt wie dieser, so
wie eine Flüssigkeit die Form des Ge‐
fäßes annimmt, in die man sie gießt, ‒
empfinden und erleben kann, dann
ist man würdig vorbereitet, nun das
29 Das Gebet
«Suchen» im Sinne wahren «Betens»
zu beginnen...
Jetzt muß sich der Suchende, klar er‐
fühlten Willens, ganz in die Hände
seines innersten Lebens geben und
sich fühlend in dieses erahnten Lebens
grundlose Tiefe sinken lassen, ‒ stets
völlig klar bewußt, und ohne sich
auch nur für Augenblicke jemals
einer halbwachen Träumerei anzuver‐
trauen! ‒
.Tauchen Gestalten und Bilder im
Innern auf, so ist ihnen keinerlei Be
achtung zu schenken, und besonders
muß man sich davor hüten, sie etwa
«deuten» zu wollen!
.Noch törichter wäre es, sie zu be
kämpfen, weil man sie dadurch nur
stärken und festhalten würde...
.Wird man durch Nichtbeachtung
dennoch nicht von ihnen befreit, so ist
30 Das Gebet
es geboten diesmal und für diese
Stunde, die Versenkung zu unter
brechen und sich intensiver Tätig
keit in der Außenwelt zu widmen,
bis man, an einem anderen Tage, sich
wieder fähig glaubt, das Unterbrochene
ungestört vollenden zu können.
.Erst wenn die Empfindung des Ver‐
sinkens in die eigene innere Tiefe völlig
bildfrei wurde, darf man sich ihr un‐
besorgt überlassen. ‒ ‒
Das unsagbare Dunkel, das dann die
Seele zuerst erschrecken will, ist ge
lassen und vor allem: ohne jegliche
Furcht zu ertragen, auch wenn es oft
mals ertragen werden muß, bevor der
erste Lichtschein sich im Innersten er‐
fühlen läßt!
.Sobald sich aber dann das Dunkel zu
lichten beginnt, entfaltet sich auch
mehr und mehr ein neues, inneres
31 Das Gebet
Bewußtsein, auf eine Art, in der man
vorher noch niemals bewußt gewesen
war. ‒
.Nun wird dieses neue Bewußtsein
klarer und klarer, bis es zuletzt den
Willen des Suchenden in untrenn‐
barer Einheit mit dem Willen des
ewigen Ur-Seins erweist...
.Wer soweit gelangt ist, der weiß dann
aus eigener Erfahrung, was «Finden»
heißt, und die erste Bedingung des wirk‐
lichen «Betens» wurde von ihm er
füllt. ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Wenn er nun die herrlichen und so ein‐
fach sinnklaren Worte spricht, die einst
der hohe Meister aus Nazareth seine
Schüler «beten» hieß, dann wird das
erlangte neue Bewußtsein jedes dieser
Worte nur noch als Bekräftigung
eigenen Willens empfinden. ‒
32 Das Gebet
.Das ganze «Gebet des Herrn» wird
dem Suchenden nichts anderes mehr
sein, als das vollendetste Bekenntnis
seiner eigenen untrennbaren Einheit
mit dem Willen des ewigen Seins...
.Was innerlich erlebt ist, findet in
diesem Gebete Gestaltung in Worten
menschlicher Sprache und wirkt aus der
Gestaltung zurück in die eigene Seele,
allwo es von selbst zur «Bitte» wird,
die ihre Gewährung in sich selber
trägt. ‒
.So wird der Suchende fortan befreit
sein von jenem törichten Wahn, als sei
das Gebet ein Mittel, die Gottheit «um
zustimmen»...
.Er weiß nun, daß «beten» nichts an‐
deres heißt, als: mit seinem eigenen
Willen im Willen des ewigen Ur
seins zu wollen, was allda gewollt
ist von allen Ewigkeiten her, auf daß
es, ausgelöst durch rechte «Bitte»,
33 Das Gebet
nun in Erscheinung trete, nun sich
auswirke und bezeuge. ‒ ‒
.Sein Suchen ist wahrlich zum «Fin
den» geworden!
.Er kann in aller Ewigkeit nicht mehr
verlieren, was er auf solche Weise in
sich selber fand! ‒ ‒ ‒
*           *
*
34 Das Gebet
«BITTET,
SO WERDET IHR EMPFANGEN!»
Hier wird es sich nun entscheiden,
ob der bei dem zweiten Erfor‐
dernis angelangte Suchende auch schon
in Wahrheit zur «Bitte» berechtigt ist!
.«Bitte» ist hier kein Flehen um ir‐
gend eine Gewährung, die gleichsam
«von außen her» zu erhoffen wäre!
«Bitte» ist hier die Auslösung
einer geistigen Kraft, die da be‐
wirkt, daß in Erscheinung tritt, was
durch «Suchen» und «Finden» bereits
zu eigen wurde. ‒
.Man kann im wahren «Gebete» um
nichts anderes «bitten», als um das,
was bereits von Ewigkeit her im Willen
des Urseins gegeben ist.
.Man kann aber auch das also Gege‐
bene nur dann zu eigen erlangen, wenn
man in der Selbst-Versenkung seinen
Eigen-Willen dahingab und einsinken
ließ in den Willen des ewigen
Seins. ‒ ‒
37 Das Gebet
.So ist dem wahrhaft «Betenden»
schon vorher gewährt, um was er
bitten kann...
Gewiß kann jedoch auch das wirkliche
«Gebet» jeweils auf ganz Bestimm
tes und Besonderes gerichtet sein, ‒
aber die Wirkungskraft der «Bitte»
ist keineswegs ohne alle Gren
zen! ‒ ‒
.Es wird diese Wirkungskraft genau
bestimmt durch das, was sich der Bit‐
tende ‒ aus allem Gegebenen ‒ in
Wahrheit zu eigen zu machen wußte,
so daß es gewiß keine Torheit war,
wenn voreinst glaubensdurchflammte
Zeiten zu der Überzeugung kamen, daß
mancher Menschen Gebet zu sicherer
Wirkung führe, wo alles Beten An‐
derer nichts vermöge...
.Dabei bleibt es gegenstandslos, ob
Jene, deren Gebet man für wirkungs‐
38 Das Gebet
kräftiger hielt, vom Geheimnis des wah‐
ren «Betens» verstandesmäßig un
terrichtet waren, oder die Wahrheit
nur dunkel erahnten. ‒
.Selbst wenn sie durch dumpfen Aber
glauben sich bewegen ließen, unbe
wußt das Richtige zu tun, konnten sie
wahrlich ihr Gebet zu einer Wirkungs‐
kraft steigern, die den anderen wie
«Wundertat» erschien. ‒ ‒
.Dennoch wird aber auch von diesen
Meistern des wirklichen «Gebetes»
gar oft berichtet, daß ihr Gebet in die‐
sem oder jenem Falle nichts ver‐
mochte, ‒ sei es um des Unglaubens
und der Herzenskälte derer willen, für
die sie beteten, oder suchten sie für sich
selbst etwas zu «erbeten», was sie nicht
selbst für sich «erbeten» konnten...
Es wäre wahrlich denn auch zuviel ge
sagt, wollte man das wahre «Gebet»
39 Das Gebet
etwa «allmächtig» nennen, da doch
die Macht des ewigen Urseins in sich
selbst ihre Grenzen sieht, weil
ewige Gottheit nicht sich selbst ent
gegenwirken kann. ‒
.Hingegen aber wissen auch nur die
allerwenigsten Menschen in heutigen
Tagen noch aus eigener Erfahrung, was
das wirkliche «Gebet» denn doch ver
mag ‒ ‒ ‒
.Manchen wurde jedoch die Kraft des
«Gebetes» bekannt, obwohl sie gewiß
nicht ahnten, weshalb sie «Erhörung»
fanden, so daß sie dann auf ihre Art
sich Erklärung schufen, wo ihre unvoll‐
kommene Einsicht ihnen keine Klarheit
bringen konnte.
.Sie waren in schwerer Seelen-Not,
ganz unbewußt, zur Versenkung in
ihre tiefste Tiefe, und damit zum «Fin
den» gekommen, so daß ihnen hier zu
eigen wurde, um was sie alsdann ‒ in
40 Das Gebet
gleicher Weise unbewußt ‒ auch rich‐
tig zu «bitten» vermochten, und in
selbiger Art erlernten sie das rechte
«Klopfen», dem die Türe zum Tempel
sich öffnen mußte. ‒ ‒
.Da es aber jedem Menschen hier auf
Erden wahrlich möglich ist, in rechter
Weise, ganz bewußt des hehren Tuns,
zu «beten», wenn er nur das «Beten»
lernen mag, und nicht erst wartet, bis
es ihn die Not des Leibes oder bittere
Seelenqual vom Unbewußten her einst
lehren wird, ‒ so würde es heißen: gött‐
liche Hilfe verachten, wollte nicht je‐
der, dem rechte Lehre geworden, fortan
danach trachten, auch nach solcher Lehre
zu tun...
Nun wird es freilich vielen gar befremd‐
lich erscheinen, daß man das «Beten»
lernen soll, gleich irgendeinem Kön‐
nen das erlernbar ist?!
41 Das Gebet
.Aber alle, die hier auf Erden einst
bewußt das «Gebet» als heilige Him
melskunst übten, waren dazu nur
durch Lehre und eigenes Lernen ge‐
langt. ‒ ‒
.Ja: ‒ es verrät uns die alte geheiligte
Kunde, daß jene Schüler des großen
Liebenden, die ihn zu bitten wußten,
daß er sie beten lehren möge, schon
manche hohe Einsicht erlangt haben
mußten, denn nur ihr Wissen, daß man
beten lernen könne, ließ sie jene Bitte
an den Meister tun.
.Gebetsformeln kannten sie ja wahr‐
haftig genug, und sie baten auch nicht:
«Herr, lehre uns ein neues Gebet»,
‒ sondern sagten klar und bestimmt:
«Herr, lehre uns beten
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Selbst wenn die ganze alte Kunde
nur bloße Erdichtung wäre, hätte
doch hier der Dichter sich als ein Wis
42 Das Gebet
sender offenbart, denn nur ein solcher
hätte diese eindeutig klaren Worte den
Schülern des hohen Meisters in den
Mund legen können. ‒ ‒ ‒
Hier ist jetzt geboten, zu lehren wie
man «bitten» muß um zu «empfan
gen».
.Mit aller Absicht wiederhole ich also
nochmals, daß jenes «Bitten», wie es
das wirkliche «Gebet» verlangt, fern
sein muß allem Betteln und Flehen.
.Es gilt nicht, ein hartes Herz endlich
zu erweichen, oder eine Gabe zu er‐
quälen, die dem Bettelnden nicht zu‐
kommt!
.Wer durch richtiges «Suchen» und
«Finden» sich Berechtigung schuf zur
«Bitte», der hat nur darauf zu achten,
daß er gleichsam ‒ verständlich bitte:
‒ daß er die rechte Haltung bewahre,
die zur Auslösung der Kräfte führt,
43 Das Gebet
durch die das «Empfangen» Wirklich‐
keit wird.
.Dieses «Bitten» ist eine gelassene,
völlig ruhige und sichere Gestaltung
eines präzisen Vorstellungsbildes,
das wie ein «Vorbild» dessen gelten
kann, um was man «bittet». ‒
.Sobald aber der Wille des Betenden
dieses Vorstellungsbild geschaffen und
zu größtmöglichster Festigkeit verdich
tet hat, muß er sich mitsamt seinem
Werke ganz und gar dem ewigen
Willen des Urseins übergeben, über‐
lassen und anvertrauen.
.Es kommt hier alles darauf an, daß
der ganze Eigen-Wille, mit dem «Vor‐
bild», das er schuf, so in den Willen des
Urseins eingesenkt wird, daß auch
nicht die leiseste Willensregung noch aus
dem Meere des ewigen Willens hervor‐
ragt, ‒ daß auch kein kleinster Teil des
«Vorbildes» bleibt, der nicht von den
44 Das Gebet
Wogen dieses Meeres erfüllt und durch‐
strömt würde.
.Ist nun das, um was auf solche Weise
bittend «gebetet» wird, überhaupt im
ewigen Willen des Urseins «gegeben»,
und hat es der also Bittende bereits
durch sein «Suchen» und «Finden» zu
eigen erlangt, so ist auch die Gewäh
rung der Bitte im selben Augenblick
vollzogen in dem die absolute Versen‐
kung in den Urwillen erfolgte, und es
bedarf nur noch der im Irdischen un‐
übersteigbaren Zeit, auf daß die Wir‐
kung des Gebetes in Erscheinung tre‐
ten könne, vorausgesetzt, daß der Bit‐
tende zugleich auch nach rechter Weise
«anzuklopfen» versteht. ‒ ‒ ‒
Der einzige, aber auch wahrlich un
überwindliche Widerstand, dem sol‐
che «Bitte» im Menschen selbst be‐
gegnen kann, ist der Zweifel! ‒ ‒
45 Das Gebet
.Hinsichtlich der Gewährungsmög
lichkeit kann gewiß der Betende nur
ahnen und tasten.
.Er kann nicht mit Sicherheit etwa
wissen, ob das Erbetene zu den Dingen
gehört, die im Urwillen schon seit aller
Ewigkeit gegeben sind, und ebenso‐
wenig weiß er bestimmt, ob er schon
bis zum vollen Umfang seiner Bitte
«empfangsberechtigt» ist.
.So kann er denn auch nicht wissen,
ob er im einzelnen Falle schon Gewäh
rung erlangte, und es wäre überheb‐
liche Vermessenheit, sie unter allen
Umständen zu erwarten...
.Dennoch darf er keinen Augen‐
blick daran zweifeln, daß ihm alles
gewährt sein muß, was ihm nach
Lage der Umstände gewährt werden
kann!
.Er muß die Frage: ‒ ob er wohl
«empfangen» werde um was er bittet,
46 Das Gebet
restlos aus seinem Denken und
Fühlen verbannen! ‒ ‒
.Alles Wünschen und Hoffen muß
er gewissermaßen in sich «neutrali
sieren»!
.Er muß sich dem Willen des Urseins
vorbehaltlos vereinen, ‒ muß ganz
mit diesem Willen verschmelzen, ohne
den leisesten Zweifel aufkommen zu
lassen an der Sicherheit der Gewäh‐
rung, soweit Gewährungs-Möglichkeit
besteht! ‒
.Auch das will «gelernt» sein, und nur
wer es lernt, wird Herr über allen
Zweifel werden! ‒ ‒
.Je höher sich allerdings mit der Zeit
die Beweise häufen, dafür, daß die
rechte «Bitte» die Gewährung, so
wie sie erfolgen kann, in sich selber
trägt, desto leichter wird es werden,
allen Zweifel zu besiegen, noch bevor er
sich hemmend in den Weg stellen kann.
47 Das Gebet
Hat er aber auch wirksam den Zweifel
überwunden, so darf doch der Betende
in seinem Vertrauen nicht überheblich
werden!
.Vor allem darf er nicht glauben,
selbst die Art und Weise bestimmen
zu können, nach der seiner Bitte Ge
währung werden soll, noch darf er
sich vermessen, die dafür ihm genehme
Zeit gleichsam erzwingen zu wol‐
len...
.Alles das steht ihm nicht zu!
.Er muß das alles jenen hohen Mäch‐
ten überlassen, die aus ewigem Ur
willen Auftrag haben, die Ge
schicke derart unter ihrem geisti
gen Einfluß zu halten, daß die Kette
des Geschehens jeweils gerade die Glie‐
der aneinanderreiht, die nötig sind, um
ohne Beirrung irdisch-physischer
Gesetze Wirkungen herbeizuführen,
die im Reiche des Geistes, ‒ im
48 Das Gebet
Reiche ursprünglichster Ursachen,
‒ veranlaßt werden...
.So kann es kommen, daß der An
schein entsteht, als habe eine «Bitte»
keine Erhörung gefunden, während be‐
reits alle Kräfte in Bewegung sind,
um die Gewährung zu bewirken, die
freilich auf andere Weise dann erfolgen
wird, als der Betende sie zu erhalten
glaubte.
.Oft kommt für den Beter erst nach
langer Zeit der Tag herauf, an dem er
endlich erkennen lernt, daß er, auf bes
sere Weise als er hoffen konnte, schon
längst Gewährung seiner Bitte fand...
Die Verheißung, daß der Bittende mit
Sicherheit «empfangen» werde, darf
aber gewiß nicht nur auf die Dinge des
irdischen Daseins bezogen werden,
und wer sie nur aus der irdischen
Ansicht her betrachtet, der muß sich
49 Das Gebet
sagen, daß sie sich bewahrheiten
kann, auch wenn der Bittende An
deres empfängt, als das, um was er
bittet. ‒ ‒
.Es ist aber in der hier vorliegenden,
und für die Lehre die hier vermittelt
werden soll, so instruktiven Verheißung
vor allem davon die Rede, daß das,
was von Ewigkeit her dem Erdenmen‐
schen vorbehalten bleibt für alle Ewig
keit, durch rechte Bitte «empfangen»
werden kann.
.Man soll Eines tun und das Andere
darum nicht unterlassen!
.Da die Dinge seines Erden-Lebens
dem Menschen der Erde vorerst am
heftigsten auf die Nägel brennen, soll
er wahrhaftig die Macht des «Gebetes»
gebrauchen, um auch Irdisches sich zu
erleichtern, oder seinem Nebenmen‐
schen dann noch Hilfe darzubieten,
wenn alle äußere Möglichkeit, zu hel‐
50 Das Gebet
fen, sich längst erschöpfte, oder als un‐
zureichend erweist. ‒
.Vor allem aber ist das «Gebet»
dem Menschen gegeben, um in den er‐
neuten Besitz seines ewigen Erbes
zu gelangen: ‒ um das zu «empfan
gen», was man, mit einem sehr ver‐
fänglichen Wort, in der Sprache der
sogenannten «Gottesgelehrten» ‒ die
Gnade nennt. ‒ ‒
.Was hier aber in Wahrheit gemeint
war, von denen, die noch wußten
um was es sich handelt, ist alles andere
eher, nur nicht etwa ein Geschenk der
Willkür!
.Auch die ewige Urliebe, aus der
alles hervorgeht, was im «Sein» und
im «Dasein» ist, kann nicht ihre
eigene «Struktur» verändern, ‒
kann nicht «Gesetz», das durch ihr
eigenes ewiges Sein besteht, negie
ren um der Liebe willen, sondern muß
51 Das Gebet
gesetzte Bedingungen erfüllt sehen,
wenn sie das ihr Entfremdete wieder in
sich aufnehmen können soll. ‒ ‒
.So ist es die wahre «Bitte», die es
dem Strom der ewigen Liebe wieder
möglich macht, das Bewußtsein des
Erdenmenschen zu durchfließen...
.Die «Bitte», die kein Betteln und
Abhandelnwollen, sondern ein ruhiges
Sichdarbieten ist, in sicherster Ge‐
wißheit, daß ihr das Empfangen des
göttlichen Liebes-Stromes nun nicht vor‐
enthalten wird, ‒ nicht vorenthalten
werden kann. ‒ ‒ ‒
.Hier ist nichts anderes als eine geistige
Gesetzmäßigkeit, die Erfüllung
braucht, bevor die Auswirkung er‐
folgt!
So, wie der Suchende erst in sich sel‐
ber fand, was er vordem vergeblich im
Äußeren suchte, so empfängt nun der
52 Das Gebet
Bittende in sich selbst den nötigen
Lebensstrom der Liebe. ‒ ‒
.Vorher ist er einem Elektromotor zu
vergleichen, der zwar in allen Teilen
überprüft, nun zur Arbeitsleistung
fähig wäre, aber noch nicht vom Kraft‐
strom der Zentrale durchflossen ist.
.Nun aber ist der Kontakt geschlos
sen: ‒ der Motor ist durch den Strom
in Bewegung, ‒ aber nun wartet er
auf den Gebrauch seiner Arbeitslei‐
stung, denn vergeblich würde ihn die
Kraft durchfließen, wäre keine Möglich‐
keit, auch seine Bewegung nutzbar zu
machen. ‒
.In diesem Bilde zeigen sich gleichnis‐
weise die drei Erfordernisse des wahren
«Gebetes».
.Dem «Suchen» und «Finden» ist
die technische Überprüfung des Mo‐
tors bis in seine innersten Teile zu ver‐
gleichen.
53 Das Gebet
.Das «Bitten» und «Empfangen»
ist zu erkennen in dem Schließen des
Kontakts und der Durchflutung mit
elektrischem Strom.
.Dem «Anklopfen» und «Auftun»
aber ist das Anschließen des Motors
an die durch ihn zu betreibenden
Maschinen und die dadurch bewirkte
Tätigkeit sehr wohl vergleichbar.
.Doch, dieser Vergleich, entnommen
dem Bereiche der Technik heutiger Tage,
soll keineswegs mehr sein als ein Hin‐
weis, der vielleicht meine Worte unter‐
stützen kann.
.Wer diesen Hinweis nicht braucht,
oder wer sich dadurch gestört fühlen
sollte, daß ich mich nicht scheue, hier
ein Gleichnis aus dem Alltag zu gestal‐
ten, der möge ruhig unbeachtet lassen,
was ich doch immerhin meiner Rede
einverwoben wissen möchte!
.So glaube ich, hier von dem zweiten
54 Das Gebet
Erfordernis wahren «Gebetes» schon
die Brücke zum dritten hin gespannt
zu haben und hoffe, daß alle, zu denen
ich hier spreche, mir auch weiter über
diese Brücke folgen werden.
*           *
*
55 Das Gebet
«KLOPFET AN,
SO WIRD EUCH AUFGETAN!»
Es ist nicht Willkür, wenn in der
alten Verheißung nun das Bild vom
«Anklopfen» Aufnahme findet! ‒ ‒
.Ist «Suchen» ein Versenken in sich
selbst, um da die innerste, tiefste
Tiefe zu finden, ‒ ist «Bitten» ein
Wollen in festem Vertrauen auf das
«Empfangen», ‒ so ist «Anklop
fen», ‒ Pochen um Einlaß zu erreichen,
‒ ein äußeres, tätiges Verhalten, das
einer Forderung Ausdruck verleiht. ‒
.Es ist dem, der «beten» lernen will,
gleichsam hier gesagt, daß er das Recht
zu fordern, zu verlangen, hat, ‒ so
vermessen das auch scheinbar klingen
mag, ‒ und daß er dieses hohe Recht
nur dann sich erwirkt, wenn er auch
tätig zu beten weiß: ‒ wenn auch sein
Tun den Bedingnissen wahren
«Gebetes» entspricht. ‒ ‒ ‒
.Das gilt für die ganze Einstellung bei
allem Beten, ‒ auch wenn es sich um
59 Das Gebet
Dinge des äußeren Daseins han‐
delt. ‒
.Er-hörung findet nur, wer wirklich
«anklopft», ‒ wirklich pocht, ‒ wer
seine gerechte «Bitte», sein Erwar
ten durch das entsprechende tätige
Verhalten verstärkt, und dadurch an
sich zur Forderung werden läßt, die
Erfüllung findet aus Notwendig
keit. ‒ ‒ ‒
.Der Beter darf sich nicht wundern,
wird er nicht erhört, trotzdem sein «Su‐
chen» und «Bitten» vor seinen Augen
ihm durchaus einwandfrei erscheint, so‐
lange er nicht ebenso auch richtig «an‐
zuklopfen» weiß. ‒ ‒
.Noch fehlt dann die dritte Bedin‐
gung vollkommenen «Gebetes»!
.Er betet vielleicht um Dinge, die ihm
selbst zuteil werden sollen, ‒ aber
dort, wo das Gebet mit ihm selber
rechnet, ‒ wo sein Ergreifen eben
60 Das Gebet
dieser Dinge notwendig wäre, rührt er
keine Hand...
.Er will vielleicht durch sein Beten
einem anderen Menschen Hilfe sen‐
den, aus materieller Not ihn zu
befreien suchen, aber ferne liegt es
ihm, aus eigenen Mitteln etwas
für ihn zu tun, oder Gelegen
heiten zu erfassen, die dem An
deren praktischen Nutzen bringen
könnten...
.Er möchte sich oder andere durch
sein Gebet befreit von Krankheit
sehen, aber er verschmäht den Arzt
und rührt sich nicht, nach einer
Heilgelegenheit zu suchen...
.In allen diesen und noch tausend
anderen Fällen fehlt Erfüllung jener
dritten Grundbedingung wahren «Ge
betes», die in der Verheißung darge‐
stellt wird unter dem Bilde eines Men‐
schen der nicht nur außen steht und
61 Das Gebet
wartet, bis man ihn hereinruft,
sondern der «anklopft», damit ihm
«aufgetan werde». ‒ ‒ ‒
.Auch in jener Art frommer Himmels‐
anbettelei, die man so gemeinhin für
«beten» hält, fehlen die Hilfesuchenden
allermeist dadurch, daß sie das werk
tätige «Beten» für gänzlich überflüssig
halten. ‒
.Es könnte sonst so manchem gehol
fen werden, obwohl seine Vorstel
lung von dem, was wirklich «be
ten» heißt, noch nichts weiß, denn
dumpf und unbewußt dringt doch der
eine oder der andere durch seine In
brunst zu einem, wenn auch unvoll
kommenen, «Finden» und «Emp
fangen» vor...
.Auch wenn sein «Anklopfen» ebenso
unzureichend erfolgen würde, könnte
es dennoch bewirken, daß das, was er
nach landläufiger Weise und guten Glau‐
62 Das Gebet
bens für «Beten» hält, nicht umsonst
gewesen wäre. ‒ ‒
.Es gibt aber auch unter denen, die
noch nicht erkennen, was wahrhaft
«Beten» heißt, daneben genugsam
andere Menschen, die aus innerem
Gefühl heraus das Rechte in allen
drei Stücken tun, auch wenn sie weit
mehr vermöchten, wäre ihnen das
ganze Geheimnis des rechten Betens
vertraut. ‒
Doch, auch das rechte «Anklopfen»
bezieht sich in der Verheißung durch‐
aus nicht nur auf das «Beten» um ir
dische Dinge, sondern in erster Linie
soll es dazu führen, Einlaß zu erlangen
in den heilighehren Tempel der Ewig
keit, um hier das Mysterium des
Menschen: ‒ seinen Ausgang aus dem
Lichte und seine Wiederkehr zum Licht,
erschauernd zu erleben...
63 Das Gebet
.Keiner kann in diesen Tempel Einlaß
finden, der nicht vordem im «Suchen»
und «Finden» sich bewährte, ‒ der
nicht vordem also «bitten» lernte, daß
er «empfangen» durfte. ‒ ‒
.Man weiß im «Innern», ‒ und es
ist auch hier das Innere des Tempels nur
im Menschen selbst zu suchen, ‒
sehr genau, wer der ist, der draußen
«anklopft», und man wird ihm nicht
eher öffnen, als bis er die beiden an‐
deren Bedingungen des rechten «Be
tens» zu erfüllen wußte.
.«Anklopfen» heißt hier, sein Leben
aktiv so gestalten, daß jede Hand
lung die berechtigte Forderung dar‐
stellt, in das Innere des Tempels auf
genommen zu werden, und wahrlich:
‒ wer in solcher Weise «anklopft»,
dem wird «aufgetan», weil er selbst
die Bedingung dazu schafft. ‒ ‒
64 Das Gebet
Man hat im Laufe der Jahrhunderte die
seltsamsten Heimlichkeiten hinter die‐
sem Worte vom «Anklopfen» und
«Auftun» vermutet und gesucht, so
daß da und dort von hohlen, aber auch
von allzuklugen Köpfen die abstruse‐
sten «Übungen» erfunden wurden, die
angeblich das rechte «Anklopfen» dar‐
stellen sollen.
.Ich kenne auch heute gewisse Men‐
schen, die, ehrfurchterfüllt, Orakelsprü‐
che wirrer Schwärmer wie das kost‐
barste Heiligtum bei sich verwahren, und
bescheiden genug sind, die Tatsache,
daß ihnen alles derartige «Üben» kei
nerlei Erfolg einbrachte, darauf zu‐
rückzuführen, daß sie es doch, bei allem
heißen Bemühen, wohl «nicht richtig
angestellt» hätten, weil ihr Orakel‐
priester solchen Erfolg für sich er
langt haben müsse, ansonsten er die
torheittriefenden Anweisungen ‒ O
65 Das Gebet
sancta simplicitas! ‒ nicht nieder‐
geschrieben haben könnte. ‒
.Stets gibt es neue Gläubige für der‐
artigen Aberwitz, und immer wieder
stehen Mystagogen auf, die entweder
selbst betört, oder, weil anders ihr
Weizen nicht blühen will, mit ge‐
heimnisvoller Geste der übelsten Narr‐
heit Zutreiberdienste leisten.
.Daß solches möglich ist, wird nur
dadurch verstehbar, daß sehr vielen
Suchenden das wirklich von ihnen
Verlangtezu einfach und zu we
nig widersinnig erscheint, weil sie
erst in glaubenswillige Erregung gera‐
ten, wenn das Absurde Glauben von
ihnen fordert. ‒ ‒
.Der Menschenfreund erschrickt, wenn
er solche Verirrung sieht und möchte
mit allen Kräften die Betörten retten;
aber alle Hilfsbereitschaft ist hier am
falschen Ort.
66 Das Gebet
.Man kann nur die noch nicht Ver‐
irrten warnen und ihnen die Dinge,
von denen sie vielleicht schon vom
Hörensagen wissen, beim rechten Na‐
men nennen. Man kann nur aufzuzeigen
suchen, daß die Verheißung mit all die‐
sen seltsamen «Übungen» recht durch‐
sichtiger Erfindung nicht das minde
ste zu schaffen hat.
.«Anklopfen», im Sinne der Ver‐
heißung, heißt mit Tat und Wirken
«beten», und wer sich dazu nicht ver‐
stehen kann, der wird vergeblich
darauf warten, daß ihm «aufgetan»
werde! ‒ ‒
Nun darf man sich aber auch nicht der
falschen Vorstellung ergeben, als sei das
«Auftun», im Sinne unserer Verhei‐
ßung, ein plötzliches Eröffnen un
erahnter geistiger Herrlichkeit,
‒ ein sofortiges Offenbaren der
67 Das Gebet
geheimsten Weisheit, ‒ ein Auf‐
stoßen aller Türen des Tempels, und ein
augenblickliches Wegziehen des verhül‐
lenden Vorhangs, der das Allerheiligste
vor unbereiteten Blicken schützt!
.Auch der Tempel der Ewigkeit
hat seine Vorhallen, und der Neo‐
phyte wird sich wahrlich schon glück
lich preisen dürfen, wenn er ‒ bild‐
lich gesprochen ‒ seinen Fuß in die
äußerste dieser Vorhallen setzen darf...
.Wer da mit großen Ambitionen
kommt und sich für würdig hält, wenn
auch nicht gleich ins Allerheiligste, so
doch in eines der es umschließenden
Sanktuarien einzugehen, dem wird ge
wiß nicht «aufgetan» werden, daß er
auch nur die Vorhöfe schaue. ‒ ‒
.Doch wird hier keiner etwa «unge
recht» behandelt!
.Hier hängt nichts von irgend
einer Willkür ab!
68 Das Gebet
.Es ist alles durch geistiges Gesetz
geordnet, und dieses «Gesetz» ist kein
ersonnenes Werk, sondern folgerich
tige Auswirkung geistigen Le
bens, unwandelbar wie die Gottheit
selbst, deren Art und Wesen es den
Wissenden offenbart, nachdem sie
«Wissend» wurden durch seine Er
füllung! ‒ ‒
Wohl ist die Gottheit auch im Men
schen selbst, ‒ wohl ist im Inner
sten des Menschen ihr hochheiliger
Tempel, ‒ und wohl ist «Gott», wie
immer man dieses Wort sich deuten
mag dem Menschen nur in dem In
nersten menschlicher Seele er‐
reichbar und empfindbar!
.Aber die meisten der Menschen ahnen
nicht, welche unendlichen Weiten
ihre eigene, stets in ewigem Rhythmus
schwingende «Seele» umfaßt! ‒
69 Das Gebet
.Die meisten ahnen nicht, welche un
meßbaren Fernen zwischen ihrem
Bewußtsein und dem bewußten
Sein Gottes liegen, obwohl «Gott»
sie erfüllt und sie nur in «Gott» ihr
Dasein haben. ‒ ‒ ‒
.Sie stehen, für ihre Vorstellung,
mit Gott «auf Du und Du», ohne im
mindesten sich des Frevels bewußt zu
werden, den diese Vorstellung ent‐
hält. ‒ ‒
.Es ist wahrlich schwer, ihnen beizu‐
bringen, daß Gott, dem göttlichen
Leben nach, ihnen zwar das Aller
nächste, ‒ dem bewußten gött
lichen Sein nach aber das Aller
fernste ist, ‒ daß eine «Jakobsleiter»
in ihnen selbst aufgerichtet werden
muß, auf deren Sprossen erst alle die
Lichtgrade geistiger Hierarchien
herabsteigen und sich die Hände reichen
müssen, soll erdenmenschliches Bewußt‐
70 Das Gebet
sein wache Kommunikation mit
dem ewigen, unvorstellbaren, göttlichen
bewußten Sein erleben können, ohne
Vernichtung fürchten zu müssen. ‒ ‒ ‒
.Dummstolzer geistlicher Hoch
mut meint, nichts dürfe sich zwi
schen Gott und den Menschen
stellen, ‒ aber hier ist nur die Bitte
rechte Antwort: «Herr, vergib ihnen,
denn sie wissen nicht, wie sie Dich
schmähen!» ‒ ‒
Wer daher wirklich will, daß ihm «auf
getan» werde, wenn er mit seinem
ganzen Leben, mit all seinem irdi
schen Tun und Wirken «anzuklop
fen» wagt, der erwarte nicht etwa, daß
«Gott», ‒ in welcher Form er auch
an Gott glauben mag, ‒ als ewiges
Ursein an der Pforte stehen werde um
ihm «aufzutun»! ‒ ‒
.Wer richtig «anklopfen» will, der
71 Das Gebet
muß vor allem soviel Ehrerbietung
vor der Gottheit in sich tragen, daß er
beglückt wäre über alle Maßen, wenn
ihm ‒ gleichnisweise gesprochen ‒
auch nur der letzte Tempeldiener
Gottes «auftun» wollte...
.Anders wird dem wahrhaft Betenden
auch nie eröffnet werden, was nur in
ihm selber «aufgetan» werden kann!
*           *
*
72 Das Gebet
GEISTIGE ERNEUERUNG
Wenn etwa ein Mensch in sich des
Glaubens wäre, daß durch das
wirkliche «Gebet» die ganze Erden‐
menschheit geistige Erneuerung
finden könnte, so wäre er keineswegs
einem Irrtum verfallen!
.Da aber «die Menschheit» hier auf
Erden nur aus vielen einzelnen Men
schen besteht, so kann auch solche Er‐
neuerung nur vom Einzelnen her er‐
folgen, und wir wollen darum hier nur
vom einzelnen Menschen reden,
statt uns in das Ganze zu verlieren, wo‐
bei für den einzelnen allzuviel verloren
gehen müßte.
.Ist irgendwo auf dieser Erde nur ein
Einziger bereit und willens, sich durch
wahres «Gebet» zu erneuern, so ist
dadurch auch für die ganze Mensch
heit schon vieles gewonnen, denn wir
Menschen stehen nicht vereinzelt für uns
im leeren Raum, sondern, was durch den
75 Das Gebet
einen fließt im Guten wie im Schlechten,
das fließt von ihm aus weiter durch
alle Menschenseelen, mögen sie
auch an den weitesten Orten der Erde
gerade ihr Werk tun, mögen sie darum
wissen oder nicht...
Wenn ich in den vorangehenden Kapi‐
teln so ausführlich darlegte, was zum
wahren «Gebet» gehört und um was
es sich beim rechten «Beten» handelt,
so geschah das vornehmlich auch des‐
halb, weil so viele Menschen sich gar
nichts Bequemeres vorstellen können
als das Beten, ‒ weil so viele Men‐
schen glauben, es sei schon gebetet, wenn
sie in ihrer Vorstellung, in gar anmaß‐
licher Vertraulichkeit, sich mit einem er‐
träumten Etwas unterhalten, das sie ihren
«Gott» nennen und dabei die selbstsug‐
gestive Rückwirkung auf ihre Gefühle
als billigen Trost in sich aufnehmen. ‒
76 Das Gebet
.Aus solcher Art, vermeintlich zu
beten, kann freilich nur Selbsttäu
schung und ein vorübergehendes
falschtönendes Gefühl der Erho
benheit kommen, ‒ niemals wirkliche
geistige Erneuerung, die der Betende so
bitter nötig hätte.
Aber nichts wäre nun verkehrter, als
wenn man sich etwa auf meine Dar‐
legungen hin auch nur im mindesten
entmutigt fühlen wollte.
.Es läßt sich wohl denken, daß dieser
oder jener bereit wäre, sich zu sagen: ‒
«Wenn rechtes Beten all' diese Voraus
setzungen in sich schließt, dann werde
ich es niemals lernen! ‒ Ich will vor
meinem Gott mein Herz ausschütten
und Trost in dem Gedanken finden, daß
ich gehört, ja vielleicht auch erhört
werde!»
.Wer aber dieses Buch bis hierher wa‐
77 Das Gebet
chen Sinnes las, und dennoch so sprechen
kann, der hat meine Worte wahrlich
nicht ganz verstanden!
Wenn ich die Erfordernisse rechten
«Betens» an Hand der Verheißung
vom «Suchen», «Bitten» und «An
klopfen» aufzuzeigen suchte, so mußte
ich gewiß ins Einzelne dringen, damit
der Leser nicht mehr im Zweifel sei,
daß es sich beim wahren «Gebet» um
etwas anderes handelt als um das
frommgestimmte Hersprechen gewisser
Gebetsformeln.
.So unterrichtet, wird jedoch der Ein‐
sichtige gar bald seiner selbst gewiß
werden und wissen, was für ihn nun
daraus folgt. ‒
.Er wird sehen, daß es erst dann
möglich ist, wahrhaft zu «beten», wenn
eine völlige Umstellung seines Den
kens, Fühlens und Handelns vor‐
78 Das Gebet
aufgegangen ist, so daß in ihm bereits
alle Vorbedingungen wirklichen «Ge‐
bets» erfüllt sind, bevor er beginnt
zu «beten». ‒ ‒
.Nur um der Allzuängstlichen willen
betone ich hier ausdrücklich, daß ich
zwar geschildert habe, was beim wirk‐
lichen «Gebet» erfolgt, daß dieses
alles aber ganz von selbst sich ein‐
stellt, nachdem das ganze Leben so ge‐
staltet wurde, daß es stets gebetsbe
reit ist. ‒
.Denen, die sich das Beten nur als eine
Angelegenheit für Kopfhänger und Be‐
trübte vorzustellen vermögen, muß ich
sagen, daß ein gebetsbereites Leben
wahrhaftig auf keine edle Freude zu
verzichten braucht und geradezu ein
Unterpfand steter Heiterkeit, ‒
steter Glücksbereitschaft werden
kann. ‒ ‒
79 Das Gebet
Was aber das «Ausschütten seines
Herzens» anlangt, so fühlt der Mensch
den es danach drängt, nur besonders in‐
tensiv die Wahrheit, daß er nicht ein
völlig Abgetrenntes und nur auf
sich Verwiesenes im Weltenraume ist, ‒
daß er trotz seiner kosmischen Iso
lierung und Willensflucht aus dem
Geiste, immer noch ‒ wenn auch auf
passive Weise ‒ mit seiner Urhei
mat: dem Reiche des wesenhaften rei‐
nen Geistes, in Verbindung steht, und
daß die Hilfe, die von dort ausgehen
kann, einen weiteren Wirkungsbereich
umfaßt als alle Hilfe in der physisch
sinnlichen Welt grobräumlicher
Dinge.
.Er irrt nur in der Auslegung seines
Gefühls, wenn er sich, ohne Zwi
schenstufe, dem ewigen Ursein als
gleichsam persönlichen Partner gegen‐
überzufühlen glaubt, und er irrt nicht
80 Das Gebet
minder, wenn er dieses Selbstbe
kenntnis seiner Not vor unsichtba
ren Zeugen, das eine wahre, richtige,
heilige «Beichte» ist, als «Gebet»
betrachtet. ‒ ‒ ‒
.Eine solche «Beichte» jedoch ent‐
spricht eingeborenem Bedürfnis der
menschlichen Natur und ist ein Befrei
ungswerk der Seele von unschätz‐
barer Lebensbedeutung, so daß jeder
Erdenmensch, wer er auch sei, von
Zeit zu Zeit sich vor den unsichtbaren
wahren «Priestern» derart ausspre‐
chen sollte, um zum Empfang stets
neuer Kräfte aus dem Unsichtbaren fähig
zu werden. ‒
.Man soll nicht erst die schwerste Not
der Seele über sich hereinbrechen las‐
sen, bevor man sich zu solcher wahren
«Beichte» entschließt, die stets ihre
ewigkeitsgültige «Absolution» in
sich selber trägt...
81 Das Gebet
.Erst nach solcher «Beichte» und der
durch sie erlangten Befreiung der
Seele sollte man in wahrem «Ge
bete» bitten um das, was man «er
beten» will! ‒ ‒ ‒
.Der Mensch, der dann auf rechte
Weise also «betet» wie gebetet werden
muß, wird wahrlich geistige Erneue
rung erlangen, und diese Erneuerung
ist immerfort wieder vonnöten, wenn
das Außenleben die Fühler der Seele
taub geschlagen hat. ‒
«Geistige Erneuerung» ist aber nicht
etwa eine Erneuerung des geistigen
Lebensfunkens im Menschen, sondern
Erneuerung der Aufnahmefähigkeit
der Seele für alle Einflüsse, die sie aus
dem Reiche des reinen Geistes,
über die «Antenne» ihres eigenen gei‐
stigen Wesenskernes, erreichen können
und erreichen wollen. ‒
82 Das Gebet
.Es ist kaum möglich, in Worten
menschlicher Sprache die einzigartige
Verbundenheit von «Geistfunken»
und «Seele» im Erdenmenschen dar‐
stellen, oder auch nur mit Hilfe von
Bild und Gleichnis erklären zu wollen.
.Obwohl unsere «Seele» für uns «das
einzig Wirkliche» ist, das heißt: das
Einzige, was für uns als ein Wirkendes
wahrnehmbar wird im Innern, ist sie
an sich doch nichts anderes als eine
organische und nach bestimmten
rhythmischen, harmonischen Ge
setzen gebildete Gestaltung aus
dem ewigen Ozean der Seelen
kräfte, die gleichsam an dem in diesen
Ozean versenkten «Geistesfunken»
ihren Kristallisationsmittelpunkt
hat. ‒ ‒
.Wahrnehmung des eigenen «Gei
stesfunken» in uns ist uns nur mög‐
lich, soweit wir «Seele» sind, und nur
83 Das Gebet
durch die bis ins Reingeistige eindrin‐
genden besonderen Kräfte der
«Seele», die gleichsam als ihre «Füh
ler» betrachtet werden können...
.Alles Geistige, was unser Erden‐
bewußtsein erreichen will, muß seinen
Weg nehmen über den ewigen «Gei
stesfunken» in uns, wo es durch die
«Fühler» der «Seele» empfangen und
aus der «Seele» wieder durch bestimm‐
te «seelische Organe» unserer Ge‐
hirnmembran übermittelt wird. ‒ ‒ ‒
.Da nun aber auch, umgekehrt, alle
lauten Wahrnehmungen des äußeren
Erdenlebens durch das Gehirnbewußt‐
sein die «Seele» zum Mitschwingen
bringen, so wird der unsagbar subtile
Organismus der «Seele» fort und fort
erschüttert, was nicht nur seine Auf
nahmefähigkeit für Geistiges bald
mehr, bald weniger herabsetzt, son‐
dern zuweilen, und selbst für längere
84 Das Gebet
Zeit, geradezu eine Art von «Läh
mung» der «Seele» bewirken kann. ‒
.Wer das in sich vielleicht schon er‐
fahren hat, ‒ und es wird wenige geben,
die es nicht erfahren hätten, ‒ dem
brauche ich kaum zu sagen, wie dann
diese «Lähmung» der «Seele» wieder
auf das Gehirnbewußtsein zurück
wirkt...
.So besteht immerwährende Wech
selwirkung im Innern des Menschen
und eine Hygiene der «Seele» ist
wahrlich nicht minder wichtig als
hygienisches Verhalten in Bezug auf den
sichtbaren Erdenkörper und seine
Organe. ‒ ‒
.Wir brauchen ständig «geistige Er
neuerung», im Sinne einer Erneue‐
rung seelischer Spannkraft, damit
die «Seele» Geistiges aufzunehmen
und weiterzuleiten fähig bleibe, ‒ so
wie wir die Erneuerung unserer erden
85 Das Gebet
körperlichen Kräfte nicht entbehren
können, wollen wir dem Erdendasein
genügen. ‒ ‒
Es gibt aber keine wirksamere Art zu
steter geistiger Erneuerung zu ge‐
langen, als immerwährende Gebetsbe
reitschaft, ‒ als das «Beten ohne
Unterlaß», das aus ihr hervorgeht! ‒
.Wer immerwährend gebetsbereit
ist, durch die ganze Einstellung seines
inneren und äußeren: ‒ seines be
schauenden und tätigen Lebens, für
den gehört das wirkliche «Beten»
ebenso zu seinen Lebens-Notwendig
keiten wie seines Erdenkörpers irdi‐
sche Ernährung, und es bedarf keiner
besonderen Anlässe mehr, um ihn
zum «Beten» zu bewegen, wenn es ihm
andererseits auch gewiß niemals an sol‐
chen Anlässen fehlen wird...
.Und es sind nicht nur die aneinander‐
86 Das Gebet
gereihten goldenen Kettenglieder be
wußter, geformter Gebetshand
lungen, die seinem Leben Weihe ver‐
leihen! ‒
.Es ist sein steter Gebets-Wille, der
gleichsam auch dann an seinerstatt
«betet», wenn Alltagspflichten und
äußere Ablenkung das bewußt gestal
tete «Gebet» unmöglich werden las‐
sen. ‒ ‒
.Ist man einmal auf dieser Stufe ange‐
langt, dann ist ein Tagewerk undenk
bar, das ohne wirkliches «Gebet» be‐
gonnen oder vollendet werden könnte.
.Doch, ‒ es ist gesagt: ‒ «Wenn du
beten willst, schließe dich ein in
deine Kammer
.So ist es denn keineswegs nötig, ‒
ja, es würde gegen die «Scham der
Seele» verstoßen, ‒ daß die Umge‐
bung des Betenden um seine Gebets‐
handlungen weiß, es sei denn, daß
87 Das Gebet
mehrere Menschen sich im gleichen
Gebetswillen zusammenfinden und
einer aus ihnen diesem Willen in Worten
Gestaltung zu geben sucht. ‒
.Dann müssen das aber auch Men‐
schen sein, von denen jeder Einzelne
weiß, was wirkliches «Beten» ist, und
jeder muß sein Leben bereits zu steter
Gebetsbereitschaft erhoben haben,
‒ sonst wird gemeinschaftliches Beten
zur hohlen Geste, oder, besten
falls, wie etwa bei gemeinsamem
«Tischgebet», zur Befolgung einer
frommen Sitte, die freilich ‒ einst
hervorging aus gemeinsamen Gebets‐
handlungen solcher Menschen, die um
das Geheimnis rechten «Betens» wuß
ten, und auch die Ernährung des Er‐
denleibes nicht ohne «Gebet» lassen
wollten. ‒ ‒
.Dem Kinde aber gebe man ruhig
Gebetsformeln, die seinem Fühlen‐
88 Das Gebet
und Empfindenkönnen angepaßt sind,
ohne vorerst eine innere Einstellung
von ihm zu erwarten, die seiner See
lenkräfte Konzentration noch über‐
steigt!
.Mit aller Behutsamkeit ist dann der
heranwachsende Mensch zuerst in die
Praxis des wirklichen «Betens»
einzuführen, bevor ihm Aufschluß dar‐
über wird, in welcher Weise hier alles
geistig ineinandergreift.
.So wird er, der bereits praktisch
beten gelernt hat, nur noch Vertrau
tes vernehmen, wird ihm die ganze
Lehre in ihrem Zusammenhange zu‐
teil. ‒
Die Wortgestaltung, die der des
«Betens» wahrhaft Kundige seiner
Gebetshandlung jeweilig geben will,
bleibt ihm allein anheimgestellt.
.Er kann mit gleicher Wirkung sich
89 Das Gebet
an gegebene Gebetsformeln halten,
die ihm vielleicht von der Kinderzeit
her schon lieb und vertraut geworden
sind, wie er auch aus der Fülle seines
Empfindens selbst die Worte formen
kann, und wenn auch ein solches Gebet,
seiner Wortfolge nach, nur ein ergriffe‐
nes Stammeln darstellen würde.
.Obwohl aber wahrlich auch ein sol‐
ches Stammeln zum «Gebete» wer‐
den kann, soll doch nicht der Irrtum
entstehen, als solle wahres Gebet lieber
ein «Stammeln» als geformte Wort‐
folge sein. ‒
.Es handelt sich hier um höchstes
Auswirken geistiger Gesetze und
seine Benützung, so daß schon die
Ehrfurcht vor dem Geistigen gebietet,
auch nach aller Möglichkeit nach for
maler Vollendung der Gebetshandlung
zu streben...
.Und weit darüber emporragend sind
90 Das Gebet
noch Wortfolgen möglich, die nach gei‐
stigen Lautwerten geordnet, unsagbar
wohltätig auf die Seele einwirken, so
daß sich ihr «Gebet» gleichsam mit dop‐
pelter Kraft erhebt. ‒ ‒ ‒
Um was dann, wenn man wirklich «be‐
ten» kann, zu beten ist, wird zwar
jeder für sich zu wissen meinen, und
doch ist es nötig, hier noch einiges zu
sagen, soll nicht der gleiche Fehler ad
infinitum begangen werden, den so viele
begehen, die zwar nicht um das My
sterium des rechten «Betens» wis‐
sen, aber nach ihrer frommen Art gut‐
gläubig zu beten meinen, wie sie es
eben verstehen können.
.Da ist es denn fast jedem dieser ver‐
meintlichen Beter geradezu selbstver
ständlich, daß er zuerst um sein ei
genes Wohl und um das Wohl derer zu
beten habe, die ihm, ‒ wie man zu
91 Das Gebet
sagen pflegt, ‒ in seinem Erdenleben
«nahestehen»...
.Man hat zwar die Mahnung vernom‐
men: ‒ «Betet für die, so euch has
sen und verfolgen!» ‒ ‒ und am
Tage von Golgatha wird mit bedeutsa‐
mer Betonung in den «römischen» Kir‐
chen sogar für die «Ketzer», die
Juden und «Heiden» gebetet, aber ‒
man denkt nicht daran, daß uns, vom
Standpunkt geistig Erwachter her
gesehen, auch unsere Feinde und Ver
ächter, wie auch die fernsten Men‐
schen, die wir niemals noch von An
gesicht sahen, geistig ebenso ver‐
bunden sind, wie unsere allernächsten
Blutsverwandten, auch wenn wir den
uns Unbekannten, und denen, durch
die uns arges Leid geschah, gewiß nicht
die gleiche Art und den gleichen Grad
der Liebe entgegenbringen können,
‒ was auch wahrhaftig kein göttliches
92 Das Gebet
Gesetz «verlangt», weil es ja selbst
die Unterschiedlichkeit setzt und be
wirkt.
.Wer aber das wirkliche «Beten»
lernte, der wird fortan seinen Gesichts‐
kreis erweitern müssen, um vor al
lem und zu allererst für alles zu
«beten», was auf Erden Mensch werden
will, und Mensch zu sein sich müht: ‒
was unter der Tierheit leidet, und was
die Tierheit zu bändigen sucht! ‒ ‒
.Dann erst wird der Betende an be
stimmte Menschen-Gruppen denken
dürfen, ‒ danach an seine Freunde
und Anverwandten, ‒ sodann an
seine engste Familie, ‒ und zu aller
letzt: ‒ auch an sich selbst! ‒ ‒ ‒
.Es ist genau die umgekehrte Rei‐
henfolge gegenüber jener, die für un‐
sere Lebenspflichten in der Außen
welt maßgebend ist, denn dort muß der
Mensch zuerst selbst festen Stand ge‐
93 Das Gebet
winnen, bevor er Verantwortung für
eine Familiengründung übernehmen
kann, ‒ muß zuerst für seine Familie
sorgen, bevor er Anverwandten und
Freunden helfen darf, ‒ und diesen
wieder muß er nicht mehr notwen
dig sein, will er ferneren Menschen‐
Gruppen helfen oder seine Kraft dem
Menschheits-Ganzen zur Verfügung
stellen. ‒
.Unbeschreiblich Bedeutendes
hängt für die ganze Menschheit da‐
von ab, daß jeder, der wirklich «beten»
lernte, nun in solcher Weise zuerst für
Alle «betet», bevor er das «Gebet»
auch für seine weiteren und näheren
«privaten» Anliegen einsetzt, ganz ab‐
gesehen von dem rein Persönlichen,
für das er die Hilfe des «Gebets» ge‐
brauchen will...
.Es kann so im Laufe der Zeit wahr‐
haftig zu geistiger Erneuerung im‐
94 Das Gebet
mer größerer Teile der Menschheit kom‐
men, nur durch das «Gebets»-Wirken
weniger Einzelner!
.Aber es wird hier nicht bei diesen
wenigen Einzelnen bleiben, denn die
Kraft des wirklichen «Gebetes»
weiß in Bälde alle zu erreichen, die be‐
reits reif und gefestigt genug sind, um
«beten» lernen zu können...
.Derer aber sind wahrlich nicht we‐
nige in heutigen Tagen zu finden! ‒ ‒
Die noch der Erde Bürde und Müh
sal tragen, mögen aber auch jene nicht
vergessen, die vor ihnen über diese
Erde gingen, mit gleicher Mühsal und
Bürde belastet. ‒ ‒
.Man wähne nicht, nun seien sie aller
Sehnsucht nach Hilfe enthoben, oder,
sie seien erdenmenschlicher Hilfe so ent‐
rückt, daß solche Hilfe ihnen nichts
mehr nützen könne!
95 Das Gebet
.Ach! ‒ es sind nur Allzuviele,
denen die Hilfe durch wirkliches «Ge
bet» gar dringend nötig wäre, da sie
nun in einer seelischen Entwicklungs‐
Phase stehen, die ihnen nicht mehr er‐
laubt, selbst tätig ihr Schicksal zu
fördern! ‒ ‒ ‒
.Wenn in einem alten geheiligten Bu‐
che die Worte stehen: «Es ist ein
heiliger und heilsamer Gedanke,
für die Verstorbenen zu beten, auf
daß sie erlöst werden!» ‒ so darf
man hier wahrlich sicher sein, daß nur
einer diese Worte schreiben konnte, der
hinter die dichte Verhüllung sah, die
dem nicht dafür bereiteten Erdenmen‐
schen den Blick in «das Land ohne Wie‐
derkehr» unmöglich macht...
.Und wenn ich hier jeden, der da
«beten» lernen will, bitte, daß er, so‐
bald er es kann, sein wirkliches «Ge‐
bet» auch für die von dieser Erde
96 Das Gebet
Geschiedenen ein-setze, so spreche ich
kraft meines sichersten «Wissens»,
und keineswegs etwa beeinflußt durch
irgendwelche erdenmenschlichen Vor‐
stellungen vom Leben nach dem Erden‐
tode!
.Aber auch hier möge man daran den‐
ken, zuerst für Alle zu «beten», bevor
man die Kräfte des wahren «Gebetes»
auf Einzelne lenkt! ‒ ‒
.Es trage aber auch keiner etwa Sorge,
daß sein «Gebet» für Einzelne viel‐
leicht vergeblich sein könne, weil
diese Einzelnen der Hilfe nicht mehr
bedürftig seien!
.Hier ist nur zu sagen, daß es unter
denen, die noch irgend ein heute auf
Erden Lebender kannte, oder deren sich
seine Eltern erinnerten, keine einzige
Seele ist, die nicht auf ihrem Wege noch
Förderung dankbar begrüßen würde,
auch wenn sie nicht zu denen gehört,
97 Das Gebet
denen solche Hilfe durch wahres «Ge‐
bet» geradezu «Erlösung» werden
kann. ‒ ‒ ‒
.Auch in jenem Seelenzustand, in dem
sich die «Seele» frei vom Erdenkör
per erlebt und den der Sprachgebrauch
das «Jenseits» nennt, ist geistige
Erneuerung, in gleichem Sinne wie
ich das Wort schon vordem erläuterte,
eine stete Notwendigkeit, denn im‐
mer noch erschüttert, nachwirkend,
erdenhaftes Bewußtsein die «Seele»,
während sie zugleich in neuen Erleb‐
nissen vibriert, die sie passiv hinneh‐
men muß, ohne, wie einst auf der
Erde, durch den Erdenkörper aktiv
daran teilnehmen zu können. ‒ ‒
.Die Wenigen aber unter den Geschie‐
denen, die aktiv in der Welt des Geistes
heimisch waren schon zu ihren Er
denzeiten, würden die Hilfe des wah‐
ren «Gebetes» wahrlich für Andere
98 Das Gebet
gut zu gebrauchen wissen, würde sie
ihnen etwa zugelenkt...
.Es darf jeder darauf vertrauen, daß
nichts verlorengeht, was da jemals die
Liebe über die Grenze der physisch‐
sinnlichen Welt ins «Jenseits» sendet.
.Gilt das wahrhaftig schon von jeder
liebedurchdrungenen Empfindung, ‒
von jedem liebeerfüllten Gedanken, ‒
so erst recht von der wahrhaft wun
dersamen Hilfe, die durch Ausübung
wahren «Gebetes» möglich wird! ‒ ‒
So wirkt die rechte Art zu «beten»,
wie ich hier in diesem Buche «beten»
lehre, nicht nur über die ganze Erde
hin, sondern noch weit über diese
physisch-sinnliche Erscheinungswelt hin
aus!
.Das wirkliche «Gebet» verbindet
alles Seelische, das den Geistesfunken
in sich trägt, im sichtbaren wie im
99 Das Gebet
unsichtbaren Kosmos, und bringt
Kraftströme zur Wirksamkeit, die,
auf dem Wege über die ihnen gesetzten
Stationen, in Wahrheit zuletzt das Herz
des absoluten ewigen Seins errei‐
chen, um von dort aus mit «Gnade»
gleichsam «geladen» zurückzufluten
auf den Betenden und alles, worauf sein
«Gebet» gerichtet ist...
.Das wirkliche «Gebet» läßt die
«Himmelsleiter» erstehen, die im
Innern des Menschen dann aufragt,
hinauf bis zum innersten Urseins-Wil
len, ‒ jene «Himmelsleiter», die es
den hohen Hierarchien des Geistes mög
lich macht, das ewig leuchtende Licht
herabzubringen bis in des Erdenmen
schen irdisches Erleben! ‒ ‒ ‒
.Das wirkliche «Gebet» ist die
höchste Verherrlichung der ewigen
Liebe, ‒ liebend dargebotene Ver
einungsmöglichkeit mit der ewigen
100 Das Gebet
schöpferischen Allgewalt, die aus der
Urliebe ewig neues Leben zeugt...
.So ist es für den Erdenmenschen wahr‐
lich nur Erfüllung heiligster Pflicht,
wenn er sich strebend müht das wahre
«Beten» zu lernen.
.Heil und Segen wird ihm und aller
Seele aus solchem «Beten» ersprießen,
und mehr und mehr wird sich durch sol‐
ches wirkliches «Gebet» der Erde
Antlitz geistig neu gestalten, zum
Wohle derer, die einst nach uns kom‐
men. ‒ ‒ ‒
.Bereiter der Zukunft sind alle, die
wahrhaft zu «beten» wissen! ‒
.Sie sind die Vorläufer und Weg
bereiter des neuen Menschen, der
schon mit Ungeduld auf Erden Dasein
verlangt, aber erst erscheinen kann,
wenn er die Erde für seine neue Weise
Mensch zu sein, bereitet findet! ‒ ‒
.Ihm wird das wirkliche «Beten» auf
101 Das Gebet
Erden Heimat schaffen, ‒ ihm: ‒
dem neuen Menschen, der da alles
was dermalen noch zerspalten und zer‐
rissen ist, vereinigt, weil er nur noch
aus der Liebe lebt! ‒ ‒ ‒
*           *
*
102 Das Gebet
SO SOLLT IHR BETEN!
Heilige Heerschar!
Hüte heute
Meinen neuen Tag!
Hohe Hilfe helfe
Mir,
Dem Vertrauenden,
Tun meine Tat!
Rein ist mein Fühlen: ‒
Es bleibe rein!
Straff mein Denken: ‒
Es bleibe gestrafft!
Klar meine Rede: ‒
Sie bleibe klar!
Ich unterwerfe
Mein Denken
Der Liebe!
105 Das Gebet
Ich unterwerfe
Meine Worte
Der Liebe!
Ich unterwerfe
Mein Handeln
Der Liebe!
*
I
Dank dem Erzeugenden
Für das Erzeugte! ‒
Geweiht sei Speise,
Geweiht sei der Trank
Urewiger Liebe!
II
Gabe der Erde,
Erhalte der Erde
Was ihr gehört! ‒
Werde Segen
Leibhaftem Leben!
106 Das Gebet
III
Kraft des Lebens!
Wirke das Wunder: ‒
Wandle,
Was ich vernichte,
Was ich zerstören muß,
Mich zu erhalten, ‒
In weisen Willen!
*
O Glück der Ruhe!
Glück der Stille!
Glück der Nacht!
Nach Tagesmühe,
Tageslärmen,
Tagesdrängen,
Müd' gemacht,
Sehnt Seele sich
Und Leib,
107 Das Gebet
Nun auszuruhen
Auszuklingen
Auszuschwingen.
Nun ist vollbracht
Der Erde Werk!
Seele!
Kehr' bei dir selber ein!
Lerne
Den Leib nun vergessen!
Laß ihn
Auf seinem Lager ruhn!
Hehrer Hüter heilige Hut
Hütet ihn vor Schaden.
Du aber, ‒
Seele, ‒
Bete
Unterdessen!
*
108 Das Gebet
Frei!
Frei geworden,
Fressender Frage!
Frei geworden,
Wühlender Wünsche!
Also befreit,
Will ich
Herr
Dir Sein, ‒
Will dich
Beherrschen,
Du,
Mein Glück!
Dank dem,
Das dich
Mir sandte!
109 Das Gebet
Dank dem,
Das mich
Dich schaffen ließ!
Doch ‒ dienen
Will ich
Dir nicht!
Willst du an mir
Den Knecht,
So wirst du mich
Verlassen müssen, ‒ ‒
Denn ich will
Frei sein,
Auch von dir!
*
Helft mir!
Helft mir,
Wenn ihr
Helfen könnt!
110 Das Gebet
Helfende Mächte!
Hilfreiche Helfer!
Ihr wißt,
Wie harte Not
Mich schlägt, ‒
Wie Sorge
Boshaft
Mich bedrängt!
Ihr werdet
Hilfe bringen, ‒
Wenn ihr
Könnt!
Doch: ‒
Ist es euch
Versagt,
Die Last von mir zu heben,
Die mein Rücken trägt, ‒
Dann
Helft mir nur
Sie tragen!
111 Das Gebet
Geh' ich auch gebückt,
So will ich doch nicht
Fallen!
Will willig
Tragen,
Was ich tragen
Muß, ‒
Und will nicht
Murren,
Will nicht
Klagen!
*
Urewige Liebe!
Löse
Aus Not
Und Bindung,
Aus Blindheit
Und Nacht,
Aus Qual
112 Das Gebet
Und Bann,
Was meine Liebe
Und meine Kraft
Nicht lösen kann!
Ergieße Du
Aus Deiner Kraft
Macht in müden Willen,
Selbst das Leid
Zu stillen,
Soweit es Wille
Stillen kann!
Sende Hilfe
Hoher Helfer, ‒
Wehrender Wächter!
Übel weiche!
Drangsal fliehe!
Weh' vergehe!
Not
Sich wende!
113 Das Gebet
Böses
Ende!
Gefahr
Und Betörung
Vorüberziehe!
Finsternis
Schwinde!
Licht
Überwinde!
Daß diese Seele
Werde frei, ‒
Bald
Aller Bande
Ledig sei!
*
Hohe Helfer!
Lichteslenker!
Mächtig,
Unsichtbar
114 Das Gebet
Um mich zu sein. ‒
Euch rufe ich
Aus meiner Pein!
Ich rufe um Rettung!
Ich will nicht
Verloren sein!
Ach!
Daß doch Einer
Bei mir sei, ‒
Mache mich
Von mir selber
Frei! ‒ ‒
Einer
Aus Euch!
Mich fasse,
Nicht lasse, ‒
Mich rette
Aus böser Bindung
Qualvollen Banden!
115 Das Gebet
Mich löse
Aus Drang und Trieb!
Daß er verjage
Höllische Plage,
Die Urteil trübt,
Betörung übt,
Unheil verhängt
Zum Argen drängt,
Sinn verwirrt,
Willen beirrt!
Helfe mir
Hüter!
Halt' meine Hand!
Bis ich mich
Selbst
Dem Wahn
Entwand!
*
116 Das Gebet
Lenker im Lichte!
Seht mich bereit!
Bereit im Willen!
Bereit
Alle Mühe
Zu überwinden!
Zur Tat
Bereit!
Pflicht erkennend
Werde ich wirken,
Was werden will
Aus meiner Kraft!
Was ich vermag,
Und nicht vermag,
Kommt nun zutag.
Daß Eure Kraft
Vollendung schaffe,
Wenn ich erschlaffe, ‒
117 Das Gebet
Ist meine Bitte:
Ist mein Gebet!
Laßt mich
Nichts schlecht tun!
Laßt alles mich
Recht tun!
Laßt mich nicht wanken!
Lenkt meine Gedanken!
Lehrt mich
Vollbringen!
Lasset das Werk
Durch mich
Gelingen!
Ihr hohen Helfer!
Ihr Lenker
Im Licht!
*
Nicht mehr beten,
Nicht mehr rufen, ‒ ‒
118 Das Gebet
Schreien...
Kann ich nur
Um Licht!
Verwirrt,
Verirrt,
Vermag ich nicht
Mich noch
Zurechtzufinden
Im tiefen Dunkel
.um mich her.
Zerquält,
Verängstet,
Schreie ich: ‒
Schreie
Um Licht!
Lichte Liebende
Laßt nicht allein
Mich in Marter
Wilder Verzweiflung!
Trostberaubt!
119 Das Gebet
Selbst vom Scheine
Scheinbaren Trostes
Längst verlassen!
O betet Ihr für mich,
Die Ihr
Im Lichte lebt, ‒
Denn ich ‒ ‒
Kann nicht mehr
Beten!
Hört mich!
Erhöret
Meinen Schrei!
Ich schreie zu Euch, ‒
Schreie
Aus meiner tiefen,
Tiefen Not
Um Licht, ‒
Auf daß ich...
Wieder...
Beten könne!!
*
120 Das Gebet
Kalt, ‒
Starr, ‒
Verstummt, ‒
Liebe ich
Dennoch,
Was ich vordem
Liebte: ‒
Einst warm
Belebt, ‒
Beredten Mundes...
Ehedem
Lichter Seele
Lebenslang
Träger
Und ausdruckswillige
Darstellung.
Schaurig, ‒
Noch unerfaßlich, ‒
Daß dieses nun
Verwesen muß! ‒ ‒
121 Das Gebet
Daß diese lieben Formen
Nun vernichtet werden! ‒ ‒ ‒
Grauenvoll
Fühle ich
Irdische Vergänglichkeit:
Nun aber
Betet
Meine Liebe
Für dich
Du lichte Seele, ‒
Der dieses Kalte,
Starre,
Nicht mehr dienen kann, ‒
Daß dir sogleich
Die hohen Helfer
Sich erkennbar zeigen,
Damit du
Ohne Säumen
Deinen Weg zum Lichte findest: ‒
Selbst Licht wirst,
Wie du Licht
122 Das Gebet
Von Anbeginn
Einst warst!
Leitet,
Lenkt
Und lehret,
Ihr leuchtenden Lehrer
Erhabenster Lichtwelt!
Führet
Zu höchstem Ziele: ‒
Zu lichter Vollendung
In ewigem Geiste, ‒
Was ich liebe
Mit aller Liebeskraft,
Jetzt, ‒ wie einst!
*
Fragende Augen, ‒
Nie gewesen,
Nie wiederkehrend, ‒
123 Das Gebet
Noch fasset ihr nicht
Was sich euch zeiget
In irdischem Licht!
Möge Segen
Euch erregen,
Voll Vertrauen
Bald zu schauen,
Sonnendurchhellt,
Eure Welt!
Möge reinen Geistes Walten
Seele sich in euch gestalten, ‒
Was noch «schläft» in euch
Entfalten!
Liebende Schützer
Schützt dieses Kind! ‒
Lenket sein Werden
Hier auf Erden
In lichte Bahn!
124 Das Gebet
Führt dieses Leben!
Leitet sein Streben
Durch lange,
Freudige
Erdenzeit
Stets näher ewigem
Leuchten entgegen! ‒
Behütet es
Auf allen Wegen,
Bis es beglückt
Einst, ‒
Der Erde entrückt, ‒
Mit Euch vereint,
Im Lichte aufersteht
Für alle Ewigkeit!
*
Dank Dir
Quelle aller Freude, ‒
Urewiges Licht
125 Das Gebet
Lebenspendender Liebe, ‒
Dafür,
Daß ich
Erleben durfte,
Was heute mich
Beglückt, ‒
Mich aller Klage nun
Entrückt, ‒
Erfüllung ward
Hoffen und Traum!
Noch fasse ich kaum,
Daß das Erlangte sich
Als Wirklichkeit erweist.
Ihr aber:
Liebende,
Im Geist,
Ihr,
Die ihr Weg
Und Weise kennt,
Ihr,
Die Euch Liebe
126 Das Gebet
Helfen heißt, ‒
Sendet mir,
Helfer,
Eure Kraft!
Lehrt mich
Erkennen
Wie ich
Meiner Freude
Würdig werde!
Laßt mir zum Segen sein
Was diesen Tag mir hellt!
O laßt mich nicht
Allein!
Allein mit meiner Freude!
Schützet,
Schützer
Meine Seele,
Daß nicht Übermut
Sie nun befällt!
*
127 Das Gebet
Innerstes Leben!
Sein meiner selbst!
Du lichter Stern
Urgöttlichen Lichtes
Im Erdendunkel!
Du,
Dessen «Bild»
Ich bin, ‒
Irdisch verflochten
Dem Irdischen, ‒
Mich selbst
Nicht fassend: ‒
Nur in Dir
Von Dir
Gefaßt!
Weit
Ward ich mir, ‒
So, wie ich bin
128 Das Gebet
In Dir, ‒
Weit ward ich mir
Entrückt!
Wo ist mein Weg? ‒
Mein Weg
Zu mir, ‒
So wie ich
Ewig
Bin
In Dir!?
O helfe mir!
Lass' nicht Dein «Bild»
Durch Irdisches
Ver-bilden!
O laß zurück mich
Zu mir selber
Finden! ‒ ‒
Zu Dir,
Du Licht in mir!
129 Das Gebet
Löse
Meine Selbstverflechtung!
Befreie
Aus des Irrtums Knechtung,
Was nur mit Dir
Vereint
Das Leben finden kann!
*
Von allem Trost verlassen
Rufe ich,
Rufe ich zu Dir: ‒
Du Licht der Ewigkeit!
Du Licht des Lebens, ‒
Licht der Liebe!
Lass' nicht
In schwarzer Lichtnot
Nachten
Seele
Und Sinn!
130 Das Gebet
Erhelle
Das Trübe!
Erlichte
Das Dunkel!
Laß mich
Erleuchtung
Erlangen
In Dir!
Sende,
Die in Deinem Lichte
Leuchten
Mir
Auf meinen Weg!
Heiße sie achten
Auf mein Suchen:
Mein Suchen
Nach Licht!
Willig folge ich
Führender Hand!
131 Das Gebet
Willig ersteige ich
Steile Pfade!
Entführet mich
Führer
Finsterem Land!
Führt mich
Ins Licht: ‒
In das Leuchten
Der Gnade!
*
Väter im Lichte, ‒
Heilige Helfer, ‒
Hilfreich nahe
Allem,
Was nach Rettung ringt!
Inbrünstig
Bebenden Herzens
Sei Dank
Euch dargebracht!
132 Das Gebet
Aus drohender Nacht
Zum Lichte erwacht, ‒
Aus Not errettet,
Gefahr entrissen,
Losgekettet
Aus feindlicher Macht, ‒
Sei nun mein Leben
Euch übergeben!
Eurer Wacht
Sei anvertraut,
Was Ihr
In mir
Aus meinem Streben
Nun auferbaut!
Lasset des Dankes
Tempel werden
All mein Dasein nun
Auf Erden!
*
133 Das Gebet
Schaffende,
Bauende,
Werkwissende
Meister!
Weist mir
Rechte Weise
Wie ich
Wirkend
Werk
Vollende!
Ihr,
Die ihr Maß
Und Zahl
Erkennt, ‒
Verborgenstes
Bei Namen nennt, ‒
Gebt Einsicht,
Kraft
Und auch
Geduld!
134 Das Gebet
Begnadet mich
Aus hoher Huld!
Daß nichts mir
Mißlinge!
Daß alle Dinge
Die Werk
Ergeben,
Sich unter meiner Hand
Vollenden wollen
Und zum Werk
Erheben! ‒ ‒ ‒
*
Laßt mich nicht
Im Nichts
Versinken!
Nicht
Im Schein
Ertrinken!
135 Das Gebet
Soll mich nicht
Gedanke
Binden, ‒
Soll ich
Wahrhaft
Weisheit
Finden, ‒
Muß ich
Hilfe
Mir erbitten,
Weise Wissende,
Bei Euch!
Die Ihr
Allein
Mir Wege wißt
Aus Irrung
Und Verwirrung.
Weist
Wissend Liebende
Liebreich
Licht!
136 Das Gebet
Laßt mich
Erkennen
Wahres Wesen
Wahrhaftiger
Wirklichkeit!
Aus Trug
Und Schein
Führt mich,
Ihr Leuchtenden,
In ewig wahre
Weisheit ein!
*
Vater aller,
Die Dich glauben!
Der Du bist,
Da Du
Dich glaubst! ‒
Der Du
137 Das Gebet
Glaubend
Leben zeugest
Wie Du
Glaubend,
Selbst Dich zeugend,
Selbst Dir
Licht
Und Leben bist!
Erwecke Glauben
Auch in mir,
So, daß ich
Wahrhaft glauben lerne, ‒
Glauben,
Gleich Dir!
Überlichte,
Über-zeuge mich
Aus Dir!
Zeuge Leben, ‒
Zeuge mich
In mir!
138 Das Gebet
Lass' mich
Glaubend
Dich erlangen!
Daß ich nicht,
Von Nacht umfangen,
Beute werde
Meiner Glaubensnot!
*
Hart bedrängt
Durch zähen Zweifel,
Vater,
Rufe ich zu Dir!
Sende bald
Durch Deine Boten
Deine hohe Hilfe mir!
Gib verstörtem Herzen
Gnade! ‒
Licht im Urlicht,
139 Das Gebet
Leite Du
Licht
Aus Deines Leuchtens Fülle
Mir auf meine
Erdenpfade!
Daß ich klar
Das Rechte sehe,
Trug von Wahrheit scheiden lerne,
Mich nicht weiter noch
Entferne
Und nicht
Irre Wege gehe!
*
Noch ist mein Glaube,
Wie Röhricht im Winde,
Immerfort schwankend...
Bald aufgerichtet,
Bald niedergedrückt...
140 Das Gebet
Bald kann ich
Glauben,
Gleich einem Kinde. ‒
Bald ist mir alles
Wieder entrückt.
Sehnend
Suche ich
Sicheren Grund,
Um fest
Wie ein Fels
Zu stehen...
Bin Denkensmüde
Bin Herzenswund, ‒
So kann es nicht
Weitergehen!
Ihr
Die Ihr
In Gewißheit lebt!
Helft mir
Aus solcher Pein!
141 Das Gebet
Gebt meinem Glauben
Festen Stand!
Führet mich,
Führer,
An fester Hand
In Eure
Gewißheit ein!
*
Willig
Will ich
Auf mich nehmen,
Was mein Wille
Nicht mehr
Wendet, ‒
Auch wenn das,
Was mich
Verwundet,
Meine Erdentage
Endet!
142 Das Gebet
Alles
Was ich will
Und hoffe,
Ist,
Daß diese Erdenplage
Die ich mit Geduld
Ertrage,
Mir noch soviel Kraft belasse,
Daß ich stets
In Klarheit fasse: ‒
Wie alles Leid
Mich nur befreit
Aus Erdenhörigkeit.
*
Euch,
Die ihr
Erdenleibes ledig,
Nun Seelenleibhaft euch
Erlebet, ‒
143 Das Gebet
Nahe noch
Irdischem,
Dennoch
Erdentrückt, ‒
Euch
Leite Liebe
Lichter Leitung zu!
Liebe
Löse
Irdischen Bann!
Lichtes Vertrauen
Lehre euch fassen
Hilfreiche Hände
Erdnah verharrender
Hoher Helfer, ‒
Heiliger Liebender!
Erdhafte Hemmung
Bleibe zurück!
Wahn
Werde vergessen!
Wille werde wach!
144 Das Gebet
Enthaftet
Aller Haftung,
Frei
Aller Fesselung,
Folget
In Freude
Weiser Führung
Leuchtender Führer!
Daß bald euch
Erleuchte
Ewiges Licht!
*
145 Das Gebet
ENDE
DAS
GEHEIMNIS
Verlagslogo
KOBERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASEL
(Anm.: Erstausgabe 1923)
Um den Forderungen des Urheberrechtes zu entsprechen, sei
hier vermerkt, daß ich im zeitbedingten Leben den Namen
Joseph Anton Schneiderfranken führe, wie ich in meinem ewigen
geistigen Sein urbedingt bin in den drei Silben:
BÔ YIN RÂ
Copyright by
Kobersche Verlagsbuchhandlung Basel 1952
Druck: Adolf Holzhausens Nfg., Wien
INHALT Seite
Beginn 7
Das Gespräch am Strande 43
Santo Spirito 65
Südliche Nacht 117
Die Felseninsel 165
Die Fahrt auf dem Meere 206
Nachwort 271
Originalscan
Allen Suchenden der Welt!
BEGINN
SÜDLICHER Sonne greifbares, lagerndes
Licht hatte die Augen der drei Wanderer
also der Helle trunken werden lassen, daß sie
zuerst wie geblendet standen und in dem
dunklen Gastraume der ländlichen Osteria
nichts als tiefe Finsternis gewahrten.
.Drinnen aber hatte man die Eintretenden
bereits als vornehme Reisende erkannt und
so kam es, daß etwas wie jäher Schreck sie
durchfuhr, als plötzlich aus der Tiefe des
Raumes die polternden Tonkaskaden des
landesbeliebten Drehorgelklaviers ihnen in
burleskem Pathos entgegenschallten.
.Zugleich auch löste sich aus der Düsternis
eine große massige Gestalt, die ihnen beide
Hände zum Gruße bot.
.Es war zwar zu bemerken, daß die Gestalt
so etwas wie Worte der Begrüßung sprach
und nicht wenig stolz zu sein schien auf den
lärmenden Empfang, den sie den Reisenden
bereiten ließ, allein hier ging jedes Wort der
klangreichen Sprache des Landes in einer
Sturmflut tollen Geklimpers und bumsender
9 Das Geheimnis
Paukenschläge, prasselnder Trommelwirbel
unter.
.Durch Zeichen nur konnten die Gäste
ihrem fettbäuchigen Gegenüber, in dem sie
den aufmerksamen „Padrone”, den Gast‐
wirt, erkannten, allmählich begreiflich ma‐
chen, daß er den wilden Lärm doch endlich
beseitigen möge, und nachdem der Verste‐
hende schweren Schrittes wieder in der Fin‐
sternis verschwunden war, riß plötzlich das
Tongewirre mitten entzwei.
.In der überraschenden Stille hörte man
den Alten Befehle erteilen, auf die eine klare
Knabenstimme gehorsame Antwort gab.
.Alsbald gewahrten die nun mehr und
mehr an das Dunkel gewohnten Augen der
Reisenden denn auch den unschuldigen Ver‐
ursacher so grausamen Lärmens, wie er ‒
ein behender schwarzer Krauskopf der etwa
elf oder zwölf Jahre zählen mochte ‒ noch
ganz erhitzt von dem eifrigen Drehen des
Schwungrads seiner tumultuösen Maschine,
bestrebt war, die Krümel der Mahlzeit frü‐
10 Das Geheimnis
herer Gäste von dem grünen Tuche wegzu‐
blasen, das den zunächst stehenden Tisch be‐
deckte.
.Nun erst konnte man auch dem in schwer‐
fälliger Grandezza dienernden Padrone seine
Wünsche nach einfacher, landesüblicher Er‐
quickung vermitteln, und es dauerte nicht
mehr lange, da saßen die drei Männer auf
den strohbeflochtenen primitiven Stühlen
um den grünen, mit unzählbaren Spuren ver‐
gossenen Weines und Olivenöles gesprenkel‐
ten Tisch, vor sich die schilfumhüllte lang‐
halsige Flasche, deren vorzüglicher Inhalt:
ein tintig dunkler Chianti, bereits die klei‐
nen Wassergläser füllte.
.Käse, Oliven und weißes Brot, jeweils al‐
les zusammen auf drei altersgrauen Stein‐
guttellern, bildeten das ersehnte Mahl.
.Der Padrone und sein kleiner Sohn waren
nach der Bereitstellung dieser Genüsse dis‐
kret in unbekannte seitliche Schlupfwinkel
verschwunden; man aß und trank und fand
sich zuletzt sehr angeregt, das beim Eintritt
11 Das Geheimnis
in diesen Gastraum abgebrochene Gespräch
nun fortzusetzen.
.Süßlich aromatischer Duft orientalischer
Zigaretten erfüllte bereits das niedere Ge‐
wölbe und dünne Streifen bläulich-weißen
Rauches umzogen spielend den ragenden,
bastumschnürten Hals der Chiantiflasche.
.So war die Atmosphäre zu gewissen träu‐
merischen Betrachtungen recht geeignet.
.Man glaubte alsbald zu fühlen, daß sich
hier wohl besser über alle die mysteriösen
Dinge reden lassen wollte, über die man vor‐
dem nicht ins Reine gekommen war, als
draußen im allzu unbarmherzig klaren Son‐
nenlicht.
*
.„Ich bleibe bei meiner Behauptung”, be‐
gann der älteste der drei Männer, „und wenn
mir selbst auch jede diesbezügliche Erfah‐
rung fehlt, da ich nie dergleichen erlebte, so
zeugen mir doch namhafte Gelehrte fast aller
Kulturnationen genugsam dafür, daß an die‐
sen Erscheinungen, die uns moderne Men‐
12 Das Geheimnis
schen wie Spukszenen aus alten Märchen an‐
muten, irgend etwas Wahres sein muß.
.Unmöglich können diese nüchternen Ex‐
perimentatoren, die oft sogar mit Hilfe fein‐
empfindlichster Instrumente ‒ ganz abge‐
sehen vom photographischen Apparat ‒
solche Phänomene prüften, allesamt einer
groben Täuschung erlegen sein!”
.Der Jüngste, ein Mann von etwa dreißig
und einigen Jahren, entgegnete mit leichter
Unruhe in der Stimme:
.„Gewiß sind Sie im Recht, und ich sagte
Ihnen ja schon vorhin, daß alle Zeugnisse
der Wissenschaft, so wichtig sie Ihnen auch
erscheinen mögen, für mich ganz überflüssig
sind, denn es begab sich einst in meinem Le‐
ben, daß ich alles das, wovon Sie uns vorher
auf Grund der von Ihnen eingesehenen Be‐
richte erzählten, selbst zu erleben Gelegen‐
heit fand; ‒ ja, ich vermisse in Ihren Be‐
richten noch gar Vieles, das weit staunen‐
erregender sich anhören ließe und das ich
dennoch selbst erlebte!”
*
13 Das Geheimnis
.„Wenn ich Sie nicht als einen Menschen
kennen würde, der mit beiden Beinen so fest
auf unserer geliebten lachenden Erde zu ste‐
hen weiß”, wandte der dritte nun ein, der,
von fester, gedrungener Statur, ganz wie ein
biederer italienischer Landpfarrer wirkte,
„so müßte ich wahrhaftig glauben, mein jun‐
ger Freund, Sie seien da die Beute recht ge‐
fährlicher Halluzinationen geworden!
.Ich begreife es, offen gestanden, nicht, daß
ein Mensch wie Sie, der doch gar nichts vom
tagfremden Träumer an sich hat, allen Ern‐
stes die spukhaften Phänomene, von denen
unser lieber alter Bibliothekar da so viel zu
erzählen weiß, für bare Münze nimmt und
nun gar noch selbst behauptet, dergleichen
sei ihm nicht unbekannt!
.Aus Ihnen wird man überhaupt nicht
recht klug!
.Bald geben Sie sich ganz wie ein Mensch
des zwanzigsten Jahrhunderts, den man auch
den realsten Problemen gegenüber vernünf‐
tig urteilen hört, und dann wieder könnte
14 Das Geheimnis
man denken, man hätte irgend einen indi‐
schen Dschungelfakir vor sich, der nichts
von der Welt kennt, oder einen wieder‐
gekehrten Mönch aus einer mittelalterlichen
Klosterzelle ‒ obwohl Sie doch sonst wirk‐
lich mit der Weltflüchtigkeit solcher Men‐
schen nichts gemeinsam haben!” ‒
*
.Da der Weißbärtige, der sich mittlerweile
eine Virginia angezündet hatte, aus der er
dicke Rauchwolken sog, augenscheinlich
jetzt lieber zuhören als reden mochte, nahm
der Jüngere wieder das Wort und sprach:
.„Wohl kann ich es begreifen, daß man‐
ches an mir Ihnen widerspruchsvoll er‐
scheint, aber andererseits finde auch ich kei‐
nen Grund, weshalb ein Mann, der so das
Leben kennt wie Sie, gerade vor allem Über
sinnlichen sich der Klarheit seines Blickes
selbst beraubt, nur weil es ihm nun einmal
als ausgemachte Tatsache gilt, daß es derlei
Dinge nicht geben könne!
.Warum versuchen Sie nicht selbst diesen
15 Das Geheimnis
Dingen auf den Grund zu kommen, oder sich
wenigstens zu überzeugen, daß Andere ein‐
wandfreie Beweise erhielten?!
.Mir scheint solche voreingenommene Skep‐
sis wieder sehr schlecht zu Ihrem sonstigen
Wesen zu passen, nachdem Sie mir doch oft
genug erklärten, daß nur Erfahrung Ihnen
als ausreichender Grund für jede Erkenntnis
gelten könne! ‒”
*
.Und der Andere gab ihm die Antwort:
.„Ja, wenn es hier Erfahrungen zu machen
gäbe, die man jederzeit nachprüfen kann!
.So aber braucht man zu alledem, was Ihr
hier 'Erfahrung' nennt, die seltsamste Vor‐
bereitung und weiß hinterdrein immer noch
nicht, ob man nicht doch genarrt wurde!
.Außerdem aber ist mir dieser ganze Er‐
fahrungskomplex in tiefster Seele zuwider!
.Was kommt denn bestenfalls dabei her‐
aus?! ‒
.Angenommen, Sie selbst und die Gewährs‐
männer unseres verehrten Freundes seien
16 Das Geheimnis
tatsächlich nicht getäuscht worden, so wer‐
den Sie mir doch zugeben, daß alle die be‐
richteten Phänomene außerordentlich al
bern und praktisch wertlos sind!
.Was soll mir zum Beispiel ein tanzender
Tisch, der gelegentlich auch nach dem Al‐
phabet ganze Predigten herunterklopft?
.Mir ist ein Tisch, der feststeht, wie dieser
hier, entschieden lieber, und es scheint mir
mehr der Natur eines Tisches zu entsprechen,
festzustehen, statt zu tanzen!
.Will ich aber eine fromme Predigt hören,
so gibt es dazu alle Sonntage bessere Ge‐
legenheit; und wenn der Prediger dann
nichts taugt, so weiß ich doch wenigstens, mit
wem ich es zu tun habe!
.Meinetwegen mag es Kräfte geben, die
ihrer selbst bewußt sind und sich herbei‐
lassen, auf Wunsch Tische tanzen zu lassen
oder salbadernde Offenbarungen zu klopfen,
‒ dann aber verbitte ich mir das Eindringen
dieser Herrschaften in meinen wohlgerunde‐
ten Lebenskreis, und wenn es ihnen jemals
17 Das Geheimnis
einfallen sollte, ihn stören zu wollen, ohne
gerufen zu sein, dann bin ich überzeugt, daß
ich ihrer Herr werde!
.Besser mit Kindern 'Blindekuh' spielen,
als dieses Gelichter, falls es wirklich existiert,
auch noch selbst herbeizurufen!
.Und was ist's mit all den anderen Phäno‐
menen?
.Da sitzt, nach den Erzählungen, so irgend‐
ein armer Kerl, oder ein halbhysterisches
Frauenzimmer ‒ Eure sogenannten 'Me‐
dien' ‒ die halbe Nacht, in einem mehr oder
weniger seiner Sinne gerade noch mächtigen
Zustand, vor Stößen von Schreibpapier und
bewundert erstaunt, was seine Hand auto‐
matisch niederschreibt als Kunde aus der
'Geisterwelt', oder gar als angebliche 'gött‐
liche Offenbarung'. ‒
.Bei Licht besehen ist dann das ganze Ela‐
borat eine Beispielsammlung von Platti‐
tüden, oder, wenn es hoch kommt, ein Sam‐
melsurium aus allerlei frommen Traktätchen
und halbverdauten philosophischen Brocken.
18 Das Geheimnis
.Ich muß sagen, daß mir keine Höllen‐
strafe, die sich die Alten ausgedacht haben,
so entsetzlich erscheinen kann wie die Vor‐
stellung, ein Mensch, der ein halbwegs an‐
ständiges Leben hinter sich hat und dann für
immer die Augen schließt, könne im Jenseits
auf diese Weise zur Freibeute irgendwelcher
Leute unter den Zurückbleibenden werden,
denen an der Erlangung solcher Botschaften
gelegen ist.
.Geradezu gotteslästerlich aber wird die
Sache, wenn derartiges Zeug, als göttliche
Offenbarung ausgegeben, die Gehirne be‐
nebelt!
.Zum Teufel, wo er hingehört, mit einem
'Gott', der nichts Besseres zu sagen hat und
diese Irrlichtereien braucht um sich mit‐
zuteilen!
.Was Euch aber offenbar am meisten impo‐
niert: diese physikalischen Kunststücke und
das Materialisieren menschlicher Formen, so
fällt das für mich am allerwenigsten ins Ge‐
19 Das Geheimnis
wicht, denn hier kann ich als Physiker auch
noch mitreden, und wenn ich einmal anneh‐
men will, daß keine Beobachtungsfehler vor‐
liegen, daß Ihre 'Medien' auch nicht schwin‐
delten, dann stehe ich hier bestenfalls vor
Bekundungen eines noch unentdeckten Tei‐
les der physischen Welt, aber keineswegs
habe ich es mit dem 'Geisterreich' zu tun!
.Wenn ich es nicht verstehen kann, daß ein
vernünftiger Mensch mit gesunden Sinnen
dieses Pseudogeistertheater ernst nimmt, so
soll dies durchaus kein Leugnen der beob‐
achteten Erscheinungen sein.
.Ich verwahre mich nur gegen die Erklä
rung dieser Manifestationen, als seien es
Zeugnisse für die Existenz einer geistigen
Welt, und es ist mir unfaßbar, wenn ein
Mensch mit einiger Kritikfähigkeit hier nicht
merkt, woran er ist!
.Ich bin wirklich keinem religiösen Dogma
mehr verpflichtet, aber gegenüber der Be‐
griffsverwirrung, die dieses angeblich 'nach‐
weisbare' Jenseits Ihrer okkulten Phäno‐
20 Das Geheimnis
mene anrichtet, erscheinen mir doch die
frommen Geschichten, die meine Kinderzeit
mit Poesie und himmlischem Glanz um‐
gaben, voll reinster Weisheit!
.Welcher Wust von Aberglaube wird da
heute für den kernhaften frommen Glauben
der Alten eingetauscht! ‒ ‒
.Wenn ich mich nicht mit den okkulten
Phänomenen beschäftige, mein junger
Freund, so geschieht es wahrhaftig nicht aus
Ignoranz, sondern weil mir das Zeug zu
dumm ist, weil ich Besseres zu tun habe,
als die Offenbarungen derartiger 'Geister'
zu erforschen!
.Ich trage in mir eine zu hohe Vorstellung
vom menschlichen Geiste, als daß ich ihn
eines solchen Verkommens für fähig halten
könnte, wie es nötig wäre, wenn diese Theo‐
rien stimmen würden, und wir hätten es bei
irgendwelchen okkulten Phänomenen mit
den Geistern ehemaliger Erdenbewohner zu
tun!
.Ich bin kein Theologe und weiß infolge‐
21 Das Geheimnis
dessen auch nichts mit den Formeln anzu‐
fangen, mit Hilfe derer man die Gottheit
analysieren zu können glaubt wie ein che‐
misches Präparat, aber: ich glaube 'Gott'
in mir zu fühlen, und darum erscheint es
mir wie die greulichste Blasphemie, wenn
man die Stimmen, die aus diesen ewigen
Nachtgefilden der Natur herüberraunen,
auch gar noch als 'Gottesoffenbarungen' wer‐
tet, die Bibel und anderer Völker heilige
Schriften zum 'Beweis' heranziehen will,
oder gar das religiöse Genie, sofern es sich
in großen Menschengestalten zeigte, mit 'Me‐
dien' und Somnambulen vergleichen möchte!
.Das alles ist mir zu absurd, und da ich
keinerlei geistigen Gewinn für die Mensch‐
heit herausschauen sehe, auch wenn in allen
Häusern den okkulten Phänomenen nach‐
geforscht würde, ‒ dagegen unermeßlichen
Schaden dadurch verursacht wüßte, ‒ so
glaube ich, daß es besser wäre, man ließe die
Hände von diesen Dingen, zumal es ja noch
22 Das Geheimnis
genug in der Natur zu erforschen gibt, und
unsere eigene Seele auch den Klügsten noch
ein Buch mit sieben Siegeln ist! ‒ ‒
.Vielleicht, liebe Freunde, werden Sie mich
jetzt besser verstehen!? ”
*
.Noch während der also Redende sich ver‐
nehmen ließ, konnte man auf dem Antlitz
des Jüngeren den immer mehr sich verstär‐
kenden Ausdruck überraschter Freude be‐
merken, während der Ältere öfters bedächtig
das Haupt zur Seite neigte und in allem er‐
kennen ließ, daß er während der ganzen Er‐
örterung nach Gegengründen suchte, da‐
mit seine eigene Auffassung nicht aus dem
Felde geschlagen werde.
.Kaum war dann das letzte Wort verklun‐
gen, so begann er mit seiner Erwiderung:
.Diese Auffassung der Dinge lasse sich ja
begreifen, meinte er, obwohl sich vielleicht
doch auch noch allerlei Einwände machen
ließen, ‒ aber alles, was da zur Sprache ge‐
kommen sei, betreffe doch lediglich den so‐
23 Das Geheimnis
genannten „Spiritismus”, während ‒ was
sein Freund offenbar nicht wisse ‒ der
eigentliche wissenschaftliche Okkultist allen
diesen Phänomenen nur als Beobachter
gegenüberstehe und sich, sofern er ernst zu
nehmen sei, vorläufig jeder Hypothese ent‐
schlage, die etwa von anderer Seite zur Er‐
klärung herangezogen werde.
.Es seien doch auch von verschiedenen,
sehr bedeutenden Gelehrten Erscheinungen
an Somnambulen beobachtet worden, bei de‐
nen selbst die geistergläubigsten „Spiri‐
tisten” keinesfalls an die Mitwirkung von
„Geistern” dächten.
.Und er setzte seinen Gedankengang fort
indem er sprach:
.„Meinetwegen sollen Sie, was die 'Geister'
verstorbener Menschen anlangt, oder die
'göttlichen Offenbarungen' die man so zu er‐
halten glaubt, völlig Recht behalten, aber ‒
sollte es nicht doch möglich, ja höchstwahr‐
scheinlich sein, daß der Okkultismus be‐
rufen ist, die Existenz der Seele schon im
24 Das Geheimnis
diesseitigen Leben mit Evidenz zu be
weisen?!
.Man hat doch zum Beispiel Somnambule
im Tiefschlaf ausgefragt und es zeigte sich,
daß man so zu immer verborgeneren Regio‐
nen des Innern vordringen konnte, wobei
dann eine andere, höherstehende Wesenheit,
und später eine noch weit höherstehende
aus der Somnambule sprach, so daß man den
Eindruck erhält: je mehr das äußere Be‐
wußtsein verdunkelt wird, desto deutlicher
offenbart sich etwas anderes, das im ge‐
wöhnlichen Tageserleben nicht wahrnehm‐
bar ist.
.Damit aber wäre doch sozusagen der Be‐
weis für ein das Erdenleben überdauerndes
Geistiges voll erbracht!”
*
.Darauf beeilte sich nun der Jüngere zu
antworten und sprach:
.„Ich sehe mich in der seltsamen Lage, be‐
züglich der Dinge über die wir hier reden,
bei Ihnen Beiden Unterstützung zu finden
25 Das Geheimnis
und bemerke dennoch, daß ich mich Ihnen
Beiden deutlicher als es bisher geschah, er‐
klären muß, sollen wir nicht dauernd anein‐
ander vorbeireden!
.Zuerst möchte ich die eben erwähnten
Versuche mit Somnambulen des Näheren be‐
leuchten, und wenn ich dabei eine gewisse
Vertrautheit mit Dingen zeige, die den mei‐
sten Menschen unbeweisbar, unerleb
bar und unerklärbar dünken, so bitte ich
Sie, dies einstweilen hinzunehmen, bis eine
spätere Stunde mir erlaubt, Ihnen von der
Quelle meiner Erkenntnisse zu sprechen
und Ihnen Beiden dann einiges zu sagen,
was Ihnen durchaus unbekannt bleiben
müßte, fänden Sie nicht Gelegenheit, es von
einem zu hören, der es selbst erfahren hat. ‒
.Bezüglich der Somnambulen muß nun
auch ich mich als sachverständig bezeichnen
und muß mit allem Nachdruck einer Mei‐
nung entgegentreten, die hier an der Pforte
zum Geistesmysterium zu stehen glaubt!
.Es beweist nur, daß man noch nicht im
26 Das Geheimnis
entferntesten ahnt, was der Geist in
Wirklichkeit ist, daß man noch über keiner‐
lei wirkliche geistige Erfahrung verfügt,
wenn man glaubt, man könne in dem, was
aus einer im Tiefschlaf gebundenen Som‐
nambule spricht, dem wesenhaften Geiste
begegnen! ‒ ‒
.Ich stimme in allem dem zu, was vorhin
über die Unzulänglichkeit okkulter Phäno‐
mene gesagt wurde und es war ein offensicht‐
licher Irrtum, wenn man von mir glaubte,
ich sei der Beschäftigung mit solchen Mani‐
festationen ‒ sei es aktiv, oder auch nur als
Beobachter ‒ meinerseits zugetan.
.r einen, der die geistige Schulung durch‐
laufen durfte, die mir vergönnt war, haben
die Rätsel des Okkultismus allen Reiz
verloren! Der Nimbus des Verborgenen
und Unerklärlichen wurde ihnen im Ver‐
lauf dieser Schulung gründlich genom‐
men! ‒ ‒
.Wenn ich trotzdem einigen Wert darauf
lege, daß man die Tatsächlichkeit der
27 Das Geheimnis
Phänomene des Okkultismus erkenne, so ge‐
schieht dies deshalb, weil man ohne diese
Kenntnis Gefahr laufen kann, eines Tages in
verhängnisvollster Weise düpiert zu werden
und zwar gerade dort, wo man es am wenig‐
sten erwartet hatte. ‒
.Es ist mir sehr lieb, daß unser Gespräch
diese unerwartete Wendung nahm, dadurch,
daß vorhin Folgerungen eines nüchternen
Denkens ausgesprochen wurden, die sich fast
vollständig mit meinen geistigen Erfahrun
gen decken, ‒ jedenfalls aber sich ohne
Mühe mit den Ergebnissen meiner Erfah‐
rung vereinigen lassen.
.Jetzt kann ich sozusagen bei offenem Vi‐
sier zu Ihnen Beiden sprechen und werde
kaum zu befürchten brauchen, daß ich miß‐
verstanden werden könnte...
.Was also die Somnambulen betrifft,
durch deren Mund man Genaueres über Seele
und Geistigkeit des Menschen zu erfahren
hofft, so unterscheiden sich die mit ihnen an‐
gestellten Versuche in nichts Wesentlichem
28 Das Geheimnis
von einer 'spiritistischen' Sitzung, es sei
denn, man betrachte die wissenschaftliche
Aufmachung dabei als wesentlich! ‒
.Es sind die gleichen unsichtbaren phy
sischen Wesenheiten und mit Bewußtsein
begabten Kräfte, die hier wie dort ihren
Unfug treiben, sobald der Erdenmensch die
Gelegenheit dazu schafft. ‒ ‒
.Die Somnambule im Tiefschlaf ist nicht
anders die zeitweise Beute dieser dunklen
Gewalten, die wahrlich 'jenseits von Gut und
Böse' handeln, wie das sogenannte 'Medium'
in seinem 'Trance'-Zustand! ‒ ‒ ‒
.Nie wird ein Blick in wirkliche Geistes‐
welten getan: bei verdunkeltem irdischem
Sinnenbewußtsein des also Schauenden! ‒
.Ekstase, Verzückung, 'Trance' und
Somnambulismus sind nichts anderes als
Zustände körperlichen Aufruhrs, und
je mehr bei solchem Aufruhr die Herrsch‐
gewalt auf körperliche Komplexe übergeht,
die ihrer Natur nach nur unter straffer Bin
dung segensreich zu wirken fähig sind, desto
29 Das Geheimnis
tiefer wird der somnambule Zustand, desto
dichter wird die Zwischenwand, die das
eigentliche Ich-Bewußtsein von den Ge
hirnfunktionen scheidet, bis schließlich
Lemurenwesen der unsichtbaren, aber kei
neswegs 'geistigen' Welt den herrenlosen
körperlichen Organismus ihrem Willen un‐
terwerfen!
.Man wird dann aus dem Munde der Som‐
nambulen wie des Trance-Redners jeweils
das vernehmen, was dazu angetan ist, dem
Experimentator interessant zu erscheinen,
oder der gläubigen Gemeinde, sei es durch
edles Pathos, sei es durch triviale, aber der
vorherrschenden Glaubensrichtung ange‐
paßte Phrasen, ja sei es selbst durch Unflätig‐
keit, zu imponieren. ‒ ‒
.Was aus dem armen umnachteten Men‐
schen in solchen Zuständen spricht, hat ja
kein anderes Bestreben, als sich selbst
möglichst eindrucksvoll bemerkbar zu ma‐
chen und weiß oft mit größter Schlauheit
die Maske zu wählen, die ihm das meiste
30 Das Geheimnis
menschliche Interesse zu sichern vermag.
‒ ‒ ‒
.Auch der Ekstatiker erlebt den gleichen
Zustand wie die sogenannten 'Medien', nur
mit dem Unterschiede, daß bei ihm das Ich‐
Bewußtsein nicht allen Kontakt mit den
Gehirnfunktionen verliert und ihm nur die
äußere Leibesempfindung unwahr‐
nehmbar wird.
.Die 'geistigen' Welten, die er zu schauen
vermeint, sind nichts anderes als die Gebilde
seiner plastischen Phantasie, greifbar
und wirklich für ihn geworden durch die Vi‐
brationen krampfdurchtobter Nerven! ‒ ‒
.Es ist darum eine strenge Trennungs
linie einzuhalten, zwischen allen solchen
Methoden körperliche, abnorme Empfin‐
dungen zu erwecken, die dann als 'geisti
ges' Erlebnis gedeutet werden und dem
wirklichen Geisteserfahren, das stets nur
bei völlig ungetrübtem, ja bei gestei
gertem Körperbewußtsein erfolgt! ‒ ‒
31 Das Geheimnis
.Der sogenannte 'Okkultismus' ist ja
wahrhaftig keine Entdeckung der neueren
Zeit!
.Bei allen Völkern und zu allen Zeiten hat
man okkulte Phänomene gekannt.
.Noch keiner aber hat dieses dunkle Gebiet
betreten, es sei denn unter herrschafts
sicherer Leitung, der dort nicht am Nar‐
renseil herumgeführt worden wäre! ‒ ‒
.Für das Erfahren des wesenhaften Gei
stes ist ein solcher dann meist dauernd ver‐
loren.
.Was ihn festhält, läßt ihn gutwillig
nicht mehr los, und muß es ihn fahren las‐
sen, da er allmählich völlig ausgesogen ward
und nun nicht mehr brauchbar ist, so wurde
ihm vorher längst alle Kraft genommen,
mit deren Hilfe er sich wieder erheben
könnte. ‒
.Wenn Sie Beide, liebe Freunde, bis jetzt
glaubten, ich huldigte dem 'Okkultismus',
der Erforschung all der Phänomene, die in
unserem Gespräch bisher genannt wurden
32 Das Geheimnis
und mit denen sich zurzeit tatsächlich sehr
namhafte Gelehrte in verschiedenen Län‐
dern befassen, so waren Sie sehr im Irrtum!
.Ich mußte nur auch dieses Gebiet der
menschlichen Lebensäußerungen vor Zeiten
kennen lernen, weil es mein Guru so von
mir verlangte.”
.„Was ist das: 'mein Guru'? ‒” unter‐
brach der Physiker den Sprechenden, dem
das ihm selbst so gewohnte Wort sichtlich un‐
achtsam entglitten war.
.„Ich gestehe”, antwortete der Jüngere,
„daß ich nicht im Sanskrit bewandert bin,
aber der, den ich 'Guru' nenne, erzählte mir
einst, daß in seiner Heimat die Lehrer gei‐
stiger Entfaltung und Erweckung so genannt
werden.
.Guru soll etwa geistiger 'Vater' oder 'vä‐
terlicher Lehrer' bedeuten.
.Mich selbst nannte er 'Chela',* und obwohl
dies ganz allgemein nichts anderes als 'Schü‐
‒ ‒
* Chela: sprich = Tschela
33 Das Geheimnis
ler' heißen dürfte, erklärte er mir, daß diesen
Ehrentitel nur wenige empfingen, und daß
man in einer ganz besonderen Weise
Schüler seines Guru sein müsse, um mit Fug
und Recht auch bereits als sein angenomme‐
ner 'Chela' zu gelten.
.Er selbst war ein Meister der 'Weißen
Loge'.”
*
.„Also Freimaurer?” warf der Alte ein.
.„Nicht doch”, entgegnete der Junge.
.„Die Freimaurerei ‒ wenn man nicht nur
am Wort klebt, sondern die Sache selbst
meint ‒ könnte einigen Grund haben, sich
von der 'Weißen Loge' herzuleiten, aber die
geistige Gemeinschaft aus der mein Guru
stammte, hat nichts mit der Freimaurerei
zu tun. Im übrigen ist 'Weiße Loge' nur eine
äußere Bezeichnung dieser Gemeinschaft
und ihre Glieder selbst nennen sich 'Leuch
tende des Urlichts'. ‒
.Es kann keiner zu ihnen kommen, der
nicht vor seiner Geburt dazu bestimmt war.
34 Das Geheimnis
Aber die ihnen, ohne selbst zu ihnen zu ge‐
hören, in geistiger Weise am nächsten ste‐
hen, bezeichnen sie als 'angenommene Che‐
las'.
.Es sind solche Menschen, die eine beson‐
ders intensive Schulung im Geistigen durch‐
zumachen haben, weil sie ein psychophysi‐
sches Erbe in sich tragen, das sie zu mancher‐
lei verpflichtet, wozu andere nicht verpflichtet
sind.
.Erlassen Sie mir, mehr darüber zu spre‐
chen, denn wie Sie ja bereits hörten, haben
Sie einen solchen Chela vor sich. ‒
.Ich denke, es dürfte sich so manches, was
Sie zeitweilig an mir befremdete, durch diese
Mitteilung nun erklären! ‒”
*
.Der vor den Freunden so seltsame und
unerhörte Eröffnungen zu geben hatte, hielt
nun inne in seiner Rede und es entstand vor‐
erst eine tiefe Stille, so daß der Padrone ‒
wohl in der Meinung, seine Gäste wollten
sich entfernen ‒ aus seinem Versteck wieder
35 Das Geheimnis
auftauchte und als er seinen Irrtum sah, mit
überflüssiger Geschäftigkeit an den Fässern
zu hantieren begann, die im Hintergrunde
des Raumes auf einer Balkenunterlage ne‐
beneinander ruhten.
.Man konnte jetzt alles im Gewölbe aufs
deutlichste unterscheiden, denn die Augen
waren nun an das Dunkel gewöhnt und schon
die schmale Lichtritze, die der Vorhang an
der Türe ließ, schmerzte sie bereits, obwohl
die Sonne schon tief am Himmel stand und
sicherlich draußen längst lange Schatten
warf...
*
.„Da hört man ja merkwürdige Dinge!”
meinte der Untersetzte, den man für einen
halten konnte dem es nicht gar zu weit zu
den Fünfzig fehlt, und warf so mit seiner so‐
noren Baßstimme das erste Wort wieder in
die Stille.
.Sodann fuhr er fort:
.„Freilich wird mir jetzt manches an Ihnen
verständlicher, aber es wird doch noch eini‐
36 Das Geheimnis
ger Aufklärung bedürfen, bevor sich mir das
alles rundet!
.Sie reden da mit unglaublicher Sicherheit
von vielem, das für mich bisher recht unzu‐
gänglich war, doch das Schönste ist: ‒ daß
Sie mich eigentlich überzeugen, ohne mir
Beweise angeboten zu haben!
.Ich fühle, daß es sich mit alledem so ver‐
halten muß, wie Sie sagen, mögen Sie nun
imstande sein, dafür Beweise zu erbringen
oder nicht.
.Ihre Worte tragen eine eigentümliche Be‐
weiskraft in sich selbst! ‒ ‒
.Jetzt fängt aber das alles auch erst an, für
mich interessant zu werden!
.So etwas gibts also heutzutage inmitten
unserer nivellierten Welt?! ‒
.Wissen Sie, junger Freund, davon müssen
Sie uns noch mehr erzählen!
.Ich glaube zwar nicht, daß einer von uns
dazu bestimmt ist, der 'Chela' eines solchen
'Guru' wie Sie Ihren Lehrer nennen, zu wer‐
den, und vielleicht sind wir auch beide schon
37 Das Geheimnis
etwas zu alt dazu, aber bevor ich für meinen
Teil einmal von diesem, mir eigentlich im‐
mer recht liebenswert erschienenen Planeten
Abschied nehme, möchte ich ‒ falls solche
Dinge sich hier ereignen können ‒ doch
einigermaßen Bescheid darüber wissen, denn
alle Phänomene des Okkultismus zusammen‐
genommen interessieren mich nicht einen
Augenblick so sehr, wie diese verborgene
'Weiße Loge', oder wie sich die Gemein‐
schaft nennen mag, und dann die Tatsache,
daß man da also einem ganz normalen
Europäer begegnen kann, der in aller Stille
Erkenntnismöglichkeiten zu besitzen scheint,
von denen die übrige Menschheit ‒ wenig‐
stens heutzutage und bei uns ‒ so gut wie
nichts ahnt. ‒”
*
.„Auch ich”, ließ sich der Weißbärtige
vernehmen, „bitte sehr darum, uns weitere
Aufklärungen zu geben, ‒ besonders weil
mir im Lichte der gehörten Darlegungen
einige Hinweise, denen ich in der diesbezüg‐
38 Das Geheimnis
lichen Literatur gelegentlich begegnete, des
symbolischen Charakters entkleidet er‐
scheinen!
.Unser jüngerer Herr Kollege ist ja jetzt
durch die gemeinsamen Reise- und Er‐
holungstage, denen wir hier uns widmen
wollen, für einige Zeit mit uns zusammen,
so daß sich wohl Gelegenheit finden wird,
uns etwas tiefer in die Mysterien einzuwei‐
hen, denen er seine Erkenntnisse dankt!
.Im Augenblick scheint es mir dagegen ge‐
raten, ans Heimgehen zu denken, denn wenn
auch die Sonne jetzt nicht mehr brennend
auf uns lastet, so haben wir doch immerhin
anderthalb Stunden zurück bis zur Stadt. ‒
.Wir dürfen vielleicht unterwegs schon
einiges hören, das die uns bereits gewordenen
Mitteilungen ergänzen könnte? Ich habe da
ein paar ganz bestimmte Fragen auf dem
Herzen.”
*
39 Das Geheimnis
.Da die beiden anderen Männer den Vor‐
schlag, alsbald nach der Stadt zurückzukeh‐
ren, gut fanden, bereinigte man seine Zeche
und verließ gemeinsam, unter den nicht
endenwollenden Bücklingen des Padrone
und seinen, mit dem Wunsche eines baldigen
Wiedersehens verknüpften Segenssprüchen,
die dunkle Osteria.
.Unwillkürlich atmete man auf, als die
schon etwas abgekühlte Abendluft die Stir‐
nen bestrich.
.Das ganze Gelände lag wie unter einem
opalfarbenen Duft; Pinien und Zypressen
prägten ihre Silhouetten kräftig in den blaß‐
goldenen Abendhimmel, und das nahe Meer,
wie das Innere einer ungeheuren Perl‐
muschel schimmernd, verschmolz in kaum
geahnter Horizontlinie mit fernen milchig
bläulichen Lüften.
.Zuerst schritten die Wanderer einer
Gruppe von Eukalyptusbäumen zu, dem
Kreuzungspunkt zweier Wege, deren einer als
Fahrweg durch Felder und kleine Ölhaine,
40 Das Geheimnis
zwischen den nie fehlenden Weingirlanden
von Ulme zu Ulme, oder von Maulbeerbaum
zu Maulbeerbaum, nach der Stadt führte,
während der andere, den Fußgängern genuß‐
reichere und zudem kürzere, erst dem Meere
zustrebte, um dann dem Strande entlang,
bald steingepflastert noch von alten Zeiten
her, bald über Sand und Seetang, die ersten,
von Zypressen überragten Mauern der Parke
städtischer Villen zu erreichen.
.Wie auf Verabredung bog man nach rechts
in diesen Fußweg ein und mit steigendem
Wohlbehagen witterte jeder der Drei den
immer stärker wahrnehmbaren, herbfrischen
Meeresduft.
.Am Strande angelangt, hielten die Wan‐
derer unwillkürlich einen Augenblick an,
im stetig wieder neuen Erleben der Uner‐
meßlichkeit, vor der atlasglänzenden Was‐
serweite.
.Bisher waren nur vereinzelte Worte ge‐
fallen, deren Ursache das abendlich ver‐
änderte Bild der Umgebung war, oder die
41 Das Geheimnis
der Schönheit der ganzen Gegend, der süd‐
lichen Herrlichkeit italischer Landschaft gal‐
ten.
.Als man aber dann den Weg am Strande
eingeschlagen hatte, erinnerte sich der Weiß‐
bärtige seiner Fragen zu den merkwürdigen
Eröffnungen des Jungen, die diese Nach‐
mittagsstunden in einer ländlichen Osteria
ihm fast wertvoller erscheinen lassen woll‐
ten, als ein neuaufgefundenes, längst ver‐
schollenes Buch aus alter Zeit, obwohl er
stets nach solchen Schätzen alle ihm nur er‐
reichbaren Bibliotheken durchsuchte, und
ganz im geheimen immer noch der Meinung
war, es könne gar keine von Menschen je‐
mals gefundene Erkenntnis geben, die nicht
in einem Buche aufgezeichnet wäre.
.Heute erst waren ihm dennoch leise Zwei‐
fel gekommen, aber sie vermochten seine
Meinung noch nicht zu erschüttern.
.Vielleicht war das Buch, das hier alles
klärte, nur bis jetzt noch nicht in seine Hände
gelangt...
42 Das Geheimnis
DAS GESPRÄCH AM STRANDE
VERZEIHEN Sie, verehrter Herr Kol‐
lege”, wandte sich nunmehr der Alte
an den Jüngsten, „aber über all diese Dinge,
von denen Sie uns da heute sprachen, muß
es doch gewiß auch so etwas wie eine Spezial‐
literatur geben, die mir nur, trotz emsigsten
Suchens, bis zur Stunde noch entgangen
ist?!”
.Und als er auf diese Frage einem sehr er‐
staunten Blick des Jungen begegnet war,
fuhr er fort:
.„Ich meine nicht gerade, daß es eine mo
derne Spezialliteratur sein müsse, aber si‐
cherlich war das alles doch auch schon ein‐
mal Menschen bekannt geworden die in frü
herer Zeit lebten und es muß doch da Bü‐
cher geben, die ausführlicher zu orientieren
vermögen?
.Ich würde mich noch auf meine alten Tage
an das Studium des Sanskrit heranmachen,
das ich leider über allem anderen früher ver‐
absäumt habe, wenn Sie mir, vielleicht durch
Andeutungen Ihres orientalischen Lehrers
45 Das Geheimnis
darauf hingewiesen, hier bestimmte Anhalts‐
punkte geben könnten! ‒ Die Bücher selbst
würde ich mir dann schon zu verschaffen
wissen.
.Es ist doch noch alles was jemals den Men‐
schengeist beschäftigte, auch in Büchern
niedergelegt worden, und bei allem Glauben,
den ich Ihren Ausführungen schenke, wäre
es für mich noch von ganz besonderem, ja
unschätzbarem Wert, wenn sich das, was Sie
uns sagten, durch unangreifbare alte Text‐
stellen belegen ließe und sozusagen autorita‐
tive Bestätigung fände!
.Man mag sagen, was man will, aber die Be‐
hauptung eines einzelnen hängt gewisser‐
maßen immer in der Luft, und erst wenn
man weiß, wie man sie quasi geschichtlich
einzuordnen hat, kann man sich ein gehöri‐
ges Urteil bilden! ‒”
*
.Das Erstaunen im Gesichtsausdruck des
Jüngeren hatte sich während solcher Rede
womöglich noch verstärkt, und ehe auch nur
46 Das Geheimnis
der Zweite, dem ebenfalls eine Entgegnung
auf den Lippen zu liegen schien, zu Worte
kommen konnte, begann er mit einem nur
schlecht unterdrückten ironischen Lächeln:
.„Sie meinen also, wenn ich Sie recht ver‐
stehe, daß man in diesem Erdendasein nichts
erleben dürfe, was nicht durch die Stellung‐
nahme irgend eines früheren, zu erleben er
laubt würde?!?”
.Und der Alte fiel ihm ins Wort:
.„Nein, mein junger Freund, so dürfen Sie
das, was ich sagte, nicht gleich auffassen!
.Sie wissen aber doch selbst, daß in der
Welt jede wissenschaftliche Erkenntnis erst
dann so recht zur Geltung kommt, wenn sie
sich auf die Autorität bewährter Vorgänger
zu stützen vermag!”
*
.„Selbst in bezug auf das, was man 'Wissen‐
schaft' nennt”, erwiderte der Jüngere, „wer‐
den Sie diesen Satz, der ja einige Berechti‐
gung hat, nicht verallgemeinern dürfen!
47 Das Geheimnis
.Bei dem, was ich Ihnen aber heute sagte,
handelt es sich keineswegs um eine 'Wissen‐
schaft', und ebensowenig um einen 'Glau‐
ben', sondern um etwas, das nun einmal
praktisch gegeben ist, und praktische
Durchführung verlangt, will man zu Re‐
sultaten kommen! ‒ ‒
.Ich muß leider Ihre Frage nach einer älte‐
ren diesbezüglichen Spezialliteratur vernei‐
nen! Wohl würden Sie, auch ohne angenom‐
mener Chela eines wirklichen Guru zu sein,
auf sehr bemerkenswerte Bestätigungen in so
manchem alten Schriftwerk und besonders
auch in den heiligen Schriften der großen
Weltreligionen stoßen, wenn Sie sich an die
Lehren der 'Weißen Loge' halten und unter
ihre unsichtbare Leitung stellen wollten,
allein Sie würden vergeblich die Welt nach
einem Buche durchsuchen, das diese Lehre
in früherer Zeit im Zusammenhang auf ge‐
zeichnet hätte!
.Erst in unseren Tagen fand man sich be‐
48 Das Geheimnis
wogen, die hier berührte Lehre der Schrift
zu vertrauen für alle kommenden Zeiten, um
auf solche Weise zum ersten Male der Welt
den Einblick in das Wirken der 'Weißen
Loge' zu vermitteln, durch einen Europäer,
der selbst zu dieser Gemeinschaft ge
hört, und dem der ausdrückliche Auftrag
wurde, die Lehre in mannigfacher Form zu
verkünden. ‒
.Sobald Ihre Denkweise dazu genügend
vorbereitet ist, werden Sie diese Lehrschrif‐
ten erkennen und zu nützen wissen. ‒ Es
besteht hier wahrlich keine Gefahr der Ver‐
wechslung, besonders wenn Sie das alles
aufgenommen haben, was ich Ihnen in der
Zeit unseres Zusammenseins noch werde sa‐
gen dürfen! Von dieser Selbstbekundung
der 'Leuchtenden' abgesehen, werden Sie je‐
doch nur erschlichener und verzerrter
Kunde über die Meister der 'Weißen Loge'
begegnen, phantastischem Krimskrams und
den Zeugnissen abenteuerlicher Schwärme‐
rei! ‒ ‒
49 Das Geheimnis
.Eben weil in solcher Weise ein total kari
kiertes Bild dieser ehrwürdigen Geistesge‐
meinschaft gezeichnet wurde, das besonders
die Gehirne der westlichen Welt verwirrt,
sie auf falsche Fährte leitet und wüstem
Aberglauben ausliefert, hielt es die 'Weiße
Loge' an der Zeit, diesem Unfug entgegen‐
zutreten, und da sie niemals etwas Schäd‐
liches bekämpft, auch wenn sie es beim
rechten Namen zu nennen pflegt, so steuert
sie dem Wahn lediglich dadurch, daß sie
durch eines ihrer Glieder, das die nötigen
Voraussetzungen besitzt, die Wahrheit vor
aller Augen darstellen läßt.”
*
.Nachdem der Jüngere geendet hatte und
der Weißbärtige sich offenbar zu keiner Ge‐
genrede bereiten wollte, nahm der Andere
das Wort, der gleich dem Alten bisher mit
größter Aufmerksamkeit zugehört hatte, und
er begann:
.„Demnach gibt es auch in Europa Ange‐
hörige Ihrer 'Weißen Loge' und es wäre doch
50 Das Geheimnis
das Einfachste, einen aufzusuchen und sich
von ihm belehren zu lassen?!”
.„Abgesehen davon” erwiderte der Jün‐
gere, „daß Ihnen kein Angehöriger der 'Wei‐
ßen Loge' mehr sagen würde, als was Sie
nach seiner Beurteilung zur Zeit vertragen,
‒ abgesehen auch davon, daß Sie durchaus
nicht erst einen Meister der 'Weißen Loge'
kennen müssen, um sich unter ihren Einfluß
stellen zu können, ja, daß eine solche äußere
Bekanntschaft für den, der noch nicht selbst
gefestigt genug ist, eher ein Hindernis als
eine Förderung bedeuten könnte, ‒ habe
ich auch nur von einem einzigen Europäer
gesprochen, der ihr zugehört!
.Außer ihm, der ein Mensch ist wie wir
und es beinahe ängstlich vermeidet, in sei‐
nem alltäglichen Leben sich irgendwie an‐
ders zu gehaben als andere Menschen seines
Standes und Lebenskreises, werden Sie zur‐
zeit keinem anderen Gliede der 'Weißen
Loge' außerhalb Asiens, oder allenfalls
51 Das Geheimnis
Nordafrikas und Arabiens, begegnen
können.”
.„Sie wollen doch damit nicht sagen”, er‐
widerte der Weißbärtige, „daß der Mann
etwa in einer Stadt Europas, mitten in der
Welt lebt, sich ihren Konvenienzpflichten
unterwirft, unseren Lebensgewohnheiten
huldigt, die Genußmittel des Lebens liebt,
die uns anderen sozusagen fehlen würden,
wenn wir sie entbehren müßten, kurzum:
daß er sich in seiner Lebensführung in nichts
von einem unserer Art unterscheidet?! ‒”
.Eben das wollte ich mit meinen
Worten betonen”, antwortete der Jüngere,
„aber aus Ihrer Zwischenfrage höre ich, daß
auch Sie sich diese Meister der 'Weißen Loge'
nur als Halbgötter vorstellen können und
wohl sehr erstaunt wären, einem davon, der
irgendwo in Asien lebt, zu begegnen, wie
er gleich einem biblischen Patriarchen in‐
mitten seiner vierzehn Kinder und vieler
52 Das Geheimnis
Enkel, noch rüstig und frisch, seinem kunst‐
vollen Gewerbe obliegt, in hohem Wohl‐
stand, den er sich durch seine Kunstfertig‐
keit und durch das Geschick, mit dem er
seine Erzeugnisse zu verwerten wußte, er‐
warb. ‒ ‒
.Ebenso, wie ich Ihnen heute schon sagte,
daß wirkliche Geisteserfahrung das äußere
Sinnenbewußtsein eher schärft, als ver‐
dunkelt, so muß ich Ihnen jetzt auch sagen,
daß ein Mensch der höchsten, auf Erden nur
unter gewissen Bedingungen überhaupt
möglichen, geistigen Erkenntnis, durch‐
aus nicht etwa für das äußere Leben un‐
brauchbar wird, sondern die ihm von Natur
her für dieses Leben gewordenen Gaben, erst
recht in der intensivsten Art zu nützen weiß!
.Es müßte auch eine klägliche 'Geistigkeit'
sein, die von dem Menschen, dem sie zuteil
wird, verlangen würde, daß er auf die ethisch
nicht ausdrücklich verwerflichen Annehm‐
lichkeiten des Erdenlebens verzichte, nur um
53 Das Geheimnis
dieser Geistigkeit keine Gefahr zu berei‐
ten! ‒
.Alles, was durch solche Hingaben und
Opfer irdischer Annehmlichkeiten erhan‐
delt werden kann, hat mit dem wirklichen
Geiste nicht das Allermindeste zu tun!
.Es ist geradezu ein Kennzeichen
derer, die im Geiste erweckt und le
bendig wurden, daß sie sich durch
keinerlei Absonderlichkeiten im Auf
treten und in der Lebensweise von
ihren Zeit- und Landesgenossen un
terscheiden, daß sie leben wie jeder
andere ehrbare Mensch, und allen
Weltverbesserungsideen ferne blei
ben, wohl wissend, daß es keine Le
bensform des Menschen auf der Erde
gibt, die seine geistige Erweckung
hindern könnte, daß sie aber wohl
gehindert werden kann, durch die
allzu große Sorge um die Formen ir
dischen Gemeinschaftslebens, auch
54 Das Geheimnis
wenn diese Sorge edelsten Motiven
entspringt! ‒”
*
.„Das alles”, warf nun der Physiker ein,
„klingt ganz so, wie ich es erwartet hätte,
wäre mir vordem etwas von dem Dasein sol‐
cher leibhafter Geistesmenschen bekannt ge‐
worden!
.Wenn mich irgend etwas an den Konven‐
tikeln heutiger Zeit, die da vorgeben, ihre
Anhänger zum Geiste zu führen, abstieß, ja
anwiderte, so war es die namenlose Furcht
dieser Leutchen vor jeder kraftvollen Äuße‐
rung der Lebensbejahung!
.Ich weiß nun einmal mit einem 'Geist'
nichts anzufangen, der seine Anhänger zu
ängstlichen Furchthasen macht, die sich
kaum getrauen einen Bissen zum Munde zu
führen, ohne die Sorge, er könne ihrer Ent‐
wicklung schaden, und die in allem mensch‐
lichen Tun versteckte Teufelsfallen vermu‐
ten!
.Dagegen muß ich sagen, daß ich mich mit
55 Das Geheimnis
Ihrer 'Weißen Loge' allmählich befreunde!
.Es ist mir nichts so Unerhörtes, daß Men‐
schen untereinander durch eine Art Äther‐
schwingungen oder Ähnliches in bewußter
Verbindung stehen könnten, und wenn ich
auch selbst das noch nicht als Mitbeteiligter
erlebte, so bin ich doch nicht borniert genug,
die Möglichkeit einfach in Abrede zu stellen,
zumal sie mir von einem Menschen bestätigt
wird, von dem ich, wie von Ihnen, junger
Freund, recht gut weiß, daß er kein Fasel‐
hans ist und genügend Selbstkritik besitzt,
um sich nicht irgendeinen Hokuspokus vor‐
machen zu lassen!
.Nehme ich aber die Möglichkeit solcher
geistiger Verbindung mit Hilfe irgendeiner
hypothetischen Schwingungsunterlage an ‒
ich muß hier unwillkürlich an die Hertz‐
schen Wellen denken ‒ dann kann mir ein
derartiger Anschluß an eine Art geistes‐
menschlicher Zentrale auf Erden ebenfalls
56 Das Geheimnis
einleuchten, und, falls er herzustellen ist,
nur höchst erwünscht sein, wenn er ähn‐
liche Erkenntniserweiterungen bewirkt, wie
ich sie heute an Ihnen wahrnehme. ‒
.Vielleicht darf ich Sie jetzt einmal rund‐
heraus fragen, wie Sie selbst diesen An‐
schluß gefunden haben, und ob ihn unser‐
einer auf gleiche Weise finden kann, einerlei
ob man zum 'Chela', wie Sie, qualifiziert ist,
oder nicht?!
.Sie sagten doch, dem Sinne nach, wenn ich
nicht irre, daß sozusagen jeder anständige
Mensch in den Stromkreis dieser geistes‐
menschlichen Meister, oder wie man sie nen‐
nen mag, gelangen könne?!?
.Damit wird die Sache praktisch bedeu
tungsvoll, und zum wenigsten wäre es mir
erwünscht, die Bedingungen zu kennen,
unter denen sich so etwas bewerkstelligen
läßt.”
.„Die gleiche Bitte möchte auch ich aus‐
sprechen”, ergänzte der Weißbärtige, den
man so wie er jetzt in der Dämmerung gegen
57 Das Geheimnis
den bereits kupferglänzenden Himmel stand,
leicht selbst für einen alten Orientalen hätte
halten können, obwohl seine Vorfahren in
der Bretagne zu suchen waren.
*
.„Gerne, meine verehrten Freunde, will
ich Ihrem Wunsche entsprechen”, meinte der
Jüngste der Drei, „aber ich glaube kaum,
daß ich Ihnen da heute abend noch Wesent‐
liches sagen könnte, denn wenn ich Sie wirk‐
lich mit alledem vertraut machen will, was
Sie zur Unterlage für Ihre eigene Urteilsbil‐
dung schließlich wissen müßten, werden wir
noch manche Stunde diesem Thema zu wid‐
men haben, und vielleicht wird es auch gut
sein, wenn ich frühere Tagebuchaufzeich‐
nungen zuhilfe nehme, die mir so wertvoll
‒ fast möchte ich sagen: so heilig ‒ sind,
daß sie mich stets auf allen meinen Reisen
begleiten.
.Ich freue mich von ganzem Herzen, daß
Ihr Interesse an diesen Dingen erwacht ist
und daß ich nun auch in dieser Beziehung
58 Das Geheimnis
ganz offen zu Ihnen reden darf, denn es war
mir immer ein peinliches Gefühl, daß ich
bei aller Herzlichkeit unserer Beziehungen,
die ja auch der Ausführung dieser gemein‐
samen Reise zugrunde liegen, stets etwas vor
Ihnen zu verbergen hatte. ‒
.Sie werden aber wohl begreifen, daß man
über solche Dinge nicht mehr spricht, als
unbedingt nötig ist, solange man noch an‐
nehmen muß, jede derartige Äußerung
könne in den anderen die Befürchtung aus‐
lösen, man sei geistig nicht mehr ganz zu‐
rechnungsfähig! ‒”
*
.Nach diesen letzten Worten einigte man
sich, daß man nun möglichst jeden Tag
einige stille Stunden bestimmen wolle, um
in südlicher Sonnenklarheit im Freien ver‐
eint, allem zu lauschen, was der 'Chela' über
die ihm gewordenen Aufschlüsse zu sagen
haben mochte.
.Man war im Verlauf solchen Gespräches
bereits zwischen hohen Parkmauern ange‐
59 Das Geheimnis
langt, die sich zu beiden Seiten des Weges
hinzogen, zuweilen unterbrochen durch ein
höheres Portal in geschwungenen Linien,
umrahmend ein kunstvoll geschmiedetes,
längst verrostetes Eisengitter, durch das hin‐
durch der Blick die filigranartigen Silhouet‐
ten schlanker Oleanderzweige, dunkeltiefe
Laubmassen des Lorbeers, und zuweilen auch
eine noch immer in die Abendstille plät‐
schernde Fontäne gewahrte.
.Dann kam eine enge, schier endlose Gasse,
wie zusammengedrückt durch die hohen ka‐
stellartigen Häusermassen, so daß man durch
die enge Schachtzeile oben nur noch einen
von Dachvorsprüngen zerhackt eingefaßten
Streifen Himmel gewahrte, an dem da und
dort die ersten Sterne aufblinkten.
.Die Stille, durch die man bisher geschrit‐
ten war, wurde mehr und mehr von lauten
Rufen, Karrengeknarre und Fragmenten
fröhlicher Rede aus erleuchteten Gewölben
durchlöchert; in Falsettönen trällerte irgend‐
ein mit seinem Tagewerk zufriedener Sohn
60 Das Geheimnis
des Südens die gerade beliebte Melodie; im‐
mer mehr Passanten zwängten sich durch die
Enge, bis man sich fast unvermittelt auf dem
volkbelebten gravitätisch vornehmen Markt‐
platz einer kleinen, aber einwohnerreichen
südlichen Stadt befand.
.Die überreichlichen Schätze der Obst‐
händler quollen dann förmlich aus dem In‐
nern der Verkaufshallen hervor, man sah
hellerleuchtete Barbierläden mit blitzenden
Spiegeln fast tapeziert, daneben Auslagen
mit bunten Seidenbändern, andere mit ap‐
petitlich aufgeschichteten Wurstwaren, vie‐
lerlei Käse und ganzen Arsenalen von lang‐
halsigen Chiantiflaschen; dann gab es eine
„Farmacia”, allwo der Eingang von zwei
übermäßig hohen, schmalen Schaufenstern
flankiert wurde, aus deren jedem ein riesiger
Glasballon, der eine mit roter, der andere
mit grüngefärbter Flüssigkeit gefüllt, her‐
vorglühte, und schließlich fehlte auch das
unvermeidliche „Kino” nicht, dessen grelle
Plakate mit unglaublicher Lichtverschwen‐
61 Das Geheimnis
dung beleuchtet, ein feines Renaissancepor‐
tal gröblich verunzierten.
.Da und dort gewahrte man zwischen all
diesen Herrlichkeiten ein Kaffeehaus, dessen
Tische und Stühle weit, bis fast zur Mitte des
Platzes, herausdrängten, und den Mittel‐
punkt bildete eine Art Obelisk, der aus wo‐
genden Barockmassen inmitten rauschender
Wasserkünste emporstrebte und auf seiner
Spitze, wie man gerade noch erkennen
konnte, eine auf dem Halbmond stehende,
in metallenem Strahlenkranz gefaßte Ma‐
donna trug.
.Nur die eine Schmalseite der „Piazza”
blieb im Dunkel und hier erhob sich ein
mächtiges Bauwerk mit flachgegiebeltem Ab‐
schluß, aus dessen Türöffnung ein rotes Glü‐
hen und Kerzenschein drangen, nur dann
und wann durch die dunklen Gestalten Ein‐
und Ausgehender verdeckt.
.Daneben strebte in den klaren, nun schon
reichgestirnten Himmel ein schlanker Cam‐
panile, dessen Glocken in den freien hohen
62 Das Geheimnis
Rundbogen seines obersten Geschosses sich
auch jetzt noch deutlich vor der schwinden‐
den Abendhelle erkennen ließen.
.Hier trennten sich zwei der Freunde von
dem dritten, da sie nicht alle in der gleichen
Herberge wohnten und man an diesem Abend
auch nicht gesonnen war, der angenehmen
Ermüdung sich zu widersetzen, um etwa noch
länger zusammen zu sein.
63 Das Geheimnis
SANTO SPIRITO
WIE am Vortag bereits verabredet wor‐
den war, verließen die drei Freunde
in der Morgenhelle die Stadt, um ein nicht
allzuweit gelegenes Kloster aufzusuchen, das
aus der hügeligen Umgebung wie ein Wahr‐
zeichen aufragte, hoch auf einen isolierten
Felskegel getürmt, so daß es fast eher einem
trutzigen Kastell, als einer Stätte des Gebets
und des Friedens glich.
.Dort oben sollte man eine wundervolle
Aussicht genießen über die ganze, mit male‐
risch hingelagerten Dörfern und Flecken be‐
säte Hügelkette und über das weithin durch
eine ausgedehnte Bucht umsäumte Meer.
.Der Aufstieg aber, ein alter, mit den Statio‐
nen der Leidensgeschichte des Erlösers fromm
geheiligter Wallfahrtsweg, wurde als ziem‐
lich beschwerlich und meist schattenlos ge‐
schildert, so daß man darauf bedacht war,
das Kloster, woselbst man auch leibliche
Erquickung finden konnte, möglichst noch
vor dem Höchststande der Sonne zu errei‐
chen.
67 Das Geheimnis
.Sodann wollte man während der heißesten
Tagesstunden dort oben im Freien ruhen
und womöglich das gestern so verheißungs‐
voll begonnene Gespräch fortsetzen, um
dann erst am späten Nachmittag wieder zur
Stadt zurückzukehren.
.Mit einigem Mundvorrat ‒ soweit er sich
in den Taschen unterbringen ließ ‒ hatte
man sich zur Not versehen, wobei man auch
die saftreichen Früchte des Landes nicht un‐
beachtet ließ.
.So wanderten die drei Männer ‒ der
jüngste in der Mitte ‒ frisch ausschreitend,
zuerst über eine fast schnurgerade, staubige
Landstraße dahin, auf der sich trotz der frü‐
hen Stunde die Sonnenwärme schon recht
fühlbar machte.
.Der Weizen nebenan auf den Feldern
stand schon hoch in grünen Ähren und jeder
schmale Landstreifen wurde gleichsam ein‐
gefaßt von hängenden Weinreben, die sich
an niederen Ulmen und gelegentlich auch an
Maulbeerbäumen hochrankten, so daß es oft
68 Das Geheimnis
den Anschein gewann, als sei der ganze Baum
ein Weinstock, da sein eigenes Laub fast völ‐
lig unter den Blättern der Rebe verschwand.
.Dazwischen gab es auch Artischockenfelder
und Äcker mit anderen Gemüsearten, dann
wieder wildes Buschwerk an schmalen Was‐
sergräben, hoch überragt von jungen, schlan‐
ken Pappeln, deren Laubwerk man längs des
Stammes entfernt hatte, so daß ihre Kronen
wie Büschel auf hohen Stielen in den silber‐
weißen, seidenglänzenden Himmel standen.
.Rechts, nach der Seite des Meeres zu,
dehnte sich weithin dann üppiges Wiesen‐
land, stellenweise durchzogen von niederen
verkrüppelten Weidenstämmen, und in der
Ferne am Strande gewahrte man ein paar
halbzerfallene Fischerhütten.
.Aus der türkisfarbenen Meeresfläche aber
leuchteten einige ockergelbe und orangerote
Spitzsegel auf, die völlig unbewegt an ihre
Stätte gebannt zu sein schienen.
*
69 Das Geheimnis
.Die drei Wanderer waren offenbar noch
nicht recht zum Sprechen angeregt, und so
kam es, daß sie meist ohne zu reden ihre
Augen schweifen ließen.
.Nur dann und wann wurden kurze Worte
gewechselt, sei es, daß irgendein Gegenstand
des einen oder anderen Interesse erregt hatte,
oder daß man seinem Verwundern Ausdruck
gab, zu so früher Stunde schon die Strahlen
der Sonne derart kräftig zu verspüren.
.Es mochte so eine gute Stunde, oder auch
etwas mehr, vergangen sein, als man sich an
einem kleinen Bildstock angelangt fand, ne‐
ben dem der Seitenweg abzweigte, der jetzt
einzuschlagen war, wollte man dem immer
noch beträchtlich entfernten Felskegel näher
kommen, dessen Schattenseite, in milchigen
Duft getaucht, ihn jetzt wie eine brutale Ku‐
lisse aus dem sanft geschwungenen Hügel‐
gelände emporsteigen ließ.
.Zum wenigsten war man nun der allzu‐
ermüdenden Gleichförmigkeit der staubigen
Landstraße entronnen und es währte auch
70 Das Geheimnis
nicht lange, bis der mäßig ansteigende und
mannigfach gewundene Weg sich durch hohe
Busch- und Baumgruppen, Fliederbüsche
und Kastanienhaine, emporgeleiten ließ, die
immerhin einigen, recht wohltuend empfun‐
denen Schatten spendeten.
.So hatten sich die drei Wanderer allmäh‐
lich dem Fuße des Felskegels immer mehr
genähert, als man vor dem eigentlichen An‐
stieg, an einer dürftig rinnenden steingefaß‐
ten Quelle kurze Rast zu halten beschloß.
.Hier war man schon unterhalb einer jäh
aufragenden Felswand, von der wohl eine
Erderschütterung einige Blöcke herunterge‐
schleudert haben mochte, die nun, mit wei‐
chem Moose bedeckt, die erwünschtesten
Ruhesitze, im dichten Schatten des Berges,
unter mächtigen Walnuß- und Kastanien‐
bäumen boten.
.Rings umher war der steinige Boden dicht
überschüttet von den Stachelhülsen und zahl‐
losen, bereits geschrumpften, vertrockneten
Früchten der Kastanie ‒ dazwischen
71 Das Geheimnis
knirschten unter den Füßen die zertretenen
Nußschalen, und man konnte gut bemerken,
daß diese schattige Stelle schon so mancher
Wallfahrerprozession als Rastplatz gedient
haben mochte, bevor sie den sündentilgen‐
den Steilweg, zwischen den Kreuzwegstatio‐
nen empor, zum hohen Kloster beschritt.
.Wenn auch das Wasser nur recht spärlich
zurzeit aus der Steinröhre der Quelle sickerte,
so dünkte es doch den drei Männern als ein
gar köstliches Labsal, und jeder wartete stets
wieder geduldig bis der Reisebecher sich ge‐
füllt hatte, um ihn dann in einem Zuge zu
leeren.
.So war unter allerlei frohen Worten, wie
sie bei derlei Gelegenheit sich von selbst er‐
geben, geraume Zeit vergangen.
.Man hatte sich genügend an dem Mitge‐
führten und dem Wasser der Felsenquelle
erfrischt und fand es nun geraten, wieder auf‐
zubrechen, um den Büßerweg emporzuklim‐
men.
*
72 Das Geheimnis
.Wenn Menschen, die sich etwas zu sagen
haben, längere Zeit nebeneinander gingen
und im Schweigen verharrten, so geht ihnen
das Wort nicht bald wieder verloren, so sie
es nur erst aufs neue fanden!
.Das war auch an den drei weltlichen Wall‐
fahrern zu bemerken, die nun, nicht weit
von ihrem Rastplatze entfernt, bei einer
kleinen Kapelle der Schmerzensmutter die
ausgetretenen, in das Felsgestein gehauenen
unbequemen Stufen vor sich sahen, auf de‐
nen der Weg jetzt die andere Seite des Fels‐
kegels entlang, in praller Sonne und ohne
die mindeste Aussicht auf schattenspenden‐
des Gehölz, in unzähligen Serpentinen auf‐
wärts führte.
*
.„Etwas besser hätte ich mir diesen Weg
der Leidensstationen eigentlich doch vor‐
gestellt”, meinte der Weißbärtige, obwohl er
trotz seines Alters bis jetzt gezeigt hatte, daß
er es auch mit dem Jüngsten der Drei noch
spielend aufnehmen konnte.
73 Das Geheimnis
.„Nun, es wird hoffentlich nicht immer in
dieser holperigen Treppenweise weiter‐
gehen”, erwiderte der andere, während der
Jüngere lachend einfiel und sagte:
.„Ich fürchte, wir sehen hier noch den ver‐
lockendsten Teil unseres Aufstiegs vor
Augen, und dort oben, wenn die Erquickung
am Ziele schon bald erreicht scheint, haben
uns die ehrwürdigen Väter des Klosters dann
erst das Schwerste aufgespart!”
.Aber der Weißbärtige gab ebenso lachend
zur Antwort:
.„Mich schrecken Sie mit Unkenrufen nicht
und vorläufig rechne ich mich noch lange
nicht zum alten Eisen! Ich komme schon
hinauf und wenn es eine Kletterei gibt wie
an einer Dolomitenwand! Umsonst habe
ich nicht noch vor ein paar Jahren die alt‐
gewohnten, schwierigsten Bergtouren ge‐
macht! Da meinte es die Sonne manchmal
auch nur allzugut und es ist doch gegangen!
.Aber ob unser lieber, wohlbeleibter Freund
74 Das Geheimnis
hier nicht die Lust verlieren wird, ist eine
andere Sache!”
.Der Alte war durch die anregende Wande‐
rung ordentlich jugendfrisch geworden, und
wäre sein Äußeres nicht gewesen, nach dem
man ihn als reichlichen Sechziger einschätzen
mußte, so hätte man ihn heute wohl für ganz
erheblich jünger halten können.
.Nun gefiel er sich geradezu in der Rolle
des mit seiner Jugendkraft und Ausdauer
kokettierenden Alters, und die beiden an‐
deren fühlten das und hüteten sich, ihm
seine Freude zu verderben.
.„Ja, ja”, erwiderte der eben wegen seiner
Korpulenz ein wenig Verspottete, „unser
Freund ist trotz seiner Jahre am Ende doch
der jüngste unter uns!
.Da grast er zwar alle Bibliotheken ab und
sitzt dann wochenlang hinter seinen Schmö‐
kern, aber trotzdem findet er noch Zeit da‐
zu, sich als Alpinist zu betätigen, so daß es
schon beinahe keine Bergtour gibt, die er
nicht in seinem Leben einmal gemacht hat,
75 Das Geheimnis
und daß alle Alpenhütten ihm schon Nacht‐
herberge boten!
.Unsereiner kann da freilich nicht mit!”
.Aber der Alte wehrte doch jetzt ab und
meinte: ganz so schlimm sei es schließlich
nicht, wenn er sich auch etwas darauf zugute
halte, daß er mit seinen dreiundsechzig Jah‐
ren sich immer noch ganz passable Leistun‐
gen zutrauen könne.
.Mit solchen Scherzreden, die eigentlich
schlecht zu dem Bilde der um den gemarter‐
ten toten Sohn klagenden heiligen Frau pas‐
sen wollten, das man in ziemlich kunstloser,
bemalter Holzschnitzerei in der kleinen Ka‐
pelle gewahrte, hatte man sich gegenseitig
gleichsam Mut gemacht und war nun schon
eine ziemliche Strecke des Stufenweges em‐
porgestiegen.
*
.Vierzehnmal sollten sich die Bilder grau‐
enhafter Marter eines Menschen durch Men‐
schenhand noch wiederholen, deren erstes ‒
76 Das Geheimnis
in ebenso kunstloser Arbeit wie die Darstel‐
lung der „Mater dolorosa”, die gleichsam
den Eingang dieses Schmerzensweges zu be‐
wachen schien, den Aufsteigenden nun ‒
seitlich in die Felswand eingelassen ‒ ent‐
gegenblickte...
.Gleich auf dem ersten dieser Bilder ge‐
wahrte man einen jüngeren Mann, zwar
schmerzdurchbebt, aber von edler könig‐
licher Haltung, mit bloßem Oberkörper,
über und über blutend aus unzähligen Geißel‐
wunden, einen dichten Kranz spitzer Dor‐
nen auf seinem Haupte.
.Wüste Gesellen mit infernalischen Gesich‐
tern und Gesten zerren ihn wohl vor einen
Richter, der in kalter stumpfer Ruhe seine
Hände in einem Becken wäscht, das ein blö‐
der Knabe ihm vorhält.
.Unwillkürlich verweilten die drei Männer
und ihre Rede verstummte...
*
.Mochte es nun der erschreckende Ein‐
druck dieses Bildes sein ‒ inmitten einer
77 Das Geheimnis
üppigen Natur, von Bienen umsummt und
von Faltern umgaukelt, schamlos dem über‐
hellen südlichen Sonnenlichte preisgegeben,
‒ war es die stets erneuerte Peinigung des
Empfindens vor jedem neuen Bilde, oder
mochte das beschwerliche Steigen in immer
fühlbarer werdendem Sonnenbrennen die
Ursache ergeben, ‒ ‒ kurz: die drei
Freunde erstiegen nun wortlos die nicht en‐
denwollenden, durch tausendfache Benüt‐
zung oft kaum noch kenntlichen Stufen, bis
sie auch das letzte der Bilder, auf dem zu
sehen war, wie man den armen Gemarterten
in ein Grab versenkte, überstanden hatten.
.Endlich war man auf der Höhe des Klo‐
sters angelangt, wo ein Ruhesitz, gerundet
aus dem Stein gemeißelt, die Ermüdeten
empfing.
.Aber hatte man schon vorher bei einem
der letzten jener grauenhaften Bilder mit
Entsetzen den vom Beginn an gepeinigten
Menschen mit Händen und Füßen angena‐
78 Das Geheimnis
gelt an zwei überkreuzten Balken hängen
sehen, so bot sich jetzt den Rastenden hier
oben das gleiche Bild erneuert dar, nur in
vollendeter Gestaltung, geformt von
einem, der zu formen wußte, durchströmt
von einer Inbrunst des Leidens, die keinem
darzustellen gegeben ist, der nicht einst selbst
gelitten hat, ‒ gelitten an denen, die ihn
peinigten, und der ihnen dennoch vergeben
konnte...
.Aufrecht stehend unter dem Martergalgen
sah man, mit gleicher Kunst gebildet, die
Gestalt eines bartlosen Mannes, der ‒ ab‐
gesehen von dem Lockenhaar ‒ beinahe
dem jüngsten der drei Freunde zu gleichen
schien, und die eines händeringenden, gänz‐
lich niedergeschlagenen Weibes, das wohl
mit jener Schmerzensmutter identisch sein
mochte, die unten am Eingang des Kreuz‐
weges wachte, damit ihn keiner betrete, der
das Mysterium dieses Leidens nicht erfassen
könne...
.Lange saßen die Freunde hier, ‒ dachten
79 Das Geheimnis
nicht mehr der Erquickung, die sie auf der
nun erreichten Höhe erwarten sollte, ‒ ach‐
teten nicht der brennenden Sonnenstrahlen,
‒ und verlangten nicht nach der vielbe‐
rühmten Aussicht, die man von der Terrasse
auf der anderen Seite des nahen Klosters ge‐
nießen konnte. ‒
*
.Nun wäre aber niemand je so sehr in die
Irre gelaufen, als einer, der etwa vermuten
würde, die drei Weggefährten hätten heute
zum erstenmal dergleichen Bilder mensch‐
licher Grausamkeit gesehen, und die Ge‐
schichte jenes Gemarterten sei ihnen fremd
gewesen. ‒
.Dies war mitnichten so!
.Vielmehr war der Alte aus sehr frommem,
christlichem Haus, und einer seiner Brüder
war zu hoher Würde in dem Priesterkreise
aufgestiegen, dem er in früher Jugendzeit
sich schon gelobte.
.Der andere aber, der so sehr einem wür‐
digen Abate glich, hätte einst alle Aussicht
80 Das Geheimnis
gehabt, ein solcher zu werden, wenn ihn
nicht quälende Zweifel bewogen haben wür‐
den, noch vorher ein anderes Studium zu
wählen.
.Der dritte und jüngste aber war zwar
nicht ein Kind der Kirche Roms, doch ehe
er sich wieder aufs neue zu den Füßen der
Katheder auf die Bank der Schüler setzte,
um des nunmehrigen Berufes vorbedingtes
Wissen zu erwerben, war er bei jungen Jah‐
ren schon in Amt und Würden und wußte
gar ergreifend einer lauschenden Gemeinde
von dem Marterweg zu reden, den jener einst
gegangen war, als dessen vorgeblicher Die‐
ner er auf der Kanzel stand, wenn seine
Kirche dichtgedrängt erfüllt war, auch von
solchen, die längst, bevor man seinem Wort
begegnete, die Kirchentüren nur mehr noch
von außen kannten...
*
.„Wie man auch zu der altehrwürdigen
frommen Glaubensweise stehen mag”, durch‐
brach endlich der Weißbärtige die aufge‐
81 Das Geheimnis
schichtet lastende Stille, „so hat doch im‐
merhin dieses Voraugenstellen der Leiden
eines als göttlich geglaubten Menschen, um
dadurch das Mitleid und in seinem Gefolge
den Entschluß zu reinerem Leben zu er‐
wecken, etwas von antiker Größe!”
.„Das ist durchaus nicht zu bestreiten”,
meinte der „Abate”, indem er sich noch
immer den Schweiß von der Stirne wischte,
„aber ich glaube nicht, daß viele von denen,
die hier heraufkommen, etwas von dieser
Größe verspüren!
.Ich kenne diese Art Gläubigkeit vielleicht
zu gut...
.Man betet da vor jedem dieser Bilder eine
vorgeschriebene Gebetsformel ab, versucht
es auch mit knapper Not vielleicht, in dump‐
fem Schuldbewußtsein in sich herumzuboh‐
ren, ob man nicht so etwas wie Grauen und
Mitleid vor den von Kindheit an gewohnten
Darstellungen dieser menschlichen Scheu‐
säligkeiten gegenüber einem Schuldlosen
aufbringen könne, und wandert dann im be‐
82 Das Geheimnis
friedigten Gefühl, das Seine getan und gar
noch 'himmlische Verdienste' erworben zu
haben, seelenruhig bis zum nächsten Bilde,
bis man so die ganze Reihe durchlaufen
hat. ‒
.Außerdem aber geht mir dieses geflissent‐
liche Betonen des Grauenhaften gegen die
Natur!
.Ich weiß wirklich nicht, ob das die rich‐
tige Methode ist, bösartige Instinkte im Men‐
schen zum Verschwinden zu bringen!?
.Das Boshafte und Gemeine, das da mit
plumper Kunst, aber mit so sichtlichem
Wohlbehagen in den Gesichtern und Gebär‐
den der Schergen dargestellt wird, berührt
das Einfühlungsvermögen ‒ schon weil die
Darsteller dabei viel mehr in ihrem Element
waren ‒ weit stärker, als die duldende
Würde des Gemarterten; und dann wird ja
auch der ganze Vorgang als etwas nur ein
mal auf der Erde Geschehenes aufgefaßt,
während man nicht im Traum daran denkt,
daß später im Namen eben dieses Gepei‐
83 Das Geheimnis
nigten viel entsetzlichere Scheußlich‐
keiten begangen wurden! ‒ ‒ ‒
.Schreibt doch da selbst im 'Jahre des Heils'
Eintausendneunhundertundeins ein
'Priester', der sich nach dem Namen des Ge‐
kreuzigten nennt, in seinen 'Institutio
nen des Kirchenrechts' die menschen‐
freundlichen Worte:
'Die weltliche Obrigkeit muß auf
Befehl und im Auftrage der Kirche
die Todesstrafe am Häretiker voll
ziehen und kann den von der Kir
che der weltlichen Gewalt über
gebenen der Todesstrafe nicht
mehr entziehen.
.Dieser Strafe verfallen nicht nur
diejenigen, die als Erwachsene
vom Glauben abgefallen sind, son
dern auch jene, die getauft sind
und mit der Muttermilch die Häre
sie eingesogen haben und erwach
sen sie hartnäckig festhalten.
.Diese Strafe trifft auch, wo sie
84 Das Geheimnis
eingeführt ist, alle rückfälligen
Häretiker, auch wenn sie sich be
kehren wollen, sowie alle, die nach
erfolgter Mahnung hartnäckig
sind.' ‒ ‒ ‒
.Ich muß sagen, daß mir ein 'Erlöser' recht
notwendig erscheinen würde, der einen Men‐
schen, in dessen Gehirn derart scheusälige
Gedanken sich formen konnten, von seinem
Denken erlösen würde! ‒ ‒
.In die Gesellschaft dessen, den man da
auf den Bildern als Gemarterten dargestellt
sieht, gehört er wahrlich nicht, aber unter
den mit so wollüstiger Freude am Grausamen
wiedergegebenen Henkersknechten könnte
er sich mit Ehren sehen lassen!”
*
.„Sie nehmen aber derartige Äußerungen
doch auch gar zu ernst”, erwiderte der Alte.
„Ich möchte hier weder die vom heiligen
Ignatius von Loyola gestiftete Gesellschaft,
der auch mein Bruder angehört, und unter
85 Das Geheimnis
deren Mitgliedern ich manche gelehrte
Freunde zähle, die recht wohl wissen, daß
ich meine eigenen religiösen Wege gehe,
noch gar die Kirche selbst für solche
Äußerungen eines römischen Heißsporns, die
ich sehr wohl kenne, verantwortlich machen!
.Der Herr kann aus seiner recht subjek‐
tiven Enge eben nicht heraus!”
*
.„So! ‒ Er kann nicht heraus?!” entgeg‐
nete der Physiker.
.„Aber die römische Kirche hat doch die
sattsam bekannte Institution der 'Indexkon‐
gregation'!
.Warum setzt sie nicht auch einmal Werke,
in denen, im Namen dessen, durch den der
Grund gelegt wurde auf dem sie ihr stolzes
Gebäude aufrichtete, solche Unmensch
lichkeiten propagiert werden, auf den 'In
dex' und rückt so wenigstens formal von
ihnen ab?!
.Meines Wissens ist das nicht geschehen!”
.„Aber die päpstliche Kirche”, widersprach
86 Das Geheimnis
der Alte, „ist doch in der heutigen Praxis
durchaus tolerant, und gerade der Gesell‐
schaft der jener Priester zugehört, macht
man viel eher den Vorwurf, daß sie gegen‐
über der menschlichen Schwachheit nur all‐
zuviel Nachsicht habe!”
.„Ja, wo es ihr paßt”, parierte der andere,
„und was die heute geübte 'tolerantere Pra‐
xis' angeht, so stellt sie eine Tugend der
Not dar, wenn man nicht eher sagen darf,
daß gerade diese tolerante Praxis höchst
subjektiver Natur ist, und keineswegs in
dem begründet erscheint, was man sich als
kirchliche Jurisdiktionsgewalt im Laufe
der Zeiten zurechtgetüftelt hat und woran
man leider auch heute noch ‒ wenn auch in
vorsichtigerer Anwendung ‒ den eigenen
Halt zu finden glaubt, obwohl es schon arger,
und wahrlich bedenklicher Sophismen
bedarf, um das alles mit der Lehre des Na
zareners, auch nur unter Auguren, in
scheinbaren Einklang zu bringen! ‒ ‒”
*
87 Das Geheimnis
.„Sie reden da von der Lehre des Naza
reners”, warf nun der jüngste der drei Män‐
ner ein, „wie von einer Sache, über die man
sich mit Leichtigkeit unterrichten könne!
.Ich muß dagegen einwenden, daß es we‐
nige Dinge auf Erden gibt, über die man
mit ähnlicher Selbstverständlichkeit spricht,
ohne sie zu kennen, wie eben gerade die
Lehre des Nazareners! ‒
.Was man in literarischen Zeugnissen die‐
ser Lehre besitzt ‒ die sogenannten 'Evan‐
gelien' ‒ ist von Anfang an Bericht aus
zweiter Hand gewesen und wurde, bevor
es auf uns kam, in der skrupellosesten Weise
von den verschiedensten Bearbeitern um‐
gemodelt, weil jeder versuchte, die Bestäti‐
gung seiner eigenen beschränkten Schul‐
meinung durch die Autorität des hohen Mei‐
sters sicherzustellen. ‒ Jeder der frühen Ab‐
schreiber las aus den ohnehin nur fragmen‐
tarischen Berichten über die Lehre nur das
88 Das Geheimnis
heraus, was er selber zu fassen vermochte,
und glaubte sich so bei bestem Gewissen be‐
rechtigt, ihm Unverständliches zu än
dern, bis schließlich die letzte Form der
Abschriften entstand, die für uns die frü
hesten, noch erreichbaren Texte darstellen,
auf denen all unser äußeres Wissen über die
Lehre des Meisters von Nazareth sich grün‐
det. ‒ ‒
.Wer aber glaubt, daß außer diesen lite
rarischen Dokumenten von bereits so zwei‐
felhafter Glaubwürdigkeit, etwa eine münd
liche Tradition sich erhalten haben könne,
der zeigt gar wenig Menschen- und Ge‐
schichtskenntnis...
.Schon die alltägliche Erfahrung lehrt je‐
den Richter, daß auch die glaubwürdigsten
Zeugen einer leicht faßbaren Begebenheit,
die verschiedensten Berichte geben, trotzdem
jeder die ganze Wahrheit zu bekunden
glaubt. ‒ ‒
.Blickt man sich aber in der Geschichte der
Menschheit etwas genauer um, so bedarf es
89 Das Geheimnis
wahrlich nur geringer Kritikfähigkeit, um zu
sehen, wie Worte und Ereignisse sich im
Laufe weniger Jahrzehnte schon zu ändern
vermögen, um irgendwelchen Wünschen
Mächtiger, oder dem Bedürfnis der Menge
gerecht zu werden. ‒ ‒
.Ich spreche es darum hier unumwunden
aus und bin mir der Tragweite meiner Worte
gar wohl bewußt: ‒ daß kein Mensch
auf dieser Erde etwas Sicheres über
die Person und Lehre des Jehoschuah
von Nazareth weiß oder in Erfahrung
bringen kann, solange ihm nicht die
Lehren der 'Leuchtenden des Urlich
tes' zugänglich wurden, denn der Mann,
der im Mittelpunkte der alten Berichte steht,
war ein Zugehöriger dieser geistigen
Vereinigung Gottgeeinter, und was er
lehrte, lehrte er wie es der 'Vater' ihm ge‐
boten hatte, ‒ der 'Vater' dieser Leuch
tenden, den jeder seiner 'Söhne' kennt
und von dem jeder aus ihnen sagen darf:
.'Ich und der Vater sind eins!'
90 Das Geheimnis
.'Wer mich sieht, der sieht auch den
Vater!' ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Jede der vielen Glaubensgemeinschaften,
die sich heute nach dem Namen dieses ho‐
hen Meisters, dieses 'Gesalbten' oder Chri
stos, nennen, besitzt wohl in irgendwelchen
Bruchstücken irgendwelche Teile seiner
Lehre und sucht sie so gut wie es gehen mag,
ihrem Verständnis anzupassen, wobei frei‐
lich meist das Beste verloren geht. ‒ ‒
.Die einen tilgen alles, was über ihre eigene,
rationalistische Denkweise sich erhebt, und
fälschen unbewußt des Meisters Lehre in
eine erhabene menschliche Ethik um, wäh‐
rend die anderen durch Zwang zu erreichen
suchen, daß erhalten bleibe, was sie selbst
nur noch irrig deuten.
.Die Kirche Roms krankt an ihrem Ahnen
stolz, wie so manche Adelsfamilie, der die
Zahl der Ahnen wichtiger ward als der eigene
Adel, ‒ wogegen die von ihr losgelösten
Zweige vergessen, daß zum Gedeihen 'Erd
91 Das Geheimnis
reich' gehört, und so sich nicht beklagen
dürfen, wenn sie allmählich ihre Lebens‐
kraft verlieren! ‒ ‒ ‒
.Wer wirklich ein Jünger des Meisters
der Evangelien werden will, der darf nicht
glauben, von diesen menschlichen Institutio‐
nen abzuhängen, auch wenn er in einer oder
der anderen vieles zu finden weiß, das ihm
gemäß ist und zu seiner Seele spricht!
.Aber auch nicht durch die Loslösung
von solcher Gemeinschaftsbildung kommt
er dem Meister näher, sondern nur durch
Vertiefung seiner eigenen Erkennt
nis, die sich in jeder Glaubensform zum
Aufleuchten bringen läßt!
.So wollen wir nicht hadern über der an‐
deren Torheit, sondern selbst die Weis
heit suchen! ‒”
*
.Hier endete vorerst der jüngere der drei
Männer, und seinen bewegten und bewegen‐
den Worten folgte eine tiefe, fast atemlose
Stille.
92 Das Geheimnis
.Es war, als ob der Gekreuzigte, unter des‐
sen kunstreich gestaltetem Bilde die Drei ‒
die sich unwillkürlich während solcher Rede
erhoben hatten ‒ nun standen, segnend
seine durchbohrten Hände über sie breite,
und als ob Mann und Weib, die man steinern
im Schmerz versunken unter dem Kreuze
gewahrte, aus den Worten des Begeisterten
Trost schöpfen wollten...
.Viel länger als beabsichtigt war, hatte man
hier verweilt, und die drei Freunde schritten
nun im Gefühl einer heiligen Erregung, die
von dem Sprechenden ausgegangen war und
sich den beiden anderen mitgeteilt hatte,
durch den blühenden, von den Mönchen
sorglichst gepflegten Garten dem nahen Klo‐
ster zu.
.Vor dem überreich skulpierten Barock‐
portal machten sie Halt.
.Dem schweren, schmiedeeisernen Klingel‐
zug gehorchte eine tiefgestimmte Glocke,
die man im Innern der Klosterräume ertönen
hörte, und alsbald öffnete sich eine kleine
93 Das Geheimnis
Pforte in dem mächtigen geschnitzten Tor‐
gebilde, das von dem steinernen Portal um‐
schlossen war.
.Ein dicker Franziskanerfrater begrüßte
lächelnd die Ankommenden und schloß hin‐
ter ihnen sogleich wieder den Einlaß, der,
als ein Tor im Tore, die architektonische
Gliederung des Ganzen auch im geöffneten
Zustande keineswegs beeinträchtigt hatte.
.Die Freunde fanden sich in einer hohen,
leidlich lichten Halle, während der Bruder
Pförtner ihnen voranschritt und sie dann
über einige Stufen, die er in sorglicher Vor‐
sicht zu beachten empfahl, in einen kleinen
gewölbten Raum geleitete, den Tische, Bänke
und Stühle einigermaßen füllten und der
an seinen weißgetünchten Wänden keinen
anderen Schmuck aufwies, als ein großes,
hölzernes Kruzifix.
.Hier bat er, dem offenbar die leibliche
Stärkung der Besucher des Klosters oblag,
die drei Männer, zu verweilen, um alsbald
mit einer mächtigen Schüssel dampfender
94 Das Geheimnis
„Minestrone”, jener köstlichen italienischen
Gemüsesuppe, wiederzukehren, die er vor
ihnen niedersetzte.
.Aus einem Wandschrank holte er Teller,
Löffel und Gläser, verschwand wieder und
kam zurück mit einer bastumflochtenen lang‐
halsigen Flasche, mit einem zinnernen Tel‐
ler, auf dem eine Stange weißen Brotes lag,
und mit einem Schüsselchen, das gefüllt war
mit geriebenem Käse, den man nach landes‐
üblicher Weise auf die Suppe streut.
.So wußte er die Gäste nun versorgt,
wünschte Appetit und überließ sie ihrem
Mahle.
.Die Minestrone mundete vorzüglich, Brot
und Wein waren eine willkommene Beigabe,
und da man doch, vordem man hier eintrat,
allmählich recht hungrig geworden war, so
durfte wohl der Bruder Küchenmeister spä‐
ter an der geleerten Schüssel ersehen, daß
das Gebotene allen Beifall gefunden haben
mußte.
.Eben hatte man befriedigt den letzten
95 Das Geheimnis
Bissen genossen, als auch der bedienende
Bruder wieder erschien und mit einem Blick
auf das leere Geschirr scherzend bedeutete,
nun sei man wohl wieder fähig, einige An‐
strengung zu ertragen, und darum wolle er
gerne den alten Kreuzgang und das Innere
der Klosterkirche zeigen.
.Einer Bezahlung des Mahles wehrte er lä‐
chelnd ab und meinte, das könne man nach
Schluß seiner Führung mit einer beliebigen
frommen Gabe für das Kloster begleichen.
*
.Es ist etwas sehr Schönes um diese Gast‐
freundlichkeit der Mönche und man darf
nur bedauern, daß es auch allzuoft Kloster‐
gäste gibt, die sich sehr gerne geben lassen
ohne von dem Ihren etwas entgegen zu
geben, und so denn schließlich noch die Klö‐
ster, in denen bislang derartige vertrauende
Gastfreiheit bestand, eines Tages zwingen
werden, den guten alten Brauch aufzuheben.
*
96 Das Geheimnis
.Als man das kleine Gaststübchen verließ,
meinte der „Abate”, wie der Physiker wohl
auch scherzweise oft von seinen Freunden
bezeichnet wurde, in froher Behaglichkeit:
„Das nenne ich praktisches Christentum!
.Da wird nicht erst gefragt, ob man Heide,
Jude oder Christ, und nach welcher Art man
es zu sein beliebt, ob man Geld im Beutel
hat oder nicht, und man vertraut wildfrem‐
den Menschen, daß sie Vernunft genug ha‐
ben, Gabe mit Gegengabe zu vergelten!
.Es ist doch jämmerlich, daß die 'From‐
men' draußen in der Welt allesamt immer
zu sündigen fürchten, wenn sie einem, der
nicht auf ihr Glaubensbekenntnis einge‐
schworen ist, auch nur einen freundlichen
Blick schenken! ‒
.Hier ist so ein Stück kirchliche, und zwar
uralte Praxis, das vielleicht doch Nach‐
ahmung verdiente! ‒”
*
.Aber es war jetzt nicht Zeit dazu, sich
weiterhin über den wünschbaren Zustand zu
97 Das Geheimnis
verbreiten, der durch ein duldsames Ver‐
halten der Menschen untereinander auf Er‐
den entstehen könnte, so sehr auch jeder der
beiden anderen dem Sprechenden Recht ge‐
ben mochte; ist es doch ohne Zweifel wahr,
daß die Menschen sich sehr wohl zu ver‐
tragen wissen, solange es ihnen nicht ein‐
fällt, schamloserweise ihre innersten Über‐
zeugungen zur Handelsware zu erniedrigen,
wo dann ein jeder seinen Einkauf zum
höchsten gewertet sehen will, und alsbald
grimmig, fuchtig und boshaft wird, wenn
ein anderer meint, er habe den besseren
Griff getan und sein Gespinste müsse alle an‐
deren überdauern. ‒ ‒
*
.Die drei Männer, und voran der Kloster‐
bruder, waren nach wenigen Schritten vor
einer tiefausgeweiteten Nische angelangt, all‐
wo das Pfingstwunder in gleich kunstloser
Darstellung wie die Marterbilder, die man
vordem gesehen hatte, in buntbemalter Holz‐
schnitzarbeit dargestellt war.
98 Das Geheimnis
.Inmitten der zwölf Jünger des Gesalbten
thronte nun nicht mehr der Verkünder der
„frohen Botschaft”, sondern seine Mutter.
.Das Weib war an Stelle des Mannes ge‐
treten!
.„Das Ewig-Weibliche zieht uns hin‐
an”, bemerkte, wie nebenbei, in tiefem
Ernste der Jüngste.
.Der führende Frater hielt die Darstellung
für ein großes Kunstwerk, zumal sie doch zu
dem Namen des Klosters in so naher Be‐
ziehung stand, denn die feurigen Flammen‐
zungen da, über jedem Haupte, bedeuteten
doch den Paraklet, den „heiligen
Geist”. ‒
.Befriedigt über das sichtliche Wohlgefal‐
len, das die Besucher nach seiner Meinung
an dem für ihn so sehr „natürlich” gestalte‐
ten Gebilde fanden, führte er sie ins Refek‐
torium, den Speisesaal der Mönche.
.Eine feierliche Vornehmheit erfüllte die‐
sen Raum.
99 Das Geheimnis
.An den Wänden sah man nicht üble, bib‐
lische Fresken aus später Zeit italischer
Kunst, und ringsum vor dem tiefbraunen
Holzgetäfel standen lange linnenbedeckte
Tafeln, auf denen man bereits ‒ für die
Abendmahlzeit der Mönche bestimmt ‒ vor
jedem der primitiven Schemel eine kleine
Schüssel und ein Brot gewahrte.
.An der Stirnseite des durch drei schmale,
kleine Rundbogenfenster mäßig erleuchte‐
ten Raumes sah man sodann unter einer fast
lebensgroßen Darstellung des Gekreuzigten,
die den „Mann der Schmerzen”, auf Holz
gemalt, an den schwarzen gekreuzten Balken
zeigte ‒ über seinem Haupte drei silberne
Kronen, eine zu fünf, eine zu vier und die
höchste drei Zacken tragend ‒ den Tisch
des Superiors, hinter dem statt des Schemels
ein hoher Thronsessel sich erhob.
.Gegenüber aber, dort wo die drei Fenster
die Wand der anderen Schmalseite durch‐
brachen, war in der Ecke eine kleine Kanzel
mit Lesepult aufgerichtet, und der Bruder
100 Das Geheimnis
erklärte den Dreien ‒ was sie alle bereits
wußten ‒ daß dort zur Zeit des Mahles der
Vorleser seines Amtes walte, damit auch bei
so nötiger leiblicher Stärkung der heilige
Geist nicht fehle.
.Den ganzen Saal erfüllte ein starker, doch
nicht gerade unangenehmer Geruch nach ge‐
kochten Hülsenfrüchten, der den Mauern,
den Schemeln und selbst der kleinen Kanzel
zu entströmen schien, und der in gar wun‐
derlichem Kontrast stand zu dem Weih‐
rauchduft, dem man in den hohen, langen
Gängen, die den Speiseraum erreichen lie‐
ßen, bisher begegnet war.
.Wie es immer geht, wenn man Räume be‐
tritt, die zu der Zeit ihres Betretens nicht
ihrer Bestimmung dienen, so geschah es auch
hier: man war froh, den Saal wieder ver‐
lassen zu können und ließ sich gerne immer
fühlbarer werdender frischer Gartenluft ent‐
gegenführen.
.Nach einigen labyrinthischen Winkel‐
wegen war man so in dem berühmten Kreuz‐
101 Das Geheimnis
gang des Klosters angelangt, den frühe Fröm‐
migkeit mit hoher Kunst gestaltet hatte.
.Ein großes Viereck war hier über und
über bedeckt mit Rosen, und selbst um die
dünnen steinernen Säulchen auf den Balu‐
straden, die den breiten Gang von der Gar‐
tenerde schieden, rankten sich dornige Ro‐
senzweige bis unter das Gewölbe.
.Hier war wahrlich ein wonniges Paradies,
und die frommen Patres waren wohl zu be‐
neiden, wenn sie alltäglich die Gnade ge‐
nießen durften, allhier ihr Brevier zu beten.
.Wie mußte sich in diesem kühlen Wandel‐
gang um einen Rosenhain so süß zur „Rosa
mystika” das Herz erheben lassen!
.Wie nahe fühlte man sich hier den Seli‐
gen, die vor dem Thron des Lammes ihr
Laudamus te” erklingen lassen für und
für.
.Aber schließlich geziemt es Weltleuten
nicht, allzulange die Wonnen der Gottselig‐
102 Das Geheimnis
keit frommer Mönche ahnend nachzuempfin‐
den, und so mußte man denn auch diesen,
stiller Versenkung und heiligem Gespräch
vorbehaltenen Ort wieder verlassen, um
durch den allzeit gütig lächelnden Führer
sich in die Klosterkirche geleiten zu lassen.
.Hier war nun am meisten bemerkenswert,
daß diese Kirche gleichsam auf einer frü
heren Kirche stand, und in der früheren,
die nun die Krypta ‒ das Kellergewölbe
der neueren war ‒ stand heute noch der alte
heidnische Opferaltar ‒ nun von al‐
lem Bösen gereinigt und durch den Bischof
geweiht ‒ auf dem in vorchristlicher Zeit
die alten Heidenpriester hier einem Gotte
Opfer brachten, den sie den „Beleber
nannten, und den man im Lichte der Offen‐
barung freilich längst als bösen „Teufel” er‐
kannt und aus seinem ehemaligen Tempel
vertrieben hatte.
.Santo Spirito” hieß ja jetzt diese
Kirche und nach ihr das Kloster, wo einst in
früher Vorzeit ein Sanktuarium stand, zu
103 Das Geheimnis
dem man nur von ferne aufzublicken wagte
in der ganzen Gegend, da schon der Fels, auf
dem es errichtet war, als heilig galt und nur
durch Götterwort aus diesem Hügelland em‐
porgehoben schien. ‒ ‒
.Veni creator spiritus” ‒ 'Komm
Schöpfer Geist!' ‒ zitierte der Jüngste der
Drei.
.„Wie lange willst du uns noch warten
lassen?! ”
.Und der Klosterbruder nickte lächelnd,
‒ hatte er doch ihm so bekannte Worte ver‐
nommen, die den, der sie gesprochen hatte,
ihm als wahrhaft frommen Sohn der heiligen
Kirche erscheinen lassen mußten...
.Auch unter den Weltleuten gab es ja nach
Gottes Ratschluß mitunter fromme Seelen,
und wenn es ihnen auch wahrlich schwer
war, das Heil zu erlangen, so zeugte doch
solche Wohlvertrautheit mit heiligen Wor‐
ten schon davon, daß dieser da nicht ganz
verloren war. ‒
.Er führte die drei Männer über eine steile
104 Das Geheimnis
in den Fels gehauene Treppe wieder empor
zur Oberkirche, einem einst in der ersten
Zeit der Christenheit begonnenen, wohl auch
vollendeten und dann in Kriegsläuften wie‐
der zerstörten Bau, der in den Stilarten aller
Jahrhunderte stets neu erstanden war, und
schließlich in jenem reichen Barock erhalten
blieb, das man auf italischen Gefilden so oft‐
mals trifft, als den Stil der ausgelassensten
Heiligkeit.
.Hier sollte man nun zwar gar manche Al‐
targemälde bestaunen; doch waren diese Be‐
sucher offenbar der Kunst nicht kundig, denn
sie fanden nur weniges, das ihre Bewunde‐
rung erweckte.
.Der Franziskanerbruder war fast traurig!
.Nur eine büßende Magdalena, die gerade‐
zu sündhaft natürlich als Weibsperson in Er‐
scheinung trat, und deren Bildnis ‒ es sollte
von einem Schüler des großen Tizian sein ‒
man schon lange gern den Altertumshänd‐
lern von Firenze abgelassen hätte, wenn sie
nur willig gewesen wären, den Preis zu zah‐
105 Das Geheimnis
len, den der Superior dafür haben wollte,
ließen sie gar nicht aus den Augen ‒ auch
der Junge nicht, der doch vorhin so heilige
Worte wußte ‒ so daß es den Frater schier
verdroß und er einige Augenblicke nicht
mehr so freundlich lächeln konnte, wie er es
sonst solchen vornehmen Besuchern des Klo‐
sters gegenüber gewohnt war.
.Es war halt doch ein Kreuz mit diesen
Weltmenschen und der Teufel hatte sie wohl
so halbwegs immer am Kragen!
.Wohl dem, der hier seine Zuflucht gefun‐
den hatte, wie er, nicht mehr beirrt von den
Gelüsten der Welt und ihrer Hoffart ent‐
ronnen!
.Unwillkürlich mußte sich der arme Frater
bekreuzigen...
.Dann aber wurde er wieder munter, wie
es seines Amtes war und ja auch himmlische
Verdienste brachte, betete im stillen für diese
Fremden, die vielleicht, und trotzdem sie die
melodische Sprache seines Landes sprachen,
dennoch „Ketzer” sein konnten, ein Stoß‐
106 Das Geheimnis
gebet, räusperte sich und zeigte nun mit nicht
endenwollenden Erklärungen die Gräber der
hochadeligen Gönner der Kirche in einer
reichgeschmückten Seitenkapelle, und war
maßlos enttäuscht, als auch diese Sehenswür‐
digkeit keinen rechten Anklang fand.
.Während er die Fremden durch die langen
Korridore dem Ausgang zu geleitete, dachte
er darüber nach, vor wieviel Gefahren ihn
doch der Herr behütet habe. ‒ ‒
.Nicht Gefahren des Leibes, denn die
hatte er niemals sonderlich geachtet, auch
damals nicht, als er dem Bruder seiner Ro‐
setta den Dolchstoß versetzte, an dessen Fol‐
gen er schließlich verstorben war. ‒ ‒
.Warum hatte er ihnen auch auflauern
müssen?!
.Glücklicherweise hatte ihn die Rosetta ja,
wie er dann hörte, mit einem anderen be‐
trogen, so daß der Verdacht damals auf je
nen fiel ‒ was eigentlich eine gerechte
„Strafe” war ‒ und in der Dunkelheit hatte
der erzürnte Angreifer, der die Ehre der
107 Das Geheimnis
Schwester rächen kam, nicht zu erkennen
vermocht, wen er selbst da erdolchen
wollte...
.Jetzt war Rosetta lange Jahre schon ein
braves Eheweib, hatte ein halbes Dutzend
Kinder und schlug gar keusch die Augen
nieder, wenn sie an besonderen Festtagen
herauf ins Kloster kam, und etwa ihm, dem
Frater Isidoro, begegnen mochte. ‒ ‒
.Ja, ‒ es war schwer, in der Welt zu le‐
ben und dennoch selig zu werden! ‒ Sehr
schwer!
.Ewigen Dank der heiligen Jungfrau dafür,
daß sie ihm damals, als er nach dem Begräb‐
nis von Rosettas Bruder so inbrünstig gebetet
hatte, in den Sinn zu geben für gut fand, daß
er als büßender Bruder hier oben im Kloster
doch noch Verzeihung für seine Sünde fin‐
den könne! ‒ Auch der vermeintliche
Täter war ja, aus Mangel an Beweisen, frei
gesprochen worden. ‒ ‒
.In solche Gedanken versunken war er mit
seinen Fremden wieder an die gleiche Pforte
108 Das Geheimnis
gelangt, die es gestattete, ohne das mächtige
Tor zu öffnen, einzelne Besucher des Klo‐
sters ein- und auszulassen.
.Hier erinnerte er sich wieder seiner
Pflicht, gab sein liebenswürdigstes Lächeln,
nahm im Namen Gottes dankend die unbe‐
sehenen Spenden der Gäste in Empfang, und
schloß die Pforte hinter ihnen in einem Ge‐
fühl, das dem nicht unähnlich war, das Sankt
Petrus haben müßte, wenn er ein paar Teufel
durch die himmlischen Thronsäle geleitet
hätte, um sie nun endlich wieder los zu
sein...
.Das Amt als Bruder Pförtner war wahrlich
nicht leicht!
.So immerfort mit den profanen Weltleu‐
ten zu tun zu haben, während man sich
doch längst dem Himmel angelobt hatte,
‒ das war halt doch eine harte Pönitenz!
‒ ‒
.Gott sei Dank! ‒ Heute waren wenigstens
keine Gäste mehr zu erwarten!
*
109 Das Geheimnis
.Die drei Männer aber umschritten nun,
während noch gelegentliche Bemerkungen
über das Gesehene fielen, die ausgedehnten
Klostergebäude, um endlich auf die äußere
Terrasse zu gelangen, von deren herrlicher
Aussicht sie so viel gehört hatten.
.Wirklich bot sich jetzt dem Auge ein
Rundblick dar, der seinesgleichen ‒ auch in
italischen Landen ‒ suchte.
.Von steilster Felsenhöhe herab übersah
man weitgedehntes Hügelland, Dörfer, Wei‐
ler, einzelne Gehöfte, die in dunkles, graues
Grün gebettet waren, wie helle Stickerei in
dunklen Samt.
.Zuweilen zeigte das dunkle Grün auch
helle silbergraue Flächen: Olivenhaine, die
sich an die Hügellehne schmiegten.
.Aus den Dörfern ragte jeweils der hohe
Campanile, und weißen Spinnenbeinen
gleich griffen die Wege, Straßen und Pfade,
die allesamt von der Ebene her hinauf zu ir‐
gendeiner Piazzetta führen mochten, gebogen
oder eckig geknickt, in das dunkle Land.
110 Das Geheimnis
.Nach der anderen Seite zu ebnete sich das
Gelände und lag wie eine Landkarte gebrei‐
tet vor dem Blick.
.Fern sah man inmitten der Äcker, Wiesen
und Gärten etwas rötlich Gelbes, das man
flüchtigen Auges für einen Steinbruch hätte
halten mögen, wenn nicht geregelt gewin‐
kelte Formen Gestaltung durch Menschen‐
hand verraten hätten.
.Das rötliche Gelb, gemattet durch einen
Schleier opalfarbenen Duftes, den der Rauch
der Küchen verstärkte, breitete sich hier die
Stadt mit ihren bei näherem Zusehen bald
erkennbaren Palazzi und schlanken Türmen,
in ihrem Umkreis akzentuiert durch die
dunklen Massen der Parke, aus denen helle
Flecken: die Villen der äußeren Stadtteile,
leuchtend blinkten, oft überragt von schwar‐
zen Zypressenspitzen oder breitausladenden
Pinienkronen.
.Hohen Horizontes aber umschloß dieses
ganze Bild das weithin sichtbare Meer, grau‐
grünlich gebreitet, von der türkisfarbenen
111 Das Geheimnis
Himmelsweite wie von einer unendlich fer‐
nen, leuchtenden Wand umschlossen, auf der
blaßviolette Streifenwolken einen dünnen
Saum zu ziehen suchten.
.In der Höhe der Himmelswand vertiefte
sich das blasse Blau, ließ immer deutlicher
erkennen, daß diese Wand nur ein dünner
Schleier war vor der unendlichen Welten‐
nacht, die der Erdensonne Licht dem Auge
zu verbergen weiß, und hoch oben über dem
Scheitel schien dieser Schleier zuletzt so we‐
senlos, daß man das schwarze Dunkel des
Weltenraumes durch ihn hindurch zu er‐
kennen glaubte.
.Kein Laut erreichte das Ohr.
.Das Auge allein empfing Kunde, so daß
man sich leicht der Täuschung ergeben
konnte, als stünde man hier vor einem gran‐
diosen Bilde, und nicht als winziger Be‐
wußtseinsträger inmitten eines kaum nen‐
nenswerten Umkreises der Oberfläche eines
der kleinsten Planeten, der unaufhörlich be‐
wegt, seine Bahn um das lebenspendende
112 Das Geheimnis
ferne Muttergestirn in rasender Eile durch‐
mißt. ‒ ‒
.Die drei Männer fanden sich bewogen,
sehr lange schweigend hier zu verweilen, und
ohne ein Wort der Verabredung, schien man
übereingekommen, die ursprüngliche Ab‐
sicht, hier das Gespräch des gestrigen Tages
fortzusetzen, doch lieber aufzugeben, zumal
die Stunde nun zur Heimkehr rief, wollte
man noch vor der Dunkelheit die Stadt er‐
reichen.
.Alsbald machte man sich denn auch auf
den Weg und erstaunte fast, wie schnell man
wieder unten den Rastplatz fand, an dem
man des Morgens gelagert hatte.
.Auf dem weiteren Wege sprach man wohl
dann und wann ein kurzes Wort, allein es
schien, als ob keiner der Drei sich veranlaßt
fände, ein weiterzeugendes Gespräch zu
wünschen.
.Fast hätte man meinen können, daß sich
erst, jener dünnen Quelle an dem morgend‐
lichen Rastplatze gleich, die Gedanken wie
113 Das Geheimnis
das Wasser im Becher sammeln wollten, be‐
vor sie sich darbieten mochten um genossen
zu werden. ‒
.Im Schweigen verdoppelte man unwill‐
kürlich die Schnelligkeit des Schrittes und
so kam es, daß man weit eher in die Stadt
zurückgekehrt war, als man es vorher hätte
vermuten können.
.Trotz der reichlichen Wegstrecken dieses
Tages fühlten sich aber die Wanderer heute
noch viel zu frisch, als daß der Wunsch in
ihnen hätte aufkommen mögen, sich für den
Rest des Tages oder vielmehr für dieses Ta‐
ges Abend allein gelassen zu sehen.
.So verabredete man denn, heute den
Abendimbiß gemeinsam einzunehmen, und
es wurde dafür eine Trattoria bestimmt, die
berühmt war für Küche und Keller, außer
diesen Vorzügen aber noch, obwohl inmitten
der Stadt gelegen, eine Pergola besaß, die an
einen weiten Garten grenzte, so daß man
hier im Freien eine der köstlichen Nächte
des Südens zu genießen hoffen durfte.
114 Das Geheimnis
.Dort ‒ so meinte man ‒ würde sich viel‐
leicht auch Gelegenheit finden, das am Nach‐
mittag versäumte Gespräch allenfalls in der
Abendkühle geruhsam nachzuholen.
115 Das Geheimnis
SÜDLICHE NACHT
TRATTORIA  del  duomo”  nannte  sich die
kleine Gaststätte, in der sich die Freunde
nun wieder fanden.
.Man durchschritt zuerst einen schmalen,
langgestreckten Speiseraum mit weißge‐
tünchten Wänden, an denen einige billige,
patriotische Öldruckbilder wie groteske
Kleckse wirkten.
.Nur wenige Gäste saßen in dem für die
kleinen Ausmaße des nüchternen Raumes
viel zu grellen Licht an den weißgedeckten
Tischen bei ihrer Abendmahlzeit.
.Als man durch eine rückwärtige Türe dann
ins Freie trat, war man trotz der paar im
Laubwerk der Pergola primitiv aufgehäng‐
ten Glühlampen derart geblendet, daß man
um den spärlichen Lichtkreis, der so da und
dort zu sehen war, nur tiefe ägyptische Fin‐
sternis gewahrte.
.Es brauchte aber nur Minuten und das
Auge hatte sich von der barbarischen Blen‐
dung erholt, erkannte deutlich die Umrisse
des Laubwerks im Garten, hinter denen sich
119 Das Geheimnis
das Dach der Hauptkirche und daneben der
Campanile erhob, flankiert von tiefschwarzen
Zypressengruppen, die wohl noch im Garten
wurzeln mochten.
.Winkelreiche Häusersimse schlossen nach
der anderen Seite das Bild, das wie in einem
Rahmen stand: gebildet aus den mattbeleuch‐
teten Rebenblättern der Laube. Aus tiefstem
Hintergrund strahlte ein schon vom auf‐
gehenden, aber hier noch nicht sichtbaren
Monde durchflimmerter, heller Nachthim‐
mel, aus dem der Sterne gedrängte Menge
ihr glitzerndes Licht herab zu einem der
winzigsten ihrer Brüder ‒ dem kleinen
Erdplaneten ‒ sandte.
.Nach den im Laufe des Tages empfunde‐
nen, bereits recht fühlbaren, hohen Wärme‐
graden, war man dankbar für die mäßige
Abendkühle, die das Sitzen im Freien als
wahres Labsal genießen ließ.
.Die drei Männer hatten dem höflichen Ca‐
meriere, der ihnen vom Eingang an auf dem
Fuße gefolgt war, schnell ihre Wünsche
120 Das Geheimnis
offenbart, und nach kürzester Zeit fand man
sich denn auch schon beim appetitlichsten
Imbiß und spendete dem vorzüglichen Ba‐
rolo alles Lob, einem Piemonteser roten
Wein, der weder herb noch süß, voll charak‐
teristischer Eigenart des Geschmacks, nicht
ganz ungeeignet schien, die Zungen zu
lösen.
.Als ein butterzarter Stracchino ‒ jener
milde köstliche Käse der Lombardei, der auf‐
gestrichen auf das lichte Weizenbrot des Lan‐
des eine Delikatesse hohen Ranges zu bilden
vermag ‒ das Mahl beschlossen hatte, fand
es denn auch der älteste der Drei, gewohnt
mit einiger Zähigkeit an dem was er sich vor‐
genommen hatte, festzuhalten, für geraten,
nun das schon am Tage durch den Lauf der
Ereignisse verzögerte Gespräch hervorzu‐
locken, denn es war doch da manches zu er‐
warten, was ihn nicht ruhen gelassen hätte,
wäre man auch an diesem Abend wieder der
Rede über diese Dinge ausgewichen.
.Und er begann:
121 Das Geheimnis
.„Dünkt es Ihnen nicht, junger Freund,
daß hier wohl der rechte Ort und vielleicht
auch eine gute Stunde wäre, über alles das
von Ihnen zu hören, was Sie uns für heute
zwar versprochen hatten, aber noch vorent‐
halten haben?
.Ich dächte, eine stimmungsvollere Um‐
gebung ließe sich nicht leicht finden, und
über uns die ewigen Sterne fordern geradezu
heraus, hier über tiefe Themen zu sprechen
und uns das Geheimnisvolle, das Ihnen be‐
gegnet sein mag, soweit Sie es für gut finden
wollen, zu enthüllen! ‒”
.Der „Abate”, der ja am Abend zuvor bei
der Wanderung am Meeresstrande erste An‐
regung zu solcher Frage gegeben hatte,
stimmte freudig zu, und der Jüngste der Drei,
den die Bitte anging, zeigte sich nun gerne
bereit, ihr zu willfahren, wenn er auch zu
bedenken gab, daß man schwerlich so lange
hier verweilen könne, um alledem was er
mitzuteilen habe, zuzuhören.
*
122 Das Geheimnis
.So fing er denn damit an, in kurzen Wor‐
ten erst seines Elternhauses zu erwähnen, in
dem eine tiefe christliche Frömmigkeit nach
reformierter Lehre gleichsam erblich war,
und gedachte besonders seiner Mutter, die es
verstanden hatte, in der Seele ihres Kindes
die Sehnsucht nach göttlichen Dingen so zu
wecken, daß später die erlangte Studienreife
keine Wahl mehr zuließ, hinsichtlich des
künftigen Berufes: denn nur als Seelsorger
inmitten einer gläubigen Gemeinde, glaubte
damals der Sohn das Glück seines Lebens fin‐
den zu können. ‒
.Er gedachte weiter dann der ersten froh‐
beglückten Zeit des nach absolvierten Stu‐
dien erlangten Amtes an der Kirche seines
Bekenntnisses, in einer kleinen, aber geistig
ungemein regen Stadt, und all der Freuden,
die ihm damals die Seelsorge, soweit sie ihm
übertragen war, zu geben hatte.
.Dann aber waren fast plötzlich die ersten
schweren Zweifel aufgetaucht, ob denn wirk‐
lich diese von unzähligen Überarbeitern fast
123 Das Geheimnis
bis zur Unkenntlichkeit redigierten alten Be‐
richte, die man das Evangelium nannte,
noch als „Wort Gottes” gelten könnten, und
im Verlaufe so mancher Monate, die den
jungen Prediger meist ganze Nächte hin‐
durch beim Studium bibelkritischer Werke
fanden, hatten sich solche Zweifel allmäh‐
lich bis zu völliger Gewißheit verdichtet,
daß er durch seinen Beruf fortan gezwungen
sei, Menschenmeinung und Satzung mit un‐
verdienter göttlicher Autorität zu umklei‐
den, ‒ ja er sah ein, daß auch jene Männer,
die einst das Wort des Evangeliums zur allei‐
nigen Grundlage des Glaubens machten, viel‐
fachem Irrtum erlegen waren, da auch
sie die alten Berichte nur in der Formung
kannten, die ihnen bereits in den Anfangs‐
zeiten des Christentums gegeben worden
waren, um allerlei Lehrmeinung dadurch zu
stützen.
.So manches liebgewordene Herrenwort
hatte neuere Textprüfung mit aller Sicher‐
heit als späteres Einschiebsel erkennen ge‐
124 Das Geheimnis
lehrt, und die Fülle der Wunder war unter
der spürenden Sonde des Forschers zu from‐
mer Sage geworden.
.Eine nagende Seelenqual hatte das Herz
des jungen Geistlichen erfüllt, als er endlich
sah, daß er nicht mehr imstande sei, den
Glauben seiner Väter mit Überzeugung zu
verkünden.
.In solcher seelischer Not hatte er sich sei‐
nem geistlichen Vorgesetzten offenbart, der
zwar mit liebevollem Verständnis alles ver‐
suchte, um ihn trotzdem beim Amte zu hal‐
ten, aber mit seinen Gründen in keiner Weise
die Gewissensbedenken zu beschwichtigen
vermochte, die in dem jungen Prediger längst
den Entschluß gezeitigt hatten, seinem einst
mit so großer Freudigkeit erstrebten Berufe
zu entsagen.
.Unfaßbar schwer wurde es, diesen Ent‐
schluß den betagten Eltern mitzuteilen, aber
wider Erwarten fand sich hier alles Verste‐
hen, so daß es ihm mit Hilfe des Vaters mög‐
lich wurde, auf seiner Begabung zur Mathe‐
125 Das Geheimnis
matik ein neues Studium aufzubauen, das
ihn nach seiner Beendung nun kürzlich mit‐
ten in das Getriebe eines großen technischen
Unternehmens versetzte, allwo er in Zukunft
sein Betätigungsfeld finden sollte.
.Bevor er den nun errungenen Beruf an‐
trat, hatte ihm sein Vater ‒ die Mutter war
ihm sogleich nach dem Beginn des neuen
Studiums durch den Tod entrissen worden ‒
einen lange gehegten Lieblingswunsch er‐
füllt: hatte ihm die Mittel zu einer Reise in
den Orient bereitgestellt, so daß er noch ein
halbes Jahr hindurch die Wunder südlicherer
Breiten beglückten Auges schauen durfte,
zumal der neue Wirkungskreis auch nicht
eher offen stand.
.Jetzt aber hatte er seine erste Ferien
zeit, die ziemlich reichlich bemessen war,
zu verleben, und was war natürlicher, als daß
er der Sehnsucht nach dem Süden folgte, die
ihn mit den beiden älteren, gelehrten Freun‐
den, denen er an dem neuen Orte seines Wir‐
kens sich genähert hatte, nach Italien brachte.
126 Das Geheimnis
.Einiges, was er so erzählte, war den Zu‐
hörenden bereits bekannt, anderes wieder
neu, aber er glaubte den kurzen Abriß seines
Lebens nicht entbehren zu können, damit
man das Folgende einzureihen wisse.
.Nach einigen Zwischenfragen der älteren
Freunde fuhr er dann fort:
.„Ich habe mit Absicht in dieser Skizzie‐
rung meines Lebenslaufes dessen bisher
noch nicht erwähnt, was Sie doch vor allem
von mir hören wollen, denn nun erst kann
ich Ihnen im Zusammenhange schildern, wie
das in mein Leben trat und sich weiter aus‐
wirkte, dem ich heute alle Sicherheit der
Seele danke, nachdem es mich einst zuerst
erreichte in einem Zustand wahrer seelischer
Verwüstung, der mir nichts übrig gelassen
hatte, als den Glauben an eine 'Wirklich‐
keit', die man messen, wägen, errechnen
und schließlich mit den Händen betasten
kann.
.So hören Sie nun!
*
127 Das Geheimnis
.Es war in jener großen Stadt, in der ich,
seelisch zerrüttet, ja an aller geistigen Er‐
kenntnismöglichkeit verzweifelnd, nun aufs
neue zu studieren begann und alle Energie
aufzubieten hatte, um bei solcher Seelenver‐
fassung den Anforderungen meines Studiums
zu genügen und mich von den so weitaus
jüngeren Kommilitonen nicht beschämen zu
lassen.
.Ich hatte in ziemlicher Nähe des Polytech‐
nikums ein Zimmer gefunden, und da ich es
vorerst fast nicht ertrug unter Menschen zu
sein, so suchte ich stets auf dem schnellsten
Wege aus den Vorlesungen in den Bereich
meiner vier Wände zu gelangen, und die be‐
rühmten Sehenswürdigkeiten der Stadt wa‐
ren für mich so gut wie nicht vorhanden.
.Längere Zeit schon hatte ich mich dieser
selbstgewählten Gefangenschaft ergeben und
mich dabei leidlich wohl befunden, als mich
doch an einem warmen, schönen Sommer‐
abend die Lust befing, eine nicht allzuweit
gelegene, große Parkanlage aufzusuchen, wo
128 Das Geheimnis
ich von diesem ersten Durchbrechen meiner
Abgeschiedenheit an, dann auch fast jeden
Abend zu finden war und bald alle die ver‐
schlungenen Wege kannte, die schließlich,
an Wasserläufen entlang, an kleinen Seen
vorbei, über Brücken und Stege allmählich
aus der gepflegten Parklandschaft hinaus ins
Freie führten, in eine rechte Wald- und Wie‐
senwildnis, wo man sicher war, keinem le‐
benden Wesen zu begegnen, außer zuweilen
einem flüchtenden Reh, das den Weg kreuzte,
oder einem aus dem Buschwerk aufge‐
scheuchten Fasan, der mit seinem surrenden
Auffliegen den einsamen Spaziergänger oft
unvermutet aus der Ruhe schreckte.
.Eines Abends aber bemerkte ich, daß ich
diesmal nicht allein diese Einsamkeit auf‐
gesucht hatte.
.Eine hohe dunkle Gestalt ‒ soweit man
gerade noch erkennen konnte, ein weißbär‐
tiger Alter ‒ schien, wie ich mich auch wen‐
den mochte, meinen Schritten in mäßiger
Entfernung zu folgen, und wenn ich auch
129 Das Geheimnis
gewiß frei war von jeglicher Furcht vor ihm,
so war mir dieses Nachspüren doch durchaus
unerwünscht.
.Kurz entschlossen kehrte ich daher plötz‐
lich um, wandte mich meinem stillen Ver‐
folger entgegen, erreichte ihn, und wurde zu
meinem maßlosen Erstaunen unter Nennung
meines Namens begrüßt.
.Nicht wenig verwirrt, erwiderte ich den
Gruß und gab zugleich meiner Verwunde‐
rung Ausdruck, denn der vor mir Stehende
war mir völlig unbekannt und ich erinnerte
mich nicht, diesem gütigen, schönen Greisen‐
antlitz von tief gebräunter Hautfarbe und die‐
sen durchdringenden dunklen Augen, die in
der Dämmerung fast zu leuchten schienen,
jemals irgendwo begegnet zu sein.
.Irgend etwas ließ es mich geradezu beschä‐
mend empfinden, daß mir vordem die stete
Verfolgung durch den Alten so unsympa‐
thisch gewesen war und ich mit recht wenig
liebevollen Gedanken ihn zu allen Teufeln
gewünscht hatte.
130 Das Geheimnis
.Meiner verwunderten Frage aber folgte
die Antwort:
.'Ich glaube Ihnen gerne, daß Sie mich
noch niemals gesehen haben, aber wie sich
Ihnen jetzt zeigt, sind Sie mir trotzdem nicht
unbekannt, und wenn Sie noch mehr Beweise
wollen, sollen sie Ihnen werden!'
*
.Der Alte wurde mir unheimlich...
.Alsbald aber nahm er wieder seine Rede
auf und sagte:
.'Wie ich sah, wollten Sie doch eben nach
der Stadt zurückkehren, und wenn Sie es er‐
lauben, möchte ich Sie begleiten?
.Ich habe Ihnen einiges zu sagen und bitte
um Vergebung, wenn ich Sie durch mein be‐
harrliches Nachschreiten auf Ihren Wegen
beunruhigt haben sollte!'
*
.Der Ton dieser Stimme, wie die ganze Art
in der die Entschuldigung vorgebracht
wurde, waren derart entwaffnend, daß mir
die Regung zu einem brüsken Abbrechen des
131 Das Geheimnis
Gespräches, die einen Augenblick lang in
mir sich aufbäumen wollte, alsbald verging
und ich ‒ ganz als ob es das Natürlichste
von der Welt wäre ‒ dem Vorschlag zu‐
stimmte.
.Aber was konnte dieser seltsame alte Mann
mir nur zu sagen haben??
.Allerlei Vermutungen schwirrten mir
durch den Kopf, so, als ob er am Ende ein
Bekannter meines Vaters sein könne, oder
ein mir nur unbekannter Zuhörer meiner
früheren, vielbesuchten Predigten, denn in
der Stadt, in der ich hier war, kannte ich
außer meinen Studienkollegen und Profes‐
soren doch kaum einen Menschen und wußte
auch nichts von etwaigen Beziehungen mei‐
ner Familie, die hierher hätten führen kön‐
nen.
.Da fiel mir schließlich auf, daß zwar ich
mit meinem Namen angeredet worden war,
daß der Fremde es aber unterlassen hatte
sich vorzustellen, und so bat ich denn um
seinen Namen.
132 Das Geheimnis
.Merkwürdig berührt aber war ich durch
die Antwort, die ich nun erhalten sollte!
.Der Fremde sprach:
.'Wenn Sie einen Namen brauchen, so nen‐
nen Sie mich wie Sie wollen, aber verzeihen
Sie vorerst, wenn ich Ihnen meinen Namen
nicht eher nenne, als bis Sie von mir gehört
haben, wer ‒ ich bin! ‒ '
*
.Ich wäre versucht gewesen, einen sonder‐
baren Spleen, eine Schrulle des Alters zu ver‐
muten, wenn diese Worte nicht mit einem so
eigenartig bedeutungsvollen Ausdruck mich
erreicht hätten, daß ich eher eine Art Ehr
furcht empfinden mußte, obwohl ich mir
durchaus nicht klar werden konnte, was
diese Empfindung eigentlich in mir begrün‐
den mochte.
.So schritt ich denn eine Weile stumm ne‐
ben meinem mysteriösen Begleiter dahin,
bis er selbst wieder zu reden begann und sich
also vernehmen ließ:
.'Sie waren bereits Seelsorger einer Ge‐
133 Das Geheimnis
meinde frommen Glaubens, bevor Sie hier‐
her kamen, um aufs neue zu studieren, aber
Sie haben gut getan, Ihren damals schon er‐
reichten Beruf aufzugeben, denn ich werde
Ihnen beweisen können, daß Sie trotz aller
gut bestandenen theologischen Examina doch
herzlich wenig von dem wußten, über das Sie
andere belehren sollten, und daß Ihnen die
Wunder der Seele noch ein Buch mit sieben
Siegeln sind bis auf den heutigen Tag!'
*
.Er kennt mich also doch nur dem Äuße
ren nach von der Predigerzeit her, dachte
ich mir, und war eigentlich recht wenig er‐
baut über diesen Vorstoß in medias res, zu
dem ich ihm kaum die Berechtigung gegeben
zu haben glaubte.
.Aber ehe ich noch ein Wort erwidern
konnte, fuhr er fort:
.'Unterlassen Sie lieber alle Kombinatio‐
nen, die Sie sich vielleicht zurechtlegen mö‐
gen, wenn Sie meine Vertrautheit mit Ihrem
Lebensschicksal gewahren!
134 Das Geheimnis
.Sie werden sonst heute abend noch sich
überzeugen müssen, daß alle Ihre Vermutun‐
gen irrig waren und daß es wirklich noch
Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, von
denen sich die Schulweisheit nichts träumen
läßt ‒ ‒ wenigstens die eurer westlichen
Lehrer nicht!! ‒ '
*
.Jetzt erst fiel mir der fremdländische Ak‐
zent in der Sprache des Fremden auf, und in
Verbindung mit diesem betonten Gegensatz
zu 'westlichem' Wissen, warf ich unwillkür‐
lich einen Seitenblick auf seine dunkle Haut‐
farbe.
.Er schien diesen Blick, den nur ein vages,
blitzartiges Empfinden verursacht hatte, so‐
fort bemerkt zu haben und sagte:
.'Sie dürfen mich tatsächlich nicht unter
den Menschen Ihres Landes unterbringen
wollen!
.Ich bin hier völlig fremd, und nur hierher‐
gekommen, weil ich einen Auftrag auszu‐
führen habe, der ‒ Sie betrifft. ‒ ‒
135 Das Geheimnis
.Ich komme vom Aufgang der Sonne her
und muß so schnell wie nur möglich wieder
zurückkehren.
.Es ist nur Pflicht, die mich zu der mir
sonst wenig erfreulichen Reise nach Europa
bewog. ‒ '
*
.Jetzt wuchs mein Erstaunen ins Grenzen‐
lose und es hätte nicht der vorhergehenden
Mahnung bedurft, mir jede weitere Möglich‐
keit zu Vermutungen abzuschneiden.
.Was sollte denn nur um des Himmels Wil‐
len ein Orientale mir für einen 'Auftrag'
auszurichten haben?!
.Das war ja schon beinahe heller Wahn‐
sinn!
.Aber auch hier blieb mir keine Zeit zu wei‐
terem Nachdenken, denn der geheimnisvolle
Begleiter nahm wieder das Wort und
sprach:
.'Es sind Dinge, die ich Ihnen zu sagen
habe, von denen Sie noch nichts wissen kön‐
nen.
136 Das Geheimnis
.Mäßigen Sie Ihr Erstaunen und hören Sie
mir ruhig zu!'
.Und dann erklärte er mir: er sei ein Glied
einer geistigen Gemeinschaft, die mitten in
Asien gleichsam ihren Hauptsitz habe, aber
ihre unsichtbaren Fäden über die ganze Erde
zu spinnen wisse und jeden Menschen er‐
reichen könne, der aus der tiefsten Inbrunst
seines Herzens heraus nach Gott suche. ‒
.Man wisse dort längst von mir auf geisti‐
gem Wege, und ich sei durch eine Art von
naturgegebener psychophysischer Begabung
dazu bestimmt, in eine ganz besonders nahe
Verbindung zu seiner Gemeinschaft zu tre‐
ten.
.Dann erzählte er mir geradezu meine
eigene Lebensgeschichte und ließ mich er‐
kennen, daß er beinahe mehr von mir wissen
mußte, als ich selbst, obwohl er in äußer‐
lichen Details dabei offenbar unsicher war,
aber um so sicherer seelische Momente ent‐
hüllte, die mir noch kaum selbst zu Bewußt‐
sein gekommen waren.
137 Das Geheimnis
.Mich überlief es eiskalt und ich wäre am
liebsten entflohen, um nur zuerst wieder Herr
meiner eigenen Gedanken zu werden...
.Ich hörte da von Dingen, die mir so fremd
waren, daß ich sie kaum noch fassen konnte,
und zu gleicher Zeit wurde mir mein Inneres,
das ich vor aller Welt verborgen glaubte, in
solcher unbegreiflicher Klarheit gezeigt, wie
ich es selbst noch nicht gesehen hatte.
.Dabei ward mir das alles in einer so güti‐
gen und völlig ruhigen Weise gesagt, als sei
es die Unterweisung eines jahrelang bekann‐
ten Lehrers, und als handle es sich um die
allerselbstverständlichsten Angelegenheiten.
.Kaum wußte ich mehr ob ich träume oder
wache...
*
.Aber dem Alten entging nichts von mei‐
ner seelischen Erregung, und wie zur Beruhi‐
gung sagte er mir:
.'Halten Sie mich bitte nicht für allwissend,
wenn ich Ihnen da so manches aus Ihrem In‐
nenleben heraushole und aufzuhellen suche!
138 Das Geheimnis
.Wenn ich auch vielleicht einiges weiß, was
nicht allen Menschen offenbar ist, so bleibt
mein Erkennen dessenungeachtet doch sehr
begrenzt.
.Sobald aber einer der Unseren einen der‐
artigen Auftrag empfängt, wie er mir Ihnen
gegenüber wurde, löst man ihm auch vorüber‐
gehend gewisse Fesseln der Wahrnehmungs‐
fähigkeit, und so ist es mir nun im Augen‐
blick möglich, mehr von Ihnen zu wissen
als mir normalerweise zu wissen gegeben
wäre. ‒ ‒
.Es ist das alles nichts Wunderbares!
.Was Ihnen dabei so seltsam erscheint, ist
ebenso natürlich begründet wie die Gesetze
der Mechanik, die Sie in Ihrem gegenwärti‐
gen Studium zu erforschen suchen!
.Wollen Sie bitte in mir nur einen Men‐
schen sehen, der Sie über Geistiges ebenso
zu belehren sucht, wie die Lehrer Ihrer Hoch‐
schule Sie in bezug auf rein irdische Ge‐
setzmäßigkeiten aufklären!
.In diesem, wie in unserem Falle gibt ein
139 Das Geheimnis
Mensch nur das Wissen weiter, das er selbst
erworben hat, damit es einer erwerbe, der
danach verlangt...'
*
.Wie glättendes Öl auf sturmbewegte Wo‐
gen legten sich bei diesen Worten deutlich
wahrnehmbare sanfte Strahlen auf die erreg‐
ten Empfindungen meines Innern.
.Ich fand mich überraschenderweise als‐
bald zurecht in dem mir so neuen Vorstel‐
lungskreis, ‒ fragte, und fragte wieder, und
erhielt auf jede Frage eine Antwort, die mich
immer mehr in ihm befestigte. ‒ ‒
.Eine glühende, fast überirdisch zu nen‐
nende Verehrung und Liebe strömte aus mei‐
nem Innersten auf für diesen geheimnisvol‐
len alten Mann, so daß ich mich kaum noch
zurückhalten konnte, diesen Gefühlen den
deutlichsten Ausdruck zu geben... Am
liebsten hätte ich ihm beide Hände geküßt
vor Dankbarkeit, denn ich fühlte bereits,
daß er mir die völlige Erlösung aus der
Hölle meiner inneren Zerrissenheit brin‐
140 Das Geheimnis
gen würde, ‒ daß er allein sie bringen
konnte. ‒ ‒
*
.So waren wir allmählich der Stadt und
dem Ausgang des Parkes nahegekommen.
.Ich hatte nur den einen, sehnsüchtigen
Wunsch, daß der alte Mann bei mir bleiben
möchte.
.Aber als wir in die Helligkeit der ersten
Straßen eingetreten waren, hielt er plötzlich
an und meinte:
.'Für heute ist es genug!
.Erwägen Sie, was Sie heute hörten in Ihrem
Herzen und kommen Sie morgen zu jenem
kleinen Tempel am Eingang des Parkes, wenn
Sie danach verlangen sollten, mehr von mir
zu hören!
.Ich erwarte Sie zu der Stunde, in
der Sie gewöhnlich sich hier zu ergehen
pflegen!'
.Damit verabschiedete er sich und lenkte
seine Schritte nach einer Seitenstraße.
.Es kostete mich alle Überwindung, ihm
141 Das Geheimnis
nicht heimlich zu folgen, aber irgend etwas
Unerklärliches hielt mich davon zurück.
*
.Ich weiß nicht, wie ich an diesem Abend
meine Wohnung erreichte. ‒
.Jedenfalls waren meine Augen wie erblin‐
det gegenüber allem, was mir auf dem Wege
dahin begegnen mochte.
.Zu Hause angelangt, schloß ich die Türe
und fiel der Länge nach auf meinen Ruhe‐
divan nieder, unfähig, auch nur die Lampe
anzuzünden.
.Hier war es mir nun, nachdem ich eine
zeitlang mit offenen Augen in das Dunkel
starrte und alles an meinem Geiste vorüber‐
ziehen ließ, was mir heute begegnet war, als
stünde plötzlich meine damals kürzlich ver‐
storbene Mutter neben mir und führte an
ihrer Hand den geheimnisvollen Alten zu
mir heran.
.Als Beide dicht an meinem Lager standen,
bat sie ihn, daß er mich segnen möge.
.Er hob die Hände über mein Haupt, und
142 Das Geheimnis
während die Erscheinung einen Augenblick
so deutlich wurde, daß ich alles greifen zu
können glaubte, war sie im nächsten Moment
völlig verschwunden, so daß ich aufsprang
und mich umsah, wo die beiden Gestalten
hingekommen seien.
.Aber es war nichts mehr wahrzunehmen,
und so tastete ich denn nach der Lampe auf
meinem Schreibtisch, um sie anzuzünden.
.Das weiche, warme Licht schimmerte
längst durch die Milchglasglocke und erhellte
das kleine Zimmer, als ich immer noch ver‐
suchte, die Erscheinung durch eigene Wil‐
lensanstrengung aufs neue hervorzurufen, ‒
allein, es wollte nicht gelingen...
.Endlich gab ich die Versuche auf, und da
ich mich durch alles Erlebte über und über
ermüdet fühlte, beschloß ich früher als sonst
zu Bett zu gehen, löschte das Licht und ver‐
fiel in einen tiefen, völlig traumlosen Schlaf.
*
.Des anderen Tages schon sehr zeitig er‐
wacht, mußte ich mir erst langsam klar‐
143 Das Geheimnis
machen, daß das Erlebnis des vorangegange‐
nen Abends wirklich kein Traum gewesen war.
.Ich fand mich immer mehr dann in einer
geradezu feierlichen Stimmung, und wenn
ich an diesem Tage mich mit besonderem
Eifer meinen Studien hingab, so geschah es
wahrhaftig nur, damit die Stunden schneller
verrinnen sollten, denn ich konnte kaum den
Abend erwarten, an dem ich den Alten hof‐
fentlich wiedersehen durfte. ‒
.Als ich ihn dann an dem bezeichneten
Treffpunkte endlich fand, wußte ich mich
vor Freude kaum soweit zu fassen, daß ich
ihm zum wenigsten in schicklicher Form vor
den dort häufigen Spaziergängern entgegen‐
treten konnte.
.Kaum waren wir nach einigen Schritten in
einen der weniger begangenen Seitenwege
eingebogen, als ich auch schon mein merk‐
würdiges und für mich damals so geheimnis‐
volles Erleben, das sich nach der Rückkehr
in meinen vier Wänden zugetragen hatte, mit
Erregung erzählte.
144 Das Geheimnis
.Er hörte sehr ruhig zu, schien durchaus
nicht sonderlich beeindruckt und meinte nur:
.'Sie haben da im Bilde einen gewissen
geistigen Zusammenhang erkannt, denn die
Voraussetzungen, die es ermöglichen, daß
Sie mein Schüler werden können, haben Sie
tatsächlich Ihrer Mutter zu danken, in de‐
ren Ahnenreihe allmählich die physischen
Körperzellen jene Umwandlung erfahren
haben, durch die Sie aufnahmefähig zu wer‐
den vermögen für das praktische Erken
nen, dem ich Sie zuführen soll.
.Hüten Sie sich aber im allgemeinen vor
solchen Bildern, die ohne Ihren Willen und
Ihr Zutun sich aus Kräften gestalten, die
Ihnen innewohnen, und die Sie erst völlig
beherrschen lernen müssen, bevor Sie
sicher sein können, vor gröblichen Täuschun‐
gen bewahrt zu bleiben!
.Seien Sie vorerst froh, daß Sie dieses, aus
Ihnen selbst herausgetretene Bild wenigstens
diesmal nicht betrogen hat! ‒'
145 Das Geheimnis
.Diese Erklärung wirkte natürlich auf mich
wie ein kalter Wasserstrahl. ‒ ‒
.Gerade weil mir vorher noch niemals der‐
artige Erscheinungen geworden waren, hatte
ich mich doch sehr versucht gefühlt, der
Sache eine große Bedeutung beizulegen; ja,
ich konnte mich von dem Gedanken nicht
losmachen, daß mein neuer Bekannter die
Vision verursacht haben müsse, indem er
bereits so auf mich eingewirkt habe, daß ich
fähig geworden sei, einen ersten, kurzen
Blick in eine der geistigen Regionen zu tun,
von denen er mir gesprochen hatte.
.Es gab nicht lange Zeit, mich meiner Ent‐
täuschung hinzugeben, denn mein Begleiter
fuhr fort:
.'Wenn ich Sie solchen Phantasmagorien
ausgeliefert sehen wollte, hätte ich mir die
weite Reise hierher zu Ihnen ersparen kön‐
nen und es wäre nicht nötig gewesen, daß
ich Sie im physischen Körper aufsuchte.
.„Seher” dieser Art gibt es gerade genug,
und nicht wenige unter ihnen glauben gar,
146 Das Geheimnis
sie stünden mit uns Leuchtenden des Ur‐
lichts in Verbindung.
.Sie müssen aber wissen, daß es für uns ‒
trotzdem wir es auch anders ermöglichen
können, wo es nur vorzubereiten gilt ‒
bindendes Gesetz ist, denen, die unsere aus‐
drücklichen Schüler werden sollen, dann
auch in unserer physisch wahrnehmbaren
Gestalt zu nahen, die nicht anders beschaf‐
fen ist, als die anderer Menschen, während
wir denen, die nicht für diesen Weg be‐
stimmt sind, ‒ niemals irgendein sicht‐
bares Zeichen senden, sondern sie nur
durch geistige Ströme leiten, sofern
sie sich selbst für solche Leitung bereit
machen! ‒
.Sie werden mich zwar, nachdem ich längst
zurückgekehrt bin in meine irdische Heimat,
auch in einer Gestalt sehen, die nicht wie
dieser Leib hier und diese Kleidung, aus
irdischer Materie gewoben ist; ‒ allein
nicht eher werden Sie mich so erblicken, als
bis Sie jene Kräfte, die Visionen gleich dieser
147 Das Geheimnis
am gestrigen Abend liefern, restlos be
zwungen haben. ‒
.Wäre es nötig gewesen, und hätten wir
Sie dazu fähig befunden, solches in Ruhe
hinzunehmen, so wäre ich Ihnen vielleicht
heute kein Fremder mehr, und Sie würden
mich in meiner Geistgestalt schon von
Kindheit an kennen; aber auch dann
hätte ich jetzt im äußeren Erdenleibe
zu Ihnen kommen müssen, nachdem Sie aus‐
ersehen sind, in reguläres geistiges
Schülerverhältnis zu mir zu treten.
.Da Sie aber nicht von Jugend auf an reale
geistige Gestaltung gewohnt sind, muß ich
Sie jetzt vor sich selber schützen, denn
Sie müssen nun erst lernen, wahrhaft Gei
stiges von Trugbildern zu unterscheiden.
.Wenn Sie also später vielleicht von „Er‐
scheinungen” da und dort hören sollten, die
plötzlich in das Leben eines Erwachsenen
treten und ihn betören wollen, daran zu
glauben, die erschienene Gestalt sei ein
„Guru”, der ihn als „Schüler” unterweisen
148 Das Geheimnis
wolle, während der also Betrogene noch nicht
in die ersten Mysterien des Gebrauchs seiner
geistigen Kräfte eingeweiht wurde, so war
nen Sie, falls noch zu warnen ist, aber lassen
Sie sich nicht täuschen, auch wenn Ihnen von
den hochtönendsten Reden eines solchen
vermeintlich in geistiger Gestalt erblickten
scheinbaren „Guru” berichtet wird, oder gar
von eingetroffenen Prophezeiungen, die er
gegeben haben soll, und dergleichen
mehr! ‒
.Sie ahnen heute noch nicht, wie die Welt
erfüllt ist von dem dramatisierten Mum
menschanz der plastischen Phantasie
des Menschen und von einer zweiten, an
deren Art scheinbar „überirdischer” Er‐
scheinungen, die aus den umnachtetsten
Regionen der physisch gegebenen Erschei‐
nungswelt stammen, obwohl sie dem so Be‐
troffenen sich stets als „geistige” Wesen‐
heiten von zumindest auf menschlicher
Geistesstufe stehender Höhe auszuweisen su‐
chen! ‒
149 Das Geheimnis
.Wenn einer mit seinem Hunde spielt und
ihn zu Kunststücken abrichtet, so hat er im‐
mer noch Besseres getan, als wenn er den
salbungsvollsten Offenbarungen solcher ver‐
meintlicher „Geister” lauscht, oder sich ihre
oft staunenerregenden Eingriffe in das ge‐
setzmäßig normale physikalische Geschehen
vordemonstrieren läßt, die frevelhaft und
verworfen zu nennen wären, hätten ihre Ver‐
ursacher auch nur das leiseste Verantwor‐
tungsbewußtsein bei solcher Manifestation!
.Nicht von außen her und als Erweiterung
des Wahrnehmungsbereiches Ihrer physi
schen Sinne, werden sich Ihnen die geisti‐
gen Welten erschließen!
.In Ihrem allerinnersten Innern sollen
Sie durch geistige Kraftübertragung
gewandelt werden, bis Sie ‒ falls es Ihr
physischer Organismus erlaubt ‒ bei
wachen irdischen Sinnen fähig sind,
sich, wie einer der Weisesten Ihres Glaubens
sagt: zu dem siebenten der Himmel zu er‐
heben!!
150 Das Geheimnis
.Ob Sie soweit gelangen werden wie jener,
kann auch ich nicht wissen; aber wie immer
auch Ihre ererbte Physis der geforderten Um‐
wandlung gegenüber sich verhalten mag, so
werden Ihnen doch Einblicke werden in eine
Welt des Geistes, von der Sie auch in Ihren
kühnsten Träumen und in der tiefsten reli‐
giösen Versenkung noch nichts ahnten! ‒'
*
.Während dieser Worte war es mir, als
wolle sich in meinem Innern eine geheime
Kammer öffnen, in der ich einen unerhörten
Schatz finden solle, ‒ aber da war auch zu‐
gleich etwas, das sich mit gewaltigem Wider‐
stand vor die Pforte stemmte und um keinen
Preis auch nur einen Spalt breit die Öffnung
zugeben wollte. ‒ ‒
.Vielleicht wäre dieser Widerstand gerin‐
ger gewesen, wenn ihm nicht auch noch alle
erdenklichen theologischen Einwände
sehr den Rücken gestärkt hätten? ‒
.Ich war eben doch noch durchaus nicht
frei von früheren Vorstellungen und konnte
151 Das Geheimnis
mich noch nicht lösen von der Methode, die
man mich einst gelehrt hatte, um meine da‐
malige Glaubensmeinung den Angriffen Un‐
gläubiger gegenüber verteidigen zu kön‐
nen...
.So suchte ich denn nach Art der Schach‐
spieler den vernichtenden Gegenzug, um den
Sprechenden vielleicht 'matt' zu setzen; aber
trotzdem ich mein Gehirn nicht wenig durch‐
wühlte, wollte mir kein aussichtsreicher Zug
einfallen.
.Endlich klammerte ich mich an die mir
etwas erstaunlich erschienene Erwähnung
des Mannes, den ich als eine Grundsäule des
Christentums zu betrachten gewohnt war
und dessen apostolische Briefe mir einst so
manchen Text zu meinen Predigten geliefert
hatten.
.Das vorher Gehörte hatte für meine Ohren
recht wenig 'christlich' geklungen und so gab
ich meinem Erstaunen Worte, daß hier auf
einmal ein Mitbegründer des Christentums
quasi als 'Schüler' der geheimnisvollen Ge‐
152 Das Geheimnis
meinschaft angeführt wurde, der mein Be‐
gleiter zuzugehören behauptete.
.Es erschien mir geradezu wie eine verbre‐
cherische Anmaßung, auch nur eine Sekunde
lang den Gedanken ernsthaft zu erwägen,
dieser größte der Apostel des Christentums
könne seine Erleuchtung einer Einwirkung
zu danken haben, der ähnlich, der ich mich
hier nun überlassen sollte, und wäre so
gleichsam als mein früherer Mitschüler zu
betrachten. ‒
.Ich hielt mit meinen Empfindungen kei‐
neswegs zurück und redete mich in einen
solchen Eifer hinein, als wäre ich noch in
kirchlichem Amte und es gälte hier, einen
Widersacher meines ‒ ach, längst so brüchig
und morsch gewordenen früheren Glaubens
aus dem Felde zu schlagen.
*
.Mein Begleiter aber hörte mir ruhig zu
und schwieg auch noch längere Zeit nach‐
dem ich geendet hatte, so daß ich schon mei‐
nes Sieges nun gewiß zu sein glaubte.
153 Das Geheimnis
.Dann aber begann er:
.'Ferne sei es von mir, die so glühende Ver‐
ehrung für diesen Weisen Ihres Glaubens aus
Ihrem Herzen zu reißen!
.Dagegen danke ich Ihnen, daß Sie mir nun
meine Aufgabe so sehr erleichtert haben,
denn hier gaben Sie mir selbst ein Ende des
Fadens in die Hand, dessen wunderliche Ver‐
schlingungen erst völlig entwirrt sein müs‐
sen, bevor ich Ihnen eine Kraft der Einsicht
übertragen darf, zu der Sie gelangen können,
wenn Sie erkannt haben werden, daß nur
menschlicher Übereifer die Schlingen
knüpfte, in denen Sie sich soeben erst wieder
verfangen haben! ‒ ‒
.Eigentlich weiß ich nicht, ob ich mehr
Ihre Vertrautheit mit den Schriften des von
Ihnen Verehrten bewundern muß, oder ob
ich erstaunen soll, daß Sie trotz dieser Ver‐
trautheit nicht zu sehen vermögen, was diese
Schriften, bei aller Ornamentierung durch
spätere Zutat, noch mit leidlicher Klarheit
enthüllen?!
154 Das Geheimnis
.Weshalb wollen Sie nur mit allem Auf‐
gebot Ihrer Dialektik diesen großen, wenn
auch in manchen Befangenheiten seiner
Glaubensmeinung, seiner Zeit und seines
Volkes noch gebundenen Mann so gar weit
von der gleichen Erde entfernen, die ihm
nicht minder einst seine Färbung gab, wie
sie Ihnen heute die Ihre gibt?! ‒
.Lesen Sie doch nur wachen Geistes und
ohne Voreingenommenheit, was er in seinen
Sendbriefen schreibt, soweit es noch unter
den späteren, immerhin kenntlichen Über‐
arbeitungen zutage tritt, und Sie werden
deutlich sehen, daß es ihm sehr ähnlich er‐
ging, wie Ihnen selbst! ‒ ‒
.Sein „Damaskus” werden Sie allerdings in
einem etwas einfacheren Sinne deuten
müssen, als dies den späteren Bearbeitern, die
da ein dramatisches Ereignis einfügen zu
müssen glaubten, gut schien! ‒
.Sie wissen doch bereits, daß in allen Le‐
genden großer Menschen die „Stimmen vom
Himmel” und andere geräuschvolle Eingriffe
155 Das Geheimnis
aus den Wolken her, zur notwendig erachte‐
ten Szenerie gehörten, und so werden Sie
vielleicht auch bei einiger Überlegung hier
die gleiche Technik erkennen?! ‒
.Schalten Sie aber einmal all diese künst‐
lichen Beleuchtungseffekte aus, dann bleibt
ein Mann, der mit Feuereifer für seine Glau‐
bensmeinung tätig war, bis er eines Tages
von einem ‒ wie es heißt: ‒ „gerechten”
Manne in der Stadt Damaskus hörte, den er
aufzusuchen sich auf den Weg machte, weil
er endlich doch durch Zweifel hart bedrängt,
wie blind geworden war und keinen Ausweg
mehr fand. ‒
.Bei jenem Manne aber verweilte er lange
‒ und bei ihm fand er, ‒ was auch ich
Ihnen zu bringen beauftragt bin...
.Als er es erhalten hatte, kam er zu denen,
die sich mit nur äußerem Rechte die
Schüler eines der Unseren nannten, und
nun wird sein Leben wahrlich nicht leicht,
denn was er „geistlich gerichtet” er‐
kannte, wollten jene, gebunden in allzu‐
156 Das Geheimnis
irdische Enge, auf ihre Weise verstandes
mäßig deuten.
.Während er sehr deutlich unterschied
zwischen „Gott”, den er an den echten Stel‐
len seiner Briefe als „Gott, unseren Hei
land” bezeichnet, ‒ dem Gesalbten Got‐
tes: Jesus, den er „nicht mehr dem
Fleische nach” erkannt wissen will, und
drittens: dem „Vater” des hohen Meisters
Jehoschuah, von dem er sehr wohl wußte,
daß er gewiß nicht schlichthin mit „Gott
gleichzusetzen war, haben Spätere seine
Worte verfälscht, als sie nicht mehr recht
passen wollten in das Lehrgebäude, das man
mit Hilfe von allerlei alten Tempeltrüm‐
mern, auf dem Fundament der Lehre des
Nazareners, nach eigener Kunstregel auf‐
gerichtet hatte. ‒ ‒ ‒
.Er selbst schon warnte vor diesen Spä‐
teren: ‒ „denn es wird eine Zeit kom
men, da sie die gesunde Lehre nicht
ertragen, sondern nach ihren eigenen
Wünschen sich Lehrer über Lehrer
157 Das Geheimnis
heranziehen werden, ihre Ohren zu
kitzeln: und von der Wahrheit wer
den sie das Gehör abwenden, um
sich zu erfundenen Fabeln zu keh
ren.”
.Aber ich bin nicht hierher zu Ihnen ge‐
kommen, um Ihnen jetzt die Widersprüche
Ihrer durch unzählige klügelnde Abschrei‐
ber schon gleich nach dem Entstehen so arg
entstellten heiligen Schriften aufzuzeigen,
aus denen heute jeder herauslesen kann, was
er herauszulesen gerade für gut finden mag...
.Ich möchte nur Ihre Augen öffnen für die
Spur der Wahrheit, die trotz allem noch
in diesen Schriften auffindbar bleibt, oft
sehr gegen den Willen dieser frühen Ver‐
fälscher, deren jeder wohl glauben mochte,
er habe seine Arbeit so gründlich besorgt,
daß seine Korrekturen nichts mehr von der
ihm unverständlichen, aber nun einmal
durch die Namen der Autoren geheiligten
Urschrift übrig gelassen hätten. ‒ ‒
.Befreien Sie sich von der Auslegungsart,
158 Das Geheimnis
die man Sie lehrte und lesen Sie unbefan
gen was heute vorliegt, immer im Auge be‐
haltend, daß hier so manche geschäftige Fin‐
ger tätig waren, die Fäden zu verwirren, und
ich bin sicher, daß es Ihnen gelingen wird,
die ursprüngliche Lesart soweit wieder
herzustellen, daß jeder Widerspruch schwin‐
det, auch wenn die Zeugnisse zeitlicher
Blickbeengung auch der wirklichen Au‐
toren bestehen bleiben! ‒'
*
.So gab nun ein Wort das andere und es
wurden mir am selben Abend noch Auf‐
schlüsse zuteil, die ich, ‒ durch eine rein
historische Textkritik völlig in Rationalis‐
mus versunken, ‒ längst nicht mehr ge‐
sucht, geschweige erwartet hätte. ‒ ‒
.Wahrhaftig: man hatte 'die Schlüssel
des Himmelreichs', aber man wußte die
Pforte nicht mehr zu öffnen, und wehrte
‒ um dies nicht gestehen zu müssen ‒ allen,
die selbst die Schlüssel an der Pforte ver‐
suchen wollten! ‒ ‒
159 Das Geheimnis
.In tiefster innerer Erschütterung schied
ich an jenem Abend von dem neuen Lehrer,
und wohl die halbe Nacht noch saß ich zu
Hause vor Bibeltexten, um in der Art, die er
mir angeraten hatte, tatsächlich immer tie‐
fer in den ursprünglichen Geist dieser
Schriften einzudringen.
*
.So reihten sich nun Abend für Abend die
Belehrungen aneinander, die ich an der Seite
des seltsamen Alten durch ihn empfing.
.Er selbst wohnte, wie ich erfahren hatte,
unter einem nichtssagenden europäischen
Familiennamen, in einem der ersten Hotels
der Stadt; aber während er mich niemals
zu sich eingeladen hatte, fand ich ihn sicht‐
lich sehr bereit, zu mir in mein Zimmer zu
kommen, und hier vollzog sich dann die
Vollendung dessen, zu dem die Belehrungen
unserer Spazierwege in freier Natur den
Grund gelegt hatten. ‒
.Ich ward in aller Form sein 'Chela' und er
fand mich geeignet, in mir Fähigkeiten zu
160 Das Geheimnis
wecken, die sonst, auch in solchem vertrau‐
ten Verhältnis des Schülers zu seinem geisti‐
gen Lehrer, gewöhnlich dem Chela vorent‐
halten werden müssen, da nur äußerst sel‐
ten die psychophysischen Vorbedingungen
dazu bei einem Menschen der westlichen
Welt zu finden sind...
.Dank dieser in mir erweckten Fähigkeiten
genieße ich das hohe Glück, auch heute noch,
jederzeit in bewußte geistige Verbin
dung mit meinem Guru treten zu können,
obwohl er im Innern Asiens lebt, tausende
von Meilen von mir getrennt, ‒ ein Glück,
das sonst nur den Seltenen wird, die selbst
zur Vereinigung mit dem Kreise dieser
Leuchtenden geboren sind, zu denen aber
ich keineswegs gehöre und nie gehören kann,
da man in seiner Geistnatur, Jahrtausende
vor der Geburt als Mensch der Erde,
sich aus freien Stücken dieser geistigen Ge‐
meinschaft unlöslich dargeboten haben muß,
um dann hier auf Erden ihrem Kreise zu‐
gefügt zu werden. ‒ ‒
161 Das Geheimnis
.Das ist so in Kürze das Wesentlichste, was
ich Ihnen auf die Frage sagen kann: wie ich
wohl selbst mit den Dingen bekannt ge‐
worden sei, mit denen Sie mich vertraut
finden.
.Ich glaube aber, es wird Zeit sein, unsere
Unterredung für heute zu beenden! Man
hört schon keinen Laut mehr aus dem In‐
nern des Hauses, und der Südländer pflegt
die Nachtstunden dem Schlafe zu widmen.”
*
.Der Mond war längst schon hinter der
Kirchensilhouette aufgestiegen, blieb dann
auf seiner Bahn für kurze Zeit hinter dem
Glockenturm verhüllt und stand nun, bereits
erheblich kleiner, in eisigkaltem, weißem
Licht, hoch über der Zypressengruppe, deren
schwarzes Dunkel seine Strahlen durch einen
zarten bläulichen Schimmer hellten, der den
ganzen Garten wie ein leichter Nebel deckte.
.Die zahllosen Sterne hatten fast allen
Glanz in der Helle des Mondlichts verloren,
162 Das Geheimnis
aber es schien, als seien sie dadurch nur noch
ferner und geheimnisreicher geworden.
.Nachdem der Sprechende geendet hatte,
wurde man erst so recht der tiefen Stille
gewahr, die das Bewußtsein weckte für die
späte Stunde, in der man hier immer noch
beisammen saß, während das abendlich laute
Leben der südlichen Stadt längst wie be‐
graben lag.
.So fanden sich denn die Freunde auch als‐
bald beim Aufbruch, und als der Came‐
riere, der sie hinausgeleitet hatte, hinter
ihnen das Licht verlöschte, schien es auch
ihm an der Zeit, daß die Fremden doch end‐
lich sich zum Gehen entschlossen hatten.
.Als wollten sie Geheimnis hüten, füllten
die Schatten der hohen Häuserwände die
dunklen Gassen, bis dann und wann ein
schmaler Lichtstreif des Mondscheins, über‐
hell und scharf, die Finsternis durchschnitt.
.Die Schritte der drei Heimkehrenden
hallten allzulaut und weckten Echo.
.Man sprach aber fast kein Wort mehr,
163 Das Geheimnis
denn man fühlte, daß erfaßt sein wollte, was
man an diesem Abend aufgenommen hatte,
und daß erst eine andere Stunde, nach durch‐
schlafener Nacht, die Lust zum Reden wie‐
derbringen könne. ‒ ‒
164 Das Geheimnis
DIE FELSENINSEL
SEIT jenem Abend im Garten der Trat‐
toria hatten die Freunde gar oft Gelegen‐
heit gefunden sich auszusprechen, und im‐
mer vertrauter sahen die beiden älteren sich
in der Geisteswelt ihres jüngeren Gefährten.
.Der Weg der Reise, den man sich ohne
Zwang erwählen konnte, führte sie stets mehr
nach Süden, und so manches Schöne war
ihnen seither begegnet.
.Aber endlich sehnten sie sich doch aus
dem Lärm der Städte und ihrer Überfülle
der Werke hoher Kunst, so daß man nun
übereingekommen war, auf einem Felsen‐
eiland, das gleichsam wie ein Wächter vor
dem weiten Golfe einer der lärmendsten
Städte des Südens aus dem Meere wächst,
für einige Tage noch der Ruhe zu leben.
*
.Ein wunderlicher Zufall wollte, daß man
das kleine Schiff der Reisenden mit Böller‐
schüssen zu empfangen schien.
.Man feierte das Fest des Heiligen der In‐
sel, und wenn auch erst am Tag darauf die
167 Das Geheimnis
eigentliche Feier war, so kannte doch die
Festesfreude keine Grenzen, und die ganze
Nacht vor seinem hohen Tage konnte man
sich leicht in einer stark vom Feind bedroh‐
ten Festung wähnen: also donnerten in
einemfort die Freudenschüsse.
.Es war nicht viel an Schlaf zu denken in
dieser Nacht und die drei Fremden arg‐
wöhnten schon, auch hier die Ruhe nicht zu
finden, die sie suchten.
.Als aber des anderen Tages die große Se‐
gensprozession des Heiligen, die seinen Ver‐
ehrern erneut willkommenen Anlaß bot,
ihrer Frömmigkeit so lärmenden Ausdruck
zu geben, unter den alten Gesängen, im Re‐
gen der Rosenblätter, die man dem silber‐
nen Bildnis zuwarf, endlich vorübergezogen
war, fand es sich doch, daß die Freunde stau‐
nend, und eher als erwartet, die köstlichste
Stille genießen konnten.
*
.Jenseits der kleinen Stadt, die der Insel
Höhensattel krönt, schritten sie nun in blen‐
168 Das Geheimnis
dendem Lichte dahin zwischen Ölbäumen
und Zitronengärten, Weingeländen und blu‐
menreichen Hängen, den Duft des Südens
atmend und berauscht von all der Farbe, die
sich ihrem Auge bot.
.Der Ölbaum stand allenthalben in voller
Blüte, während die Zitrone in strotzender
Reife eine Größe erreichte, wie sie die Rei‐
senden bisher noch nicht gesehen hatten.
.Es war kaum zu fassen, woher der Boden
die Kraft zu nehmen wußte, die Rosenfülle
und die schwere Bürde der Glyzinien her‐
vorzubringen, die hier über alle Mauern
rankte!
.So kam man allmählich dem jäheren Ab‐
hang nahe, der in bunter, blütenüberschütte‐
ter Wildnis, zwischen schroffen Felsenklip‐
pen sich zum Meere senkte, das in leuchtend‐
stem Kobaltblau sich allmählich der glän‐
zenden Ferne einte, während zunächst den
Ufern hell smaragdgrüne, kleine Golfe an
die Felsenwände schlossen.
.Wo aber der Meeressand eine seichtere
169 Das Geheimnis
Stelle schuf, dort hoben sich Wunderseen
empor, gleich rundgerandeten Flächen flüs‐
siger Türkise.
.In solcher Zauberwelt hatte man schmale
Fußpfade betreten, die über lockeres Geröll
hinab zum Strande führten, aber noch auf
halber Höhe war das nahe Ruheziel erreicht:
‒ jene alte Mithrasgrotte, in der einst
vor Jahrtausenden der Sonne göttliche Ehre
wurde; in der zur Zeit der Frühlingssonnen‐
wende geheiligte Mysterien die Mysten
weihten, die in sieben Graden, und von
Läuterung zu Läuterung stets schwererem
Gebot gehorchend, hier sich ihrem Gotte
einten, als dessen Abbild ihnen der lichte
Lebensspender: das die Erde bestrahlende
Gestirn des Tages galt.
.Auf „hohem Berge” wohnte nach ihrer
Lehre zugleich auch auf dieser Erde das
Licht, das da in geheimnisvoller Felsengrotte
sich den Herzen offenbarte und jeden zu er‐
reichen wußte, der den Mut besaß, die Prü‐
fung zu bestehen, und der in seiner Seele die
170 Das Geheimnis
Symbole fühlend in sich selbst zu deuten fä‐
hig war, die weise Priester seinen Augen
zeigten. ‒ ‒ ‒
*
.Die drei Freunde traten ein in dieses kühle
Heiligtum, und da jeder der Drei wohl wußte,
wie ungleich gottesnäher das einst hier ge‐
übte „Heidentum” sich fand, als mancher
spätere, dem einen, wahren Gotte selbst‐
gefällig nur allein als „angenehm” ge‐
glaubte Kult, so ließen sie willig ihre Seelen
von dem Geheimnis ergreifen, das hier den
Felsenwänden zu entströmen schien, die
längst nur noch in schwachen Spuren zeig‐
ten, daß ehemals die Kunst der Wissenden
sie reich umkleidet hatte. ‒
*
.Man mochte sich geraume Zeit bereits hier
so mancher Empfindung hingegeben haben,
bevor der älteste der Freunde die Stille brach
und meinte:
.„Es ist doch sonderbar, daß diese Men‐
schen, denen Gott im Lichte sich bezeugte,
171 Das Geheimnis
Grotten im Gestein der Erde wählten,
die Mysterien zu feiern, aus denen ihnen
Lichterkenntnis werden sollte, und daß sie
nicht statt dessen draußen in des Sonnen‐
lichtes Fülle ihre Liturgien übten! ‒”
.Doch während man unwillkürlich ‒ als
dürfe hier an der Stätte, die einst nur hei‐
ligste Erkenntnisworte und geheime Hym‐
nen hörte, kein profanes Wort gesprochen
werden ‒ zum Ausgang kehrte, um unter
schattigem Gesträuch sich Ruhesitze auszu‐
wählen, nahm der Jüngste der Drei das Wort
und sprach:
.Die Erde ist es, der wir dem Leibe nach
entstammen, und in den Schoß der Erde
müssen wir uns ‒ sei es nur im Fühlen, oder
so wie diese Mysten es auch äußerlich zu tun
für richtig hielten ‒ vorerst bergen, bevor
wir 'neu geboren' werden können...
.Nicht umsonst wurden die Mysterien der
Alten, je heiliger sie ihnen schienen, fast
stets in Krypten und Felsengrotten be‐
gangen, und selbst die Weihetempel, de‐
172 Das Geheimnis
ren Säulenwald den Heutigen unverständlich
scheint, wurden noch symbolisch als In
nenräume der Erde empfunden. ‒ ‒ ‒
.Im Innern der Erde wird jedes Gebäude
verankert, und je höher es sich erheben soll,
desto tiefer müssen seine Fundamente rei‐
chen! ‒
.So müssen auch wir: soll der Tempel, der
wir selber sind, mit seiner Kuppel in das
Reich des reinen Geistes ragen, den Grund‐
stein im Innern der Erde legen, damit
er dort verankert ruht, während wir Bau‐
stein auf Baustein fügen, nach einem Plan,
der in uns selbst sich offenbart.
.Wollen wir anders handeln und auf der
Erde Oberfläche uns zu erbauen erküh‐
nen, so gleichen wir nur zu sehr jenen Frev‐
lern der Sage vom 'Tempel zu Babylon',
der in sich selbst zerfiel, da die bauenden
Kräfte sich nicht mehr zu verstehen wuß‐
ten...
.Zwar mag man glauben, auch auf dem
Oberflächengrund der äußeren Er
173 Das Geheimnis
kenntnis, den uns irdisches Wähnen und
Meinen gibt, einen Tempelturm errichten
zu können, der in den Himmel ragt, aber
wer da in solcher törichter Weise baut, dem
halten die wahren Meister der geisti
gen Baukunst sich fern, und er ist nur
auf Erdenkräfte niederer Art ver‐
wiesen, die ihm zwar für lange Zeit als schein‐
bar tüchtige Bauleute dienen; aber ist die
höchste Höhe dann erreicht die ihre Kraft
noch beherrschen kann, dann wird 'ihre
Sprache verwirrt', so daß sie zerstören
müssen, was sie vordem schufen......
*
.In einer Hirtenhöhle ward nach alter
Sage der geboren, den sie 'Erlöser' nen‐
nen! ‒ ‒
.Aus einem Felsengrabe ward ihm nach
gleicher Kunde seine Auferstehung! ‒ ‒ ‒
.Lassen Sie ruhig hier einmal alles 'Histo‐
rische' beiseite und betrachten Sie nur den
tiefen Symbolgehalt, der solchen Worten
innewohnt und ‒ richtig verstanden ‒ aus
174 Das Geheimnis
der Sage ein Gefäß der erhabensten
Wahrheit macht! ‒ ‒
.Wer nicht, wie der hohe Meister, von dem
hier die Rede ist, in tiefster Erde ankert,
der wird gewiß nicht wie er 'in den Him
mel aufgenommen'! ‒ ‒ ‒
*
.Unser eigener Leib ist letzten Endes
für den Geist die Höhle der Erlösung;
ist die 'Erde', in deren innerste Tiefen wir
erst hinabsteigen müssen, um in ihnen den
Grund zu legen, der unseren geistigen Tem‐
pelbau tragen kann. ‒
.Die meisten aber möchten ihren geistigen
Tempel erbauen, indem sie ‒ noch törichter
als jene sagenhaften Erbauer des Turmes zu
Babylon ‒ zuerst die Kuppel zu wölben
versuchen, und sind dann gar sehr betroffen,
wenn ihr Werk alsbald in sich selbst zusam‐
menstürzen muß. ‒
.Sie fangen im Kopfe an und wölben
kühne Gedankenbogen, bevor sie im Inner
sten des Leibes, mit allen Fasern füh
175 Das Geheimnis
lend, fest zu verankern wußten, was die
Kuppel stützen und tragen könnte! ‒
*
.Das Herz ist der Mittelpunkt des körper‐
lichen Lebens, und wenn es zu schlagen auf‐
hört, hat dieses Körpers Leben sein Ende
gefunden.
.Aber es ist durchaus nicht nur poeti
sches Bild, wenn dem Herzen auch in be‐
zug auf seelisches Fühlen und Erleben, bei
allen Völkern und zu allen Zeiten die bedeut‐
samste Wertung wird! ‒ ‒
.Gewiß kann kein Anatom im Herzen des
Körpers jemals die Seele finden; aber alle
unsere körperlichen Organe entspre
chen korrelativen seelisch-geistigen
Organen, und wenn nun in geistiger Bedeu‐
tung vom 'Herzen' gesprochen wird, so ist
nur vom Herzen des geistigen Organismus
die Rede, dessen Regungen jedoch zum Her‐
zen des Körpers ‒ während des Erdenda‐
seins ‒ in steter Wechselbeziehung sind: so
daß gleichsam das Herz des Erdenleibes den
176 Das Geheimnis
Resonanzboden bildet, durch dessen ver‐
stärkende Wirkung uns Menschen alles see‐
lisch-geistige Erleben mit größtmöglichster
Klarheit zu Bewußtsein kommt. ‒ ‒
.Auch das Tier hat ja die gleichen Kör
perorgane, aber es fehlt ihm der gei
stige Organismus, der ihnen entspräche,
und was man so gemeinhin die 'Seele' des
Tieres nennen kann, ist nichts anderes als
der Gesamtkomplex seiner feineren
fluidischen Körperkräfte, die man ja,
in Unkenntnis befangen, meist auch beim
Menschen schon der 'Seele' zuzurechnen
dürfen glaubt...
.Der dem Tiere gleiche Leib ward einst des
aus seinem geistigen Urzustande 'gefallenen'
Geistesmenschen selbstgesuchte Zu
flucht, und dieser gleiche Tieresleib, in dem
er sich nun findet, sobald 'seine Zeit' gekom‐
men ist, wird ihm auch zur 'Höhle der Er
lösung', denn der Geist verlor auch in sei‐
nem 'Falle' keineswegs die Schöpferkraft,
so daß er sich selbst den Formen des
177 Das Geheimnis
Tierleibes gleichzubilden wußte, so
allein erst auf Erden erlösbar werdend, da
er nur so dem Bewußtsein des Men
schentieres erfaßbar wird. ‒ ‒ ‒
*
Wer dieses unsagbar tiefe Mysterium in sei‐
ner unermeßlichen Tragweite fühlend er‐
kannte, dem wird hinfort sein Erdenleib ge‐
wiß nicht mehr als Hinderung und lästiger
Ballast erscheinen bei seinem Streben nach
Bewußtwerdung im reinen Geiste...
.'Was ihr auf Erden bindet, soll auch im
Himmel' ‒ im Reiche des reinen Geistes ‒
'gebunden sein, und was ihr auf Erden löset,
soll auch im Himmel gelöset sein.' ‒
.Es gibt keine wahrhafte Erlösung
für den Erdenmenschen, es sei denn:
im Leibe und leiblich empfindbar
durch den, seinem Leibe gleichge
formten, lebendig substantiellen
Geist!! ‒ ‒ ‒
.Erst wenn er in seinem ganzen Selbst
empfinden durch den Erdenleib, sei‐
178 Das Geheimnis
nes gleichgeformten geistigen Lebens inne
wird, ist er 'in den Geist gelangt', und
dann erst darf er ohne Furcht vor Täu‐
schung seinem Denken zugestehen, die hohe
Kuppel zu wölben, die den Tempel des Gei‐
stes weithin sichtbar bekrönen soll. ‒
.Vorher ist alles, was er bauen mag, nur
bestenfalls eine interessante Fassade, die
der erste Sturmwind stürzt; und wenn er
diesen Erdenleib der Erde wiedergeben
muß, wird er nicht wissen, wohin er sich ber‐
gen könnte, denn was er baute, war nur für
Erdenaugen wahrnehmbar und entschwin‐
det mit dem Erdenkörper seinem mensch‐
lichen Bewußtsein, das, seiner Geistigkeit
noch nicht geeint, fortan nur Scheinge
bilde um sich gewahrt. ‒ ‒ ‒
.So durfte denn der hohe Meister wahrlich
sagen:
.'Wirket solange es Tag ist, denn es
kommt die Nacht, da niemand wirken
kann.' ‒ ‒ ‒
.Diese 'Nacht' aber ist nichts anderes als
179 Das Geheimnis
die mangelnde Fähigkeit, ohne des Körpers
Resonanz die Stimme des eigenen ewigen
Geistes, so wie es hier auf Erden möglich
wäre, zu vernehmen, denn jener 'Tempel',
den es zu bauen gilt, gleicht, mit anderem
Bildwort bezeichnet, einer Symphonie, die
nicht nur den Komponisten und sein Or
chester braucht, sondern auch den Hörer,
der sie aufzunehmen fähig ist! ‒”
*
.Hier hielt der Redende inne, und die drei
Männer blickten nun längere Zeit im Schwei‐
gen versunken hinaus auf das weite Meer,
das ein bewimpelter Segler kreuzte, der wohl
vom nahen Gestade des Landes her noch
Gäste bringen mochte, zu abendlicher Festes‐
freude.
.Wie schützende Wachttürme ragten mas‐
sige Felsgebilde aus dem Meere nahe dem
Ufer auf, die jetzt in gelblich-rötliches Licht
getaucht, erkennen ließen, daß der Sonnen‐
ball, der während des Aufenthaltes der drei
Freunde hier, bereits hinter einer schroffen,
180 Das Geheimnis
hohen Wand im Westen den Blicken ent‐
schwunden war, auf seiner abwärts geneigten
Bahn nun bald der bisher beschienenen Seite
der Erde sich entziehen wollte.
.Noch aber mochte keiner an die Rückkehr
denken, und der „Abate”, nun zur Gegen‐
rede angeregt, begann und sprach:
.„Was Sie uns sagten, ist uns nach allem,
was wir vordem von Ihnen hören durften,
gewiß verständlich und ich muß gestehen,
daß diese Ihnen anvertraute hohe Lehre, die
Sie uns hier nun offenbarten, mich erschüt
tert hat!
.Die Inselbewohner haben mit ihren end‐
losen Freudenschüssen nur den Tag ihres
Heiligen auf ihre Weise feiern wollen; allein
mir ist fast, als hätten sie unbewußt den Tag
begrüßt, der uns hier vereint an dieser Stätte
alter Mysterien, das tiefe Geisteswirken ent‐
hüllen wollte, in dem des Menschen Daseins‐
rätsel sich so wunderbarer Lösung zugeführt
erweist...
.Nur eine Frage bleibt mir noch, wenn ich
181 Das Geheimnis
auch wohl weiß, daß sie am Ende töricht sein
mag; aber so sehr auch mein 'Herz' bei allem
was Sie sagten, sich beglückt und erhoben
fühlte, so läßt es doch dieser Frage gegen‐
über sich noch nicht zur Freude bewegen.
.Vielleicht ist zu vieles in mir doch noch
erdgebunden, so daß ich die Konsequenzen
nicht gern ziehen möchte, auch wenn ich
sie ziehen kann. ‒”
.„Irre ich nicht” ‒ unterbrach ihn der Äl‐
tere ‒ „so finden wir uns ganz in gleicher
Lage? ‒
.Auch ich finde keinen Ausweg, wenn ich
mir sagen soll, daß nur im irdischen
Leibe die Erlösung dem Geiste wird, wäh‐
rend so viele Liebesbanden mich an Geschie‐
dene knüpfen, die ich kaum zu denen rech‐
nen darf, die hier auf Erden schon die Er‐
lösung fanden. ‒ ‒”
.„Das eben ist es” ‒ fiel der „Abate” ihm
in die Rede. „Hier stehe ich wohl vor der
Forderung eines klaren Schlusses, doch es
bleibt etwas in mir, das ich gewiß nicht als
182 Das Geheimnis
'schlecht' empfinden kann, und das mir
doch verbietet, zu dieser Folgerung zu
kommen!
.Entsetzlich bleibt mir der Gedanke, daß
alle, die ich hier auf Erden kannte und die
auf anderen Wegen ihre Seligkeit erreich‐
bar glaubten, nur Opfer der Vernichtung
seien! ‒ ‒”
*
.Aber der Jüngste der Freunde lächelte und
sprach:
.„Verzeihen Sie mir, aber hier haben Sie zu
vorschnell sich zu einer Auffassung gedrängt
gefühlt, die keineswegs gefordert ist!
.Es lag mir sehr ferne, eine Lehre zu ver‐
künden, nach der alle verloren seien, die
nicht hier im Leibe der Erde sich ihrem gei‐
stigen, ewigen Bewußtsein zu einen ver‐
mochten.
.Ich sage nur, daß man hier auf Erden auch
den Leib der Erde nützen muß, um dieses
Ziel zu erreichen, daß man es ohne die Re‐
sonanz, die der Erdenkörper gibt, überhaupt
183 Das Geheimnis
nicht erreichen kann, solange man auf
der Erde lebt, und ferner: daß sich der
ewige Geistmensch in uns dem Erdenkör‐
per so anzugleichen wußte, daß durch
dieses geistgeschaffene Verhältnis eine Mög‐
lichkeit der Erlösung entstand, die wir nur
ausnützen können, solange wir noch in
diesem Erdenkörper leben, dem sich un‐
ser Ewiges durch den 'Fall' in das Bewußt‐
sein des Tierkörpers verband. ‒ ‒
.Daraus folgert aber durchaus nicht die ab‐
surde Annahme, daß sich nach der Loslösung
vom Erdenleibe überhaupt keine Möglich‐
keit der Erlösung fände!
.Aber während wir ‒ noch an den Leib
der Erde gebunden ‒ aktiv in dieses Er‐
lösungswerk einzugreifen vermögen und die‐
ses Leibes Kräfte uns dabei eine sehr wirk‐
same Hilfe bieten, wenn wir sie zu gebrau‐
chen wissen, ‒ sind wir nach der Loslösung
zu völlig passiver Haltung gezwungen, und
was im Leibe der Erde in wenigen Jahr‐
zehnten erreichbar ist, kann alsdann ‒
184 Das Geheimnis
nach irdischen Zeitbegriffen gesprochen
Jahrtausende, ja Äonen dauern!
‒ ‒ ‒”
*
.„Das hört sich freilich anders an”, meinte
der Physiker, „und ich kann mir sogar nach
mancherlei irdischen, mir bekannten Ana‐
logien, eine solche kräfteverstärkende Funk‐
tion des Erdenkörpers sehr wohl erklärbar
machen.
.Zugleich wird es mir dadurch sehr faß‐
lich, daß Menschen, denen solche Zusam‐
menhänge bewußt geworden waren, keine
höhere Aufgabe kannten, als ihren Mitmen‐
schen die Wege zu weisen, auf denen sie hier
auf Erden schon das Ziel der Gottver‐
einigung finden können. ‒
.Was mir früher so oft als bizarre gnosti‐
sche Spielerei erschien, zeigt sich nun in
einem Lichte, das dem üblichen diskursiven
Denken völlig unzugänglich bleiben
muß, und ich sehe mit einer gewissen Be‐
schämung für mich und andere ein, wie
185 Das Geheimnis
leichtfertig man ‒ durch keinerlei wirk‐
liche geistige Einsicht beirrt ‒ im Dünkel
angelernter Phrasen befangen, sich zu einem
Urteil berufen fühlt, zu dem alle eigene
higkeit der Beurteilung fehlt...
.Wie unsagbar töricht erscheinen mir nach
solcher Erkenntnis doch diese Neunmalklu‐
gen, die in ihrer grotesken Überheblichkeit
ewiges Mysterium abgetan zu haben wähnen,
wenn sie nur die Lehren der wirklich Wissen‐
den nach eigener enger Schulregel zu zer‐
pflücken wußten, um die erhaltenen Fetzen
in ihre armseligen Begriffsschatullen einord‐
nen zu können!
.Mir drängt sich da unwillkürlich das Bild
eines Affenkäfigs auf, in den ein Spaßvogel
einen Spiegel warf, mit dem die possierlichen
Tiere schließlich nichts anderes anzufangen
wußten, als ihn wütend zu zerkauen, nach‐
dem sie vergeblich versuchten, auf der Rück‐
seite sein Geheimnis zu entdecken und sich
immer wieder zähnefletschend darüber ent‐
rüstet hatten, daß ihnen nichts anderes dar‐
186 Das Geheimnis
aus entgegenblickte als ihre eigene Gri‐
masse. ‒ ‒
.Man muß eben schon selbst einen, wenn
auch nur schwachen Abglanz ewigen gei
stigen Lichtes in sich zu empfinden
fähig sein, will man begreifen, daß die
hohen Lehren der geistig Erwachten
nicht in die Schablone blickbeengter Groß‐
mannssucht zu pressen sind! ‒
.Es ist wirklich ergötzlich, zu sehen, wie da
so mancher Karrenschieber auf dem Gebiete
spekulativer Verstandeserkenntnis allen Ern‐
stes zu glauben scheint, die durch Selbst
verwandlung geistig Wissenden, von
denen wir durch Sie nun Kunde haben, hät‐
ten keine Ahnung von den verschiedenen
Täuschungsmöglichkeiten, die den
Menschen bei seinem Suchen nach Erkennt‐
nis in die Irre locken können, während das
spärliche Erkennen seelischer Zusammen‐
hänge, auf das eine scheinbetörte Experimen‐
tierweisheit heute so stolz ist, wie ich immer
mehr sehe, jenen im Geiste Leuchtenden
187 Das Geheimnis
schon vor Jahrtausenden nur als Bin
senweisheit galt, über die sich ihr geisti‐
ges Erkennen um Siriusfernen erhoben
hatte...
.Diese drolligen Leutchen leben in einer
Kulissenwelt, die sie sich selbst erbauten,
und ihre Eitelkeit läßt sie alles nur im ben
galischen Lichte ihrer Trugschlüsse
sehen, so daß sie die Sonne beseitigt zu ha‐
ben wähnen, weil ihre entwöhnten Augen
vom Lichte der Sonne nur Blendung er‐
fahren. ‒ ‒ ‒
.Lange genug ließ auch ich mich von sol‐
chen blinden Blindenleitern führen und war
ihrer 'Weisheit' froh, obwohl sie mir letzten
Endes nur allzu deutlich ihre Enge zeigte,
aber ich glaubte damals noch, wie so viele
andere in meiner Lage, daß eben restloses
geistiges Erkennen dem Menschen nicht zu‐
teil werden könne...
.Sie, lieber junger Freund, haben mich auf
diesem Reisewege eines Besseren belehrt!
.Ich danke Ihnen!
188 Das Geheimnis
.Aber ich darf Ihnen auch sagen, daß mich
nichts mehr zurückhalten wird, den nun
kaum betretenen Weg zum Lichte der
Ewigkeit auch zu Ende zu gehen, bis ich
‒ wenn meine Erdentage es mir noch ge‐
währen ‒ hier, während meines Daseins auf
diesem Planeten, das hohe Ziel erreiche, das
ich, wie ich nun fühle, hier erreichen kann!
.Am allerwenigsten aber werden mich in
Zukunft die hohlen Redensarten derer be‐
irren, die ihrer Scheinweisheit froh, nur in
leeren Worten zu kramen verstehen und
solche Torheit für den Weg zur Erkenntnis
halten! ‒”
*
.Der Jüngste der Drei hatte sich erhoben
und blickte sinnend über das abendliche
Meer, so als ob er die letzten Worte kaum
recht beachtet hätte, und man sah es ihm an,
daß er zum mindesten den Dank des Freun‐
des überhören wollte.
.Der Weißbärtige aber ließ sich nun also
vernehmen:
189 Das Geheimnis
.„Es sind gewichtige Dinge, die uns heute
hier beschäftigt haben und unsere Ruhezeit
auf dieser herrlichen Insel steht sichtlich
unter guten Sternen!
.Was nun mich betrifft, so habe ich den
letzten Äußerungen, die da soeben gehört
wurden, kaum etwas hinzuzufügen, es sei
denn, daß ich wohl noch weit triftigeren
Grund zu haben glaube, mir zu wünschen,
daß ich nicht eher diese Erde verlassen
müsse, als bis auch mir das Ziel sich zu eigen
gab, das erst in so vorgerückten Jahren nun
vor mir steht.
.Aber ich kann nicht glauben, daß die Fü‐
gung es mir nun als erreichbar zeigt, wenn
es mir nicht beschieden wäre, ihm noch ent‐
gegenzuwachsen. ‒
.Hätte ich früher von dem allem auf solche
Weise gehört, wie das während dieser Reise‐
tage nun geschah, ‒ wer weiß, ob ich reif
gewesen wäre, dem Anruf zu folgen!?
*
190 Das Geheimnis
.Ich muß gestehen, daß ich in jüngeren
Jahren mich sehr wohl befand, bei einer
Weltanschauung die ich selbst mir zurecht‐
geklügelt hatte, und deren Hintergrund im‐
mer noch die große Abschlußlinie kirch‐
licher Eschatologie: die in früher Jugend so
gläubig aufgenommene Lehre von den 'letz‐
ten Dingen' bildete, wie sie mir als eifrigen
Bekenner meines anerzogenen Glaubens in
den Exerzitien des heiligen Ignatius von Lo‐
yola, die ich unter der Leitung seiner geist‐
lichen Söhne fast jedes Jahr absolvierte, in
wahrlich eindrucksstarker Weise entgegen‐
getreten war.
.Weit entfernt davon, heute solche Erzie‐
hung zu bedauern, kann ich vielleicht erst
jetzt ganz ermessen, welchen Segen sie, trotz
ihrer irrtümlichen Prämissen, in mein Leben
brachte, lernte ich doch dabei eine Metho
dik des Denkens und eine Zügelung des
Fühlens kennen, die zu einer Willensbil
dung führten, wie ich sie wahrhaftig so man‐
chem wünschen möchte, der nur die Schat
191 Das Geheimnis
tenseiten des Wirkens jener Glaubenseife‐
rer der römischen Kirche kennt. ‒
.Wenn ich dann auch später vieles anders
sehen lernte, als es mir damals gezeigt wor‐
den war, so blieb mir doch die straffe Gei
stesdisziplin erhalten, die es mir eben so
unmöglich machte, mich religiösen Schwär‐
mereien hinzugeben, wie sie mich die Trug‐
schlüsse leerer Spekulation, auch wenn sie
noch so verführerisch sich als 'unwiderleg‐
bar' anpreisen mochten, stets gar bald durch‐
schauen ließ.
.Aber im Grunde meiner Seele war eigent‐
lich Resignation...
.Ich stand vor einem großen Ignorabi
mus: beschied mich dabei, daß wir über gar
vieles niemals etwas wissen könnten, und
fand es nur geraten, nach des Dichters Aus‐
spruch: 'das Unerforschliche ruhig zu
verehren'...
.Froh, auf solche Art ein gewisses inneres
Gleichgewicht wahren zu können, wäre ich
sicher kein aufmerksamer Zuhörer gewesen,
192 Das Geheimnis
hätte man mir zu jener Zeit von ähnlichen
Dingen gesprochen, wie die sind, denen wir
jetzt schon so manche Stunde zu weihen uns
bestrebten. ‒
.Erst in den allerletzten Jahren, als mir
mehr und mehr der Gedanke an ein Ab‐
schiednehmen von der Erde nahetrat, wurde
es anders mit mir und ich fand mich gar oft
gedrängt, eine Pforte gewaltsam entriegeln
zu wollen, hinter der das Geheimnis der letz‐
ten Dinge mir verborgen schien. ‒ ‒
.Da sich eigene Erfahrung mir nicht bie‐
ten wollte, versuchte ich schließlich, mir auf
Grund der Erfahrung anderer ein Urteil zu
bilden, und so kam es, daß ich mich schon
seit geraumer Zeit mit jenen Studien beschäf‐
tigte, deren Erwähnung vor Ihnen die Ur‐
sache all der Eröffnungen wurde, die uns
durch Sie, junger Freund, seither geworden
sind.
.Auch hier bedauere ich es keineswegs, so
viel kostbare Zeit an das Durcharbeiten der
Berichte gegeben zu haben, deren wissen‐
193 Das Geheimnis
schaftlich einwandfreie Verfasser mir immer‐
hin Gewähr dafür boten, daß sie sich nicht
durch irgendein Gaukelspiel hatten täuschen
lassen.
.Aber ich sehe längst nun, daß ich trotz‐
dem auf falscher Fährte war, und daß die
Rätsel unserer bleibenden Geistigkeit nie
und nimmer durch Experimente mit Som‐
nambulen und 'Medien' lösbar werden.
*
.Auch ich habe den Anfang des rechten
Weges nun gefunden!
.Ob ich ihn hier noch auf Erden bis zum
Ziele durchschreiten darf, mag höheren
Mächten zu wissen vorbehalten bleiben! ‒
.Einstweilen danke ich der geheimnisvol‐
len Führung, die uns auf dieser Reise Ge‐
legenheit werden ließ ‒ wenn auch noch
wie aus weiter Ferne ‒ die ersten Strahlen
ewigen Lichtes in uns wahrzunehmen.
.Ich fühle, daß der, dem es hier oblag den
Schleier der uns so viel verborgen hielt ein
wenig zur Seite zu ziehen, es ablehnt, unse‐
194 Das Geheimnis
ren Dank entgegenzunehmen, aber das kann
mich nicht hindern, ihm dennoch im Herzen
zu danken, und wenn er selbst sich nur 'Schü‐
ler' nennt, so möge er uns der Obhut derer
empfehlen, die er selbst als Meister ver‐
ehrt! ‒ ‒ ‒”
*
.Und der Jüngere antwortete und sprach:
.„Hier habe nur ich zu danken, daß ich
Werkzeug werden durfte in der Hand einer
hohen Führung, die Sie mir nahebrachte und
Gelegenheit schuf, von dem wenigen zu ge‐
ben, das ich selber geben kann!
.Doch bedarf es nun meiner nicht mehr,
wenn Sie willens sind, sich auch weiter, und
nun beiläufig Ihres Tuns bewußt, der glei‐
chen hohen Führung anzuvertrauen, von der
Sie wissen, daß auch ich ihr mein Erkennen
danke.
.'Bittet, und ihr werdet empfangen!
.Suchet, und ihr werdet finden!
.Klopfet an, und es wird euch aufge
.tan!'
195 Das Geheimnis
.Der einst so zu seinen Zeitgenossen zu
sprechen wußte, ist auch heute noch der
Erde nicht fern, und die wenigen, von
denen ich Ihnen als von den 'Leuchtenden
des Urlichtes' sprach, kennen ihn als ihren
Bruder in seiner Geistgestalt, in der er stetig
bei den Menschen der Erde ‒ im geistigen
Lebenskreis der Erde ‒ bleibt, bis auch
der letzte der Geistesmenschen, die sich hier
dem Menschentiere übergeben müssen als
Folge ihres 'Falles' aus hohem Leuchten, den
Erdenleib wieder verlassen hat...
.Wer ihn zu 'rufen' weiß durch Tat und
Leben, dem ist er nah, wie so mancher an‐
dere seiner Brüder, die in gleicher Weise
bei der Erde bleiben, obwohl sie längst den
Erdenleib verlassen haben!
*
.Es ist nicht nötig, daß man von dem Da
sein dieser geistigen hohen Helfer wisse, um
ihre Hilfe zu erhalten, und es ist nicht nötig,
daß man in Worten sich zu dem bekennt,
den sie den 'großen Liebenden' nennen
196 Das Geheimnis
und in dem ein großer Teil der Menschheit
seinen Erretter sieht. ‒
.Gar viele erhielten solche hohe Hilfe, die
weder den Namen dieses Erhabenen
kannten, noch von seinen geistigen
Brüdern wußten, denn was hier allein
gefordert wird, ist ein 'Glaube', der sich
durch die Tat bezeugt und an kein Be
kenntnis religiöser Meinung aus
schließlich gebunden ist!
*
.Gewiß wird solches gewisses Wissen von
allen denen 'verdammt', die den Wahn er‐
halten möchten, als sei nur durch die Bin‐
dung an die von ihnen ersonnenen Glau‐
bensformeln das Heil zu erlangen, aber der
ewige Geist, dem jene zu dienen glauben, ist
ihrer 'Verdammung' noch weiter entrückt,
als ihrem 'Segen', den sie in seinem Na‐
men allein zu spenden sich berechtigt wäh‐
nen! ‒
.Es hindert aber auch solche Bindung
nicht, daß dennoch auch die Gebundenen
197 Das Geheimnis
die gleiche hohe Hilfe erfahren können,
und es bleibt wahrlich ohne jede Bedeu
tung, wen sie als ihren Helfer verehren zu
müssen glauben! ‒
.Das gläubige Volk dieser Insel hier betet
heute zu seinem Heiligen; aber wer auch
immer der so Gemeinte auf Erden gewesen
sein mag ‒ ob sein Leben und Tun Ver‐
ehrung verdiente oder nicht ‒ so wird doch
die durch Tat und Leben wirksam gewor‐
dene Bitte die wahren geistigen hohen Hel‐
fer erreichen, ‒ nicht anders, als wenn der
Scheich der Wüste zu Allah sein Herz erhebt,
oder der fromme Hindu zu irgendeiner Gott‐
heit seines uns Abendländern so grotesk er‐
scheinenden Pantheons. ‒ ‒
.Ja, selbst der Wilde in seinem Fetischtem‐
pel kann die gleiche Hilfe erhalten, wenn er
nur durch all sein Tun die Vorbedingungen
erfüllt, soweit sie bei seiner Erkenntnis‐
fähigkeit ihm zu erfüllen möglich wer‐
den. ‒ ‒ ‒
*
198 Das Geheimnis
.Dies ist im eigentlichsten Sinne die
'frohe Botschaft', die einst der Meister
von Nazareth der Menschheit brachte;
aber noch heute wird man gar selten einem
Menschen begegnen, der sie verstand! ‒
.Auf der einen Seite wurde alles Geistige,
davon diese Botschaft Kunde brachte, immer
mehr von der Erde losgelöst und zu we‐
senlosem Nichts über Wolkenhöhen ver‐
flüchtigt, während man auf der anderen den
Geist so sehr der Materie zu amalgamieren
suchte, daß man es schließlich gar nicht
mehr merkte, wenn man nur noch Mate
rie in Händen hielt. ‒ ‒ ‒
.Wer aber den Geist in sich finden will,
der bleibe sich bewußt, daß er ihn nur der
Materie gleichgeformt zu finden vermag,
aber weder in Materie versunken, noch
über allem Materiellen, in erträumter we‐
senloser Vorstellung!
*
.So auch kann der Geist, solange er noch
nicht dem eigenen Bewußtsein des Men‐
199 Das Geheimnis
schen sich einte, niemals des Menschen Be‐
wußtsein anders erreichen, als indem er die
Möglichkeit schafft, daß das ihm noch nicht
geeinte Bewußtsein empfindend teilzuneh
men vermöge am inneren Lichtesleben eines
Menschenbewußtseins, das bereits dem
Geiste vereinigt ist! ‒ ‒ ‒
.Diese dem Geiste restlos Vereinigten
auf unserer Erde, sind aber jene wenigen
Männer zu jeder Zeit, von denen ich sprach,
als von des Urlichtes Leuchtenden!
.Nicht dadurch, daß man einen, oder sie
alle kennenlernt, kommt man ihnen nahe,
denn dieses Nahekommen hängt weder
ihrerseits noch unsererseits von freier
Willkür, von persönlichen Wünschen ab,
‒ sondern nur die eigene, durch Tat
und Leben bewirkte innere Einstel
lung entscheidet, ob man an ihrem geist‐
geeinten Bewußtseinsleben teilzunehmen
vermag, oder nicht! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Wer aber fähig wurde ‒ wenn auch nur
in leisester Erahnung ‒ daran teilzuneh‐
200 Das Geheimnis
men, den könnte auch kein Gott daran ver‐
hindern; und je mehr er sich in solcher
Fähigkeit zu befestigen vermag, desto
mehr wird ihm Kraft aus jener geistigen
Sphäre kommen, in der das dem Gottesgeiste
geeinte Bewußtsein dieser Meister des Er‐
kennens ruht; je mehr wird ihm Hilfe zuteil
aus jenen Strömen geistiger Allgewalt, in
denen ihr Wille ewig wirkend nach dem Ge‐
setz des Geistes waltet! ‒ ‒ ‒
*
.Wer dies einmal erkannte, ist schon weit
vorangekommen auf seinem Wege, der ihn
zur Einheit im Geiste in sich selber
führen soll!
.Er wird eben so weit davon entfernt sein,
diese 'Leuchtenden' für irre Sektierer und
tolle Schwärmerseelen zu halten, wie er sich
wahrlich hüten wird, in ihnen entmenschte
Halbgottwesen oder eitle Zauberer zu ver‐
muten! ‒ ‒
.Ich habe nun Sie, liebe Freunde, unter das
'Kraftfeld' dieser hohen Hilfe gestellt...
201 Das Geheimnis
.Mehr vermag ich nicht, aber mehr ver‐
möchte auch einer derer nicht, von denen
ich hier sprach, und denen ich all mein Er‐
kennen danke!
.Von Ihnen allein hängt es nun ab,
welche Kräfte Sie aus diesem geistigen 'Kraft‐
feld' gleichsam einzusaugen wissen! ‒
‒ ‒
.Dann danken Sie 'Gott', der in Ihnen
selbst, wie in einem Tabernakel einge‐
schlossen ruht, für die Gnade, die Ihnen
werden mag; aber nicht mir, der ich nur
Anstoß werden durfte, Ihren Willen zu
wecken! ‒”
*
.Die Klippen, die nahe der Küste aus dem
Meere ragten, lagen lange schon in opal‐
farbenem Duft und nur der letzte Wider‐
schein des Tages ließ noch Licht und Schat‐
ten auf ihnen erkennen.
.Über den Häuptern der drei Freunde fun‐
kelten bereits die ersten Sterne, als man nun
endlich sich entschloß, die geheiligte Stätte
202 Das Geheimnis
zu verlassen, um wieder den Pfad zurück‐
zuverfolgen, der nach der kleinen Stadt auf
dem Rücken der Insel führte.
.Es war bereits völlig dunkel geworden, be‐
vor die Wanderer das Haus der Fremden er‐
reichten, das ihnen jetzt für die nächsten
Tage Heimstätte war.
.Hier nahm man nun seine Abendmahlzeit
ein, aber da man nachher noch nicht recht
zum Schlafe sich bewogen fühlte, doch auch
nicht von neuem die tiefen Dinge berühren
wollte, die heute bei der Mithrasgrotte zur
Sprache gekommen waren, so begab man sich
zu der kleinen Piazzetta, allwo das Inselvolk
und seine Gäste wie in einem Festsaal pro‐
menierte und sich der heiteren Weisen freute,
die eine muntere Kapelle zum besten gab.
203 Das Geheimnis
DIE FAHRT AUF DEM MEERE
NACHDEM die Festesfreude der fröh‐
lichen Inselbewohner wieder alltäg‐
lichem Werke gewichen war, fanden sich die
drei Freunde in einer stillen Gottesruhe, die
ihnen alles gab, was sie hier für ihre durch
stetes Schauen ermüdeten Nerven zu suchen
gekommen waren.
.In jeder Morgenfrühe erblickten sie wie‐
der das weithin glänzende Meer, das kaum
die Strahlenfülle mehr zu fassen schien, die
aus dem leuchtenden, unermeßlichen Raume
über ihm herabgeflutet kam ohne Unterlaß.
.Was Wunder, wenn in den Herzen zuletzt
der Wunsch sich regte, auf diese Lichtsee
einmal noch hinauszufahren, um in Sonnen‐
helle durchstrahlt, das Eiland zu umkreisen,
bevor man von ihm dauernd Abschied nahm.
*
.An einem frühen Morgen war man auf
langen Schlangenwegen hinabgewandert zum
Strande, wo schon die Schiffer warteten mit
einer geräumigen Barke, die man des Tages
zuvor für diese Fahrt gemietet hatte.
207 Das Geheimnis
.Was man für des Lebens Notdurft brauchte
an diesem Tage ‒ sowohl für die Freunde
selbst als auch für ihre Ruderer bemessen ‒
war allbereits schon vorher durch einen Bo‐
ten herabbefördert worden und ruhte wohl‐
verwahrt und vor der Sonne späterer Glut
geschützt im Kielraum des schweren Ruder‐
bootes.
.Ein mächtiger Segler kreuzte vor dem klei‐
nen Inselhafen, als man nun hinausfuhr auf
das offene Meer, und seine gelben Segel bläh‐
ten sich im frischen Morgenwinde.
.Gigantisch türmten sich die hohen, röt‐
lichen Felsenschroffen, die droben, in
lichtes Grün gebettet, weiße Villen trugen,
die kaum Halt zu finden schienen und von
hier aus wie die Spielzeughäuser der Kinder
wirkten.
.In weitem Bogen hatte man erst die Fel‐
senwände umfahren, um so den gewaltigen
Anblick aus einiger Ferne genießen zu
können.
.Dann aber hielten sich die Ruderer der
208 Das Geheimnis
Insel näher, so daß aufs deutlichste die Bil‐
dung des Gesteins mit den Augen zu grei‐
fen war.
.Zuerst durchfuhr man nun die wenig
breite Meeresstraße, die das Festland von
der Insel schied.
.Drüben am Festland zog sich in edelstem
Rhythmus eine Kette mäßig hoher Berge in
die Ferne, über die vereinzelt höhere Gipfel
ragten.
.Die ganze Festlandsküste war noch in
einen Schleier zarter Dünste gehüllt, der sie
in mannigfachen pastellweichen Tönen, von
lichter Rosenfarbe bis zu sanftem hellen
Blau, herüberschimmern ließ.
.Hier, wo man nun selbst im Boote saß,
zeigte sich zum nicht geringen Erstaunen
das leuchtend grünblaue Meer von solcher
Klarheit in der Durchsicht, daß man den
Grund mit seinen Steinen und mancherlei
Tanggewächsen derart scharf erkennen
konnte, als blicke man in völlig leere Tiefe,
und fast empfand man es leise unbehaglich,
209 Das Geheimnis
daß die Barke gleichsam wie in leerem
Nichts über solchem Abgrund schwebte.
.In weitester Ferne lagerten über dem
Meere ein paar dünne blaßviolette Wolken‐
streifen als die letzten Zeugen der ent‐
schwundenen Nacht, fast aufgesogen im ro‐
sigen Morgenlicht, das sich darüber bereits
in goldene Helle wandelte, um allmählich in
größerer Höhe lichtestem Gelbgrün und
schließlich dem leuchtendsten Türkisblau
sich zu einen.
.Man muß solche Morgenfrühe auf süd‐
lichem Meere selbst erleben, um ihre Schön‐
heit zu erfassen! ‒ ‒
*
.Die Barke der drei Freunde hielt sich nun
immerfort dicht an der Inselküste.
.Hochragende Felsbastionen wechselten da
mit schroffen Schluchten und zuweilen wei‐
teten sich steile Mulden, in denen lichte Öl‐
haine und Zitronengärten, Orangengehege
und Myrtensträucher nahezu das Meer er‐
reichten.
210 Das Geheimnis
.Die hohen Klippen nahe dem Ufer, die
man sonst nur von der Insel aus bewundert
hatte, bildeten jetzt ein mächtiges Tor, und
die Schiffer ließen es sich nicht nehmen,
das Boot durch dieses Felsengewölbe zu
steuern.
.Nun erblickte man auch deutlich die Stelle
der Mithrasgrotte, bei der man zuvor, an
jenem Abend so folgenreiche Mitteilung er‐
fahren hatte.
.Mit Sicherheit erkannte man zugleich den
steilen Pfad, auf dem einst in alter Zeit die
Mysten, vom Meere kommend, das Heilig‐
tum erklommen haben mochten.
.Noch wenige Ruderschläge, und man ge‐
wahrte, hoch oben über weitem, fruchtbaren
Tal, auf der Sattelhöhe die helle Stadt ‒
nun von der anderen Seite zu sehen, während
man sie noch am Morgen über dem kleinen
Hafen sich erheben sah.
.Nachdem sie von der Hafensiedelung aus
allmählich emporzuwachsen schien, lag sie
hier wie eine Zinnenkrone auf der Höhe der
211 Das Geheimnis
Einbuchtung, zur Linken von dem höchsten
Bergrücken der Insel beschützt, zur Rechten
nur von mäßigen Anhöhen überragt.
*
.Die drei Freunde hatten bisher nur all
dem Schönen, das ihre Augen sehen durften,
sich willig hingegeben, und die Schiffer ‒
nicht wenig stolz auf ihre herrliche Heimat
‒ wurden nicht müde, Erklärungen zu
äußern, oder auf besondere Schönheiten
hinzuweisen.
.Längst tropfte den Beiden der Schweiß
von der Stirne und man merkte es ihnen an,
daß sie nicht ungern ein wenig ausgerastet
hätten, bevor der größere Umkreis der Insel
noch umfahren werden sollte.
.Unweit der Stelle, an der man sich jetzt
befand, gab es eine kleine Anlegestelle für
die Fischerboote.
.Einige pittoreske, niedere Häuser um‐
säumten die kleine Bucht, und am Strande
sah man ausgespannte Netze in der Sonne
trocknen.
212 Das Geheimnis
.Dorthin ließen die Reisenden die Barke
nun lenken, und als sie ans Land gestiegen
waren, freuten sie sich schließlich selbst
daran, für einige Zeit dem reglosen Sitzen
im Boot entronnen zu sein und auf fester
Erde die Glieder gebrauchen zu können.
.Man freute sich auch der Jugend, die hier
ihren Badeplatz fand und allerlei Taucher‐
künste zeigte, sah ein wenig den Fischern
zu, die ihr Gerät schon für den Fang der
nächsten Nacht in Ordnung brachten, und
erquickte sich schließlich, zusammen mit
dem Brüderpaar der Ruderer, an einigen
saftigen Früchten aus dem Vorrat, den man
im Boote mitgenommen hatte.
.Bald aber war man wieder ausgefahren,
sah nur von Ferne noch die kleinen Fischer‐
häuser, und die mählich höher gehenden
Wogen trugen die Barke gleitend wieder ge‐
waltiger Felswand entlang, die nur zuzeiten
durch enge Spalten und farbenschimmernde
Grotten unterbrochen wurde, den westlichen
Abstürzen zu.
213 Das Geheimnis
.Francesco, der jüngere der beiden Ru‐
derer, wußte auf dieser Seite der Insel, die
jetzt im Schatten der hohen Felsen und des
darüber ragenden Berges lag, einen Ruhe‐
platz, der auch seinem älteren Bruder gewiß
nicht unbekannt war, den er aber in den
höchsten Tönen rühmte, als sei er seine Ent‐
deckung.
.Dort wollte man Mittagsrast halten und
lange verweilen, um erst, wenn die Sonne
den Berg überstiegen hätte und nahe dem
Meere wäre, den letzten Teil der Fahrt als
Heimweg anzutreten.
*
.Die Ruderer aber mußten sich gar gewal‐
tig mühen, um den Wogen zu begegnen, und
es war nötig, weit ab in freies Meer zu steu‐
ern, auf daß man nicht allzunahe bei den
niederen Riffen blieb, die hier wie ein spitzer
Zaun die hohen Felsenmauern umgaben.
.Endlich aber glaubten die beiden Brüder
die Zeit gekommen, um den Kurs der
Barke wieder nach der Insel zu richten,
214 Das Geheimnis
und nun hielten sie den Kiel scharf auf
einen hellen Fleck, den man am fernen Ufer
gewahrte.
.Näher gekommen, entdeckte man eine
seichte Bucht, an der keine Brandung auf‐
kommen konnte, und über mächtiger, weiß‐
gewaschener Steinhalde gab es eine idyllische
Rasenterrasse mit Myrtengesträuch, tief‐
dunklem Lorbeer, Eukalyptus- und Ölbäu‐
men bestanden: ‒ so recht ein Ort, der zum
Verweilen lockte.
.Bald war die Barke nun auch von einer
geschickt benützten Woge ans Land gewor‐
fen worden, und nachdem sich Reisende wie
Ruderer der Mühe unterzogen hatten, sie
aus dem Bereiche des Meeres herauf auf die
Halde zu ziehen, durfte man ihrer nun sicher
sein und konnte über das Steingeröll empor
zum eigentlichen Rastplatz steigen.
.Die beiden Schiffer brachten noch die
Körbe mit Speise und Trank, ließen sich ge‐
ben, was man für sie mitgenommen hatte,
und kehrten zurück zu ihrem Boote, um
215 Das Geheimnis
dort zu essen und zu ruhen, so daß sich die
Reisenden kaum zu erklären vermochten,
weshalb dieselben Menschen, die sie hierher
geleitet hatten, als an einen Ort, dem beson‐
dere Schönheit innewohne, doch dieses Ortes
Schönheit nicht genießen mochten.
.Aber hier zeigte sich nichts anderes, als
jener wundervolle Takt, der auch den ein‐
fachsten Sohn des Südens dem ihn verstehen‐
den Fremden liebenswert macht.
*
.Gewiß findet sich in den großen Städten
auch das übelste Pack, aber wo noch der
Rasse Adel rein sich wahren konnte, dort
trägt auch der Ärmste seine Armut in Lum‐
pen noch als Fürst, und die Hoheit seiner
inneren Würde wird besonders bewunderns‐
wert, weil er in jeder Lage fühlt, was seiner
Stellung ziemt, und bei aller Freiheit
der Gebärde niemals aus der Rolle fällt, die
ihm sein Schicksal einmal zuerkannte im
Getriebe dieses Erdenlebens...
.So wußten auch die beiden Brüder gar
216 Das Geheimnis
wohl, daß jetzt die Reisenden doch am lieb‐
sten unter sich zu sein wünschen mußten,
und so gerne sie auch selbst auf dem gleichen
Rasen sich ausgestreckt hätten, wie sie es oft‐
mals wohl schon getan, wenn sie mit Weib
und Kind an einem Festtag hier verweilten,
so wäre es heute ihnen doch wie ein Sakrileg
erschienen, wie ein Vergehen, das stets an
ihnen haften bleiben würde. ‒
*
.Das Mahl hatte trefflich gemundet und
wenn auch hier auf dieser Insel kein kla‐
rer Quell zu finden war, so hatte doch die
Erde köstliche Frucht gegeben, die nach des
Mahles Würze auch den Durst noch stillen
konnte. Daneben gab es noch den Saft der
Rebe dieser Inselhänge der allerdings von
so feuriger Artung ist, daß er das Wasser
nicht gut ersetzen kann. ‒
.Nachdem man dann längere Zeit sich der
Ruhe überlassen hatte, nahm der Jüngste
der Drei das Wort und sprach:
.„An einer sehr ähnlichen Stelle wie dieser
217 Das Geheimnis
hier an der wir lagern, ward mir einst un‐
vergeßliche, hohe Belehrung.
.Es war auf der Reise in den Orient, die
mir mein Vater gewährte, bevor ich meinen
neuen Wirkungskreis betrat.
.So wie hier, befand ich mich auf einer
Insel, so wie hier, im Angesicht des Mee
res, und so wie hier, lagerte man zwischen
Myrtengebüsch und Lorbeer, wenn auch das
Gras weit dürftiger war und nicht die Fülle
der Blumen zeigte, die hier uns umgeben.
.Damals sollte ich meinen Guru unver‐
hofft wiedersehen und es waren recht selt‐
same Umstände, unter denen er mir aufs
neue begegnet war.
.Doch das alles läßt sich auch an einem
Winterabend, wenn der Sturm heult und den
Schnee an die Fenster peitscht, beim Kamin‐
feuer zu Hause erzählen, nachdem wir jetzt
in so nahem, verstehendem Verhältnis uns
fanden. ‒
.Was mir aber soeben in Erinnerung kam,
betrifft vielmehr die Lehre, die mir in jenen
218 Das Geheimnis
Tagen wurde, und die vielleicht doch noch
erörtert werden dürfte, um das zu vollenden,
was unser Zusammensein bisher so ersprieß‐
lich werden ließ.”
.„Ich weiß nicht, was Sie uns heute brin‐
gen wollen”, fiel der Älteste ins Wort, „aber
ich glaube, wir beiden Senioren dieses Krei‐
ses sind uns einig darüber, daß wir durch
Sie nur gewinnen können, und was Sie uns
auch noch zu sagen haben, wird aufnahme‐
bereite Hörer finden!”
.„Das will ich meinen”, ergänzte der in
sichtlichem Wohlbehagen strahlende „Aba‐
te” und fuhr dann fort: „Es ist ja schier un‐
begreiflich, was Sie aus uns beiden, alten
Köpfen schon zu machen wußten in dieser
kurzen Zeit, seitdem Sie endlich Ihr Visier
geöffnet haben! ‒ ‒
.Fast könnte ich es Ihnen verargen, daß
Sie vorher so oft mit uns zusammen waren
und stets vor uns 'Profanen' Ihr Geheimnis
wahrten!
.Wir müssen wirklich in Ihren Augen gar
219 Das Geheimnis
arge 'Skeptiker' gewesen sein, aber Sie wis‐
sen doch, daß Skepsis und Mystik in recht
nahem verwandtschaftlichem Verhält
nis stehen! ‒
.Wer nicht sein Teil Skepsis in sich trägt,
wird ja gar kein Bedürfnis haben, etwa
wissen zu wollen, was hinter dem Vorhang
vorgeht, an dessen Bildwirkerei er zu glau‐
ben angehalten wird...
.Aber, wie Sie gesehen haben, sind wir
'Skeptiker' doch nicht so unverbesserlich,
wie Sie vielleicht geglaubt haben mochten!
.All unsere Skepsis ist ja nichts anderes ge‐
wesen, als verkappte Sehnsucht, glauben
zu können; nur wird einem das Glauben
können heutzutage höllisch schwer ge‐
macht!
.Freilich, wenn man dann, wie bei Ihnen,
plötzlich sieht, daß hinter all diesen Glau‐
benspostulaten jeweils eigentlich eine unum‐
stößliche, wenn auch noch so ungeschickt
formulierte Wahrheit steckt, dann merkt
man schon auf, und weist die Konklusionen
220 Das Geheimnis
des rationalistischen Denkens in ihre gehöri‐
gen Schranken! ‒ ‒
.Aber, wem wird denn heutzutage solche
Belehrung zuteil?! ‒
.Die Mehrheit lebt doch geradeso dahin,
wie es eben die äußeren Umstände zulassen
mögen, kümmert sich nicht um Tod und
Teufel, und läßt schließlich auf sich be‐
ruhen, was sie nicht enträtseln kann.
.Wenn man so richtig aufzunehmen wußte,
was Sie uns in dieser Reisezeit zu geben
hatten, dann greift man sich ja an den Kopf
und faßt es nicht, daß die Menschheit in sol‐
cher Tarantelsucht sich um ihre eigene Achse
dreht und dabei niemals ahnt, daß sie sich
selbst gebannt hält auf dem gleichen Fleck!
.Warum wissen unsere Kinder nicht schon
von dem allem! ‒ ‒ ‒
.Muß denn wirklich jede neue Generation
das 'Einmaleins' für sich von neuem zu
entdecken suchen??
.Doch ich merke, daß ich da selbst jetzt
ins Reden komme, und bitte um Vergebung,
221 Das Geheimnis
denn ich erwarte ja weiter nichts, als daß
unser jüngerer Freund, dem soviel Erfah
rung wurde, uns auch fernerhin belehrt! ‒”
*
.Die Sonne war mittlerweile hinter dem
Bergesrücken erschienen, war mehr und
mehr hervorgerückt, hatte die andere Seite
der Insel umwandert, ihren Höhepunkt über‐
schritten, und sehnte sich sichtlich nun hin‐
ab ins Meer, obwohl sie noch hoch genug
stand, um nicht allsobald befürchten zu las‐
sen, daß sie das Meer verschlingen könne.
.Dennoch fingen ihre Strahlen schon an,
ins Gelb des frühen Abends sich zu wandeln,
und mählich mischten sich auch rosenrote
Töne ihrem Lichte, so daß die ferne Weite
immer mehr in lichtem Farbenschmelz er‐
glühte und auch die Nähe warmer Farbe
Sättigung erfuhr.
.Das Auge trank solche Schönheit in vol‐
len Zügen und man wunderte sich nur, wie
man den grauen Alltag nördlicherer Breiten
sonst auszuhalten fähig war...
222 Das Geheimnis
.Es mußten doch wahrlich nur einst die
Tapfersten gewesen sein, die sich erkühn‐
ten, solche unwirtliche Gegenden sich aus‐
zusuchen, ‒ wenn es nicht vielleicht die
Ärmsten waren, die lieber noch der Unbill
sonnenarmer Sommer sich ergeben wollten,
als weiter Hörige zu sein der Reichen, die
des Südens Üppigkeit nur eigener Genuß‐
sucht dargeboten wähnten. ‒ ‒
*
.So mochten mancherlei Gedanken in den
Gehirnen der drei Freunde sich kreuzen, als
nach einer kleinen Pause doch der Jüngste
der Drei das Wort nahm und also seine Rede
formte:
.„Seht, liebe Freunde, ich komme mir oft
recht unerfreulich vor, wenn ich nur stets
als Lehrender, Ihnen, den so viel älteren
entgegentrete. Sie nennen mich selbst Ihren
jungen Freund und daraus glaube ich
doch entnehmen zu müssen, daß Sie die
Jahre, die von Ihnen mich trennen, gleich‐
sam als Entschuldigung gelten lassen,
223 Das Geheimnis
für vieles, was Ihnen an mir absonderlich
erscheint, obwohl Sie jetzt wissen, daß
diese vermeintliche 'Absonderlichkeit' ihre
Gründe hat! ‒ ‒”
.Doch, wie aus einem Munde ließen die
Älteren sich vernehmen und bekundeten
entschieden, daß sie es nur als Ehre betrach‐
ten wollten, wenn der Jüngere sich zu ihnen
rechnen möge, und daß sie ihn stets nur des‐
halb als soviel jünger empfinden müßten,
weil sie sich selbst fast für zu alt, der‐
gleichen Umstellung des Denkens gegen‐
über, gehalten hätten. ‒ ‒
*
.Darauf nahm wieder der Jüngste das Wort
und seine Stimme war von tiefster Ergriffen‐
heit bewegt:
.„O Freunde, wie sehr bedingt sind doch
die Begriffe 'Jugend' und 'Alter', und wie
wenig haben sie im Geistigen zu be‐
deuten!
.Dort gilt als 'Alter' nur jene Zeit, die der
geistige Mensch der Ewigkeit bereits durch‐
224 Das Geheimnis
laufen hat seit jenem Tage, der ihm den Im
puls zur Rückkehr in seine Urheimat
gab.
.An Erdenjahren erheblich jünger als
Sie Beide, dürfte ich doch hier im Geiste
der 'Ältere' sein, denn sonst wäre mir nicht
geworden, was mir ward. ‒ ‒
.Nun ist es mir Pflicht, Sie zu belehren,
auch wenn ich mir wahrlich nicht etwa
als 'Lehrer' verdienstvoll erscheine! ‒
‒ ‒
.Auch lehre ich Sie ja gewiß nichts, das
etwa mir mehr als seine Formung danken
würde, und gebe Ihnen nur weiter, was ich
einst selbst empfing.
.So möchte ich Ihnen denn heute von eini‐
gem reden, das ich an ähnlicher Stätte einst
erhalten habe, und wenn Sie gesonnen sind,
mir zuzuhören, so werden Sie manches er‐
fahren, was ich seither noch nicht in meine
Rede zu fügen wußte.
.Die Dinge, denen wir auf dieser Reise
Worte schaffen, lassen sich ja aus gar mannig‐
225 Das Geheimnis
fachen Perspektiven betrachten, und so
ergibt sich aus jedem neuen Standpunkt
stets ein neues Bild! ‒ ‒
.Was ich aber heute Ihnen sagen möchte,
knüpft dennoch an Früheres an und soll
Ihnen nur noch besser erläutern, was ich
schon vorher Ihnen sagen durfte. ‒ ‒
.Ich will den Meister selber sprechen las‐
sen, so wie er zu mir einst sprach, als ich auf
südlicher Insel ihm erneut begegnet war und
er sich meiner Seele offenbaren wollte...
.Aus meinem Tagebuche nehme ich die fol‐
genden Worte:
*
.'Ferne sind uns hier der westlichen Welt
verderbliche und schrankenlose Gelüste!
.Ferne bleibt uns, was Deiner Ahnen Enkel
als die Wohlfahrt ihres Lebens ersehnen
mögen! ‒
.Auf diesem Eiland, das uns trägt, atmen
jetzt nur wir zwei allein, denn nur wir
beide atmen bewußt! ‒
.Wir allein suchen uns Rechenschaft zu
226 Das Geheimnis
geben, von dem, was etwa ein höheres Sein
in uns zu sehen vermöchte...
.Und so frage ich dich denn, ‒ Du,
den meine Seele liebt, ‒ wie vermagst
Du Dich selbst zu empfinden, ohne zu er‐
schrecken ‒ vor Deiner Seele unermeßlicher
Weite!? ‒ ‒ ‒
.Doch, Du antwortest mir:
.„„Die vor mir waren, ach, sie waren ge‐
wiß nicht anders als ich, und sie wußten bes‐
ser als mancher, der uns heute begegnet, des
Lebens Herren zu werden!
.Was soll es mir, mich nun über alle Frühe‐
ren zu erheben, und mich in einer Hoheit zu
empfinden, die mir gewiß nichts nütze ist,
wenn ich heute diese Erde für immer ver‐
lassen muß?!””
.Aber ich habe Dir anderes zu sagen und
Du wirst mich also sprechen hören:
.Gar töricht erweisest Du Dich, mein
Freund, wenn Du in solcher Denkart Dich
gefangen geben willst!
.So sprechen nur enge Herzen und erd
227 Das Geheimnis
gebundene Seelen, doch Dich sah ich wei
ter blicken bereits, und es waren entlege
nere Fernen, die ich Dich mit Adlerblick
erfassen lehrte!
*
.Wohl bist Du ein verweslich Tier, ein
Leichnam, der nur Dünger dieser Erde sein
kann, wenn Du dieser Erde unerbittliches
Gesetz zum Herrscher über Deine Seele
werden lässest!
.Aber ich will Dich anderes lehren, und
geloben sollst Du mir, Dich niemals von der
Erde niederen Kräften gängeln zu lassen, ob‐
wohl Du diese Erde auch niemals verach
ten sollst, da nur in dieser Erde Leib
Dir die Erlösung werden kann, solange
Du noch dieser Erde Dasein tragen mußt!
‒ ‒ ‒
.Ich will Dich lehren, der Erde Kleid zu
Cherubsflügeln zu wandeln; ‒ ich will
Dich lehren: aus der Erde Kraft Dich zu den
Sternen zu erheben! ‒
.Wir wollen selbander schreiten und Du
228 Das Geheimnis
wirst bald erkennen, daß ich Dir Wege zeige,
die Du gewiß vor meiner Weisung noch
nicht kanntest, aber ich will Dir auch zeigen,
wie man solche Wege betritt, und wie man
sie bis zum höchsten Ziele zu durchschreiten
vermag! ‒ ‒ ‒
.Weshalb wären wir uns nahegekommen,
wenn ich solchen Liebesdienst Dir nicht zu
erweisen vermöchte?! ‒ ‒ ‒
*
.Die Dich einstens lehrten, sie sprachen zu
Dir:
.„„Gar weise ist des Menschen klarleuch‐
tender Verstand, der alles zu hellen weiß
was des Menschen Bewußtsein in Finsternis
bannen möchte!””
.Aber längst weißt Du, daß Dein Ver
stand Dich zum Sklaven tausendfachen
Irrtums machte, und weise beginnst Du
zu werden, indem Du Dir sagst: daß nie
Dein Verstand die Rätsel lösen wird,
die Dich in dieser Erdennacht umge‐
ben! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
229 Das Geheimnis
.Hast Du endlich dieses Erste erkannt,
dann kann ich Dir weiter helfen, und so Du
mir nur vertrauen magst, wirst Du gewiß‐
lich keine Enttäuschung erleben! ‒
.Siehe, alles, was Dir Dein Verstandeswis‐
sen gibt, ist nur in dem kleinsten Teil Dei‐
nes Körpers ‒ in Deinem Gehirn veran‐
kert, allein das Wissen, das Dir ewig Nah‐
rung bieten soll, muß Deines ganzen Kör
pers eigen werden!
.Darauf wollen wir weiterbauen!
.Daraus soll Dir die Gewißheit werden,
daß Dein Körper Dir vonnöten ist,
willst du zu völliger Erkenntnis kommen!
‒ ‒
.Nicht von heute auf morgen ist solche Er‐
kenntnis zu erlangen, aber wer sie aus tief‐
stem Herzensgrunde sucht, dem wird sie
sicherlich werden! ‒
*
.Wie jede tiefere Erregung Deiner Seele
alsbald Deines ganzen Körpers Atome mit
230 Das Geheimnis
schwingen läßt, so muß auch Dein Körper
willig sich bewegen lernen, wenn Geisti
ges Dein Bewußtsein berührt.
.Was Dir auch nahekommen mag, von gei‐
stigen Dingen: Du wirst es erst wahrhaft
erfassen und dann nur restlos Dir zu eigen
werden sehen, wenn jede Faser Deines
Erdenleibes greifend danach verlangt, um
so, wie zwei Hände einander finden, sich als‐
dann ergreifen zu lassen!
.Nur in solcher „„Ergriffenheit””, auch
Deines ganzen Körpers, wird sich Dir eini‐
gen können, was vom Geiste her zu Dir
kommt; und anders wird wahrhaft Gei
stiges niemals erlangt, als durch vollkom‐
mene Vereinigung! ‒ ‒ ‒
*
.Über Geistiges nachzudenken, mag
Dich wohl in gewisser Weise fördern, allein
zum Ziele führt es nicht!
.Wohl kannst Du Dir manches Wissen die‐
ser Erde auf solche Weise erwerben, aber so‐
bald Du einmal dieser Erde Leib verlassen
231 Das Geheimnis
mußt, wird solches Wissen Dir verloren und
zu nichts mehr nütze sein!
.Geistiges Wissen ist wahrlich anderer
Art!
.Es kann Dir nur werden, wenn Du mit dem
Gegenstande dieses Wissens Dich zu ver
einigen vermagst! ‒ ‒ ‒
.hrend vergängliches Wissen stets
nur ein Be-greifen, ein Er-fassen, ein
Ent-decken, ein Er-finden, ein Er
schließen ist, handelt es sich beim geisti
gen, ewig bleibenden Wissen um ein Inne
werden! ‒ ‒
.Du kannst im Geistigen nichts erlangen,
es sei denn, Du selber läßt Dich in Deinem
innersten Innern durch das Geistige wan
deln und wirst, was Du erkennen
willst! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
*
.Das erscheint Dir heute noch unsagbar
schwer, da Dein Denken noch nicht gelernt
hat, Deinem Willen zu gehorchen.
.Nicht eher aber kannst Du Geistiges ver‐
232 Das Geheimnis
nehmen in Dir selbst, als bis Du Deinem
Denken Schweigen zu gebieten vermagst
und seinem vorlauten Wichtigtun wehren
lerntest!
.Später, wenn Du dereinst im Innewerden
zur Erkenntnis in Vereinigung gekom‐
men bist, wirst Du Dein Denken reichlich
entschädigen können für die Zurückhaltung,
die Du ihm vorher auferlegen mußtest!
.Dann wirst Du ihm eine neue Unterlage
für sein Wirken geben können, auf der es
sodann in gleicher Sicherheit bauen mag,
wie dort wo die Sinnenwelt ihm Funda‐
mente bietet. ‒ ‒
.Die Kraft des Denkenkönnens ist eine
wundersame Gabe, allein sie kann Dir dort
nur Segen bringen, wo Du ihr selbst die
sichere Unterlage gibst. ‒ ‒
.Du darfst nicht durch Dein Denken erst
diese Unterlage schaffen oder finden zu
können wähnen, wenn Du nicht einem Wahn
erliegen willst, der in den Gehirnen schon
seit den frühesten Zeiten der Erden‐
233 Das Geheimnis
menschheit bis auf unsere Tage, tausend‐
fachen Irrtums Ursache ward! ‒ ‒ ‒
.Man scheitert stets aufs neue daran, daß
man erdenken möchte, was allein im Inne‐
werden zu erleben ist und dann erst Ma‐
terial des Denkens werden kann.
.Man glaubt in seinem Denken Geistiges
zu erkennen und weiß nicht, daß Geistiges
nie in Gedanken faßbar wird, bevor man
es erlebte, da es nur im Erleben wahrhaft
empfunden werden kann; in einem Erleben,
das nichts mit gedanklichem Erkennen ge‐
meinsam hat. ‒ ‒
*
.Jenseits allen Denkens, die Gedanken an
sicherem Halfter zügelnd, als Beherrscher
Deines Denkens, sollst Du das Erschau
bare in Dir selbst erschauen lernen durch
Versenkung in Deine innerste Tiefe: ‒ als
dann erst darfst Du Deinen Gedanken Frei‐
heit geben, und dann erst werden Deines
Denkens Schlüsse Geistiges aus Geisti
gem zu erschließen vermögen! ‒ ‒'
234 Das Geheimnis
.So endete damals des Meisters Rede!
.Ich aber glaube, es war nicht ganz über‐
flüssig, sie Ihnen mitzuteilen?!”
*
.„Gewiß nicht”, erwiderte der Physiker,
„und wie alles andere, so leuchtet es mir auch
wahrhaftig ein, daß unser Denken stets nur
bedingt ist durch die Prämissen, von
denen es jeweils seinen Ausgang nimmt!
.Wenn ich recht verstehe, so zweifelte ja
auch Ihr Guru keineswegs an der Richtigkeit
logischer Schlüsse; nur gab er Ihnen die Er‐
wägung nahe, daß unser Denken sozusagen
indifferent ist, gegenüber der Grund
lage auf der es arbeitet, so daß auch die lo‐
gisch unanfechtbarsten Schlüsse dennoch
letzten Endes falsch sein können, sobald sie
auf Voraussetzungen fußen, die selber
von Anfang an nicht gehörig gesichert
sind.
.Ich verstehe auch sehr gut, daß wir für
unser Denken, soweit es geistige Dinge be‐
trifft, nicht minder einer Erfahrungs
235 Das Geheimnis
grundlage bedürfen, wie wir ja solche auch
für unser physischen Dingen zugewand‐
tes Denken tatsächlich besitzen, und daß es
falsch ist, wenn man glaubt, man könne
einen Ersatz für solche Erfahrung jemals im
Denken selber gewinnen. ‒ ‒
.Das alles begegnet in mir gewiß keinem
Zweifel mehr, allein ich frage mich, wie ich
nun selbst zu solcher Geisteserfahrung, die
vor allem Denken über Geistiges liegen soll,
gelangen könnte, und hier breiten sich denn
vor mir nur sehr unsichere Gefilde, so daß
ich zögere, mich ihnen zu vertrauen. ‒”
.Und der Jüngere antwortete und sprach:
.„Soweit Ihnen noch nicht aus alledem was
ich Ihnen sagen durfte, näherer Aufschluß
wurde, will ich auch in diesem Punkte den
Meister selbst zu Ihnen reden lassen, denn
auch ich hatte einst die gleiche Frage zu stel‐
len und mein Tagebuch verzeichnet getreu‐
lich des Meisters Antwort, die ich in jenen
Tagen erhielt.
*
236 Das Geheimnis
.Also sprach dereinst zu mir der Meister:
.'Gewohnt von Jugend auf, nur in Deinem
Denken letzte Entscheidung zu suchen, hast
Du die Kraft in Dir verkümmern lassen,
durch die Dir Gewißheit im Innewerden
kommen soll!
.Aber alle Gewißheit, die Dir Dein Denken
jemals geben kann, ist nur wie ein Schatten‐
bild jenes gewissen Wissens, das Dir im
Innersten wird, sobald Du es vermagst, Dich
über Dein Denken zu erheben und selber
einzugehen in jenes Reich, davon Dein
Denken Dir niemals Kunde bringen kann.
.Du selbst mußt Deinem Denken von je‐
nem Reiche Kunde bringen, wenn es auch
hier sich bewähren soll! ‒ ‒
.Willst Du aber hinfinden zu der engen
Pforte, die zum wachen Erleben führt, dann
wirst Du alle breiten Straßen, die irdisches
Denken bahnte, bewußt verlassen müssen!
.Auch der Veden Weisheit ist in vielen
Stücken nur törichtes Ersinnen, wenn es
237 Das Geheimnis
gelten soll, jene wahrlich enge Pforte zu
finden!
.Es bewegt sich auf breiten Wegen die Upa
nischad, und der Avesta geht die gleichen
breiten Straßen betörten Denkens, wenn
auch in alledem zuweilen die Spuren sol‐
cher zu finden sind, die jenen schmalen Pfad
gefunden hatten, der zu der Pforte des Le‐
bens führt. ‒ ‒
.Auch was jener Sidharta lehrte, den sie
den Buddha nannten, wird Dich nicht
zum Ziele führen, mag es auch manche weis‐
heitsvolle Erkenntnis in sich bergen, die
wahrlich nicht des Denkens Frucht zu nen‐
nen ist!
*
.Gar manche versuchten, unerkannt, den
schmalen Pfad zu zeigen, aber nur Einer
ist der Menschheit weithin bekannt gewor‐
den, der es nicht nur versuchte, sondern
durch Tat und Leben ihn zu zeigen
wußte...
.Euch Christen ward er nachmals zum
238 Das Geheimnis
„Gott” und Ihr nennt Euch nach ihm, aber
vergeblich suche ich solche unter Euch, die
seiner Wegspur folgen. ‒ ‒ ‒
.Törichte Narren glaubten zu manchen
Zeiten seine Weggefährten zu sein, sobald sie
nur suchten, ihn, nach seines Lebens vielver‐
wirrter Kunde, nachzuäffen und selbst in
heutigen Tagen noch lassen sich wahnbetörte
Schwärmerseelen finden, die sich im Äuße
ren mühen, seinem Bilde zu gleichen, und
bar jeder Scham, seine hohen Worte ihrem
selbstgefälligen Treiben dienstbar zu machen
trachten.
.Die hirnverbranntesten Gesellen haben
seinen Namen schon entweiht; aber auch un‐
ter denen, die ihm ehrlich folgen wollten,
gab es nicht wenige, die ihn unbewußt
lästerten, wo sie seinem Worte zu entspre‐
chen glaubten. ‒ ‒
.Wahrhaft ein Wunder bleibt es, daß er
trotz aller Greuel, die da in seinem Namen
schon die Menschheit schändeten, noch im‐
mer verehrungwürdig durch die Geschichte
239 Das Geheimnis
dieses Erdenmenschen schreitet! ‒ ‒
‒ ‒
*
.Der äußerst Seltenen einer, die sich selbst
als das bekennen müssen, was sie sind, hat
man sein Bekenntnis wahnerfüllt miß
deutet und aus ihm den „Gott” gemacht;
aus seinen Worten aber eine Lehre, die
sich mit alter Götterlehre mengte, ohne die
tiefverankerte, geheime Weisheit mitzu‐
übernehmen, die in solcher Götterlehren
Kunde sich dem Wissenden zu offenbaren
wußte. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Von frühester Zeit an hat man so ge‐
fehlt!
.Er aber ‒ der Unseren einer ‒ und
dennoch uns allen, die wir seine Brüder im
Reiche des Geistes sind, so sehr an Liebes
kraft überlegen, war wahrlich der Einzige
aus uns, der aller Menschheit einst den
schmalen Pfad zu zeigen wußte, der zu der
engen Pforte des wachen, ewigen Lebens
führt...
240 Das Geheimnis
.Von ihm dieses Weges Weisung sich er‐
teilen zu lassen, kann auch dem Weisesten
nichts von seiner Würde nehmen! ‒ ‒ ‒
.Aber er wußte einst auch zu sagen, daß er
zu senden wisse, wer seiner Sendung Siegel
führe und daß ihn aufnehme, wer den auf‐
zunehmen wisse, den er senden wolle, aus
dem Hause seinesVaters”, von dem er
sagte: daß es Vieler Wohnung in sich
schließe.......
*
.Er zeigte den Weg ‒ den schmalen
Pfad ‒ der zu der Pforte des Lebens führt,
und er lehrte diese Pforte öffnen!
.Wer aber nach ihm kommt, kann sein
Siegel nur erweisen, wenn er den gleichen
Weg zu zeigen weiß!
.Es gibt hier letzten Endes nur den
einen Weg, und wohl Euch, wenn Ihr ihn
betretet! ‒ ‒
.Seht doch, wie der Zimmermann ihn
zeigte, der da wie wir, ein Meister des
wahren Lebens war!
241 Das Geheimnis
.Sein Leben war auch seine Lehre! Ver‐
geblich würdet Ihr Euch mühen, wolltet Ihr
unter dem Schutt der späteren Verfälschung
seiner alten Lebensberichte eine Gedan
kenweisheit zu erspähen suchen, der
er sein Erkennen etwa hätte verdanken
können!
.Nicht aus Ägypten und nicht aus Indien
kam ihm seine Weisheit, und zu jeder Zeit
kann wahrlich gleiche Weisheit finden, wer
ihrer würdig ist!
.Seines „Vaters” Kraft und Weisheit war
es, die sich nach seinem eigenen Wort in
ihm offenbarte, aber dieses „Vaters” Weis‐
heit ist kein Werk des Denkens, sondern des
wachen Seins! ‒ ‒
*
.Auch ich, o Teurer, kann Dich nicht zu wa‐
chem Erkennen in Innewerdung führen,
es sei denn, ich führe Dich den gleichen
Pfad, den der hohe Meister von Nazareth be‐
schreiten lehrte, nachdem er selbst einst sich
zum „Wege” gewandelt wußte und gar wohl
242 Das Geheimnis
sagen durfte, daß er „der Weg, die Wahr
heit und das Leben” sei. ‒ ‒ ‒
.So will ich denn heute diesen Weg Dir
zeigen und Dir lichte Lehre geben, wie Du
am ehesten den Höhenpfad verfolgen
kannst, der Dich zur Pforte des wachen
Selbsterlebens im Geiste führt.
.Öffne Dein Herz und höre mir zu!
.Du sollst hier tiefstes Mysterium in
Dir selbst zu erfahren fähig werden!
.Letztes Geheimnis soll sich Dir ent‐
schleiern!
.Zu Deinen höchsten Gipfeln will ich Dich
leiten und an meiner Hand sollst Du
gefahrlos alle Abgründe unter Dir sehen
lernen!
.Wenn Du mir folgen willst, wirst Du wahr‐
haftig zu Deiner höchsten Höhe finden, zu
jener höchsten Höhe, die Dir im Firnenlichte
des Geistes Deine ewige Abkunft zeigt,
hoch über den dunstigen Gefilden, in denen
sich Deiner Erdentage irre Bahn be‐
wegt! ‒ ‒ ‒
243 Das Geheimnis
.So höre denn und folge mir, wenn Du be
rufen bist mir zu folgen, und also mir zu
folgen vermagst! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
*
.Urzeitigen Falles Versklavter, warst Du in
düsterste Nacht versunken, aus der nur gött‐
liche Kraft Dich zu befreien wußte.
.Selbsteigenen Willens Gebundener an die
Macht der Herren dieses äußeren physischen
Kosmos, ein Höriger des „Fürsten dieser
Welt”, wurdest Du Deiner Gedanken
Beute, ‒ Du, der vordem Herr allen Den‐
kens war! ‒
.Aus solcher Hörigkeit gilt es Dich
zu lösen! ‒ ‒
.Wäre jener nicht über diese Erde ge‐
schritten, von dem ich vordem sprach: jener,
den wir den Größten der Liebenden nen‐
nen, so würde nur wenigen erreichbar das
Ziel, von dem ich Dir künde...
.Er aber vermochte es, die „Aura” dieser
Erde so zu wandeln, daß alle, die da „guten
Willens” sind, einzugehen ins Licht, auch
244 Das Geheimnis
die Kraft empfangen, die ihres Willens
Sehnsucht Erfüllung werden läßt. ‒ ‒
.So können heute gar viele ihre „Erlö
sung” finden, die ohne seine Liebestat auf
Golgatha nur Opfer der Vernichtung hätten
werden müssen, ‒ zum mindesten jedoch
äonenlanger Qualen Beute, bevor Befreiung
und Errettung ihnen hätte werden kön‐
nen. ‒ ‒ ‒
.Du hast es durch ihn nun leicht, Dich
selbst zu lösen, so Du Dich er-lösen
willst! ‒
*
.Laß fahren alle erdachte Weisheit und
scheine sie Dir auch „Götterwort”, um zu
jener Weisheit aus Tat und Leben hinzu‐
finden, die auch der Weisesten dieser Erde
hohe Lehren nicht ergründen, da sie in Tie‐
fen ankert, die kein Denken je ermessen
kann! ‒ ‒ ‒
.Die Einfalt des Kindes suche in Dir
zu erreichen, durch die Du vermagst, aus
Deiner vielfältig gewundenen Enge Dich
245 Das Geheimnis
zu lösen, in der Dich gebunden hält, was
nicht Du selber bist! ‒ ‒
.Es ist wahrlich leichter, daß ein Kamel
‒ und sei es auch nur ein Seil aus dessen Haa‐
ren ‒ eingehe durch ein Nadelöhr, als ein
nach irdisch gerichteter Geistigkeit „Rei‐
cher” in das Himmelreich!!
*
.Das heißt: daß alle Verstandesweisheit
nur zur Torheit wird, wo es gilt, den Geist
des Lebens in sich selbst zu finden! ‒
.Hier gibt es kein „Training”, keine Schü‐
lerübung, die zum Erfolge führt, und nichts
kann sichere Gewähr verheißen, als nur die
Tat und waches, tatbereites Leben! ‒
.In wacher Tat nur kann der Strebende
hier vorwärts kommen, und so nur erschließt
sich ihm ein Geheimnis, das er vergeb
lich zu ergründen sucht, solange er noch in
Gedanken darum buhlt! ‒ ‒ ‒
.Hat er erkannt, um was es sich handelt,
dann wird er lächelnd seiner Torheit ge‐
denken, die vordem ihm erreichbar scheinen
246 Das Geheimnis
ließ in menschlichem Erdenken, was nun
erfaßbar nur sich zeigt durch die hohe
Gnade. ‒ ‒
.So faßten es die Alten, und anders wird
man auch in diesen Tagen nicht zu fassen
wissen, was stets Mysterium bleibt, auch
wenn es Tausende dereinst zu erringen wis‐
sen.....
*
.Nicht dadurch, daß man seltsame Kräfte
erstrebt, kommt man diesem Mysterium
nahe; aber wer es erreichte, dem werden
ohne alles Zutun wahrlich wundersame
Kräfte zu eigen, ‒ einem jeden andere,
‒ so wie sie ihm dienen können zu seiner
Vollendung. ‒ ‒ ‒
.Hier ist jede Willkür ausgeschlossen, und
so nur, wie der Geist seine Gaben selber
geben kann nach ewig innewohnendem Ge‐
setz, sind sie für den Menschen zu erlangen.
.Wem aber des Geistes Gaben wichtiger
sind als das Glück der Vereinung, das
solcher Gaben Vorbedingnis ist, der wird
247 Das Geheimnis
gewißlich weder das eine, noch das andere
erreichen und nur äonenlanger Täu
schung verfallen. ‒ ‒
.Das Glück der Vereinung aber ist das
Endziel, und die Gaben des Geistes, die
Dir dann werden können, sind der Errei
chung dieses Endzieles gegebene Folge.
*
.Der Anfang Deines Weges ist hier auf
Erden, inmitten des Alltags zu finden;
alle Wegstationen liegen dann noch in
irdischem Bereich; ‒ erst wenn Du sie
alle nacheinander zu erreichen wußtest,
wirst Du Dich in Wahrheit von der Erde
lösen können und das Reich des Gei
stes betreten, wo das Endziel Deiner war‐
tet. ‒ ‒
.Ach, daß so viele zwar den glühendsten
Wunsch in sich tragen, das Endziel zu er‐
reichen, aber sich nicht zur Einsicht erheben
können, daß dieses Endziel sich nur errei‐
chen läßt, wenn man den Anfang des Weges
mitten im Alltag sucht, und dann von hier
248 Das Geheimnis
aus stets die nächste Wegstation als
erstes Zwischenziel ins Auge faßt, bis man
sie erreichte, um dann die wieder nächste
sich zum Ziele zu setzen! ‒
.Statt dessen glaubt man schon den An
fang des Weges nur finden zu können, in‐
dem man dem Alltag entflieht und eine
Welt sich aus der Phantasie erbildet, die
nur der Vorstellungskraft ihr Dasein
dankt! ‒ ‒
.Von da aus späht man nun nach dem End
ziel aus und glaubt es erreichbar ohne
Zwischenziele, so daß man zuletzt des eige‐
nen Wähnens Beute wird und sich das ver‐
meintliche Reich des Geistes ebenso aus dem
Nichts der Vorstellung erträumt, wie
man sich vorher schon die Illusion zu schaf‐
fen wußte, man sei der Erde Alltag weit ent‐
rückt und habe den Weg zum Geiste längst
betreten...
.Man weiß sich nicht in Zucht zu nehmen,
um in Beharrlichkeit den Weg des Le
bens zu durchschreiten: möchte vielmehr
249 Das Geheimnis
am liebsten morgen schon am Ziele sein, und
schafft sich so selbst die Täuschung, der
man dann erliegt in einer trügerischen
Wonne, die zu Ende ist, wenn dieser Erde
Leib die Kräfte nicht mehr nährt, aus de‐
nen man sich seine Scheinwelt zu gestalten
wußte. ‒ ‒
*
.Wahrlich, hier sind selbst jene noch weit‐
aus besser durch sich selbst beraten, die den
Trug solchen Wahns erkennend, ihm nur
Verachtung bezeigen, auch wenn sie nicht
ahnen, daß sie ferne allem Wähnen den Weg
der Wahrheit, der ein Weg des Lebens
ist, in sich zu finden vermöchten! ‒
.Sei Du aber weder diesen noch jenen
gleich und folge vielmehr meiner Lehre, in‐
dem Du den Weg des Lebens, den Weg der
wachen Tat von Anfang an beschreitest, um
ihn von Ziel zu Ziel bis zum Endziel hin
zu durchwandern, ohne danach zu fragen,
wann Du das Endziel erreichen wirst!
.Sollst Du es nicht hier schon, und wäh
250 Das Geheimnis
rend Deines Erdenlebens erreichen, so
wirst Du es doch mit Sicherheit gar bald Dein
eigen nennen, auch wenn Du von hinnen
scheiden müßtest, ohne es noch erreicht zu
haben, denn man wird Dir dann eine Hilfe
bieten können, die für keinen erfaßbar ist,
der nicht schon hier in seinem Erdenleben
den Weg des Lebens und der Tat be‐
schritten hat! ‒ ‒ ‒
*
.Hier, mitten in Deinem Alltag, mit
ten im Leben Deines Berufs und Dei
ner irdischen Pflichten sollst Du den
Anfang finden! ‒ ‒ ‒
.Es ist dieser „Anfang” nichts anderes als
das Erkennen, daß man auch sein alltäg
liches Leben vom Standpunkt eines ewi
gen Lebens her betrachten und auswirken
kann. ‒ ‒ ‒
.Die erste Aufgabe ist nun: sein Alltags‐
leben als einen Teil seines ewigen Lebens
betrachten zu lernen und in eiserner Be
harrlichkeit alle Verpflichtung des All‐
251 Das Geheimnis
tagslebens so zu erfüllen, daß man gewiß
zu sein glauben darf, in aller Ewigkeit nichts
zu bereuen zu haben, was man in diesem All‐
tagsleben tun oder unterlassen mag.
.Das erste Wegziel, das es zu erreichen
gilt, besteht darin, daß man jene Ruhe des
sicheren Gewissens erreiche, die solcher
beharrlichen Erfüllung der Alltagspflich‐
ten früher oder später, aber mit aller Ge
wißheit folgen muß.
*
.Ist dieses erste Wegziel erreicht, dann
zeigt sich von selbst das zweite, das darin
besteht, daß man über den Alltagspflichten
noch andere erkennt, die zwar im Alltag
nicht als „Pflichten” gelten, aber dann als
solche empfunden werden. ‒
.Nun gilt es, diese Pflichten ebenso zu
erfüllen, ohne etwa die Alltagspflichten
hintenan zu stellen! ‒ ‒
.Was diese Pflichten gebieten, wirst Du
augenblicklich wissen, sowie Du wirklich das
erste Wegziel zu erreichen wußtest!
252 Das Geheimnis
.Für jeden einzelnen zeigen sich diese wei‐
teren Pflichten in anderer Gestalt, und es
wäre daher unmöglich, Dir sie näher be‐
zeichnen zu wollen. ‒
.Du wirst aber niemals, wenn Du das erste
Wegziel erreichtest, etwa in Zweifel ge‐
raten können, worin diese neuen Pflichten
für Dich bestehen, und was sie von Dir for‐
dern!
*
.Hast Du auch diese Pflichten getreulich
und mit Beharrlichkeit, so wie die Alltags‐
pflichten, längere Zeit hindurch erfüllt, so
wird sich von selbst das dritte Wegziel Dir
als erreicht erweisen, indem Du die gleiche
Ruhe des sicheren Gewissens, die nach
vollendeter Erfüllung der Alltagspflich
ten Dir geworden war, nun auch in Hinsicht
auf diese höheren Pflichten empfinden
wirst. ‒ ‒ ‒
*
.Alsdann aber wird sich Dir auch sogleich
ein neues Wegziel zeigen, und Du wirst se‐
253 Das Geheimnis
hen, daß es nichts anderes von Dir verlangt,
als daß Du nun auch für andere wirksam
zu machen suchst, was Dich selbst so weit
förderte.
.Es ist hier nicht von Dir verlangt, daß Du
in törichtem Bekehrungseifer, jeden, der
Deinen Weg kreuzen mag, zu dem überreden
sollst, was Dich zu Deiner Selbstgewißheit
führte; allein man will, daß auch Du Dich
in den Dienst des gleichen Wirkens stellst,
das Dir schon erste Befreiung brachte, und
daß Du durch Dein Beispiel in gleichem
Sinne zu wirken trachtest. ‒
.Auch dieses vierte Wegziel bestätigt seine
Erreichung durch die bewußte Ruhe des
Gewissens, die Dir anzeigt, daß Du es
‒ nicht durch Reden und Dispute ‒ son‐
dern durch Leben, Tat und Handeln zu
erreichen vermochtest!
*
.Und allsogleich wirst Du das fünfte Weg‐
ziel vor Dir sehen, das von Dir verlangt, Dich
als Schaffenden zu bewähren!
254 Das Geheimnis
.Du wirst auf irgendeine Weise nun pro
duktiv in das Leben Deiner Umwelt einzu‐
greifen haben, nicht etwa indem Du ver‐
suchst, hier Mißstände auszutilgen, son‐
dern dadurch, daß Du Förderliches im
Sinne der Dir bereits gewordenen Erkennt‐
nis, in Deiner Umwelt zu schaffen trach‐
test. ‒ ‒ ‒
.Stellt sich auch hiernach dann die schon
mehrfach mit Sicherheit empfundene, si‐
chere Ruhe des Gewissens ein, so wird
sie jetzt verbunden einer neuen Erkennt
nis in Dir sich bezeugen, und dies ist die
sechste Wegstation, die sechste Stufe Dei‐
nes Weges, der Dich dann in der siebenten
zur Vereinigung mit Deinem geistigen Ur‐
grund führen soll! ‒ ‒ ‒
*
.Die neue Erkenntnis aber wird Dir sagen,
daß nun der Zeitpunkt gekommen ist, zu
versuchen und immer erneut zu ver‐
suchen: ob Du Dich mit Deinem ganzen Sin‐
nen und Trachten, ohne die Erde zu ver
255 Das Geheimnis
lassen, dennoch geistig soweit aus ihrem
Getriebe zu lösen vermagst, wie es nötig
ist, um das Reich des Geistes in Dir die
Vereinigung vollziehen zu lassen, durch
die Dein erdenhaftes Bewußtsein fähig wird,
Deines lebendigen Gottes heiliges Wort
in Dir selbst zu vernehmen, ohne jemals noch
der Täuschung zu verfallen.
*
.Nicht früher sollst Du es versuchen,
Dich aus dem gewordenen Getriebe zu lösen,
als bis Du völlig sicher bist, alle früheren
Wegstationen wachend durchwandert zu ha‐
ben!
.Würdest Du es früher versuchen, so
müßtest Du notgedrungen zur Beute täu
schender Gewalten werden, um erst
nach Deiner Erdenlebenszeit voll Ent‐
setzen zu erkennen, wie sehr man Dich be‐
trog!
.Du würdest dann einem gleichen, der im
Traume zu fliegen glaubt und sich seines
Könnens freut, während er beim Erwachen
256 Das Geheimnis
sehen muß, daß er nach wie vor der Schwer‐
kraft, die ihn an die Erde fesselt, nicht Herr
zu werden vermag. ‒
*
.So einfach es Dir auch erscheinen mag,
jene früheren Wegstationen zu durchwan‐
dern, und so sehr Dich die Versuchung lok‐
ken will, zu glauben: Du hättest sie längst
durchwandert, so sehr muß ich Dich warnen,
Dich hier einer Selbsttäuschung hinzu‐
geben!
.Du stellst nicht nur den Erfolg Deines gan‐
zen Strebens in Frage, sondern begibst Dich
freventlich in Gefahr, den Weg, der Dich
zum Lichte führen sollte, für Äonen zu ver‐
lieren, wenn Du zu früh versuchst, die Lö‐
sung aus dem erdenhaften Getriebe zu er‐
reichen.
.Hast Du aber wahrhaft und ehrlich Dei‐
nen vorbezeichneten Weg durchschritten und
bist Dir bewußt, daß Du keines seiner Zwi‐
schenziele versäumtest, dann wird Deine
Loslösung damit beginnen müssen, daß Du
257 Das Geheimnis
versuchst, den nackten Menschen in Dir zu
finden!
.Das scheint Dir nicht allzu schwer zu sein
und ist dennoch weit schwerer als Du er‐
ahnen kannst! ‒ ‒
*
.Bis hierher durftest Du Dich ja noch
als Sohn einer bestimmten Familie, eines
bestimmten Volkes, als Angehöriger eines
bestimmten Kreises empfinden, ‒ und
das mit gutem Recht.
.Bis hierher durftest Du Dich ja noch
nicht aus solcher Bindung gelöst empfin‐
den, wolltest Du Hoffnung hegen, jemals
Dein Ziel zu erreichen.
.Nun aber mußt Du alle solche Bindung
allmählich vom Gesichtspunkte der Ewig
keit aus werten lernen, denn der ewige Geist
gibt sich keinem „Meder” und keinem
Perser”, keinem „Griechen” oder „
mer”, ‒ keinem Sproß aus diesem oder je‐
nem ehrenwerten Hause, und keinem Gliede
258 Das Geheimnis
dieser oder jener Kaste, sondern nur: ‒ dem
nackten
MENSCHEN! ‒ ‒ ‒
.Diesen „nackten”, kosmisch gegebenen
Menschen mußt Du also nun in Dir allein
noch fühlen und alles was ihn irdischer‐
weise besonders bestimmen mochte, muß Dir
dann wesenlos und vergänglich erscheinen!
.Doch würdest Du wahrlich meine Worte
gar irriger Deutung unterwerfen, wolltest Du
etwa glauben, nun müßte Dir auch in Dei‐
nem Alltagsleben dieses als „wesenlos”
und „vergänglich” Erkannte, wertlos er‐
scheinen!
*
.In Dein Alltagsleben fügt es sich wohl
begründet ein und muß daselbst erhal
ten bleiben, wenn Du die kosmische Ord‐
nung nicht stören willst; aber ebenso würdest
Du diese Ordnung in verbrecherischer Weise
stören, wolltest Du innerhalb Deines All
tagslebens diesen bestimmenden und
durch ihre Bestimmtheit trennenden Mo‐
259 Das Geheimnis
menten größeren Wert verleihen, als ihnen
durch ihre Naturgegebenheit allein schon zu‐
steht! ‒ ‒
.Wenn Du im Alltag liebend solche Be‐
dingtheit umfaßt, ‒ mag sie Familien
kreis oder Kaste, Volkstum oder Na
tion sich nennen, so wirst Du immer rich
tig handeln und auch die Bedingtheiten
anderer zu lieben wissen; allein, sobald
Du besonders hervorzuheben suchst, was
Dich in solcher Weise als Glied des Mensch‐
heitsganzen bestimmt, wirst Du zum Störer
kosmischer Ordnung, gleichwie ein Mu‐
siker in einem großen Orchester das Tonwerk
stören würde, wollte er sein Instrument ver‐
stärkt ertönen lassen und lauter als es die
Rolle verlangt, die ihm des Tonwerks Mei‐
ster zugeschrieben hat! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
*
.Auch angelangt an dieser letzten irdi‐
schen Wegstation, von der aus Du das Reich
des Geistes bald betreten sollst, darfst Du
nicht etwa wähnen, nun auch nur eine der
260 Das Geheimnis
vorher erkannten Pflichten versäumen zu
dürfen!
.Im Alltag mußt Du daher stets allem
seine Rechte lassen, was des Alltags ist,
und trotzdem mußt Du in Dir selbst jenes
höhere Empfinden tragen, das Dich als
„wesenlos” und „vergänglich” sehen läßt,
was gleichwohl im Alltag seinen Alltags
wert erweist! ‒ ‒ ‒
*
.Ist so nun im höchsten Bereiche Deines
Empfindungslebens nichts mehr zu finden als
der nackte, kosmisch gegebene MENSCH,
der sich der GOTTHEIT einen will, dann
wirst Du Dich erst selbst wahrhaft lieben
lernen müssen, wirst immer mehr und mehr
Dich selbst nur noch als LIEBE zu emp‐
finden suchen dürfen, bis nichts mehr in
Dir ist, das etwas anderes als LIEBES‐
FEUER wäre. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Also in Liebe verzehrt, wirst du in dieser
glutgeläuterten Region zum Gefäße GÖTT‐
LICHER Liebe werden, und in Deinem inner‐
261 Das Geheimnis
sten „Ich” wird sich Dein „LEBENDIGER
GOTT” Dir einen...
*
.Hier erst hast Du dann Deines Höhen‐
weges Endziel erreicht, aber Du würdest
gar bald das Erlangte wieder verlieren,
wolltest Du Dich nun, soweit Du als Sohn der
Erde auch Deinem Alltag gehörst, Dei
nen Alltagspflichten enthoben wäh‐
nen! ‒ ‒ ‒
.Der Weg ist nun in Dir, auf dem Du fort‐
an zu jeder Zeit, und zwar noch im Augen‐
blick Deines Wunsches, Dich zu Deiner höch‐
sten Höhe im Reiche des Geistes, zu Deiner
Einheit mit Deinem lebendigen
Gotte erheben kannst; und von dieser höch‐
sten Höhe aus wird auch Dein Alltag Licht
empfangen, ‒ ein Licht, das nicht von die‐
ser Erde ist, und irdischem Gesetz nicht
unterworfen! ‒ ‒ ‒
.Dann wirst Du vielleicht erfassen können,
was jener große Liebende einst lehrte, als
er davon sprach, daß das Reich der Himmel
262 Das Geheimnis
„nahe” sei, und daß man nicht sagen könne,
es sei da oder dort, oder glauben dürfe, es
komme mit großer Gebärde, denn:
.Das Reich Gottes ist in Euch!” '
*
.In hoher Begeisterung waren diese aufge‐
zeichneten Worte verlesen worden und die
beiden älteren Männer, die ihres jüngeren
Freundes Stimme lauschten, waren tief er‐
griffen von dem, was sie hier gehört.
.Nach einer Weile des Schweigens erhob
sich nun der Älteste der drei und sprach:
.„Wahrhaftig, es ist die erhabene Lehre,
die wir hier empfingen und das Geheimnis
wahren Lebens hat sich uns nun enthüllt!
.Wie viele Rätsel finden in dieser Lehre
ihre Lösung!
.Wie anders sieht man das Dasein des Men‐
schen auf dieser Erde an, wenn man solches
hören durfte!
.Nun ist mir jede Frage erstorben und ich
sehe den Weg mit aller Deutlichkeit vor mir,
den ich zu durchschreiten habe! ‒”
*
263 Das Geheimnis
.Und auch der andere der drei Freunde, der
sich, während der Alte also sprach, gemein‐
sam mit dem Jüngsten erhoben hatte, ließ
sich nun in gleicher Weise vernehmen, und
seine Worte klangen in das Bekenntnis aus:
.„Uns ist Großes widerfahren auf dieser
Reise und als andere kehren wir heim, wenn
morgen die Zeit des Abschieds von dieser
Insel naht!
.Nun wird auch unser Alltag, den wir nur
allzuoft als grau und leer empfanden, Farbe
und Inhalt gewinnen, und wenn man in
alten Zeiten hier die Sonne als Symbol der
Gottheit ehrte, so darf ich sagen, daß auch
ich jetzt solchem Sonnendienst ergeben bin;
nur trage ich diese Sonne in mir selbst
und ich glaube ihre Strahlen schon zu füh‐
len! ‒ ‒ ‒
.Wohl hatte ich mir manches Schöne von
unserer Reise erhofft, aber niemals hätte ich
erwartet, daß ich so mit lebenslang gesuch‐
ter Erkenntnis bereichert, zurückkehren
würde. ‒ ‒
264 Das Geheimnis
.Es müssen wahrhaftig höhere Mächte
über uns die Hände halten! ‒ ‒
.Und wenn wir beiden Älteren es auch be‐
dauern möchten, daß die Erkenntnis, die
sich uns nun zeigt, erst in so späten Jahren
zu uns kam, so müssen wir doch gestehen,
daß sie früher noch verfrüht gewesen wäre
und sich offenbar die rechte Zeit zu wäh‐
len wußte. ‒ ‒”
*
.Die beiden Schiffer hatten schon längst
die Barke wieder zum Meere heruntergeholt,
das jetzt spiegelglatt und wie flüssiges Licht,
bereit war, die Sonnenscheibe in sich aufzu‐
nehmen.
.Meer und Himmel schienen geeint in gol‐
dener Glut!
.Die Freunde bemerkten endlich, daß ihre
Ruderer wohl schon lange auf sie gewartet
haben mochten, und so stiegen sie denn hin‐
ab zum Strande, während der jüngste der
beiden Brüder, als er den Aufbruch gewahrte,
265 Das Geheimnis
eiligst entgegenkam, um Körbe und Gefäße
zurück ins Boot zu holen.
.Nach wenigen Minuten schon war die
Barke wieder weitab von der Stätte, an der
man so lange gerastet hatte, aber nun war es
nicht mehr nötig, auf das offene Meer hin‐
auszusteuern und man konnte gefahrlos zwi‐
schen den Uferklippen hindurch die hohen
Felsenwände der Insel in nächster Nähe um‐
fahren.
.Wundersam farbenprächtig glühte das Ge‐
stein in der Strahlenfülle der leuchtend im
Meere versinkenden Sonne.
*
.An dieser Seite der Insel gab es nun nur
wenige grüne Schluchten und breitere, öl‐
baumbewachsene Einbuchtungen.
.Fast ununterbrochen türmten sich hohe
Felsenmauern auf, gar oft vom Meere unter‐
höhlt, so daß man in weite, geheimnisrau‐
nende Grotten blickte.
.Da die drei Reisenden für alles, was man
so aus nächster Nähe gewahren konnte, gro‐
266 Das Geheimnis
ßes Interesse zeigten, machte es ihren beiden
Ruderern Freude, vom nächsten Rückweg
abzuweichen und jede der kleinen Meeres‐
buchten anzufahren, wobei man nun auch
dann und wann an besonders schönen Stellen
des längeren verweilte.
.So war es gekommen, daß allmählich die
Nacht hereingebrochen war, ‒ eine Nacht
mit immer sich mehrender Sternenpracht,
‒ während man vom festen Lande herüber
nur noch die flimmernde Lichterzeile der
nicht allzu fernen, großen Hafenstadt ge‐
wahrte.
.Die Insel selbst wirkte jetzt, als sei sie un‐
bewohnt, denn noch war man eine reichliche
Strecke von der Stelle entfernt, von der aus
man zuerst die Lichter ihrer Hügelstadt hätte
sehen können.
*
.In tiefem, schwarzem Felswandschatten
glitt die Barke, nun durch schärferen Ruder‐
schlag beschleunigt, dahin.
.Unzähliges Leuchtgetier des Meeres ließ
267 Das Geheimnis
die Ruder, sobald sie das Wasser berührten,
blitzendes, bläulich phosphoreszierendes
Licht aus der Tiefe holen.
.Wie ein Raketenschweif leuchtete lange
noch die Kielspur des Bootes nach.
.Da hier die Fische nur des Nachts bei
Fackelschein gefangen werden, so begegnete
man auch zuweilen einem Fischerkahn, der
jetzt noch gespenstig in Dunkel gehüllt, hin‐
aus zu seinem Fangort fuhr.
.Fröhliche Begrüßungsworte wurden ge‐
wechselt und alsbald entschwand man sich
wieder in der Finsternis.
.Zuweilen, und besonders, wenn sie wuß‐
ten, daß ein gutes Echo ihrer Kunst sich
günstig zeigen mochte, ließen die beiden
Brüder auch die Lieder ihrer Heimat mit
aller Lungenkraft erschallen, aber da ihre
Stimmen nicht allzu viel von dem melodi‐
schen Wohllaut der großen Sänger ihres
Landes besaßen, so hörten die drei Reisen‐
den, des Textes kundig, zwar gerne zu, wuß‐
ten es aber dann nur um so mehr zu schätzen,
268 Das Geheimnis
wenn wieder die tiefe Abendstille sie um‐
fing, durch das Geräusch der rhythmischen
Ruderschläge nur noch eindrucksvoller dem
Empfinden dargeboten.
*
.Endlich sah man nun auch, als man den
letzten hohen Felsvorsprung umfahren hatte,
die ersten Lichter von der Insel her, und nun
währte es nicht mehr lange, bis man den klei‐
nen Inselhafen erreichte, wo schon der be‐
stellte Vetturino mit seiner Kalesche seit
Stunden auf die Rückkehr der Barke gewar‐
tet hatte, um dann die Fremden in lang‐
samer Fahrt die vielgewundene Straße hin‐
aufzubringen zu der kleinen Stadt, wo ihre
liebgewonnene Gaststätte ihnen diese Nacht
zum letzten Male Obdach bieten sollte.
.Nachdem die Freunde hier noch ihren
Abendimbiß eingenommen hatten, ergingen
sie sich wohl noch eine kleine Weile unter
den Zedern und Palmen des nächtlich dunk‐
len Gartens und erfreuten sich an dem Licht‐
gefunkel auf dem Meere, das von den Fak‐
269 Das Geheimnis
keln der zahllosen Fischerboote herrührte,
in denen man jetzt dem Fang oblag.
*
.Da man des anderen Tages abreisen wollte,
fand man es aber doch alsbald geraten, die
Nachtruhe aufzusuchen, nachdem man vor‐
her noch übereingekommen war, wenn ir‐
gend möglich, von der nahen Hafenstadt des
Festlandes aus, zur Heimfahrt den Seeweg
auszunützen, soweit er sich nur benützen
ließ.
.Bei solcher Reiseart war schönste Gelegen‐
heit noch zu erwarten, alles was man in
diesen Wochen nun besprochen hatte, in
Sammlung seelisch erneut zu betrachten, um
ganz erfassen zu lernen, wie anders sich das
Erdendasein nun zeigte, nachdem jetzt
enthüllt sein segenbringendes Geheimnis
war. ‒ ‒ ‒
*           *
*
270 Das Geheimnis
NACHWORT
DER Leser, der meine anderen Bücher
kennt, wird wohl längst schon heraus‐
gefunden haben, daß es sich mir wahrlich
hier nicht um eine „Erzählung” handelte.
.So brauche ich ihm wohl kaum zu sagen,
daß die erzählende Form dieses Buches nur
gewählt werden mußte, um auch denen die
Lehre, die mein sonstiges Wirken kündet,
näherzubringen, die allzu leicht den Mut ver‐
lieren und ermattet innehalten, wenn sie nur
abstrakte Lehre in einem Buche finden
und überdies fast ausschließlich nur von Din‐
gen hören, die ihrem Alltag doch allzu ferne
liegen mögen.
.Daß jedes Wort dieses Buches sich immer‐
hin an tatsächliches Erlebnis hält, sei
aber dennoch ausdrücklich betont!
.Die drei Männer des Buches wurden dem
Autor nur zu Trägern solchen Erlebens und
gaben ihm Anlaß hier ein Bild zu schaffen,
dem sich manche Farben einfügen ließen,
die nicht wohl verwendbar gewesen wären,
hätte er nur versuchen wollen, das reale
273 Das Geheimnis
Urbild dergleichen Erlebens nachzuzeich‐
nen.
.Gleichwohl aber ist auch dies an vielen
Stellen geschehen, wenn auch der örtliche
Hintergrund, wie der Umriß der spre‐
chenden Personen Veränderung erfuhr, da
nur solcher Verzicht auf „realistische Zeich‐
nung” es dem Autor erlaubte, dem Erlebten
immerhin Ausdruck zu vermitteln.
.Es schien ihm auch nicht erforderlich, die
drei Sprechenden dieses Buches mehr als an‐
deutend zu charakterisieren, denn es sollte
ja nicht Menschenschilderung gegeben
werden, sondern ein Bild der Lehre. ‒
*
.Wer diese Lehre in sich aufzunehmen
fähig und willens ist, der wird sie unschwer
aus der Umrankung zu lösen wissen, und
manchem mag sie in hier gewählter Verflech‐
tung erst völlig lebendig werden. ‒ ‒ ‒
.Tausende fanden sie bereits in mannig‐
facher Weise bestätigt, aber noch sind
Abertausende in allen Ländern der Erde
274 Das Geheimnis
zu finden, die nach der „Wahrheit”, nach
Lösung letzter Rätsel dürsten, und von einem
Irrweg auf den anderen geraten, um zuletzt
resignierend einzusehen, daß keiner sie zur
Quelle der Erkenntnis zu führen ver‐
mochte. ‒ ‒
.All diesen Suchenden möge aus diesem
Buche die Sicherheit des Vertrauens
werden, daß sie dennoch ihr Ziel erreichen
können, wenn sie den einzigen auf dieser
Erde folgen wollen, die allein hier zu lehren
berechtigt sind; ‒ die nicht eigenen Wäh
nens, Erschließens und Meinens
Kunde geben, sondern lehren, wie der
Vater”, den sie allein nur kennen, sie zu
lehren heißt! ‒ ‒ ‒
*
.Eine jede Zeit verlangt andere Form der
Lehre, und ewige Weisheit weiß gar wohl zu
entscheiden, wie jene, die ihr Werkzeug wur‐
den, zu wirken haben. ‒
.So handelt auch der Autor dieses Buches
keineswegs nach eigenem Ermessen, wenn er
275 Das Geheimnis
das geschriebene Wort in den Dienst der
Lehre stellt!
.Wohin nimmer das Wort der gespro
chenen Rede dringen kann, dort ist in die‐
sen unseren Tagen das gedruckte Buch
noch erreichbar und es bietet stets von
neuem den Suchenden die Lehre dar, die
eine gar sehr der Eile und Hast versklavte
Zeit alsbald im Winde verwehen lassen
würde, wäre sie nur durch des Mundes
Stimme zu Zeiten vernehmbar. ‒
.Auch soll es vermieden werden, daß sich
Gemeinden” dieser Lehre bilden und daß
man zum voraus hinzunehmenden Dogma
macht, was erst Erfahrung des Herzens
als wahr und wirklich erweisen kann. ‒ ‒ ‒
*
.Wohl ist es keineswegs verwerflich, wenn
da und dort ein Kreis von Suchenden es sich
zur Aufgabe stellt, der Lehre nachzuleben;
allein, wenn auch so manche Wahrheits‐
sucher ihrer Artung nach nur in gemein
schaftlichem Streben Förderung zu finden
276 Das Geheimnis
glauben, so darf doch keiner ‒ sofern er
nicht die Lehre fälschen will ‒ sie etwa
nur an solches gemeinschaftliches Streben
gebunden erachten! ‒ ‒
.Auch in solcher Gemeinsamkeit des
Suchens kann sie immer nur dem einzel
nen ihre leuchtende Tiefe enthüllen, und
es ist letzten Endes nur irdisch persön
liche Neigung, die den einzelnen bestim‐
men mag, ob er sich andere als Weggefährten
wünscht, oder Genüge darin findet, für sich
allein zu gehen. ‒ ‒ ‒
.Auf jenem Höhenpfade, zu dem die
Lehre leitet, ist ohnehin ein jeder, der ihr
folgen will, allein auf sich gestellt, mag er
um andere wissen, die den gleichen Pfad be‐
treten haben, oder nicht!
*
.Es mag auch jeder jener Kulturge
meinschaft treu ergeben bleiben, die ihm
von früher Jugend an das Leitseil bot, an
dem er seinen Weg zum Geiste zu finden
hoffte, und wird er ihn dann durch ein Le
277 Das Geheimnis
ben nach der hier vermittelten Lehre wirk‐
lich finden, dann wird er seines Jugend‐
glaubens Dogma erst so zu vertiefen wis‐
sen, daß er auch anderen zu helfen weiß,
die an der Wahrheit ihrer Jugendglaubens‐
lehren längst verzweifelten, weil selbst die
Lehrer solchen Glaubens ihre Zweifel in
sich trugen und darum nicht zu helfen wuß‐
ten, da sie selbst der Hilfe nur allzusehr
bedurften. ‒ ‒ ‒ ‒
*
.So möge auch dieses Buch nun Befreiung
und Klarheit bringen, und allen den Weg
zum Lichte zeigen, die ihn finden wol
len! ‒
.Möge allen, die ehrlichen Willens sind,
durch dieses Buch der erste Anstoß wer‐
den, auf jene Geisteshöhe zu gelangen, von
der aus gesehen, ihres Daseins Ziel und End
zweck ihnen nicht mehr „Geheimnis
bleibt! ‒ ‒
278 Das Geheimnis
ENDE
GEIST UND FORM
Verlagslogo
Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Zürich
Der bürgerliche Name von Bô Yin Râ war
Joseph Anton Schneiderfranken
2. Auflage
Die erste Auflage erschien im Verlag
Greiner & Pfeiffer, Stuttgart, 1924
©
Copyright 1958 by
Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Zürich 48
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Switzerland by
Schellenberg-Druck Pfäffikon ZH
INHALT Seite
Die Frage 5
Aussen und Innen 11
Wohnstatt und Werk 17
Form der Freude 27
Des Leides Form 36
Die Kunst des Lebens 41
Originalscan
Dem neuen Menschen!
DIE FRAGE
.Du willst in den Geist gelangen und hast den
Weg zum Geiste nach langem Irren gefunden!
.Und nun fragst du:
.«Was soll mir fürder alle Form, da ich den
Weg zum Inhalt weiß? ‒ »
.Belanglos und allen Wertes bar erscheint dir
die Form; ‒ du glaubst nicht nur, dass formlos
dir das Innerste sich offenbare: ‒ du siehst
bereits in aller Form nur Hinderung!
.Verächtlich erscheint es dir, der Form
noch zu achten; ‒ verächtlich erscheinen dir
alle, die nach Form-Vollendung streben!
.Du selbst glaubst aller Form nun entraten
zu können!
.Du willst dich, auch formlos, dennoch ge
wertet sehen als einen der nach höchsten
Werten strebt!
.Als arge Toren erscheinen dir alle, die daran
5 Geist und Form
Anstoss nehmen, dass du die Form miss
achtest!
.Du fühlst dich hoch erhaben über dieser
Anderen Torheit, und lächelnd fragst du: «Was
soll mir auf dem Wege zum Geiste noch
solche äusserliche Bindung? ‒ Was soll
mir die Form!? ‒ ‒»
*
.Siehe mein Freund: ‒ ich zweifle nicht daran,
dass du den Weg zum Geiste gefunden hast!
.Ich zweifle aber, dass dir gute Führung wer‐
den wird, die du doch nötig brauchst, wenn du
dabei verharren willst, der Form zu spotten!..
.Du glaubst, man müsse deine Lauterkeit
erkennen, müsse deines Strebens Inbrunst
achten, und deines Willens reines Wollen
müsse für dich zeugen...
.Du bist auch gewiss durch solchen Glauben
keineswegs irrig beraten und dennoch wirst du
erkennen lernen müssen, dass du die Form
nicht missachten darfst, ja, dass all dein
Tun erst letzte Wertung erhält durch die ihm
gemässe Form!
.So wie man köstlichen Wein nicht darbieten
6 Geist und Form
wird in geringen irdenen Gefässen, da es den
Wert des Weines missachten heissen würde,
wollte man also ihn kredenzen, so erheischt
schon die Ehrfurcht vor dem Geiste, dass dir
nur vollendetste Form Genüge leiste, sobald
du selbst zum «Tempel des Geistes» werden
willst! ‒ ‒
.All deine Selbstbekundung in der äusseren
Welt wird stetig solcher Ehrfurcht Zeugnis wer‐
den müssen!
.Sobald du den Weg zum Geiste einmal
betreten hast, steht es dir nicht mehr frei,
dich zu gehaben nach deiner Bequemlichkeit
und augenblicklichen Laune! ‒ ‒
.Du hast Verpflichtung, dich selbst nun
umzuschaffen und Ausdruck zu werden dem
Geiste!
.Dich selbst sollst du zu höchster Form
vollenden, und alles was immer durch dein Tun
für andere erfassbar werden mag, soll deine
Formvollendung sichtbarlich bekunden!...
.Nicht durch Verachtung der Form wirst du
Erhabenheit beweisen! ‒
.Ein Tor nur kann sich «erhaben» glauben
über alle Form! ‒ ‒
7 Geist und Form
Der wirklich Erhabene wird stets die Form
beherrschen! ‒
.Es äussert sich solche Beherrschung schon
in alltäglichstem Tun...
.Der Zyniker, der sich in Lumpen hüllt um
seine Bedürfnislosigkeit zu zeigen, ist wahr‐
lich ein kläglicher Geck, solange seiner Arme
Kraft ihm noch ermöglicht, sich durch irgend‐
eine Arbeit soviel zu erwerben, um sich ein
achtbares Gewand zu kaufen!
.Wer sich hingegen selbst zum Tempel des
Geistes wandeln will, der wird alle Mühe auf
sich nehmen, damit er auch in seiner äusseren
Erscheinung schon die Achtung vor sich
selbst beweise...
.Erlaubt es sein Besitz, so wird man ihn
zu jeder Zeit in der gewähltesten und besten
Kleidung seines Landes sehen, und ist er arm,
so wird er dennoch alles aufzubieten suchen,
damit auch seiner Armut dürftiges Gewand
noch allerorten Achtung finde...
.Gewiss läuft mancher durch die Welt, der
alles, was sein Erdendasein ihn erträumen lässt,
nur in den Nähten seiner modisch-schnittgerech‐
ten Kleidung offenbart; ‒ allein die würdige
8 Geist und Form
Gewandung innerlicher Vornehmheit wird sich
noch immer unterscheiden lassen von blossen
Draperien, die ein eitles Nichts umhüllen. ‒
.So aber, wie die Art, den Körper zu beklei
den schon die Achtung eines Menschen vor
sich selbst und vor dem Geistigen, dem er
zum Tempel werden will, beweist, so wird man
auch in allem seinem Tun erkennen können, ob
er zu ehren weiss, was in ihm lebt. ‒ ‒
.Dass «gute Lebensart» auch vielen Men‐
schen wichtig wurde, die durch sie verbergen
lernten, was sie wirklich sind, beweist nur, dass
man ursprünglich ihr nur begegnen konnte
bei solchen, die auch wirklich waren, was sie
schienen! ‒
.Schöpfung der Menschen inneren Wertes,
wird sie auch nicht entwertet, wo sie nur
Maske bleibt, wie Gold nicht seinen Wert ver‐
lieren kann, auch wenn es die feile Dirne als
Schmuckstück trägt...
.Zahlreich sind die selbstgewissen Verächter
solcher «guten Lebensart», die nicht bemerken,
dass in ihr Form geworden ist, was sie selbst
erst mit grosser Gebärde als ethische Forde
rung erstreben! ‒ ‒ ‒
9 Geist und Form
.Sie sehen nicht, dass selbst noch dort wo
solche Lebensform zur «leeren» Form gewor‐
den ist, weil ihr die geistige Durchdringung
fehlt, weit Besseres durch sie bewirkt wird,
als ihre eigene Störrigkeit, die alle schöne
Form als «Lebenslüge» wertet, je bewirken
kann. ‒ ‒ ‒
.Wahrlich, gar oft sind «die Kinder dieser
Welt» nicht nur «klüger», sondern auch bes
ser, als jene, die sich allein bevorrechtet glau‐
ben «Kinder des Lichtes» zu werden!!
.Siehe, ich rate dir: missachte nicht die
Form, ‒ sei es in grossen, sei es in kleinen
Dingen!
.Du sollst gewiss nicht nach Aneignung
«leerer» Formen streben, aber dein ganzes
Leben sollst du formen lernen und nichts soll
dir zu geringfügig sein um all dein Streben dar‐
auf zu richten, es in seiner schönsten und voll‐
kommensten Form zu offenbaren! ‒ ‒ ‒
*           *
*
10 Geist und Form
AUSSEN UND INNEN
.Der du auf dem Wege zum Geiste bist,
wisse, dass dir nichts Ungeformtes sich jemals
offenbaren kann!
.Auch der Geist bedarf der Form, soll er dir
innewerden! ‒ ‒
.Wie nichts in dieser Aussenwelt der For
mung entbehrt, so wird auch in der inneren
Welt nichts wahrgenommen, es sei denn Form
geworden...
.Du sprichst von «leerer» Form!
.Bedenke aber, dass auch die leere Form noch
Offenbarung eines Willens ist, der sich in
ihr einst Ausdruck schuf, so wie das leere
Haus der Schnecke dir noch von dem Tiere sagt,
das in ihm lebte! ‒ ‒
.Was Form geworden ist in dieser Aussen
welt, ist Ausdruck eines Inneren der Aussen‐
welt, das anders dir sich niemals offenbaren
könnte...
11 Geist und Form
.So aber ist auch jede Form der inneren
Welt stets wieder Ausdruck eines Allerinner
sten, das niemals dir vorhanden wäre, würdest
du es nicht als Form in dir erkennen...
.Suche hier in der Aussenwelt in jeglicher
Form das ihr Innere zu erfassen, dessen Aus
druck sie ist!
.So wirst du am besten dich vorbereiten, einst
auch in der Welt des Geistes, in jeglicher
Form die dir allda begegnen mag, das Aller
innerste, dem sie Ausdruck ist, aus ihr
leuchten zu sehen! ‒ ‒ ‒
.Auch alles, was der Mensch an Lebensform
geschaffen hat in dieser Aussenwelt, damit er
leichter in Gemeinsamkeit mit seinesgleichen
dieses Erdenlebens Bürde trage, kann dir zu
hoher Lehre dienen...
.Auch hier entspricht dem «Aussen» stets ein
«Innen», selbst wenn das «Innen» längst
nicht mehr gefühlt wird. ‒
.Suche nach diesem «Innen», und wenn du
es gefunden hast, dann wird dir manche schöne
Lebensform, die dir nur als der Ausdruck
einer Lüge galt, gewiss zu einem anderen
Werte sich erheben! ‒ ‒ ‒
12 Geist und Form
.Auch manches was dir heute töricht noch er‐
scheint in Sitte und Gepflogenheit der Men‐
schen, wird sich dann als Form dir zeigen der
ein weiser Inhalt innewohnt!
.Es wird nicht nötig sein, hierzu erst Studien
zu betreiben, die dich in ferne Zeiten oder
gar zu fernen Völkern führen!
.Du kannst, wo du auch stehen magst, im
Alltag beginnen und in deiner nächsten
Umgebung!
.Hier ist dein sicherster Boden, und Tor
heit nur verachtet ihn um sich in alten Zeiten
und bei fernen Völkern einzuträumen und
dort heimischer zu fühlen! ‒ ‒
.So fand ich Suchende, die hin zum Geiste
strebten, und, ihrer Torheit kaum bewusst,
durch die ‒ Gewandung ihrer Zeit und ihres
Landes sich behindert glaubten...
.Sie fassten es nicht, dass da ein Mensch zum
Geiste finden könne, der in festlicher Gesell‐
schaft sich den Formen der Gesellschaft fügt,
ja der nur dann Behagen fühlt, wenn seine
Kleidung dieser Formen Vorschrift bis ins
Kleinste angepasst erscheint...
.Entsetzen packte sie, wenn einer der in hoher
13 Geist und Form
Bergnatur bei steiler Wanderung vom Geist zu
reden wusste, des Abends dann im Rasthaus an‐
gelangt noch Sorge trug, dass er beim abend‐
lichen Mahle unter festlich Frohgestimmten
auch in einem Kleide sei, das nach der allgemei‐
nen Sitte dort gefordert war. ‒ ‒
.So sah man denn in wildverwegenen Gewän‐
dern sie sich selbst gefallen, und sie gefielen
sich nicht wenig, im Bewusstsein, anderen zu
zeigen, dass sie der Form ‒ nach ihres Eigen‐
dünkels Meinung ‒ längst «entwachsen»
seien. ‒
.Andere kleideten sich in biblische Gewänder
und liefen am hellichten Tage in solcher Mum‐
merei einher, ‒ ein jeder ein «Christus», oder
zum mindesten einer der Apostel, ‒ und keiner
schien zu ahnen, wie wohl jene, deren Maske
sie für sich erkoren hatten, sie verlachen wür‐
den, lebten sie heutigen Tages inmitten
der westlichen Welt. ‒
.Und dennoch waren es auch mitunter sehr ehr
liche Suchende, die wirklich zum Geiste
strebten, trotz all ihrem törichten Tun! ‒
.So geht der Mensch in die Irre, der sich der
Form « entwachsen» wähnt!
14 Geist und Form
.Vermeintlich «frei» von jeder Form, schafft
er sich Formen einer wunderlichen Art, die sich
der Form des allgemeinen Ganzen, wie sie
in jedem Lande in der Zeiten Lauf erwachsen
ist, nicht einen, und dünkt sich selbst ein
weitaus «Besserer» zu sein, als jene, die nicht
seinem eitlen Beispiel folgen. ‒ ‒
.Was hier geschildert wurde, ist vielleicht die
sonderbarste Art des törichten Versuches,
sich aus der Form der Zeit und seines Landes
selbst zu lösen...
.Weit zahlreicher sind jene Sonderlichkei‐
ten, die im Verborgenen blühen. ‒
.Allen gemeinsam aber ist der Wahn, dass
sich der Suchende, der sich dem Geiste nahen
will, mit allem Rechte über alle Form «er‐
haben» fühlen dürfe, besonders aber über jede
Form, die sich in allgemeiner Sitte und Ge‐
pflogenheit des menschlichen Zusammenlebens
offenbart.
.Zuweilen aber wird solche Formverach
tung zum Verbrechen an der menschli
chen Gemeinschaft.
.So: wenn sie die Ehe als abgelebter Zeiten
behindernde Bindung um ihrer Irrtumsmöglich‐
15 Geist und Form
keiten willen verachtet; ‒ so, wenn sie alles zu
entwurzeln sucht, was sich die Menschheit selbst
als Schutzwehr pflanzte, um nicht dem Sturm
misslenkter Triebe und der ungehemmten Lei‐
denschaften zu erliegen. ‒ ‒ ‒
.Weislich hatte man einst die Gefahr erkannt,
die aller Formverachtung innewohnt! ‒
.Gar hurtig lässt sich jetzt fällen, was Jahr
hunderte brauchte und Jahrtausende, um
so zu verwachsen, dass es wahrlich Schutz ge‐
währen konnte! ‒ ‒
.Lange aber wird die Zeit der steten Stürme
währen, auch wenn man schliesslich neu den
Wald zu pflanzen sucht, der ihnen vordem
wehrte...
.So rächt sich jede Missachtung der Form!
Man sieht nur das Äussere und vergisst, dass
es eines Inneren Offenbarung ist! ‒ ‒
*           *
*
16 Geist und Form
WOHNSTATT UND WERK
.Des Menschen Wohnstatt ist gleichsam sein
äusserstes Kleid in dieser Aussenwelt, und
wie seines Körpers Gewandung ihn offen‐
baren kann, so auch die Wohnstatt, die er
sich schuf. ‒
.Ist es in deine Macht gegeben, dir dein eige‐
nes Haus zu bauen, auch wenn ein Anderer,
der in der Kunst des Bauens wohlerfahren
ist, für dich die Form gestaltet, so wird dein
Haus wohl schon von aussen zeigen wer du
bist...
.Aber auch wenn du in Räumen wohnst, auf
deren Gestaltung dir aller Einfluss fehlte, wird
doch die Art wie du die fremden Räume dir zu
eigen machst, dem Kundigen gar viel von dir
zu sagen haben...
.Du wirst ihn nicht täuschen, auch wenn du
die ersten Künstler deines Landes aufgerufen
hast, dir herrliches Wohngerät zu schaffen und
17 Geist und Form
ihre Kunst in deiner Räume Ausgestaltung zu
bekunden...
.Es wird alsbald zu sehen sein, ob nur die
Künstler hier sich offenbaren, denen Auftrag
wurde, schöne Räume zu gestalten, oder ob sie
deines eigenen Wesens Spur zur Richtschnur
nehmen konnten und ihm, als Berufene, Aus
druck schufen. ‒
.Vielleicht ist deine Wohnstatt aber vorge
formt von Früheren die in den gleichen Räu‐
men oder mit dem gleichen Hausgerät einst
lebten? ‒
.Vielleicht erzählt dir jedes Stück des Haus‐
rats von den Menschen die einst vor dir waren
und deren Blut du in dir fühlst? ‒
.Vielleicht sind so die Formen aller Zeiten nun
in deinen Räumen eng vereinigt und manches
schöne Erbstück wurde einst aus fernen Zonen
heimgebracht? ‒
.Auch dann wird deine Wohnstatt immer
deiner Artung Zeugnis sein, denn was sie auch
enthalten mag an alten Dingen und wie sehr die
Patina der Stimmung alter Zeiten noch auf
ihren Formen fühlbar wird: ‒ stets wird die Art,
wie du das Alte nun zu deines Lebens äusserer
18 Geist und Form
Umkleidung machst, den Dingen neue Wertung
geben, die von dir allein nur herzuleiten
ist. ‒ ‒
.Doch glaube nicht, dass schöne Dinge dich
umgeben müssen und mannigfache Kostbarkeit!
.Auch wenn du in Armut lebst und kaum das
Allernötigste dein eigen nennst, wird dennoch
deine Wohnstatt von der Harmonie noch zeu‐
gen die in dir zu finden ist, wie sie desgleichen
auch die innere Verwirrung und die wilde
Unrast widerspiegeln wird, wenn du noch
nicht zur Harmonie gefunden hast...
.Was immer du besitzen magst, stets wird dein
innerer Besitz sich in dem äusseren offen
baren!
.Dein Heim, und sei es noch so eng und arm,
trägt stets die Prägung deiner Seele, zeigt
stets die Form in der du selbst die Aussenwelt
dir zu gestalten weisst! ‒ ‒
.Es wäre arger Irrtum, wenn du glauben soll‐
test, für einen der zum Geiste strebt, sei es ein
eitles Tun, darauf zu achten, dass alles was ihn
hier in dieser Aussenwelt umgeben mag, auch
seiner Liebe teilhaft werde!
.Auch hier ist durch die Ehrfurcht vor dem
19 Geist und Form
Geiste schon geboten, dass deine Heimstatt rein
und schön trotz aller Armut sei; und ward dir
Wohlstand zugeteilt, dass du nichts um dich
duldest, das nicht eines Menschen würdig wäre,
der dem Geiste selbst zum Tempel werden
will. ‒ ‒ ‒
.Du wirst gar sehr darauf zu achten haben,
dass du der Dinge auch bewusst bist, die in
deinen Räumen dich umgeben!
.Nichts ist hier jemals bedeutungslos, und
auch das Geringste darf deiner Aufmerksamkeit
nicht entgehen! ‒
.Die Form die dich umgibt wirkt auf dich
selbst zurück, ‒ auch dann, wenn du sie kaum
bewusst gewahrst. ‒ ‒
.Nie kannst du Sorgfalt genug an deine
Heimstatt wenden!
.Die Arbeit deines Berufes mag es dir un
möglich machen, gleiche Sorgfalt auch dem
Raum der Arbeit zu widmen.
.Dort wird vielleicht dir jede Möglichkeit ent‐
zogen sein, den Raum nach deiner Art zu
formen, und manche harte Arbeit ist an einen
Ort gebunden, der kaum noch «Raum» zu
nennen ist. ‒
20 Geist und Form
.Vielleicht auch ist die Tätigkeit, der du ob‐
liegst, an sich durch Räume nicht umhegt.
.In deiner Heimstatt aber bist du frei und
kannst nach deiner Art sie formen!
.Hier darf dein Auge nichts erblicken, das dir
die Harmonie der Seele stören könnte. ‒
.Die Heimstatt soll dir Zuflucht sein und
dich durch alles was sie bergen mag, zur Freude
stimmen: ‒ zu warmer, reiner seelischer Heiter
keit!
.Auch wenn dich Düsteres vordem umgab
und böse Dinge schwer noch auf dir lasten mö‐
gen, sollst du bei dem Betreten deiner Wohn‐
statt alles von dir schütteln, was dich nie
derdrücken will! ‒
.Hier sollst du wieder zu dir selber kommen
und zu deiner höchsten Höhe! ‒ ‒ ‒
.Hast du die Sorgfalt aufgewendet, die von‐
nöten ist, damit dein Heim in allen Stücken
deiner würdig sei, dann wird der ärmste Haus‐
rat so zu deiner Seele sprechen, dass sie alsbald
sich wiederfinden wird, auch wenn sie in dem
wilden Lärm des Alltags draussen sich gar weit
verloren hatte. ‒ ‒
.Was immer dich in deiner Wohnstatt dann
21 Geist und Form
umgeben mag, wird dich erinnern an dein
bestes Fühlen, wird zu dir sprechen als
deine Welt, und wird dir Ruhe und heiteren
Frieden geben! ‒
*
.Ein jedes Stück, das deine Heimstatt auf‐
erbaut, ist des Menschen Werk.
.Achte darauf, dass auch jedes Stück die edle
Prägung der Menschenwürde trage! ‒
.Der du des ewigen Geistes Stimme in dir
selbst vernehmen willst: ‒ wie dürftest du in
deiner Heimstatt Dinge um dich dulden, die
scheinen wollen, was sie nicht sind, ‒ die das
Gesetz der Form gleichsam verhöhnen! ‒ ‒
.Die Gegenwart ist leider angefüllt mit Dingen,
die man am besten ins Meer versenken würde,
dort wo es am tiefsten ist! ‒
.Fühllos wird jede echte Form, die Aus‐
druck eines inneren Empfindens ist, von ge‐
schäftigen Händen nachgeahmt; aber das
Leben der Form entweicht bei solchem Tun
und was übrig bleibt ist Leiche...
.Man hat vergessen oder nie geahnt, dass jede
Form ein lebendiges Zeichen einer Sprache
ist und etwas zu sagen hat. ‒ ‒
22 Geist und Form
.So häuft man «Leichenteile» zu «Leichen‐
teilen» ohne sich dessen auch nur bewusst zu
sein. ‒
.Die Völker des Ostens wissen es anders,
soweit sie noch nicht durch die Menschen des
Westens verdorben sind. ‒
.Es sei mir erlaubt, hier eine Begebenheit zu
erwähnen um des Beispiels willen.
.Ein grosses Handelshaus Europas sandte
Ware nach dem Orient, die dort auf reichlichen
Absatz stets rechnen konnte.
.Um die Verpackung schöner zu gestalten,
liess man eines Tages neue Entwürfe einer far‐
benfrohen Ornamentik in den Formen östli
cher Kunst verfertigen und glaubte dadurch
gewiss der Ware noch grössere Abnehmerkreise
zu sichern.
.Aber der Kaufherr musste erleben, dass seine
ganze Sendung wiederkam. ‒
.Die Händler des Ostens, die sie vordem stets
begehrten, hatten es abgelehnt, sie in der
neuen Packung anzunehmen.
.Und dies war die Begründung ihrer Weige‐
rung:
.Sie sagten, dass sie ihres Lebens nicht mehr
23 Geist und Form
sicher seien, wollten sie diese neue Packung
auch nur in ihren Läden dulden, denn alle For‐
men die auf ihr zu sehen seien, bedeuteten für
den frommen Hindu ‒ ‒ gröbliche Gottes
lästerungen...
.Würde der Mensch des Westens noch in glei‐
cher Weise Formen zu empfinden fähig sein,
dann wäre wohl vieles in seiner Umwelt, das er
aus seinem Empfinden heraus mit gleichem
Abscheu von sich weisen müsste. ‒ ‒
.So aber weiss er die Sprache der Form nicht
mehr zu deuten, und leidlicher Geschmack der
Anordnung und Farbengebung tut seiner For‐
derung Genüge.
.Doch glaube man nicht, dass ich hier nur von
Dingen rede, die als Schmuck und Zierde be‐
trachtet werden!...
.Der einfachste Tisch oder Stuhl kann das
Leben der Form in sich tragen, so wie auch das
prunkvollste Möbel gleicher Art nur totes
Gerüste sein kann, «verziert» mit «Leichen‐
teilen»...
.Das Gleiche gilt von allem Gefäss und Ge
rät, die auch das einfachste Leben verlangt. ‒ ‒
.Darum sorge dafür, dass dich nur Dinge um‐
24 Geist und Form
geben, die du vor dem Geiste, den du in dir
finden willst, so du ihn einst findest, auch
verantworten kannst!
.Du trägst wahrhaftig dafür Verantwor
tung, dass nichts in deinem Hause sei an
Hausrat oder Zier, das mit der Würde eines
Menschen, der zum «Tempel des Geistes»
werden will, sich nicht vereinen liesse! ‒ ‒ ‒
.Es ist dazu nicht nötig, dass du Bescheid
weisst über Kunst und künstlerische Dinge.
.Gar vieles kann dem Künstler wertvoll sein,
und vieles findest du als alter Zeiten Werk in
den Museen, das dennoch nicht der Menschen
würde Prägung trägt, auch wenn es kündet von
eines Menschen grossem Können. ‒ ‒
.Was dir als Massstab dienen soll, ist anderer
Art!
.Du, der sich dem Geiste einen will, der Har
monie und Klarheit, Licht und Wahrheit
in sich selber ist, wirst nichts um dich dulden
dürfen, das in seinen Formen Disharmonie
verrät, das Unklarheit erzeugt und dich in
einen Schlaf des dumpfen Dunkels lullt!
.Was dich umgibt, muss Formen zeigen die du
selbst als wahr und rein empfindest!
25 Geist und Form
.Verbanne aus deinem Bereiche alles, was Un
wahrheit offenbart in seiner Form, oder was
dadurch unwahr wird, weil es mit deinem eige‐
nen Empfinden nicht zu vereinen ist! ‒
.Vergiss niemals, dass alles was dich umgibt,
auf dich zurückwirkt und dich selber
formt! ‒ ‒
.Du nimmst gewiss nicht jeden Menschen
wahllos auf in dein Heim...
.So lasse auch alles Werk aus deiner Wohn‐
statt draussen, von dem du nicht willst, dass es
von Einfluss auf deiner Seele Formung
sei! ‒ ‒ ‒
*           *
*
26 Geist und Form
FORM DER FREUDE
.Auch deine Freude muss edle Formung
finden, soll sie deiner würdig sein. ‒
.Du liebst es vielleicht, dich in deiner Freude
«gehen zu lassen» und magst nicht gerne
dich dazu verstehen, auch in der Freude auf
Form zu achten? ‒
.Das Beste deiner Freude scheint dir dahin zu
sein, wenn du dich ihr nicht schrankenlos
überlassen darfst...
.Noch kannst du dir keine so recht beglücken‐
de Erdenfreude zur Vorstellung bringen, sobald
dir gesagt wird, dass du auch deine Freude
formen sollst in edelster Form. ‒
.Hier aber bist du in einem Irrtum befangen,
den gar viele mit dir teilen! ‒ ‒
.Glaube nicht, mir sei er wohl immer fremd
geblieben!
.Siehe mein Freund, auch ich habe ehemals
manchen Irrtums lockende Strasse durchschrit‐
27 Geist und Form
ten, die hier auf diesem Planeten Menschen‐
geister ver-führt...
.Wie wäre ich sonst wohl dazu bereitet worden,
denen, die mein Wort erreicht, zu helfen?! ‒
.Wenn ich dir nun rate, auch deine ausgelas‐
senste Freude noch zu formen, so weiss ich,
was das besagen will, und weiss zugleich, dass
ich nur deine Freude mehre, so du mir folgen
magst. ‒ ‒
.Niemals betrügt sich der Mensch so sehr, als
wenn er da vermeint, die rechte Freude müsse
hemmungslos sich wie ein Wildbach ergiessen
können! ‒
.Der Wildbach gibt mir hier ein wohlgeeigne‐
tes Bild, und wenn ich in diesem Bilde bleiben
darf, dann sei daran erinnert, dass auch der
Wildbach nur gefahrlos wird, wenn man ihn
einzudämmen, wenn man seine Strasse zu
formen weiss. ‒
.Wehe aber den Fluren, ‒ wehe der jungen
Saat, wenn er in seiner Frühlingsvollkraft über‐
schäumt und seines naturgebundenen Laufes
Steinbett verlässt!! ‒
.So auch wird deine Freude dir zur Gefahr,
28 Geist und Form
solange sie nicht deine Formung trägt, und
‒ glaube mir ‒ auch ich habe vordem solche
Gefahr gar oft erfahren, so dass ich wahrlich
vor ihr warnen darf!...
.Wie der Lotse die Klippen sehr wohl kennen
muss, bevor er das Schiff gefahrlos durch die
Brandung in den Hafen leiten kann, so ward
auch mir gar wohl bekannt durch die Erfahrung
eines Menschenlebens, was es zu vermeiden
gilt, soll eines Menschen geistiges Ziel ihm end‐
lich erreichbar werden, trotz aller hohen See
der Leidenschaft und allem Sturm der Triebe...
.So gerne du auch in deiner Freude dich «ver
gessen» möchtest, ‒ «dich» vergessen, den du
selber aufgerichtet hast in deiner Vorstellung,
und dem du den Namen gegeben hast, als sei
er wirklich du selbst, ‒ sei wachsam und achte
der Gefahr, der du nur begegnen kannst,
wenn du auch deine Freude zu formen
weisst! ‒ ‒ ‒
.Du wirst zwar bedauern, dass du nicht völlig
dich deiner Freude überlassen kannst, ‒ aber
bedenke wohl, dass alles, dem du dich völlig
überlässt, dich nur zu seinem Sklaven
macht! ‒
29 Geist und Form
.Hier aber sollst du zum Herrn deiner Freude
werden und sie soll deiner Formkraft völlig
unterordnet sein!
.Ich rede hier nicht von den stillen dauernden
Freuden die dein wohlgeformtes Leben dir er‐
spriessen lässt wie allgemach in einem wohl‐
gepflegten Garten Blumen spriessen durch des
ganzen Jahres Lauf. ‒
.Kaum wird es dir entgangen sein bisher, dass
ich vielmehr von deiner Freude rede, soweit sie
zu besonderem Anlass ihr besonderes Recht
erheischt. ‒ ‒
.Gar vielfältig kann solcher Anlass sein und
gar vielfach kann er dir begegnen...
.Bist du dir bereits bewusst geworden, dass
dein ganzes Leben durch dich Formung
finden soll, so wird es dir leicht sein, auch deine
Freude zu formen, sobald du nicht dem
Wahne lebst, dich in der Freude endlich ver
gessen zu dürfen. ‒
.Es sind wahrhaftig nicht die Schlechtesten,
die da zuweilen glauben, dass die Freude ihnen
nur gegeben sei, um sich «vergessen» zu kön‐
nen!
30 Geist und Form
.Wer aber ist es, der so vergessen wird?!?
.Du selbst bist es wahrlich nicht, auch
wenn du im fröhlichen Maskenspiel die dir
fremdeste Maske wähltest!
.Stets wirst du selber es sein, der sich als das
«Ich» dieser Maske fühlt. ‒ ‒
.Was du vergessen willst, wäre wert, dass du
es auch in deinem Alltagsleben vergässest! ‒ ‒
.Du selbst hast es dir zum Tyrannen ge‐
schaffen, und deiner Schöpfung Werk wird dir
so lästig, dass du es gerne wieder vergessen
möchtest, wozu denn deine Freude dich auf
zufordern scheint! ‒ ‒ ‒
*
.Du hast in dieser Erdenwelt dein Erden
kleid gefunden.
.Schon als du ein Kind noch warst, hat man
dir dieses und jenes davon zu sagen gewusst,
was du selber seiest...
.Dich selber glaubtest du genau bestimmt
durch Lob und Tadel, ‒ durch der Erwach‐
senen Wertung deiner kindlichen Daseins‐
äusserung...
.Herangewachsen «wusstest» du, dass du das
Kind einer sehr genau bestimmten Familie
31 Geist und Form
seiest, und all dein Tun ward mitbestimmt
durch solches «Wissen». ‒ ‒
.Dann aber machtest du dich «frei» von aller
Familienbande, «wusstest» dich als Kind deines
Volkes, und aller Wert, den du dir selber
gabst, entstammte deiner Tüchtigkeit, oder
deinem mangelhaften Erfolge in irgend einem
menschlichen «Beruf»...
.Ob du dazu berufen warst, ihn auszuüben,
wusstest du am Ende selber kaum. ‒
.Du bist in ihn «hineingewachsen» und deine
«Aufgabe» siehst du nun darin, ihn so zu «er‐
füllen», dass alle die dir «vor-gesetzt» sind,
oder ein «Urteil» haben, dich nicht «ver
urteilen» und dich keinem «nach-setzen.» ‒ ‒
.Was du so in anderer Augen warst, ‒ als was
du Anderen erscheinen mochtest, ‒ das war
dir und ist dir vielleicht noch heute genaue Be‐
stimmung dessen, was du bist! ‒
.Der Anderen «Wertschätzung» bestimmt
dir deinen eigenen Wert. ‒
.Der Anderen «Bewunderung» lässt dich dir
selbst als wundersam erscheinen. ‒
.Der Anderen «An-erkennung» lehrte dich
allein dich selbst vermeintlich erkennen. ‒
32 Geist und Form
.Der Anderen «Ver-achtung» schien dir so
begründet, dass du selbst dich nur in aller
Heimlichkeit noch achten konntest, und vor
dir selber fürchtest, du seiest nur ein Sklave
deiner Eitelkeit, wenn dennoch sich in dir
etwas «erhob», das gegen die «Ver-achtung»
Anderer sich wild «empörte», weil es aus der
Niedrigkeit, die du dir selber gabst, empor ge‐
langen wollte! ‒ ‒ ‒
.So hast du alles, als was du dich selber
fühlst, von Anderen empfangen, und keines‐
wegs weisst du aus dir selber, wer du bist!
.Es ist wahrlich kein Wunder, wenn du «ver
gessen» möchtest, was nur in den Augen An
derer für dich selber gilt!
.Es ist wahrlich kein Wunder, wenn du zu
vergessen strebst, was Andere ‒ aus dir
machten! ‒
.Dich selbst aber willst du gewiss nicht
vergessen!
.Du gibst nur einer Vorstellung, die Andere
dir eingegeben haben, das Recht, für dich
selber zu gelten. ‒ ‒ ‒
.Siehe, darum rate ich dir: vergiss dich sel
ber nicht in deiner Freude!
33 Geist und Form
.Der, den du vergessen möchtest, da er dich
peinigt, als deine eigene Schöpfung nach An
derer Mass, ‒ den darfst du gewiss verges‐
sen, und du tust gut daran, wenn du ihn als
bald vergessen wirst! ‒ ‒ ‒
.Aber dich selbst sollst du gar hoch er
hoben fühlen in deiner Freude!
.Was immer dir Freude bringt, soll dir ein
Anlass sein, deine formende Kraft zu er‐
proben!
.Du wirst deine Freude verhundertfältigen
können, wenn du es verstehst, sie zu formen
nach deiner Artung Massgerechtigkeit! ‒ ‒
.Du selbst musst das Mass für die For
mung deiner Freude sein, ‒ nicht jenes Ge
spenst, das Andere für dich selber hal
ten! ‒ ‒ ‒
.Der Anderen Form der Freude sollst du
achten, so immer sie irgendwie Achtung noch
verdient, allein sie darf nicht «Vor-Bild» dei
ner Form der Freude werden, es sei denn, dass
sie völlig deiner Artung wäre! ‒ ‒
.Forme, mein Freund, deine Freude nach
deiner eigenen Form, und sei meiner Worte
eingedenk, dass dann nur deine Freude niemals
34 Geist und Form
dich gereuen wird, wenn du sie in Form zu
binden weisst! ‒ ‒ ‒
.Du selbst musst Mass deiner Freude geben,
wenn sie dich nicht täuschen soll! ‒ ‒
.Du selbst bist deiner Freude Folge aller‐
sicherste Gewähr, so du nur alle deine Freude
formen willst nach deiner, dir von Ewigkeit
bestimmten Form! ‒ ‒ ‒
*           *
*
35 Geist und Form
DES LEIDES FORM
.Auf deinem Leidenslager liegst du in arger
körperlicher Not, und allzuschwer erscheint es
dir, in solchem Leide noch danach zu streben,
auch dein Leid zu formen...
.Angstvoll spähst du vielmehr nach äusserer
Hilfe aus, und jedes Tränklein dem du dein
Vertrauen schenkst, erscheint dir weitaus wich‐
tiger als solches Tun...
.In guten Tagen meintest du vielleicht, du
seiest längst schon «über alles Irdische er‐
haben». ‒
.Nun musst du sehen, wie gar sehr du noch
der Erde verhaftet bist. ‒ ‒
.Aber du willst es nicht fassen, dass deine
geistige Kraft dich aus der Verhaftung lösen
könnte, auch wenn sie vielleicht nicht völlig
dich befreit. ‒
.Gewiss, dein armer Leib ist so geplagt, dass
er seiner Sinne kaum noch mächtig ist...
36 Geist und Form
.Du kennst nur noch das eine Flehen: ‒ dass
deinem Leide ein Ende werde...
.Wie Hohn erscheint es dir da, von einer For
mung auch des Leides zu reden. ‒
.Ach siehe: ich weiss dein Leid wahrhaftig zu
empfinden, denn selten nur war ich völlig vom
Leide verschont. ‒ ‒
.So darf ich wahrlich auch vom Leide reden
und von des Leides Überwindung durch die
Form in der man es zu ertragen weiss...
.Ich selbst weiss nur zu gut, wie sehr des Kör‐
pers Leid auf einem Menschen lasten kann und
wie es dennoch durch Formung zu bändigen
ist. ‒
.Es übersteigt fast alle Vorstellung, was durch
geistige Formung bewirkt werden kann, und
wie durch geistige Einstellung das Körper
liche, wie quälend es auch sei, stets noch zu
bezwingen ist. ‒ ‒ ‒
.Was du kaum noch ertragen zu können
glaubst, solange du zeterst mit dir selbst und
haderst mit deinem Schicksal, das wirst du als‐
bald überwinden, so du es willig erträgst,
als sei es mit der dir gemässesten Form deines
Lebens ganz selbstverständlich ver
37 Geist und Form
knüpft, ‒ als könne es gar nicht anders
sein. ‒ ‒
.Wohl dir, wenn du körperliches Leid so ent
werten lernst, dass du es nicht mehr achten
musst!
.Solange du noch deinem Leide dich über
gibst wie ein Sklave seinem grausamen Herrn,
von dem er zitternd der Peitsche Hieb erwartet,
hast du deinem Leide noch nicht die Formung
gegeben, die deiner würdig ist! ‒
.Nur mit «Ver-Achtung» sollst du deinem
Leide begegnen, und nur als sein Verächter
wirst du seiner Herr!! ‒
*
.In gleicher Weise musst du nach Herrschaft
streben, auch bei allem anderen Leide, das dir
begegnen mag!
.Auch seelisches Leid will dich erniedrigt
sehen und über dich herrschen! ‒
.Auch davon weiss ich genugsam zu sagen und
rede auch hier gewiss nicht als einer, der von
ihm fremden Dingen spricht! ‒ ‒
.Ich fand aber viele die ihr seelisches Leid so
sehr liebten, dass sie es kaum von sich lassen
wollten, als es sie von selbst verliess...
38 Geist und Form
.Dieses ist wahrlich nicht die rechte Art, dem
Leide zu begegnen, das die Seele niederdrük
ken will!
.Auch dein seelisches Leid sollst du beherr
schen lernen und in eine Form zu zwingen
wissen, die deiner würdig ist! ‒ ‒
.Solange du noch «grübelst» in dir selbst, um
etwa deines Leides letzten Sinn zu «ergründen»,
gräbst du nur deiner Kraft des Widerstan
des eine Grube!...
.Der «Sinn» deines Leides ist nicht zu ergra‐
ben, denn wahrlich: ‒ nicht eher hat dein Leid
einen «Sinn», als bis du selbst ihm einen gibst,
und nur in diesem Sinne kann es «sinnvoll»
für dich werden! ‒ ‒
.Dein Leid mag bitter zu verkosten sein,
doch sollst du selbst dich nicht durch dein
Leid verbittern lassen! ‒
.Dein Leid mag dir «gross» erscheinen über
alles Mass, doch sollst du selbst deine Grösse
nicht von deinem Leide erborgen! ‒ ‒
.Du sollst deinem Leide keinen Altar errichten
in dir selbst, und sollst es nicht in erhobenen
Händen vor dir einhertragen wie ein Heiligtum!
.So wie du körperliches Leid ver-achten
39 Geist und Form
lernen musst, so wirst du das Leid deiner Seele
verarbeiten lernen müssen: ‒ verarbeiten zu
einer Form die dir dienen muss, dich selber
zu formen! ‒ ‒ ‒
.Auch deinem Leide darfst du dich selbst
nicht überlassen!
.Du musst dich selber über dein Leid er
heben und ihm gebieten lernen!
.Du selbst bist das Bleibende, ‒ dein Leid
aber ist vergänglich, und es ist Lüge, wenn
es dich betören will, an seine Dauer zu glau‐
ben! ‒ ‒
.Lerne dem Leide Schranken setzen, die es
formen müssen nach deinem Willen! ‒ ‒
.Des Unheils Wirkung wird dein Leid nur zei‐
gen, wenn du es nicht zu bändigen weisst! ‒ ‒
.Nur als Überwinder deines Leides aber
kannst du in den Geist gelangen!
.Dich selbst musst du wahrlich höher
werten als dein Leid, denn in dir selber will
sich des Geistes Funkenstrahlenlicht dir
offenbaren! ‒ ‒ ‒
*           *
*
40 Geist und Form
DIE KUNST DES LEBENS
.Willst du den Weg durchschreiten, den ich
in so mancher Rede dir in anderen Büchern
schon zu beschreiben wusste, als einer, der ihn
kennt, ‒ den Weg, der zum Lichte in dir selber
führt, dann wirst du manchem Wahn ent
sagen müssen! ‒ ‒
.Vor allem aber dem Wahne, dass dein Erden‐
leben nun einmal «Bestimmung» sei und so
durchlebt werden müsse, wie es gerade kommen
mag! ‒ ‒
.Wer so sein Erdenleben durchlebt, ist einem
Baumeister gleich, der ohne jeden Plan und
Grundriss Erde ausheben lassen würde um dann
zu bauen, wie immer es werden möge, bis ihn
der letzte Stein am Weiterbauen hinderte. ‒
.Wohl möglich, dass ihm sein wilder Bau ge‐
länge und ein abstruses Gebilde so zustande
käme.
.Weit eher aber dürfte die Voraussicht Recht
41 Geist und Form
behalten, dass eines Tages über seinem Kopf
zusammenstürzen müsse, was er in planlos
törichtem Tun aufeinandertürmte. ‒ ‒
.Sei du nicht einem solchen Toren gleich!
.Was du dein Erdenleben nennst, ist rohes
Material, das allerdings, so wie du es auf
Erden fandest, dir gegeben ist und an dem du
fast nichts oder wenig nur ändern kannst.
.In deine Hand jedoch ist es allein gegeben,
was du in geistiger Form aus ihm erbauen
wirst, und keine Macht der Erde wird dich hin‐
dern können so zu bauen, wie es der «Grund
riss», den deine Seele sieht, von dir verlangt. ‒
.Du wirst mir entgegnen wollen, dass doch
vieles nicht in deine Hand gegeben sei: ‒ dass
dich in vielen Dingen Andere behindern könn‐
ten, ‒ ja, dass die Aussenwelt dir deinen ganzen
Bau in Stücke schlagen könne.
.Ach, lieber Freund, solange du noch solche
Rede führst, hast du noch nicht erkannt, wo‐
von ich zu dir spreche!...
.Dein äusseres Bauen ist wahrhaftig nicht
durch dich allein bestimmt, und deine schön‐
sten Aussenmauern kann man stürzen ehedenn
42 Geist und Form
du die Kuppel wölben konntest über deinen
stolzen Bau! ‒ ‒ ‒
.Dein geistiges Bauen aber kannst nur du
selber stören oder durch Andere stören lassen,
denen du solche Störung erlaubst! ‒ ‒ ‒
.Es ist die Rede hier von dem Kunstwerk,
zu dem dein geistiges Leben werden soll!
.Dein Erdendasein schafft dir täglich neues
Material aus dem du dein geistiges Leben
kunstvoll auferbauen kannst!
.Nie wird es dir an «Steinen» und «Bauholz»
fehlen!
.An dir aber wird es sein, das rohe Material in
solcher Weise zu bearbeiten, dass es sich dem
erhabenen Grundriss anpasst, den deine Seele
in sich selber findet, in ihrem innersten
Schrein! ‒
.An dir wird es sein, den rechten «Mörtel» zu
bereiten, der Baustein an Baustein bindet!
.An dir wird es sein, die «Balken» so zu fügen,
dass sie tragen können!
.Du wirst nichts von dem verachten dürfen,
was dir dein Erdendasein alltäglich zuführen
mag!
43 Geist und Form
.Es ist alles zu deinem geistigen Bau auf
irgend eine Weise vonnöten und wird gute
Dienste tun, so es nur erst durch dich die bau
gerechte Formung fand! ‒ ‒ ‒
.Jedoch kann nichts deinem geistigen Bau
sich einen, das nicht zuvor bearbeitet ist und
in geistiger Weise vorgestaltet! ‒
.Was immer der Alltag dir bringen mag: ‒
stets frage dich selbst, wie es alsbald zu formen
ist um deinem geistigen Tempelbau zu
dienen!
.Alsdann aber gehe sogleich ans Werk und
raste nicht eher, als bis das Rohe seine rechte
Form erhielt! ‒
.Je mehr du in solchem weisen Werk dich üben
wirst, desto leichter wird es dir werden!
.Was dir noch heute kaum möglich erscheint,
wird dir gar bald schon mit geringer Mühe ge‐
lingen!
.Nur musst du Ausdauer zeigen bei solchem
Werk!
.Du darfst nicht etwa heute begeistert be‐
ginnen und dann nach wenigen Tagen schon das
Meiste liegen lassen! ‒
.Was du nicht verarbeitet hast, wird dir
44 Geist und Form
dann im Wege liegen, und so wirst du selbst
dich sehr behindern, auch wenn du zu späte‐
rer Zeit aufs neue beginnen willst! ‒ ‒
.Noch heute, da du meine Worte vernimmst,
suche in deiner Seele innerem Schrein den Bau‐
plan hervor!
.Er ist dort wohlverwahrt und du wirst ihn
finden, wenn du mit aller Ruhe sicherer Ge‐
wissheit suchst!
.Kein hastiges Stöbern wird ihn zutage för‐
dern!
.Hast du ihn aber gefunden, dann gehe als‐
bald ans Werk und bleibe deinem Werke treu!
.Du wirst den Bauplan erst beim Bauen
selbst verstehen lernen, und so es dann nötig
wird, wirst du auch die Einzelpläne finden,
die dir heute noch nichts nützen könnten!
.Allmählich wird deine formende Kraft er
starken und du wirst zum Künstler werden
an deinem Werk!
.Dir kann keine «Schulung» ersetzen, was
dich das Werk allein zu lehren weiss! ‒ ‒ ‒
.Noch bist du nicht entfaltet und weisst selbst
noch nicht, was in dir sich verbirgt!
45 Geist und Form
.Du hast zu dir selbst noch kein Vertrauen
und möchtest Plan und Arbeitslehre lieber von
Anderen empfangen!
.Doch, dein Vertrauen wird dir werden,
wenn du erst sehen wirst, was du in dir trägst! ‒
.An deiner eigenen Arbeit nur nach dem in
dir verborgenen Plan wird es mählich wachsen,
und dann wirst du erkennen, dass dir geholfen
wurde weil du dir selbst vertrautest, auch
wenn du nur die Hilfe und noch nicht die
Helfer gewahrst! ‒ ‒ ‒
.Nur solche geistige Hilfe kann dir von
Nutzen sein! ‒
.Alles was man dir von aussen her sagt,
kann dich nur aus deinem Schlafe zur Arbeit
wecken, ‒ kann dir Anstoss werden, mit
deinem besten Tun zu beginnen! ‒ ‒
.Die Hilfe aber, die du dann bei deinem
Werke brauchst, darf dir nur auf geistige
Weise in deinem Innern werden, so sie dir
wirklich Beistand leisten soll! ‒ ‒ ‒
.Auch wenn du in der Aussenwelt aller Kunst
sehr ferne stehst, ist doch in deinem Innersten
ein Künstlertum in dir beschlossen, das nur an
deinem Werke geistig sich entfalten kann!
46 Geist und Form
.Hier in deinem Innersten, wird man dich
zu hoher Kunst zu leiten wissen: ‒ zur Kunst,
dein geistiges Leben zu gestalten nach des
ewigen Geistes innewohnendem Gesetz! ‒ ‒ ‒
.Von dir wird nur erwartet und verlangt,
dass du alles Rohe, was dir dein Erdendasein
zuführt Tag für Tag, aus eigener formender
Kraft bearbeiten lernen willst um es zur
Form zu gestalten! ‒
.Darum sprach ich dir in diesem Buche in so
mannigfacher Weise von der Notwendigkeit der
Form! ‒
.Behauptest du mit Recht, dass dich im äusse‐
ren Leben vieles hindern kann, dein Leben so zu
formen wie du es gestaltet sehen möchtest, so
muss ich dir dennoch sagen, dass du auch dort
weit mächtiger bist als du vermeinst! ‒ ‒
.Nur wirst du vom Inneren her das Äussere
bestimmen müssen! ‒
.Suche alles, was dir dein äusseres Leben
bringen mag, in geistiger Weise zu verwerten,
indem du es geistig zu formen strebst, und du
wirst manches Hindernis, das dir im äusseren
Leben unüberwindlich erschien, dir gar bald
47 Geist und Form
durch dein weises geistiges Tun aus dem
Wege räumen! ‒ ‒ ‒
.Dein ganzes äusseres Leben wird sich nach
dem Bilde deines geistigen Lebens wandeln,
so du nur alles Äussere dir geistig zu formen
weisst! ‒ ‒
.Gar manche nannte man «Künstler des Le‐
bens» weil sie geschickt und sicher sich den
Fährnissen entwandten, die das äussere Leben
unerfreulich machen können.
.Die Kunst des Lebens aber von der ich dir
rede, wird dir auch dann nicht verloren sein,
wenn du das äussere Leben auf dieser Erde einst
verlassen musst!
.Sie wird dich ihre edlen Früchte hier in die‐
sem Erdendasein schon geniessen lassen und
sie alsdann in reichster Fülle einst in jener
neuen Daseinsart dir bieten, die auf dieses
Erdenleben folgt! ‒ ‒ ‒
.Wahrlich, es ist wert aller Mühen, diese
Kunst zu erlernen, und keinem versagt sie sich,
der ernsten Willens ist, sich selbst und alles
was er erleben mag, in geistiger Art zu
formen! ‒ ‒
48 Geist und Form
.Ihm wird auch alle irdische Form erst ihren
tiefsten Wert offenbaren! ‒
.In aller Form wird er den Geist am Werke
finden! ‒ ‒ ‒
*           *
*
49 Geist und Form
ENDE
DAS
GESPENST
DER
FREIHEIT
Verlagslogo
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASEL-LEIPZIG 1930
COPYRIGHT BY
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASEL 1930
BUCHDRUCKEREI WERNER-RIEHM IN BASEL
INHALT Seite
Fatamorgana 5
Notwendigkeit 17
Gemeinsamkeit 29
Autorität 43
Parteisucht 55
Fehlwirtschaft 69
Konkurrenz 95
Schlagwortwahn 109
Selbstdarstellung 123
Religion 137
Wissenschaft 161
Wirklichkeitsbewußtsein 177
Originalscan
FATAMORGANA
.Nicht von der wirklichen Freiheit,
so wie sie Dichter und Helden fand, soll
hier vornehmlich jetzt die Rede sein, ‒
mögen auch Dichter und Helden oft, wenn
auch unwissentlich, gerade für das ge‐
stritten und gelitten haben, wovon wir hier
zumeist nun reden müssen um der Wahr‐
heit willen!
.Nicht das erstrebenswerte Ziel des Seh‐
nens aller, die sich unfrei fühlen, soll hier
nun etwa der Entwertung dargeboten werden,
‒ sondern das Spottbild will ich uner‐
bittlich aufzulösen suchen, das, mehr als
je, die Freiheitsdurstigen in unseren Tagen
narrt. ‒
.Hier ist nur zu helfen durch Erhel
lung, und nur lebendigem Lichte kann
7 Das Gespenst der Freiheit
es noch gelingen, einen Trug tagwacher
Träume zu zerstören, der, ‒ getragen von
den schwülen Dünsten allzuerdenhaften Hof‐
fens und Verlangens, ‒ tagtäglich unzählige
Opfer in die hoffnungslose Öde grauen‐
voller Wüsten lockt.
.Aber auch weiterhin wird die Wahrheit
gelten, daß nur denen zu helfen ist, die sich
raten lassen, und so wird denn gewiß mein
Wort nur dort allein zu helfen wissen, wo
der Wille bereit ist: ‒ mir zuzuhören...
.Weltwende wirkt das Wort, wo es wachen
Willens erworben wird, aber wenig ver‐
mag es der Seele zu vermitteln, wo Wider
stand weisen Erwerb verwirkt!
.Nicht immer zeugt es von Klugheit,
wenn sich das Ohr warnendem Worte ver
schließt, und es ist gewiß kein Zeichen
tieferer Einsicht, sich von Unerwartetem
wegzuwenden.
8 Das Gespenst der Freiheit
.Manches werde ich sagen müssen, was
manchen wenig genehm zu Ohren klingt,
und von Dingen werde ich zu reden haben,
die heute den Allermeisten undinglich
wurden.
.Aber nicht alles, was den Einen uner
faßlich ist, muß darum den Anderen un
begreiflich bleiben, und es ist wahrhaftig
kein Wahrmal der Wirklichkeit, daß sie
auch denen gefallen müsse, die lieber träu
men, wo sie denken sollten, so daß sie
erkenntnisblind werden für alles, was die
Höhe ihrer Träume überragt.
.Nur solche Wüstenwanderer, die selbst
den Weg zur Oase kennen, werden das
Blendwerk der Luft in den heißen Dünsten
rieselnden Sandes von der vertrauten Wirk
lichkeit zu unterscheiden wissen.
.Mag auch die Reisekarawane, die ein
Wüstenkundiger führen soll, schier unab‐
9 Das Gespenst der Freiheit
sehbar sein, so fällt doch aller Neulinge
Meinung nicht ins Gewicht gegenüber dem
Wissen aus Erfahrung, das den Sicheren
zwingt, das Frohlocken zu dämpfen, und
als Trugbild zu erklären, was nur Trug‐
bild ist...
.Ich weiß hier Bescheid und weiß zu
raten und zu helfen, denen, die sich noch
raten und helfen lassen wollen!
.Wem meine Worte etwa „überheblich”
klingen mögen, der kennt mich noch nicht!
.Ihm bin ich zu sagen gezwungen, daß
ich aus Ländern der Seele komme, in denen
keiner der daselbst bewußt Lebendigen, ge
sonderter Erkenntnis sich vor Anderen
rühmen könnte.
.Im gleichen Lichte lebend und bewußt,
wäre uns jegliches Streben nach Vorrang
voreinander arge Torheit!
10 Das Gespenst der Freiheit
.Um wieviel mehr aber müßte es mir
als ärgerliche Torheit gelten, wollte ich mich
vor denen brüsten, die noch nicht in den
Ländern des Lichtes lebendig sind!
.Ich würde aber zum Lügner, wollte ich zu
verbergen suchen, daß mir noch Anderes
allzeit gegenwärtig ist, als all das, was mir
hier auf Erden nicht näher und nicht ferner
steht, wie allen meinen Nebenmenschen. ‒
.Millionen sind in diesen Tagen des
Glaubens, daß ihnen nichts anderes zu
ihrem Glücke, als nur „die Freiheit” fehle.
.So denkt nicht nur der Sträfling in seiner
Zelle, ‒ so denkt auch der Fürst, der sich
mancher Freiheit begeben mußte, die seine
Vorahnen voreinst genossen. ‒
.Aber fast alle sehen nur ein Gespenst
der Wüste locken, das jeden zur Beute
„wilder Tiere” werden läßt, der ihm guten
Glaubens folgt...
11 Das Gespenst der Freiheit
.Wo leider so Viele eines Glaubens, eines
Hoffens und einer Liebe sind, dort wird
es dem Einzelnen schwer, die Täuschung
zu durchschauen, und nur zu willig läßt,
er sich verleiten durch die Allgewalt des
Massenwahns.
.Des Un-Heils wahrlich genugsam kundig,
trachtet der Mensch danach, den Ausweg zu
seinem „Heil” zu finden, und „heilig
wird ihm auch jedes Truggebilde, das ihm
gleißend verheißt, ihn zu seinem Heil zu
führen.
.So kam das Gespenst der Freiheit in
der Menschenwelt zur Macht, und droht
schon fast alle in die Irre zu führen, die
nach wirklicher Freiheit streben.
.Gar unbestimmt, und nach Weise der
Wolken nebelhaft zerfließend, ist das Schein‐
gebilde, das heute den Meisten als „die
Freiheit” gilt.
12 Das Gespenst der Freiheit
.Wirkliche Freiheit aber tritt nur klar
und bestimmt in Erscheinung, denn sie
bedarf gefestigter Form!
.Nur in solcher Selbstfassung vermag es
echte Freiheit, zu bestehen und befreiend
zu wirken!
.Nicht in Form gefaßt, würde sie sich
selbst aufzehren.
.Grenzenlose” Freiheit wäre identisch
mit Selbstvernichtung des Freien. ‒
.Freiheit, die nur Begriff bleibt und
nicht erfühlt werden kann, ist wertlos
für den Menschen!
.Erfühlen läßt sich aber nur Be
grenztes. ‒
.Nur Grenze verleiht Form, und nur
vor wohlbegrenzter Form bleibt Fühlen be‐
hütet vor dem Zerfließen.
.Form ist Ausgleich zwischen allem
Zuviel” und allem „Zuwenig”.
13 Das Gespenst der Freiheit
.Wo wirkliche Freiheit herrscht, dort
kann nicht die Rede sein von „zuviel
oder „zuwenig Freiheit”, denn „zuwenig”
würde ihr Dasein ebenso verneinen, wie
„zuviel”...
.Wo solches Messen noch möglich ist,
dort herrscht nur das Gespenst, dem der
Mensch die Macht „zumessen” kann nach
seiner Willkür. ‒
.Wirkliche Freiheit ist niemals Selbst‐
zweck!
.Wirkliche Freiheit empfängt allen Wert
von den Zwecken, denen sie dient!
.Wirkliche Freiheit ist die Frucht erfüllter
Notwendigkeit und soll dazu dienen,
Höheres als Freiheit zu erreichen!
.Niemals wirft sich Freiheit zur Herrin
des Willens auf, denn Freiheit ist Dienst
am Willen!
14 Das Gespenst der Freiheit
.Das Gespenst der Freiheit aber sucht
des Willens Unterjochung, strebt allen
Willen aufzusaugen, um selbst in der
Macht zu bleiben...
.Das Gespenst der Freiheit zeugt in allen
die ihm folgen: tolle Sucht ins Grenzen
lose!
.Das Gespenst der Freiheit zersetzt alle
Fähigkeit, Form zu empfinden!
.So zerstört es alle Sicherheit des Er
kennens, denn nur wo Form empfunden
wird, ist Erkenntnis möglich...
.Nicht umsonst aber sprachen die alten
Weisen von der „Nichterkenntnis” als von
einer „Schuld”, ‒ auf welches Wort ich
auch an anderer Stelle schon zu achten
lehrte...
.Schuld entsteht, wo gegebene Kraft
dem Eigner oder seinen Mitgeschöpfen
Schaden schafft, sei es durch Mißbrauch,
15 Das Gespenst der Freiheit
oder aber Unterlassung rechter An
wendung!
.Wer somit dem Trugbild, dem er sich
versklavte, weiterfolgt, obwohl ihn meine
Worte weckten, selbst sich die Gewiß
heit zu verschaffen, daß ihn nur ein „Ge
spenst” zum Narren hält, der wird sich
schwerlich ledigsprechen können von eigener
Schuld...
.Da alle Schuld jedoch stets ihre Folge
fordert und mit aller Sicherheit erzwingt,
so wird er sich nicht wundern dürfen, wenn
sich ihm die durch ihn selbst gerufene Folge
an die Fersen heftet, und ihn vielleicht
gerade dann erreicht, wenn er zu greifen
glaubt, was nur die Spiegelung der Dünste
dürren Denkens in leerer Luft: ‒ speku
latives Traumbild, ‒ „Fatamor
gana” war. ‒
16 Das Gespenst der Freiheit
NOTWENDIGKEIT
.So hoch den alten Griechen ihre Götter
stehen mochten, so kannten die Weisen jener
Tage doch noch ein höheres, geheimnis‐
volles Prinzip, dem sie auch die Götter
unterordnet dachten: ‒ „Ananke”, = die
Notwendigkeit.
.Wer sich abkehren will von der „Fata‐
morgana” allerwärts wechselnden, wesen‐
losen Scheines der Freiheit, ‒ wer dem
Gespenst der Freiheit endlich die Gefolg‐
schaft aufsagt, ‒ der mag hier verweilen.
.Die Weisheit der Alten dürfte auch
seiner Seele noch erfühlbar sein...
.Sicherlich suchte er ja die wirkliche
Freiheit, als er vormals ihrem Gespenst
begegnet war, dem er nur deshalb seinen
19 Das Gespenst der Freiheit
Glauben dargab, weil er es für die heiß‐
erstrebte, wirklichkeitsgezeugte Freiheit
hielt.
.Will er nun endlich das Kennmal wirk‐
licher Freiheit erfahren, dann wird es ihm
aufleuchten hier in ungeahnter Helle, sieht
er die Menschen der Vorzeit ihre Götter:
die Freiesten der Freien, ‒ unter‐
ordnen der Notwendigkeit. ‒ ‒
.Eilfertig weiß das hirngeborene Ge
spenst stets das Kennmal der wirklichen
Freiheit zu beschatten, und mit blenden‐
den Bildern die wahnwirre Hoffnung zu
wecken, daß Freiheit auch frei zu machen
vermöge von aller Forderung des Gebotes
der Notwendigkeit...
.Wirkliche Freiheit aber erwächst nur
aus dieses Gebotes vollkommenster Er
füllung!
.Es ist noch keiner wirklich frei ge‐
20 Das Gespenst der Freiheit
worden, den die Notwendigkeit nicht
„freigesprochen” hätte! ‒
.Wem aber das Trugbild als gleichen
Wertes wie die wirkliche Freiheit gilt,
der ist wahrlich der Freiheit nicht wert!
.Frei sein, heißt denken, reden und
handeln, wie Notwendigkeit es will, ‒
und seine Not zu wenden, weiß, wer solcher‐
weise Freiheit sich erwirkt! ‒
.Wahrhaftig! ‒ keine Macht wird ihm
die so erwirkte Freiheit jemals wieder rauben
können!
.Wenig aber ahnen die Gespenstgeblen‐
deten von dem, was solche Freiheit einem,
der sie zu erlangen wußte, dann er‐
schließt. ‒ ‒
.Notwendigkeit ist nicht „Zwang”, ‒
sonst könnte ja wahrlich Keiner ihr ent‐
gegenwirken!
21 Das Gespenst der Freiheit
.Notwendigkeit ist das höchste, geistige
Ordnende im Menschen, wie in allem
Leben, und das eben wollten die Alten
bekennen, wenn sie „Ananke” noch über
die Götter stellten! ‒ ‒
.Zwang ist nur irdisch bedingte Gewalt:
‒ das wahre Zerrbild der Notwendigkeit!
.Zu gar manchem kann man dich, und
kannst du Andere zwingen, was gewiß
nicht der Notwendigkeit entspricht. ‒ ‒
.Notwendigkeit ist die gesetzte Ord
nung des Allgefüges, dem der Einzelne
einbezogen ist.
.Keiner kann diesem Gefüge und seiner
Ordnung sich auch nur für Augenblicke
entwinden, mag er auch alles für seine Vor‐
stellung zu negieren suchen, außer sich selbst!
.Stets bleibt er in Wirklichkeit mit dem
unermeßlichen Ganzen vereint, ‒ schädigt
sich selbst, wenn er diesem Ganzen nicht
22 Das Gespenst der Freiheit
entspricht, und schädigt das Ganze, wenn
er sich selbst nicht aus innerer Ordnung
zu entfalten weiß. ‒
.Nur das wirkliche Geschehen aber
ist hier entscheidend!
.Der Träumer, der in seiner Höhle sitzt
und seine Phantasie erhitzt bis sie ihm
jedes Geisterreich nach Wahl in seiner Vor‐
stellung erstehen läßt, ‒ der vornehme
Aesthet, der sich von allem äußeren Ge‐
triebe sondert, um nur „in Schönheit” zu
leben und alltagsferne seine Wortewelt zu
gebären, ‒ sie gelten dem unermeßlichen
Ganzen gleichviel wie der brutale Genüß‐
ling, der nur seinen stets erregten Tier‐
sinnen dient. ‒ ‒
.Der solchermaßen Wahnbetörten „Wirk
lichkeit” ist nur ein armer Mensch, der
seiner Eigensucht erliegt, und nicht er‐
füllt, was „Ananke”: die über allen Göttern
alles Leben ordnende Notwendigkeit, von
ihm verlangt. ‒
23 Das Gespenst der Freiheit
.Wesenlos bleibt, was immer er sich schuf
als seine Eigenwelt, mag es ihm auch ge‐
lingen, ihr in tausenden von anderen Men‐
schenhirnen Wiederspiegelung zu schaffen!
.Es ist nichts Wirkliches damit erreicht!
.Willst du zu wirklicher Freiheit
kommen, so mußt du erfüllen, was Not
wendigkeit jeweilens dich erfüllen heißt!
.Das Gespenst der Freiheit wird dich
erregen, so daß deine Phantasie alles Den‐
ken überspannt!
.An dich und Andere wirst du Forderung
stellen, die nicht in Notwendigkeit be‐
gründet ist, sondern im Zwang deines
„überspannten” Denkens...
.Weil du zu viel „verlangst”, kannst du
nichts, oder allzuwenig nur „erlangen”,
und was du dir, giertriefend, dann etwa
zu rauben suchst, wird dir alsbald von
24 Das Gespenst der Freiheit
denen wieder abgenommen, die vordem
deine Gefährten waren...
.Der Maßstab, der allein für alles Leben
gilt, geht Allen verloren, die in wilder
Hast dem Gespenst der Freiheit folgen!
.Berechtigt” nennst du deine Kritik,
‒ aber wo in dir willst du ein Recht
zur Verwüstung finden? ‒ ‒
.Kritik ist wie eine Sturzflut, die herab
von eisigen Gletschern fällt.
.Man muß ihr Dämme bauen, wenn sie
Segen bringen soll! ‒
.Es ist begreiflich, daß du alles um dich
her nach deinem Wunsch geordnet sehen
möchtest, ‒ aber bist du denn selbst
bereits in dir geordnet?!?
.Wie kannst du erwarten, daß das Ganze,
dessen winzige Zelle du darstellst, sich allein
nach deinen Wünschen richten könne?!?
25 Das Gespenst der Freiheit
.Du wirst erst dann erkennen lernen,
was dir zum Heile dient, wenn du der Not
wendigkeit vertrauen lernst!
.Sie nur kann dich lehren, was dir
dauernd erhalten bleibt, wenn du es ein‐
mal erlangtest!
.Erfüllung des Gebotes der Notwen
digkeit kann dir allein die wirkliche
Freiheit bringen, nach der du dich sehnst,
auch wenn du noch befangen bist im Wahn,
daß Freiheit sich als Willkür dir zu eigen
geben müsse. ‒ ‒
.Grau und düster wurde das Leben noch
allenthalben, wo man Freiheit verlangte,
ohne Erfüllung des Gebotes der Notwen
digkeit!
.Grinsend erhebt sich sodann der Frei‐
heit wesenloses Gespenst über weite Lande
und vergiftet mit seinem lebenertötenden
26 Das Gespenst der Freiheit
Hauch alle Keime wirklichen Freiheits
willens. ‒
.Alle Tragkraft der Seele übersteigt die
Verantwortung derer, die es, ‒ wenn
auch guten Glaubens, ‒ auf sich nehmen,
Andere einem Trugbild zuzuführen, das
in solche Verzweiflung lockt! ‒ ‒
.Untragbar aber ist auch schon des
Verlockten Verantwortung, der nicht zu
widerstehen wußte, wenn ihm Unmögliches
verheißen wurde, obwohl er wahrlich wis‐
sen konnte, daß doch alles, was sich je‐
mals hier auf Erden nicht der Fügung ein‐
zufügen strebte, die Notwendigkeit ihm
darzubieten hatte, unweigerlich zugrunde‐
gehen mußte, mochte auch irdischer Zwang
der Zersetzung oft noch eine Weile wehren...
.Notwendigkeit rechnet mit anderen
Zeitwirklichkeiten als jenen, die einem
Erdenmenschenleben überblickbar werden
können! ‒
27 Das Gespenst der Freiheit
.Niemals kann sie sich „verrechnen”,
denn sie ist Wert und Inhalt aller Zahl!
.Alle Wirklichkeit im irdischen und
übererdenhaften Dasein ist in ihr begründet!
.Sie trägt das Firmament der Sonnen‐
schwärme, und ihre ordnenden Gewalten
geben jedem Sandkorn in der Wüste Maß
und Form!
.Vergeblich sucht der Mensch nach einer
Quelle erdenhaften Heils, die ohne „Fassung”
solcher festen Fügung, dauernd fließen
könnte! ‒
.Vergeblich strebt nach Freiheit, wer
sie anders sucht, als in Erfüllung aller
Forderungen der Notwendigkeit!
.Nicht nur die Götter müssen sich
Ananke” beugen, sondern auch ‒ der
Erdenmensch...
28 Das Gespenst der Freiheit
GEMEINSAMKEIT
.Der Mensch bedarf auf dieser Erde
der Gemeinsamkeit, so wie er auch im
Geiste gleicherweise sich nur in Gemein
samkeit erleben kann!
.Gemeinsamkeit im äußeren Leben
heißt: ‒ was dir zu eigen ist als „Mei
nung”, auch anderer „Meinung” so zu
einen, daß aus Aller Meinen ein gemein‐
samer Besitz erwächst.
.Jeder Einzelne ist eines anderen „Mei‐
nens” in dem er das, was bei so manchem
Fischzug seines Denkens sein geworden
ist, sich faßbar macht.
.Aber jedes Einzelnen „Meinen” läßt sich
mit dem des Anderen ver-einen, und so
entsteht Gemeinsamkeit.
31 Das Gespenst der Freiheit
.Jeder nimmt dann an des Anderen
„Meinen” seinen An-Teil, und es gestaltet
sich, als All-„Gemeintes”: das Gemein
same.
.Notwendigkeit aber läßt den Menschen
das Gemeinsame auch dort noch suchen,
wo sonst verbindsame „Meinung” fehlt,
‒ besonders, wenn es Not zu wenden gilt,
die aller „Meinung” nach, sehr schwer er‐
tragbar ist...
.So besteht in unseren Tagen die um
fassendste Gemeinsamkeit durch allge‐
meine Unzufriedenheit.
.Wenige nur werden hier auszuschließen
sein.
.Vor allem gilt die Unzufriedenheit den
Formen, die das menschliche Gemein
schaftsleben sich zu eigener Sicherung
erfand, mag solche Sicherung zuweilen auch
den Untergang bedeuten für den Einzelnen.
32 Das Gespenst der Freiheit
.Und hier ist Unzufriedenheit gar oft im
Recht!
.Es ist Torheit, das Gemeinschaftsleben
aufzubauen, unbekümmert um das Wohl
des Einzelnen der doch des Ganzen Bau
stein darstellt, und der Gemeinschaft dann
nur freudig dienen kann, wenn sie ihm da‐
zu dient, sich selber zu erhalten.
.Es ist jedoch die gleiche Torheit, wenn
der Einzelne sich selber so verkennt, daß
er um seines bloßen Daseins willen
schon ein Recht zu haben glaubt, Gemein‐
schaftsdienst für sich zu fordern, sei es in
hoher Sonderstellung, oder um der Not‐
durft seines Lebens zu begegnen...
.Ich meine nicht das Gleiche, wenn ich
von „Gemeinschaft” spreche, oder von
Gemeinsamkeit”!
.Was der Gemeinschaft angehört, ge‐
33 Das Gespenst der Freiheit
hört nicht mir, ‒ wohl aber das, was ich
mit Anderen gemeinsam habe.
.Vor allem aber ist für mich „Gemein
schaft”: ‒ äußere Zusammenfassung, wäh‐
rend „Gemeinsamkeit” die Seele an‐
geht. ‒
.So kann der Einzelne denn auch nicht
Anspruch stellen, daß die Gemeinschaft,
nur um seines Daseins willen mit ihm
teile, was an Werten ihr gehört!
.Er selbst muß erst durch seine eigene
Leistung „Mitbesitzer” werden am ge
meinschaftlich verbundenen Besitz, ‒
und seinen „Anspruch” wird der Wert be‐
stimmen, den die Gemeinschaft seiner
Leistung zuerkennt.
.Unsinnig ist es, will man hier ein an
deres Wertmaß fordern!
.Stets wird die Gemeinschaft hoch zu
werten wissen, was sie entbehren würde,
bliebe es ihr versagt.
34 Das Gespenst der Freiheit
.Wie könnte man jedoch erwarten, daß
sie tausendfältig dargebotenes Talent so
hoch bewerten solle, wie irgend eine Son
derleistung, deren sie bedarf!? ‒
.In keiner Gemeinschaftsform kann das
anders sein!
.So mag der Einzelne zur Unzufrieden‐
heit ein Recht besitzen gegenüber der Ge‐
meinschaft, ‒ doch die Gemeinschaft bleibt
nicht minder auch bei ihrem Recht.
.Suchst du zu leisten, was sonst die Ge‐
meinschaft, ohne dich, entbehrt, dann wird
sie dir in gleichem Maße „Mitbesitz” an
ihrem Eigentum gewähren, wie sie durch
deine Leistung sich „bereichert” fühlt. ‒
.Die Zahl, nach der man deine Leistung
wertet, bestimmt deine „Bezahlung”! ‒
.Sagst du jedoch, du könntest das, was
die Gemeinschaft braucht, nicht leisten, so
gibst du selbst dein Unvermögen zu, und
darfst dich nicht beklagen, wenn man dir
35 Das Gespenst der Freiheit
keinen An-Teil bietet, wo du nichts mit
zuteilen, oder darzubieten hast, was man
zu werten weiß! ‒
.Es wird dir wenig nützen, klagst du
über die „geringe Einsicht” der Ge‐
meinschaft, die deine Leistung nicht nach
dem von dir bestimmten Werte schätzen
könne. ‒ ‒
.Anders bezeugt sich Gemeinsamkeit!
.Hier wird man das, was du zu bringen
hast, als Zeugnis deiner Fähigkeiten achten,
auch wenn man es gewiß niemals entbehren
würde, und zugleich wird man von dir
erwarten, daß du auch die Leistung jedes
Anderen zu achten weißt, sofern sie nicht
zurückbleibt hinter dem Vermögen seiner
Kraft.
.Man wird dir zu helfen suchen, soweit
man kann, wird aber auch auf deine Hilfe
bauen, wo du helfen kannst.
36 Das Gespenst der Freiheit
.Aber vor allem wird man danach fragen:
wer du bist?! ‒
.Gemeinschaft fragt nur nach der Lei
stung, ‒ Gemeinsamkeit fragt nach dem
ganzen Menschen!
.Erst dort, wo sich Gemeinschaft nicht
in ihrer Form bescheidet, sondern sich
zu seelischer Gemeinsamkeit erhebt,
wird alle Unzufriedenheit verschwinden, ‒
obwohl die Ungleichheit bestehen bleiben
muß, da sie natur- und geistbedingt ist
in Notwendigkeit! ‒ ‒
.Unser Gemeinschaftsleben krankt an
der Verhärtung der Arterien, die ihm Blut
zuführen sollen zur Erhaltung...
.Es wird nur gesunden können, wenn
es mehr und mehr sich wandeln läßt zu
wahrer Gemeinsamkeit!
.Auch jetzt schon glaubt man ja so
manches „in Gemeinsamkeit” zu tragen,
37 Das Gespenst der Freiheit
oder zu besitzen, ‒ aber das Wort Ge‐
meinsamkeit ist da nur bloße Scheidemünze,
und was es rechtens bezeichnet, fehlt noch
allzusehr. ‒
.Noch ist man weit davon entfernt, die
„Meinung” eines Anderen zu achten, weil sie
das „Seinige”: ‒ weil sie sein Eigentum
darstellt!
.Noch wird die Leistung allenthalben
nur nach ihrer materiellen, momentanen
Wertvermehrungsfähigkeit gewertet, und der
Mensch bleibt ohne jegliche Beachtung,
wenn er nicht etwa mitbenötigt wird, um
seine Leistung darzubieten vor der, ihn
für die Darbietung entlohnenden, Gemein‐
schaft.
.Es fehlt noch gar viel, soll aus der Ge‐
meinschaft die Gemeinsamkeit erstehen! ‒ ‒
.Der Mensch in der Gemeinsamkeit
ist seines eigenen Wertes wohlbewußt und
38 Das Gespenst der Freiheit
schöpft aus diesem Selbstbewußtsein
alle Achtung, die er auch dem Andern
zugesteht.
.Er weiß, daß er nur in dem gleichen
Maße seiner eigenen Entfaltung nahe kom‐
men kann, wie er auch Anderen zu helfen
sucht, zu ihrer Selbstentfaltung zu ge‐
langen.
.„Gemeinsamkeit” bedingt wahrhafte
Freiheit im Gefüge der Notwendigkeit,
während „Gemeinschaft” keinesfalls davor
bewahrt, die Beute des Gespenstes der
Freiheit zu werden!
.Gemeinsamkeit gleicht alle Gegen
sätze aus, da sie nicht minder das Ge
ringe eingefügt weiß der Notwendigkeit,
wie das die Menge Ueberragende!
.In der Familie findet seelische Gemein‐
samkeit ihr erstes Wirkungsfeld.
.Gesegnet sind die Glieder der Familie,
die es zu benützen wissen!
39 Das Gespenst der Freiheit
.Weiter dehnt sich dieses Wirkungsfeld
dann über Gemeinde, Land und Länder
aus...
.Allem Menschenleben bietet es Raum
und Gedeihen!
.Allen vermag es wirkliche Freiheit
zu sichern, in der Fügung der Notwen
digkeit!
.Ist Freiheit aber allen gemeinsam, so
wird sie wahrlich keiner dem anderen mehr
entziehen wollen.
.Sie ist gesichert, als eines jeden Einzelnen
unbedrohtes „Eigentum”!
.Sie ist Besitz geworden, ‒ ist nun
nicht mehr Traum der Sehnsucht!
.So kann auch keiner mehr verleitet wer‐
den, dem Gespenst der Freiheit nachzu‐
jagen, und wo es ihm begegnet, wird er
nur verlachend ihm den Rücken kehren.
40 Das Gespenst der Freiheit
.Dann wird auch Keiner seine Freiheit
je geschmälert glauben, lehrt ihn Not
wendigkeit, mit vielen Anderen sich einem
Willen unterordnen, in dem Gemeinsamkeit
die vielen Willen eint! ‒ ‒
.Urbeginn der Vielheit ist die Ein
heit, ‒ aber auch der Vielheit höchste
Krönung!
.Nur unter einer Einheit kann in
Vielheit wahre Freiheit sich erhalten!
.Einheit aber bleibt starr und steril,
ragt sie nicht über einer ihr vereinten Viel
heit auf! ‒
.Aus Vielheit erhebt sich Einheit, um
Vielheit in sich zu einen!
.So vollendet sich Gemeinsamkeit! ‒
.So baut Gemeinsamkeit sich selbst
zur Pyramide auf, und krönt sich selbst
in ihrer höchsten Einheit! ‒ ‒
41 Das Gespenst der Freiheit
.Nicht Wahl und Willkür aber darf
bestimmen, was hier nur wahre Freiheit
aufzurichten weiß!
.Und nur nach Ordnung eingefügt dem
Ganzen, wird der Einzelne zum Träger
jener Einheit, zu der Gemeinsamkeit
sich aus sich selbst erhebt, ist sie in sich
vollendet! ‒
42 Das Gespenst der Freiheit
AUTORITÄT
.Menschen sah ich am Werke, die Un‐
erhörtes forderten von allen Anderen, ‒
aber nicht vermochten, auch nur die ge‐
ringste Forderung an sich selbst zu stellen.
.Andere sah ich, die fast Übermensch‐
liches von sich verlangten, das Gleiche aber
auch von Anderen erwarteten.
.Beides ist unmöglich, wo wirkliche
Freiheit herrscht!
.Beides kann keine Rechtfertigung finden
vor den Geboten der Notwendigkeit!
.Einer mag dem Anderen also gleichen,
daß man beide fast verwechseln könnte,
und doch ist Keiner irgend eines Anderen
seelisches Ebenbild!
45 Das Gespenst der Freiheit
.Daß du ein Maß dir selbst geschaffen
hast, für das, was du von dir verlangst,
gibt dir kein Recht, das gleiche Maß auch
anzuwenden, wenn es sich um deinen
Nebenmenschen handelt!
.Eines jeden Menschen Maß wird nur
bestimmt durch die ihm eingeborene
„Maßgerechtigkeit”!
.Viel wird verdorben in der besten Ab‐
sicht, weil man sich „Rechte” zugesteht
auf Grund erfüllter Pflichten, ohne sich zu
fragen, wo denn das „Recht” begründet sei,
die freie Forderung, die man an sich zu
stellen und auch zu erfüllen weiß, auf An
dere zu übertragen?? ‒
.Mit Recht sträubt sich vielmehr das Kind
schon gegen solche aufgedrungene Belastung,
‒ mit Recht verwehrt sich ihr der jugend‐
liche Mensch, soweit er nicht durch Zwang
dazu bewogen wird, sich grollend ihr zu
fügen...
46 Das Gespenst der Freiheit
.Es ist gewiß hier nicht die Rede von der
Beispiels-Einwirkung, die dem, auf den
sie wirkt, noch alle Freiheit läßt, sondern
von jener argen Art, die das, was sie an
sich als wertvoll achtet, auch mit Ingrimm
Anderen beizubringen sucht, ‒ ganz ohne
Ahnung, daß die wahren Werte dieser
Anderen vielleicht ihr selber ewig artfremd
und daher ganz unerkennbar sind. ‒
.Wie der von seinem Werte Überzeugte
aber tausendmal das Blatt gewendet hat,
so soll es nunmehr auch der Andere wenden,
über den ihm Macht gegeben wurde...
.Zahllos sind die Beispiele des alltäg‐
lichen Lebens, die Lust am Zwang in solcher
Art am Werke zeigen, aber zahlreich auch
die halbzerstörten Leben, die kaum noch
zur Entfaltung kommen können, weil ihnen
voreinst allzuviel Besorgnis, oder einge‐
steifter Eigensinn, die Freiheit „auszutrei
ben” wußte...
47 Das Gespenst der Freiheit
.Wo aber Freiheit „ausgetrieben” wird
durch Zwang, dort wird alsbald der Zwang
zum üblen Führer: ‒ zum Verführer
werden, der dem Gespenst der Freiheit
Folge leisten lehrt. ‒
.Autorität läßt sich mit Freiheit derer,
die sich selbst ihr unterordnen, unbedingt
vereinen, und unvereinbar bleibt ihr nur
das Trugbild, das nur eine Freiheit vor
täuscht, die der ewigen Notwendigkeit
entrückt erscheint! ‒
.Zwang aber ist ein wühlender Ver
nichter jeglicher Autorität, denn seine
starre Form der Forderung ist Einbruch in
des Anderen Selbstbestimmungsrecht!
.Selbst dort soll man den Zwang nach
aller Möglichkeit zu meiden suchen, wo des
zu Zwingenden Wohl ihn streng zu fordern
scheint!
48 Das Gespenst der Freiheit
.Zwang bleibt stets ein schlimmer Not
behelf, ‒ auch dort, wo seine Anwendung
zu Zeiten nicht umgangen werden kann!
.In ungezählten Fällen wäre Zwang je‐
doch vermeidbar, bestünde wirkliche
Autorität, als selbstgewollter Ausdruck in
Notwendigkeitserfüllung ihrer selbst gewisser
Freiheit. ‒ ‒
.Wo noch der Zwang vonnöten ist, „Au
torität” zu stützen, dort ist zu fragen: ‒
ob denn wirklich noch Autorität bestehe,
oder nur ihr Spottbild, das sich zwänglich
zu erhalten strebt?!
.Autorität ist nur zu gründen auf in
Freiheit dargebotenes Vertrauen!
.Wo die Gewißheit fehlt, sein eigenes
Wohl gewahrt zu sehen, dort ist für jeden
freien Menschen schon zerstört, was wirk‐
liche Autorität als Unterbau benötigt.
49 Das Gespenst der Freiheit
.Wie alles, was in Sicherheit gefestigt
stehen soll, bedingt ist durch den Boden,
der es trägt, und durch die in den Boden
eingesenkten Fundamente, so auch Autorität,
‒ und dann nur wird sie unbedroht be‐
stehen bleiben, wenn keine Flut sie unter‐
spülen, kein Nachtgetier sie unterwühlen
kann...
.Nicht was sich selbst berechtigt: ‒ An‐
deren „Autorität”, zu heißen, ist dadurch
Autorität, jedoch wird man vergeblich die
Entfaltung irgend einer menschlichen Be‐
fähigung erwarten, wo nicht Autorität das
Recht der Lenkung übt! ‒ ‒
.Auch alle, die berechtigte Autorität zu
stürzen suchen, unterstellen sich bewuß‐
ten Willens einer eigenen Autorität, die
strengste Folgeleistung fordert. ‒
.Es muß sich dann zuletzt erweisen, wo
die wirkliche Autorität besteht, und wo
nur Zwang und Überredung Rechte zu
50 Das Gespenst der Freiheit
erhalten suchen, die das Vertrauen voreinst
zwar gegeben hatte, aber fürder nicht mehr
zuerkennen kann...
.Lange mag Entscheidung sich in solchem
Fall verzögern, ‒ zuletzt jedoch siegt die
Notwendigkeit, die dort allein Autorität
bestehen lassen kann, wo Freiheit und
Vertrauen sie begründen.
.Wo das Gespenst der Freiheit Folge
fand, dort wütet alsbald auch die fressende
Sucht, bestehende Autorität zu stürzen, um
eigene mit Zwangsgewalt an gleicher Stelle
aufzurichten.
.Es kann recht lange währen, bis die
fürchterliche Folge solcher Seuche die Be‐
törten endlich zu der Einsicht zwingt, daß
sie zerstörten, was sie hätten nützen
sollen...
.Noch niemals aber ist der Tag der Ein‐
sicht ausgeblieben, und wehe denen, die als‐
51 Das Gespenst der Freiheit
dann der Trümmerhagel trifft, wenn ihre ei‐
gene Autorität in sich zusammenstürzt! ‒ ‒
.Jedoch noch immer wußte die Not
wendigkeit auch wieder wirkliche Auto‐
rität, in wahrer Freiheit fest gegründet durch
Vertrauen, aufzurichten, wenn sie auch
nicht die Opfer rückerstatten konnte, die
irrendes Verlangen vordem forderte.
.Das Leben weiß die unumgänglichen Ge‐
setze seiner Selbsterhaltung immer wieder
zu behaupten, auch wenn sich Willkür an‐
maßt, ihre eigenen Gesetzestafeln aufzu‐
stellen...
.Auch reinste Absicht muß zuletzt zu‐
schanden werden, will sie Änderung an
dem bewirken, was Notwendigkeit ver‐
langt, soll Leben nicht sich selbst zer‐
setzen. ‒ ‒
.Da sich Erkenntnis aber nicht erhandeln
läßt, und allzuoft auch bloßer Geltungs
trieb sich durchzusetzen sucht, im Wahne,
52 Das Gespenst der Freiheit
Wandlung zu bewirken nach der Weise, die
er sich erträumte, so fordert schon die
bloße Klugheit, niemals blind Autori
tätsberechtigung zu geben, wo Sturz be
stehender Autorität als Mittel angeraten
wird, zur Freiheit zu gelangen. ‒
.Stets darf man sicher sein, daß denen,
die mit solchem Rat Gefolgschaft werben,
nur das Gespenst der Freiheit „vorschwebt”,
dem sie, selbstgeblendet, folgen, nicht das
Unheil ahnend, dem sie sich und Andere
entgegenführen!
.Wo aber wirkliche Autorität besteht,
gegründet im Vertrauen derer, die in ihr
sich selber Leitung setzen, dort wird die
ihrer selbst gewisse Einsicht keineswegs
die selbstbestimmte Unterordnung als Ver
minderung der Freiheit fühlen.
.Auch ist die wirkliche Autorität stets
in sich selbst gesichert vor Erstarrung, weil
53 Das Gespenst der Freiheit
sie bewegt bleibt durch die Einzelwillen
aller, die sich ihr in freier Anerkennung
einen.
.Gesetzt in der Erkenntnis des Gebotes
der Notwendigkeit, schafft sie den ihr
Vertrauenden die Hilfe, deren sie bedürfen
zur Erfüllung des Gebotes, aus der die
wahre Freiheit sich allein ergeben kann. ‒
.Fast unsühnbare Schuld ist darum
jeder Mißbrauch aufgetragener Autorität,
‒ doch richtet solcher Mißbrauch stets sich
selbst, indem er das Vertrauen unterwühlt,
in dem allein Autorität Begründung fin‐
den kann, so daß, wo Mißbrauch sich er‐
eignet, früher oder später in sich selbst
zusammensinken muß, was seinen Fortbe‐
stand verwirkte.
54 Das Gespenst der Freiheit
PARTEISUCHT
.Urtief begründet in der menschlichen
Natur ist das Zusammenstreben derer, die
nach gleichem Ziele trachten, zur Ver
einigung.
.Was Einzelwille nie bewirken könnte,
wird durch die Sammlung vieler Willen
oftmals doch noch Wirklichkeit, und eigene
Überzeugung findet Selbstgenuß, wenn sie
der gleichen Überzeugung auch in Anderen
begegnet.
.Vielfältige Betrachtungsweise aber kann
dem gleichen Gegenstande gelten, und recht
verschiedentlicher Sehnsucht Ziele er‐
scheinen Menschen als erstrebenswert.
.So ist es denn gewiß nicht widersinnig,
wenn mancherlei Vereinigung sich bildet,
57 Das Gespenst der Freiheit
um jeweils anderem Ziele zuzustreben, und
reiches Leben kann aus solcher Vielheit
sich erheben, trachtet sie danach, die Einzel‐
körperschaften wieder in Vereinigung zu
fassen: einem Ziele zugewandt, das aller
einzelnen Parteiung sonderliche Ziele über
ragt.
.Es ist nicht schwer, ein solches Ziel zu
finden, wird es nur dort gesucht, wo aller
Wohl es finden lehrt, als solches das vor
allen Sonderzielen erst erreicht sein muß,
und nach ihrer Erreichung dann auch das
Erreichte sichert.
.So, wie dem Einzelnen gar vieles un‐
erlangbar bleibt, was die Vereinigung der
Vielen noch erlangt, so bleibt auch jeglicher
Vereinigung noch vieles unerfüllt, dem eine
überragende „Vereinung der Vereini
gungen” zur Erfüllung helfen kann.
.Selten aber ist solche Sammlung, obwohl
sie die Regel bilden sollte!
58 Das Gespenst der Freiheit
.Allzuselten sind noch die Einzelnen, in
denen jene blinde Gier des Tieres über
wunden ist, das sich auf seines Artgenossen
Futter stürzt, auch wenn es die ihm selber
dargebotene Nahrung dabei wild zertram‐
pelt...
.Zu selten ist noch Achtung fremder
Meinung, ‒ zu selten die Erkenntnis,
daß dem etwa Irrenden nur dann geholfen
werden kann, wenn er schon seines Irrtums
in sich selber kundig wurde. ‒
.Jeder glaubt sich selbst allein des besten
Wissens sicher, und sieht in jedem Anderen,
der sich auf gleiche Weise gut beraten
glaubt, nur noch den Feind. ‒
.So wird Zersetzung und Zersplitte
rung bewirkt, wo nur die stete Sammlung
dereinst aller Einzelmeinung wahren Wert
zutagefördern könnte. ‒ ‒
.Man hat sich mit den Gleichgesinnten
vielfach nur vereinigt, um die eigene Einzel‐
59 Das Gespenst der Freiheit
stimme, wie ein Echo, tausendfältig zu ver‐
nehmen, ‒ da man durchaus nicht so ge‐
wissen Wissens ist, wie man zuweilen meint,
und allzubald an seiner Sicherheit den
Zweifel nagen hören würde, übertönte ihn
nicht immerfort der Chor der Vielen, die
auf gleiche Weise ihre Selbstgewißheit zu
erhalten suchen...
.Es wird dann jede andere Vereinigung
verachtet und befehdet, da die ihr Ange‐
hörigen zur jeweils gleichen „Melodie
sich anderen Text ersonnen haben, der
ihnen als nicht minder inhaltsreich, und
gut begründet gilt.
.Da aber jeder Mensch sein eigenes
Meinen hat, das sich auch immer noch in
mancher Art von dem des scheinbar gänz‐
lich Gleichgesinnten unterscheidet, so
läßt sich jegliche Vereinigung, soweit nicht
Zwang sie künstlich noch zusammenhält,
in immer kleinere Splitter spalten, bis zu‐
60 Das Gespenst der Freiheit
letzt der Einzelne nur noch für sich allein
„Partei” zu nehmen fähig ist.
.Nur durch das Walten der Notwen
digkeit, der kein Bezirk des Lebens sich
entziehen kann, wird solche letzte Spaltung
doch verhütet.
.Es ist jedoch nicht zu verhindern, daß
der Trieb zur Sonderung inmitten der
bereits gesonderten Vereinigungen argen
Schaden schafft, indem er die Vereinigten
derart verblendet, daß sie selbst nicht mehr
erkennen, was Vereinigung bewirken kann,
bleibt sie getreu gegebener Naturbegründung,
die Zusammenfassung fordert. ‒ ‒
.Was immer auch der Glaubenssatz be‐
sagen mag, der die Vereinigten verbündet,
‒ wie immer sich die Gleichgesinnten lös‐
bar denken, was nach Lösung schreit, ‒
so bleibt doch aller Wert vereinten Wirkens
stets bedingt durch lebenskräftigen Beweis,
daß die gewählten Wirkungsmittel Dauer
61 Das Gespenst der Freiheit
bares zu gestalten mächtig sind, und nur
die stete Überprüfung vorgefaßter Mei‐
nung kann aus ihr den Weizen sondern
von der Spreu. ‒
.Gerade aber diese stete Überprüfung
vorbestimmten Meinens wird unmöglich, wo
Splittertrieb in immer neuen Thesen sich
Befriedigung zu schaffen sucht!
.Wo man nur flüstern sollte, wird als‐
dann geschrien, und wo man sorglichst
sieben sollte, häuft man Schutt auf die in je‐
der denkgerecht durchpflügten Menschenmei‐
nung auffindbaren keimkräftigen Körner!
.Vergessen ist, daß alle menschliche Ver
einigung nur dort ein Lebensrecht in sich
besitzt, wo sie zu sammeln sucht. ‒ ‒
.Soll jemals wirkliche Gemeinsamkeit
erstehen, so wird sie nur der geistgeborene
Sinn für Sammlung zu erzeugen wissen, in
notwendigkeitsbedingter wahrer Freiheit!
62 Das Gespenst der Freiheit
.Altgeheiligte Kunde läßt den göttlichsten
der Erdenmenschen sagen:
.„Wer nicht mit mir sammelt, der zer
streut!”
.Wenn je ein Menschenwort: „Wort
Gottes” war, so ist es hier gesprochen
worden! ‒ ‒
.Nicht sammeln, ‒ nicht zu sammeln
suchen, ‒ ist schon an sich selbst: zer
streuen! ‒
.Alle Einwirkung des übererdenhaften
Geistes, die dem Menschen hier auf Erden
seelisch faßbar werden kann, sucht stets „zu
sammeln, was verloren war”, ‒ und wenn
du das, was andere als übererdenhaft
erkennen, da es ihnen so erlebnisnahe
kam wie eigenes Selbsterleben, ‒ beeng‐
ten Blickes, nur in Irdischem begründet
glaubst, so wirst du doch auch dann noch
zugestehen, daß der Sinn für Sammlung
wahrlich einer höheren Artung ist, als jener
63 Das Gespenst der Freiheit
dunkle Trieb, der das organisch in sich
selbst Gesammelte stets wieder zu zerstreuen,
zu zersetzen strebt. ‒
.Wahnsinn würdest du am Werke wissen,
wollte einer eines jener hehren Marmor‐
bilder, die in alter Zeit ein großer Bildner
schuf, in scharfen Säuren aufzulösen suchen,
mit der Begründung, daß alsdann aus dem
zersetzten Stein gewiß ein neues Werk ent‐
stehen werde, das den Verlust des solcherart
vernichteten alsbald verschmerzen ließe...
.So ist auch wahrlich viel zu wertvoll,
was im Geistigen gereifte Bildnerkraft
voreinst zu formen wußte, auf daß der
Erdenmenschheit Bestes sich in ihm erhalte,
‒ um es nunmehr schnellfertiger Zer
störung auszuliefern! ‒ ‒
.Zu wertvoll ist, was hohe Menschen‐
geister in Jahrtausenden zu sammeln wußten,
als daß es, ohne schauerliche Schuld an
64 Das Gespenst der Freiheit
allen kommenden Geschlechtern, der Zer
streuung dargeboten werden dürfte! ‒ ‒
.Wie deine Finger in der Hand verbunden
sind, obwohl sie einzeln sich bewegen können,
so sind wir Erdenmenschen einer Zeit, auf
unsichtbare Weise in Verbindung.
.Auch wenn du in die Wüste fliehen magst,
oder in Meeresfernen eine öde Insel findest,
die noch nie ein Mensch bewohnte, wirst
du dich dieser unsichtbaren Lebens-Allver‐
bindung nicht entziehen können!
.Zerstörst du um dich her auch alles
Zeugnis gleichzeitigen anderen Menschen‐
lebens, so wird doch dieses allgemeine Leben,
durch den Rhythmus feinster Vibrationen,
die es selber mitbedingen, dich stets zu
erreichen wissen, und was du denken oder
fühlen magst, wird nie das Signum deiner
Zeit verlieren!
65 Das Gespenst der Freiheit
.Du kannst deiner Zeit heute nicht ent‐
fliehen, auch wenn du dich im Fühlen und
im Denken tief in längst vergangene Zeit
„versenkst”, ‒ und wirst kein „Steinzeit‐
leben” führen können, auch wenn du allen
Formen der Kultur dich zu entziehen
suchst! ‒
.Wohl aber kannst du wählen zwischen
Wert und Wahn, denn jede Zeit läßt
Menschheitsförderndes zugleich erkeimen
mit Verderblichem.
.Du mußt nicht zur Beute kosmischer
Dissonanzen werden, auch wenn zu deiner
Zeit solches Geschehen hier auf Erden nun
in Menschenhirnen seinen fernsten Aus‐
klang findet...
.Nicht zum ersten Male ereignet sich Ähn‐
liches hier auf Erden, aber immer fanden
sich auch Einzelne, die sich zu sichern
wußten vor den tollen Süchten, die das
Kreisen der Materie im Weltenraum zu‐
66 Das Gespenst der Freiheit
weilen wecken kann im Blut des Erden‐
menschen...
.Sei diesen Einsichtigen gleich, und
wahre dir vor der Parteisucht, die dich
rings umgibt, ‒ dein Selbstbestimmungs
recht! ‒ ‒
.Nur du wirst dermaleinst dir vor dir
selber Rechenschaft zu geben haben über
all' dein Tun im Ablauf dieses Erdenlebens,
‒ und zu nichts wird dir dann nützen, daß
du endlich einsiehst, wie es arge Torheit
war, um einer „Zukunft” willen, die mit
jedem Tage weiter flieht, die eigene Gegen
wart dahinzugeben! ‒
.Willst du dich selber nicht verneinen,
so mußt du, selbstbestimmt, auch Anderer
Dasein in dir fremden Formen, ebenso
entschieden wie dein eigenes Dasein „wol
len”, denn jeder Einzelne ist durch die
Anderen, ‒ erscheinen sie ihm auch ganz
67 Das Gespenst der Freiheit
unerfaßlich „fremd”, ‒ zu seiner Zeit be
dingt und ihnen stets verbunden. ‒
.Haßt” du jedoch, was anders ist, als
du, dann bist du unbewußt dein eigener
Feind, denn nur aus dem, was nicht du
selber bist, kannst du dich selbst in Zeit,
wie Ewigkeit erhalten...
68 Das Gespenst der Freiheit
FEHLWIRTSCHAFT
.Im Grunde wird es durch das nämliche
Gesetz bestimmt, ob der wohl winzigste,
wirtschaftlicher Verbände: ‒ der kleine
Haushalt eines jungen Paares, ‒ erfreulich
prosperiert, oder der größte Volksver
band: ‒ ein menschenreicher Staat!
.Soll Sorge fernebleiben, so wird hier
wie dort gerechnet werden müssen mit den
Mitteln, die verausgabt werden dürfen,
weil sie in gleicher Zeit aufs neue zu er
werben sind, ‒ und hier wie dort wird
man auch für die Tage außerordentlicher
Forderungen, denen der gleichzeitige Erwerb
nicht Ausgleich schaffen kann, im voraus
Zuschuß sichern müssen...
.Das alles läßt sich im kleinsten Verbande
kaum leichter bewirken, wie im größten,
71 Das Gespenst der Freiheit
wenn auch mit der Größe eines jeglichen Ver‐
bandes parallel die Kompliziertheit in
der Form des, durch Notwendigkeit be‐
dingten, Ausgleichs wächst.
.Hier wie dort ist wahre Freiheit nur
erreichbar, wo mit größter Sorgfalt aller
Abgang an zeitweiligem Besitz durch neuen
Zugang ausgeglichen wird, ‒ und hier wie
dort lockt ständig das Gespenst der Frei‐
heit zur Verausgabung von Mitteln, denen
kein Ersatz im Haushalt folgen kann, durch
den gegebenen regelmäßigen Erwerb!
.Während aber in den engbegrenzten
menschlichen Verbänden meist nur Wenige
zu Schaden kommen, wenn die hier Ver‐
antwortlichen sich verlocken lassen, dem
Gespenst der Freiheit nachzulaufen, muß
der Staatshaushalt in gleichem Falle Tau
sende und Millionen schädigen, die äußere
Lebenssicherheit im Staat behütet glaubten.
.Verhängnisvoll wird solche Täuschung
72 Das Gespenst der Freiheit
des Vertrauens, die zugleich dem Einzelnen
sein wirtschaftliches Selbstvertrauen raubt,
weil ihre Auswirkung kein Ende findet
und die Tatkraft aller derer lähmt, aus
deren Arbeitsleistung doch allein noch Aus‐
gleich kommen könnte. ‒
.Daneben aber zeugt sie noch den Wahn,
als ob „der Staat” nur jenes unpersön‐
liche Gebilde wäre, das stümperhaft geübte
Staatskunst wahrlich, seiner Außenform
nach, aus ihm machen kann, ‒ und läßt
vergessen, daß „der Staat” ‒ als Wirk‐
lichkeit ‒ nichts anderes ist, als nur die
Summe aller Staatsgenossen, die in ihm
verbunden sind...
.So kommt es denn dazu, daß viele
Menschen, die im kleinen Umkreis ihres
Alltagswirkens über allen Zweifel sicher
stehen als gewissenhaft und rechtlich
Handelnde, doch plötzlich sich von anderen
Maximen leiten lassen, sowie „der Staat
73 Das Gespenst der Freiheit
‒ statt eines Staatsgenossen, ‒ ihnen
gegenübersteht!
.Menschen, die gewiß nicht fähig wären,
sich zu unrechtmäßigem Gewinn zu drängen,
käme er auf Kosten eines Einzelnen, sind
da zuweilen allsogleich bereit, zu nehmen,
was sich nur erreichen läßt, erscheint „der
Staat” als Contrahent, oder ist Möglich‐
keit gegeben, sich aus Staatsvermögen
irgendwelchen, rechtlich ungemäßen Vor‐
teil zu verschaffen.
.Gut entschuldigt glaubt man dann die
eigene Handlungsweise durch den Hinweis,
daß der unrechtmäßige Gewinn ja nur „auf
Staatskosten” erfolge, und man hält es
nicht für nötig, auch zu fragen: ‒ woher
denn nun „der Staat” die Mittel in Ver
waltung habe, die man so leichthin ihm
entzieht?? ‒
.Unbedacht, und ohne das Gewissen son‐
derlich beschwert zu fühlen, läßt man sich
74 Das Gespenst der Freiheit
so ‒ und zwar durch die kompakte Majestät
des Staatsbegriffes selbst ‒ dazu verleiten,
sich allein auf Kosten seiner Staats
genossen unrechtmäßig zu bereichern...
.Man weiß nicht, oder will nicht wissen,
daß man doch nur alle Einzelnen beraubt,
wenn man vom Staate nimmt, was nicht
erworben ist durch eigene Gegenleistung
an die Anderen! ‒
.Schnell aber weiß man, daß da Unrecht
vorgeht, sieht man Andere auf gleiche
Weise handeln, weil man doch instinktiv
erfühlt, daß man als Staatsgenosse mitge
schädigt wird durch jeden Schaden, den
der Staat” erleidet.
.Freilich glaubt auch mancher, „Unrecht”
solcher Art am Werk zu sehen, den nur
der Neid plagt, daß vielleicht ein Anderer
das Staatsschaf scheren könne, dem die
Wolle auch gewachsen wäre für den Übel‐
75 Das Gespenst der Freiheit
tatenspäher, hätte er nur selbst an sie her‐
angekonnt...
.Allzuviele Formen unachtsamer Schädi‐
gung der Staatsgenossen durch ein unbe‐
denkliches Verhalten gegen alles, was „der
Staat” verwaltet, ließen sich bezeugen, als
daß es praktisch wertvoll wäre, alle hier
nun aufzuzählen.
.Ich will ja meinen Lesern auch in meinen
Büchern stets nur neuen Hinweis geben
auf die Dinge, deren sie mit Nutzen achten
sollten, und denke nicht daran, den Ruhm
zu suchen, daß ich allerwärts „erschöpfe”,
was das jeweils aufgenommene Thema in
der Seele und im Denken allbereits schon
angesammelt findet!
.Nur schlecht wird lesen, was ich nieder‐
schreibe, wer nicht mitliest, was in jeder
Satzwendung mit Willen „eingeschlossen
ist, damit es jene Leser selber finden mögen,
76 Das Gespenst der Freiheit
die noch nicht im Drang der Alltagshast
verlernten, mitzudenken, wenn sie lesen...
.So wird auch jeder, der mit wachen
Sinnen liest, was ich hier vorzubringen habe,
keiner Beispielansammlung bedürfen, um
zu wissen, wovon hier die Rede ist.
.Jeder Tag bringt da des üblen Beispiels
wahrlich schon zuviel, und man wird nicht
erst suchen müssen, was allerwege uner
wünschterweise uns begegnet...
.Wo aber nicht beachtet, und vielleicht
noch nicht einmal begriffen wird, daß
alles, was „der Staat” verwaltet und ver‐
geben kann, nur dargeboten ist von denen,
die ihn selber formen, dort wird bald eine
arge Wirrnis der Begriffe alle Seelen‐
klarheit überwuchern.
.Als „staatserhaltend” gilt dann alles,
was die durch den Staat allein Erhaltenen
betreiben, um das stete Fließen ihrer Nah
rungsquelle sich zu sichern, ohne Rück‐
77 Das Gespenst der Freiheit
sicht auf die Staatsgenossen, die doch erst
zusammenströmen lassen, was den Staat
erhält. ‒ ‒
.Als „Anspruch” an den Staat wird dann
von Anderen wieder jede Forderung be‐
zeichnet, die Keiner, der noch sein Ge‐
wissen hört, an alle Einzelnen zu stellen
wagen würde, die mit ihm zusammen erst
den „Staat” ergeben. ‒ ‒
.Als „Staatspflicht” wird erklärt, wo‐
zu kein aus vernunftgezeugtem Denken
aufgebautes irdisches, und noch viel weni‐
ger ein geistiges Gesetz, je eine Korporation
von Einzelnen verpflichten könnte. ‒ ‒
.Und alles das nur, weil das „Staatsver‐
mögen” losgelöst empfunden wird von allen
Einzelnen, die es zu jeder Zeit erst bil
den durch den Einzelbeitrag, den sie sich
als Staatsgenossen, um des Ganzen willen, auf‐
erlegen lassen!
78 Das Gespenst der Freiheit
.Wahnwitziges Verkennen sieht dabei
die Staatsgenossen, die des Staates Gut ver
walten, als die unumschränkten Herren
dieses Gutes an, und wendet ihnen irre
Wut entgegen, wenn sie außerstande sind,
nach Willkür jedes Maß zu füllen, das nur
Erfüllung finden könnte, wäre diese Erde:
‒ ein „Schlaraffenland”, und nicht mehr
einbezogen dem Gefüge der Notwendig
keit...
.So muß es denn auch aus Notwendig
keit zu Fehlwirtschaft verführen, wagen
die Staatsgenossen, denen zur Verwaltung
anvertraut ist, was aus ihrer und der anderen
Staatsvereinten ‒ vielfach schwer ent
behrtem ‒ Beitrag: „Staatsvermögen
wurde, dieses Staatsgut allem heischen
den Verlangen darzubieten, obgleich sich
eine neue Bei-Steuer, die das Vergebene
ersetzen könnte nur erlangen läßt, durch
zweckwidriges Abgraben der Zufluß
adern, die allein die Quelle aller Bei
79 Das Gespenst der Freiheit
Steuer bewahren vor endgültigem Ver
siegen. ‒ ‒
.In gleicher Weise muß es Fehlwirt
schaft ergeben, wenn der Staatshaushalt
Unzählige, als Helfer der Verwaltung, einer
produktiven Tätigkeit entzieht, der sie
sehr wohl gewachsen wären.
.Zugleich auch schafft es schwere Demo
ralisierung, wird dem Einzelnen der
Glaube anerzogen, als besitze er, durch Staats‐
verbundenheit, vor anderen ein Recht auf
staatliche Ernährung, ‒ sei es nun im
Amte eines leicht entbehrlichen Verwal‐
tungshelfers, oder nur, weil er den Staat
zu zwingen weiß, sich loszukaufen von verant‐
wortungsentäußertem Zerstörungswillen...
.Es ist entwürdigend, ein Amt nur um
Erwerbes willen weiter zu verlangen, wenn
man nur allzuleicht erkennen kann, daß
intensive Arbeit einer weit geringeren
Verwalterzahl den Staatshaushalt bereits in
80 Das Gespenst der Freiheit
bester Ordnung halten könnte, ‒ und es
entwürdigt Jeden vor sich selbst, ver‐
läßt er sich auf seine Macht, das Staats‐
gedeihen zu verhindern, um seine Staats‐
genossen so zu zwingen, jeweils den Nicht
gebrauch der nur durch Massenübermaß
erlangten Über-Macht ihm abzukaufen,
um den Preis der immer weiter um sich
fressenden Verwüstung aller Arbeits
möglichkeiten, die dem in seinem Macht‐
rausch arg Betörten wieder Brot und aus‐
kömmlichen Wohlstand durch Bewertung
seiner eigenen Leistung darzubieten hätten,
würden sie nicht solcherweise durch ihn
selbst zerstört...
.Allüberall verwirrt das gleißende Ge
spenst der Freiheit die Gehirne, und man
glaubt leicht die ‒ wahrlich nicht geringe
Not zu wenden, weil man ja die Ge‐
bote der Notwendigkeit straflos umgehbar
glaubt, die auch im Wirtschaftsleben nie
mals sich umgehen lassen, ohne in der Folge
weitaus drückendere Not zu zeugen! ‒ ‒
81 Das Gespenst der Freiheit
.Die gleiche Lockung trugerfüllter Spiege‐
lung verirrten Hoffens und Verlangens hat
auch längst in allen Landen alles Wirt
schaftsleben schwer durchseucht.
.Die wirtschaftliche Not ist allenthalben
derart angewachsen, daß die in ihr schon fast
Erstickenden nur allzusehr bereit sind, jedem
hirnverkrampft gezeugten Fehlschluß zu
vertrauen, und die letzte Fähigkeit zu ei‐
genem vernunftbedingten Denken eiligst
aufzugeben, scheint die heiß ersehnte Ret‐
tung nahe...
.In fieberhafter Angst vor immer weiterer
Bedrückung durch die Sorgenlast des Da‐
seins, wird verkannt, daß nur „Fatamor
gana” ist, was allzu selbstgewisse Führung
als die längst erstrebte, alle Nöte stillende
Oase anzupreisen weiß...
.Längst hat die wirtschaftliche Not, die
alles ringsumher verdunkelt, alle Unter
scheidungskraft gelähmt, so daß man gerne
82 Das Gespenst der Freiheit
sich betören läßt, auch wenn noch letzte
Regung richtiger Instinkte, immer wieder
an der Seele Pforte pocht, um schlafgebannte
Einsicht aufzuwecken, daß sie verhüte,
was sich noch verhüten läßt!
.Daß man auch selber wahrlich mitver
schuldet ist an solcher Not, wird nur den
Wenigsten bewußt...
.Zu sehr entspricht es künstlich hochge‐
züchteter Kritiksucht, alle Schuld am selbst‐
gezeugten Übel nur bei Anderen zu suchen!
.Ist es nun dort der unpersönlich auf‐
gefaßte „Staat”, dem man die Folge eigener
Torheit überbürden möchte, so sind es im
internen Wirtschaftsleben kleinere, aus
Einzelmenschen sich gestaltende Gebilde,
die in gleicher Weise als der Wurzelboden
allen Unheils gelten, und, ‒ da der Fehl‐
schluß sich im Kreis zu drehen liebt, ‒
glaubt man der Nöte Wende schnell er‐
reichbar, würde nur der Staatsverwaltung
83 Das Gespenst der Freiheit
unterstellt, was zwar die Sicherheit be‐
nötigt, die ihm zweifellos der Staat ge‐
währen kann, doch, aller Eigenart und
Proportion nach, nur zu früchtetra
gendem Gedeihen kommt, wenn es, ‒
im Außenrahmen staatlicher Gesetze, ‒ sich
nach eigenem, notwendigkeitsbegründeten
Gesetz entfaltet...
.So aber auch, wie man das „Staatsver‐
mögen” als ein Niemandsgut betrachtet,
läßt man sich hier verleiten, das im wirt‐
schaftlichen Leben produktiv gemachte Gut
der Einzelnen, von menschlicher Bezieh‐
ung losgelöst zu denken.
.Wie man sich gut entschuldigt glaubt,
vermag man, ohne wertgleich angesetzte
Gegenleistung, sich „auf Staatskosten
Bereicherung und unrechtmäßige Bevortei‐
lung zu sichern, ‒ so glaubt man sich zu
jeder Aus‐„Beutung” des Gutes Anderer
berechtigt, sobald der Einzelne zurücktritt
84 Das Gespenst der Freiheit
hinter einen Wirtschaftsorganismus, dem
er freiwillig zur Verwaltung anvertraut, was
nur steril und ohne Produktionskraft bleiben
müßte, wollte es der Einzelne bei sich ver‐
wahren.
.Es gibt gar viele, die nur solchem pro
duktiv gemachten Gut aus dem Besitze
Einzelner Ernährung und Erhaltung
danken, und gewiß auch niemals fähig wären,
widerrechtlich das bestimmte Gut des Ein
zelnen sich anzueignen, ‒ die aber kaum
noch ihr Gewissen hören wollen, gilt es,
Gut der Anderen zu schmälern, das in
einem wirtschaftlichen Organismus Arbeits
werkzeug wurde, um mit seinem Eigen‐
tümer, auch zugleich noch manche seiner
Nebenmenschen zu erhalten...
.Die „Firma”, die „Gesellschaft” wird
als etwas Unpersönliches betrachtet, und
was persönliches Besitztum Einzelner
allein aus freien Stücken auferbaute, er‐
scheint so manchem, der in solchem Aufbau
85 Das Gespenst der Freiheit
seine Stellung fand, als Freigut, das er
unbedenklich eigener Nützung dargeboten
glaubt, soweit nur staatliches Gesetz ihn
nicht zu hindern weiß.
.Engstirniges Verkennen eigener Lei‐
stungswerte läßt dabei den Fehlenden noch
vor sich selbst Beschwichtigung des eigenen
Gewissens finden, in der Scheinbegründung
eines „Rechtes”, sich „bezahlt zu machen”,
wo vereinbarte Entlohnung der verlang‐
ten Tätigkeit, dem Arbeitleistenden nicht
auszureichen scheint als Gegenwert.
.Ob seine Arbeit aber auch dem wirt
schaftlichen Organismus, der allein sie
erst zu einem produktiven Faktor macht,
die Werte einbringt, die vonnöten sind,
um sich auf solcher Höhe zu erhalten, daß
er selbst die ehedem vereinbarte Ent
lohnung auf die Dauer darzubieten hat,
‒ danach wird selten einer fragen, obwohl
von der Beantwortung, die diese Frage findet,
alle Zukunft abhängt für die Unterneh‐
86 Das Gespenst der Freiheit
mung selbst, wie den, dem sie Erwerb ver‐
schafft...
.Auch das private Wirtschaftsleben wird
zur Fehlwirtschaft, wenn nicht zum Aus
gleich kommt, was „aus-gegeben” und
was „ein-genommen” werden kann!
.Auch hier ist es entwürdigend für
jeden Einzelnen, sucht er die Stellung, die
er innehat, sich zu erhalten, nur um des
Erwerbes willen, obwohl er sieht, daß er
nicht nötig ist, und daß der wirtschaft‐
liche Organismus, der ihn nährt, zu Scha
den kommt, weil die vorhandenen Arbeits‐
kräfte überzählig sind, im Hinblick auf
die Arbeit, die zu leisten ist.
.Das bleibt gewiß im Einzelfall für den
Betroffenen schwer einzusehen, besonders,
wenn er Weib und Kind ernähren und den
eigenen Hausstand wirtschaftlich erhalten
soll, obgleich ihm anderer Erwerb nicht
dargeboten scheint.
87 Das Gespenst der Freiheit
.Jedoch: wo unbezweifelbarer Arbeits‐
Wille ist, dort findet sich zu jeder Zeit
auch bald ein Weg, um sich auf neue,
würdigere Art Erwerb zu sichern, auch
wenn die Form der Tätigkeit gewechselt
werden muß.
.Wenn früher viele nur in fernem,
fremden Lande über weitem Meere, sich
Erwerb zu schaffen wußten, weil sie lernten,
Arbeit, die man brauchte, auszuführen,
obwohl sie nicht der altgewohnten Tätig‐
keit entsprach, so ist die Zeit nun nicht
mehr ferne jetzt, in der man sich des glei‐
chen Strebens auch in seinem Heimat
lande keineswegs zu „schämen” haben wird!
.Wirklicher Arbeits-Wille schafft in
diesen Tagen schon an allen Orten auch
die neue Arbeits-Möglichkeit!
.Arbeit gebührt ihr Lohn, und auch
in dieser schweren Zeit wird echter Arbeits‐
Wille sich gebührende Entlohnung
88 Das Gespenst der Freiheit
sichern, versteht er nur sich freizumachen
von dem überlebten Zwang der Konvention,
der in der „alten” Welt Europas noch so
viele bindet, und sie festzubannen sucht
in ausgefahrenen Geleisen! ‒ ‒
.Wird Arbeit „schlecht bezahlt” so ist
das immer nur ein Zeichen, daß gerade
dieser Arbeit ein zu großes Angebot von
Arbeitswilligen verfügbar bleibt, und jeder,
der sich weiterhin darauf versteift, nur eben
diese Art der Arbeit weiterhin zu leisten,
obwohl sie längst genug der Köpfe oder
Hände fand, wird nur zum Schädling
für die hier bereits Beschäftigten, obgleich
er selbst dabei auch nicht das mindeste
gewinnt und sich nur selber seinen Weg
verbaut! ‒
.Es gilt, die Arbeit dort zu suchen, wo
sie sich finden läßt!
.Auch wenn es eine Arbeitsart ist, die
dir wenig „angepaßt” sein mag, und die
89 Das Gespenst der Freiheit
du ehedem ver-achtet hast, kann sie dich
doch zuletzt zu einem Ziele bringen, das dir
keineswegs zu unbedeutend wäre, könntest
du es heute, ‒ ohne Übergang, ‒ so
gleich erreichen! ‒
.Es fehlt auf dieser Erde nie an Arbeits‐
Möglichkeit, ‒ hingegen aber fehlt es
allzusehr an Menschen, die sich jeder Ar‐
beitsmöglichkeit bequemen wollen! ‒ ‒
.Gesunden” aber kann das Wirtschafts‐
leben nur, wenn alle Scheinbetätigung
fortan unmöglich wird, ‒ und auch der
Staatshaushalt in allen Landen wird nur
auf die gleiche Weise zur Gesundung
kommen!
.Wo heute noch mit abgebrauchtem Pa‐
thos von dem „Recht auf Arbeit” phra‐
senrauscherfüllt gesprochen wird, dort ist
zu fragen: ‒ ob man wirklich auch die
Arbeit meint, und nicht etwa nur die ver‐
meintliche Berechtigung, auf Grund der
90 Das Gespenst der Freiheit
Geste scheinbar dargebrachter Arbeitswillig‐
keit, Versorgung zu erhalten, die doch
nur durch Ertrag der Arbeit Anderer be‐
wirkbar werden könnte...
.Das Recht auf Arbeit muß nicht erst
zu einer „Forderung” erniedrigt werden,
da die Pflicht zur Arbeit keinem Erd‐
geborenen erlassen werden kann! ‒ ‒
.Nur glauben Allzuviele dieser Pflicht
schon zu genügen, wenn sie nur dem bloßen
Schein zur Not genügeleisten...
.Wahrer Arbeitswille aber sieht aus
gutem Recht nur mit Bedauern auf den
Scheinbeschäftigten hinab, der äußer‐
liche Geste darzubieten sucht, statt geistbe‐
dingter Selbstverwirklichung der Seele,
wie sie in jeder, auch der gröbsten Ar‐
beit sich zum Ausdruck bringt!
.Daß Arbeit auch ein Mittel ist, Erwerb
zu schaffen, ist nicht anders in der Geist
natur des Erdenmenschen eingegründet,
91 Das Gespenst der Freiheit
wie der tierischen Natur die Wollust
eingeboren ist, um aller Tiergestaltung Fort
pflanzung zu sichern. ‒ ‒
.Wer arbeits-fähig ist, und nicht die Ar
beit, als die Selbstdarstellungsweise seiner
Seele, liebt, der ist noch weit davon ent‐
fernt, sein übererdenhaft bedingtes Sein
in sich zu ahnen, ‒ auch wenn er eines
anerzogenen Seelenglaubens eifrigster Ver‐
fechter sein mag! ‒ ‒
.Auch das Wirtschaftsleben dieses
Erdendaseins ist in allen seinen Äußer‐
ungen streng bedingt durch die Notwen
digkeit!
.Was sich der Ordnung des Gefüges der
Notwendigkeit nicht einzuformen weiß,
das muß zugrundegehen, mag auch
Wissenschaft und kühnste Technik ihm zu
anderem Unterbau verhelfen wollen! ‒
.Alles Leben ist ein stetes Nehmen und
ein stetes Geben!
92 Das Gespenst der Freiheit
.Ewiggültiges Gesetz allein kann hier
bestimmen, ob der rechte Ausgleich sich
ergibt.
.Was Menschenwahnwitz aber sich er
klügelt, um sich dem Bereiche des Ge‐
setzes zu entwinden, schafft nur Schein
gebilde, so vergänglich, wie der Wolken
stets verwandlungsunterworfene Gestaltung.
.Bleibendes, das erst, nachdem es
Generationen Wohlfahrt kennen lehrte,
mählich und der Menschheit kaum ver
merkbar, neue Form aus sich erzeugt, ‒
kann nur erstehen, wo sich ewigkeitsgemäßer
Ausgleich einstellt, dem sich jeder Ein‐
zelne miteinbezogen weiß.
.Nur wenn der Einzelne erkennt, daß
er sich selber Schaden zufügt, wo er An
deren um seines Vorteils willen Nach
teil schafft, wird alle Fehlwirtschaft, die
heute ganze Völker zu entkräften droht,
verschwinden!
93 Das Gespenst der Freiheit
.Hier helfen aber keine wohlerdachten
Theorien, mögen sie auch in sich selber
gut gegründet scheinen!
.Hier kann nur praktisches Erproben
zur Erkenntnis führen, und Erfahrung
lehrt im Großen wie im Kleinen dann am
sichersten, wie zu vermeiden ist, was
Fehlwirtschaft ergeben müßte...
94 Das Gespenst der Freiheit
KONKURRENZ
.Wo der Form nach gleiche Leistung
von verschiedenen Menschen dargeboten
wird, dort ist es keinem Menschen, der auf
solche Leistung Wert legt, zu verargen,
wenn er auch auf die Qualität der Leistung
achtet, und der besseren den Vorzug gibt.
.Es ist dabei ganz einerlei, ob es sich
nur um Arbeitsleistung handelt, oder
das Erzeugnis einer Arbeit, ‒ ob es um
niedere Dienste und geringen Klein
kram geht, oder um hohe Fähigkeiten
und erhaben großes Werk.
.Aller Zuwachs menschlichen Vermögens:
‒ geschickten Könnens, weisen Ordnens,
bis zu höchster, künstlerisch begründeter
Gestaltungsfähigkeit, ‒ ist stets in
hohem Maße mitbedingt durch den zu allen
97 Das Gespenst der Freiheit
Zeiten dem Vollkommenen gewährten Vor‐
rang vor dem Unvollkommenen.
.Dient Leistung, oder ihr Erzeugnis,
dem alltäglichen Gebrauch, so zwingt
schon eigener Schutz vor Schaden zur
Bevorzugung des Besten, und soll die Lei‐
stung höherem Bedürfen gelten, so wird
Kenntnis dessen, was schon Andere zu
leisten wußten, sich nicht mit Geringem
begnügen.
.Die Folge solcher steten Auswahl ist
der Wettbewerb der Leistung Bietenden
um Gunst und Wahl der Leistung Brau
chenden.
.Soweit ist Konkurrenz begründet in
Notwendigkeit, und Ausdruck wirklich‐
keitsgezeugter Freiheit!
.Es steht dir frei, zu wählen, was dir
dienen soll, und was du dir erwerben
willst durch Darbietung bestimmten Gegen
wertes, ‒ doch ebenso bleibt es dir frei‐
98 Das Gespenst der Freiheit
gestellt, die Leistung, die du selbst zum
Markte bringen willst, den Forderungen
anzupassen, die man dort an sie zu stel‐
len weiß.
.Du wirst kein Unrecht leiden, geht der
Wählende an deiner „Leistung”, ‒ deinem
Werk”, vorüber, weil er Besseres
finden kann!
.Auch du hast ja die Wahl, ob du be‐
quem bei minderer Leistung dich be‐
scheiden, oder dein Bestes bieten willst!
.Entscheidest du dich aber auch, aus
freien Stücken, oder durch Notwendigkeit
bestimmt, dein Bestes darzubieten, so wird
sich doch erst zeigen müssen, ob du auch
den Umfang deiner Leistungs-Fähigkeit er‐
kennst, ‒ ob du auch an dich selbst den
rechten Maßstab anzulegen weißt...
.Du klagst mir über „Mißerfolg”, und
findest bittere Worte für das „Unrecht”,
99 Das Gespenst der Freiheit
das man, deiner Meinung nach, an dir
begeht, ‒ jedoch: du fragst dich nicht, ob
du dich selber nicht an dir vermessen
hast, und eine Leistung darzubieten suchst,
der du gewiß niemals „gewachsen” sein
wirst! ‒
.Vielleicht kannst du in kleinem Rah‐
men Allerbestes leisten, während du ver‐
geblich dich bemühst, im Wettbewerb mit
denen zu obsiegen, die von Natur aus
schon zu weitaus Größerem befähigt sind! ‒
.So glauben Ungezählte sich „vom Miß‐
geschick verfolgt”, und schielen neidvoll
auf die Anderen, die ihnen vorgezogen
werden, weil sie besser wußten, welcher
Forderungshöhe ihre höchste Leistung noch
entsprechen könne. ‒ ‒
.Unzählige erleiden Schiffbruch, weil sie
zwar ein gutes, aber allzukleines Boot
besitzen, um damit den Ozean zu über‐
queren, und doch dem Ehrgeiz nicht ge‐
100 Das Gespenst der Freiheit
bieten können, der sie verleitet, sich aufs
hohe Meer zu wagen. ‒
.Wer sich in einen Wettbewerb begeben
will, der muß vor allem seine Mitbe
werber kennen! Er darf sich nicht mit
denen messen wollen, die nach gänzlich
anderem Maß als er zu messen sind!
.Er darf nicht in den Mitbewerbern seine
Feinde” sehen, nur weil sie ihn zu über
flügeln fähig sind!
.Er darf nur dort für sich den Sieg er‐
hoffen, wo seine Kräfte wahrhaft den Ver
gleich ertragen, mit denen, die mit ihm
zugleich den Sieg erstreben.
.Besser ist es gewiß, im allerkleinsten
Rahmen das Vollkommene zu leisten, als
mit Unzulänglichem zu konkurrieren, wo
nur größtes Ausmaß eigener Kraft auf Sieg
ein Anrecht geben kann! ‒
101 Das Gespenst der Freiheit
.Jeder trägt in sich die Macht, auf irgend
einem Tätigkeitsgebiet, das ihm wahrhaft
entspricht, Vollkommenes zu leisten!
.Jeder kann erleben, daß sich seine
Kräfte steigern, wenn er sie sorglichst zu
entfalten strebt!
.Aber nur mit dem, was dir zu eigenem
„Besitz” gegeben ist, wirst du zu rechnen
haben!
.Du kannst zwar in beschränktem Maße
Anderes dazu erwerben, aber immer wer‐
den Art und Spannung deiner einge
borenen Kräfte streng bestimmen, was
dir zukommt, und was dir sicher uner‐
reichbar bleiben muß!
.So wirst du auch im Wettbewerb nur
dann zum Siege kommen, wenn du deine
Grenzen kennst, und fern dem Wahne
bleibst, als ließen sie sich je nach Willkür
weitern, nur weil du siegen möchtest!
102 Das Gespenst der Freiheit
.Bewerb um Vorrang vor den Mitbe‐
werbern muß aber keineswegs zum „Kampf”
erniedrigt werden!
.(Ich rede freilich nicht von jener Art
des Wettbewerbes, die nur in Kämpfen
ausgetragen werden kann, weil „Kämpfer
ihre Kräfte messen wollen.)
.Hier soll allein die Forderung der
Leistung uns bewegen, die der Alltag aller‐
wärts von allen heischt!
.Da aber ist der „Kampf” der Kon‐
kurrenz gewiß vermeidbar!
.Ich weiß zwar, daß ein solches Wort
bei Allen, die in eben diesem Kampfe stehen,
nur ein müdes Lächeln lösen wird, ‒ aber
ich weiß auch, daß sich vieles rascher
wandeln läßt, als viele glauben, wenn nur
der Wille sich zu wandeln weiß...
.Kaum dürfte es gewagt sein, zu be‐
haupten, daß heute schon die Meisten,
103 Das Gespenst der Freiheit
die im „Konkurrenzkampf” bluten, wider
Willen kämpfen, weil sie längst erkannten,
daß die Kräfte, die der Kampf sie kostet,
besser anzuwenden wären. ‒
.Noch aber gilt auch hier das gleißende
Gespenst der Freiheit für die Freiheit
selbst, und lockt Unzählige in Zahlen‐
wüsten, allwo sie, seelisch ausgedörrt, zu
Mumien erstarren, denen aller Goldsand,
der sie überhäuft, der Seele freies Leben
nicht mehr rückerstatten kann...
.Machtlos aber wird das Gespenst, so‐
bald erneut erkannt wird, daß nur dort,
wo man der Seele ihre Rechte läßt, wirk
liche Freiheit sich entfalten kann!
.Es ist erbärmlich, und gewiß nicht
eines Menschen würdig, läßt sich der Wer‐
ber um die Gunst des Käufers derart von
der Gier des Tieres in sich packen, daß
er den Mitbewerber wirtschaftlich zugrunde
104 Das Gespenst der Freiheit
richtet, oder doch nach solchem Endziel
schamlos strebt!
.Es ist erbärmlich, wird der Wettbe‐
werb in einer Art betrieben, die auch die
Lüge nicht mehr scheut, läßt sich ein
Strick aus ihren eklen Fäden drehen, um
den Mitbewerber zu erdrosseln!
.Unwürdig und zugleich auch töricht
ist es, eigenen Erfolg zu suchen, der nur
erlangbar wird, nachdem in Trümmer
fiel, was andere auferbauten!
.Man wird mir sagen wollen, daß doch
sehr erhebliche Erfolge sich durch solche
Handlungsweise möglich machen ließen,
und daß das so Bewirkte heute „fest ge‐
gründet” stehe.
.Auch das ist mir gewiß nicht fremd,
allein ich rechne hier mit anderen Zeit‐
begriffen, und weiß um sichere Gesetze,
deren Auswirkung es selten eilt...
105 Das Gespenst der Freiheit
.Nicht nur der Einzelne, der sich um
solchen Preis Erfolg ergatterte, für sich und
seine Sippe, die ihn nutzt, kann dieser
Auswirkung sich nicht entziehen, sondern
auch den Wohlstand ganzer Länder,
ganzer Kontinente, bringt sein Handeln
in Gefahr! ‒ ‒
.Es ist noch lange nicht das Schlimmste,
wenn ein dunkler Börsentag zusammen‐
schlägt, was seelenlose Gier auf Trümmern
ehrsam auferbauter Speicher zu errichten
wußte! ‒
.Wo menschliche Gemeinschaft nicht zu
hemmen weiß, was Menschenseele schän
det, dort werden noch die Enkel und der
Enkel Söhne, teuer zu „bezahlen” haben,
was ein Einzelner, auch wenn er nicht
der so Betroffenen Ahne war, voreinst
verschuldet hat!
.Der aber, der sich solcher grauenvollen
Schuld nicht scheute, wird, auch wenn
106 Das Gespenst der Freiheit
er auf dem Totenbett sich noch als Sieger
fühlte, keinen finden in der Ewigkeit, der
seiner sich erbarmen dürfte, ehe alle Aus
wirkung der Schuld, auf Erden hier, er
loschen ist...
.Gottgezeugte Liebe darf nur dort Ver
gebung schaffen, wo auch die Schuld,
der Liebe Folge war!
.Auch dort, wo tierbedingte „Liebe”
einen Menschen „schuldig” werden ließ,
wird „Gottesliebe” ihn ent-schulden,
sobald der Selbstbeschuldete entlastet
wurde durch den Mitverschuldeten der
gleichen Schuld! ‒
.Wo aber Eigennutz zur Schuld ver‐
führte, dort kann auch nur die eigene
Entlastung Schuld-Befreiung bringen!
.Nicht eher aber kann der, seiner
Selbstsucht Wahnverhaftete, sich seiner
Taten Folge frei entwinden, als bis er
107 Das Gespenst der Freiheit
schöpft ist, was er selbst erzeugte, um auf
Erden seinem Trieb zu dienen! ‒ ‒
.Es läßt sich nie und nimmer eine
Scheidewand errichten, zwischen den Im
pulsen, die der Erdenmensch in seinem
Alltag schafft, und ihren Folgen, die erst
Auswirkung erlangen, wenn er längst
schon aus dem Erdendasein ausgeschie‐
den ist! ‒
108 Das Gespenst der Freiheit
SCHLAGWORTWAHN
.Weniges hat noch im menschlichen
Gemeinschaftsleben so viel Schaden ange‐
richtet, wie das „Schlagwort”: ‒ diese
Mißgeburt aus Denkträgheit und Über‐
redungswillen!
.Opfer über Opfer fordert es in allen
Lebens- und Erlebnisreichen dieses Erden‐
daseins!
.Vor allem aber hindert jedes Schlag‐
wort die ihm Hörigen, zu eigener Denk
selbständigkeit zu kommen.
.Willig läßt sich jeder Denkbequeme
fangen, wird nur das rechte Schlagwort‐
lasso über seinen Hals geworfen, und ist
er einmal dieser Schlinge Beute, dann wird
frühere Freiheit schnell vergessen...
111 Das Gespenst der Freiheit
.Es wandelt aller Widerstand sich schnell
zu ausgeprägt perverser Unterwürfigkeit,
und schließlich wird es wahre Wollust, stets
der Leine Zug zu folgen, bis ein Pferch
erreicht ist, den die Schlagwortmatadore
ihrem Fange vorbereitet halten. ‒
.Aus solchem Pferche gibt es selten ein
Entrinnen, und selten kommt auch nur
der Wunsch zur Flucht in den dort Ein‐
gepferchten zum Erwachen.
.Die Meisten fühlen sich in schöner
„Sicherheit”, und alle Denkselbständigkeit
kam ihnen längst abhanden.
.So werden sie auch denen, die noch
außerhalb des Pferches sind, zu ständiger
Gefahr, in gleicher Weise, wie gezähmte
Elefanten sich gebrauchen lassen, um die
noch freien Tiere ihrer Gattung einzu‐
fangen...
.Vieles kann ein Schlagwort zu umfassen
scheinen, was keineswegs in seinem Sinn
112 Das Gespenst der Freiheit
enthalten ist, ‒ und was als „Schlag” emp‐
funden wird, dem man sich, innerlich ge‐
troffen, beugt, ist meist nur Übertölpe
lung der Denkbequemlichkeit. ‒
.So zweifellos gewiß das Denken auch
zum ärgsten Feind des Menschen werden
kann, so nötig ist es ihm als Waffe, überall,
wo Worte wehrlos machen wollen.
.Das Schlagwort aber ist nichts anderes,
als ein Wort, das wehrlos machen will durch
Lähmung sinngerechten Denkens!
.Es kann nur siegen, wo kein Wider
stand sich gegen seine „schlagende Gewalt”
zu wehren wagt!
.Weiß einer aber ihm mit wachen Sinnen
zu begegnen, und die Waffe konsequenten
Denkens wehrhaft zu gebrauchen, dann
ist dem Schlagwort schnell die Macht ent
wunden, und als wunderlicher Wechsel‐
balg fällt es in sich zusammen...
113 Das Gespenst der Freiheit
.Was es bewirken wollte, zeigt sich dann
als leerer Wahn, ‒ und nur die Willig‐
keit, dem Wahn zu folgen, war wirklich
vordem drohende Gefahr...
.Sie sind kaum alle aufzuzählen, die
solchem Wahn, der sich in mannigfache
Form zu wandeln weiß, getreu Gefolg‐
schaft leisten müssen, weil sie versäumten,
sich zu wehren, als ein Schlagwort sie zu
überrumpeln suchte! ‒
.Männer und Frauen, Weise und Un‐
weise, Alte und Junge, Dumme und ge‐
waltiglich Gescheite sind in diesem uner‐
meßlich langen Zuge der durch Schlagwort‐
wahn Genarrten aufzufinden, und immer
neuer Zustrom wendet sich dem Zuge zu,
weil nur die Allerwenigsten sich noch des
freien Denkens zu bedienen wagen, sobald
das rechte Schlagwort sie geschickt zu über‐
fallen weiß...
114 Das Gespenst der Freiheit
.Unüberschätzbare Gefahr bringt diese
Willigkeit zur Folgeleistung, wo ein Schlag‐
wort einbricht, über alles Menschenleben!
.Es ist in vielen Fällen niemals wieder
gutzumachen, was solcherart in großen und
auch kleineren Verbänden, die sich mensch‐
liches Zusammenleben schuf, an Schaden
angerichtet wird!
.Und selbst im kleinsten der Verbände,
‒ der Verbindung zweier Menschen in der
Ehe, ‒ richtet oft genug der Schlagwort‐
wahn sein arges Unheil an. ‒ ‒
.In die Familie bringt der kleinste Knirps
schon, als Geschenk der Schulgenossen,
sein, ihm selbst noch unfaßbares Schlag‐
wort mit, ‒ Kinder und Eltern lassen
sich betören und zu kämpfenden Parteien
machen, deren jede einem anderen Schlag‐
wort folgt.
.Am schauerlichsten wird dann aber die
Gefahr, dort, wo das ganze öffentliche
115 Das Gespenst der Freiheit
Leben sich widerstandslos durch ein Schlag‐
wort gängeln läßt! ‒
.Durch alle Spalten dringt das Schlag‐
wort dann in jedes Haus, und hindert,
daß sich wache Gegenwehr zum Wider‐
stande rüste.
.Hilflos können ganze Völker solchem
Schlagwortwahn verfallen, zum Triumphe
derer, die ihr Denken nicht zuschanden
werden ließen, und keine Mühe, keinen
Hirnzwang scheuten, um zur Meisterschaft
als Schlagwortwerfer zu gelangen...
.Was hilft es dann den schwer Ge
schädigten, wenn sie zuletzt sich doch noch
ihrer Knechtschaft zu erwehren suchen?!
.Allzulange hatten selbst sie sich der
Schlagworte bedient, um Andere zu gängeln,
bis sie nunmehr ihre Meister fanden, die
besser noch verstanden, Schlagworte zu
werfen...
116 Das Gespenst der Freiheit
.Nur die bewußte, strengste Abkehr
von der Täuschungswelt des Schlagwort‐
wesens, kann hier Rettung bringen! ‒ ‒
.Es ist wahrhaftig an der Zeit!
.Zu lange war man dem Gespenst der
Freiheit nachgefolgt, ‒ zu lange war man
selbst in seinem Bann, und suchte Andere
durch manches Schlagwort zu betören, um
Gefolgschaft zu erhalten.
.Jetzt muß man endlich doch erkennen,
daß Schlagwortwahn niemals zu wahrer
Freiheit führen kann.
.Noch aber ist man seiner alten Schlag‐
wortweisheit so verhaftet, daß man unwill‐
kürlich, auch um anderem Schlagwort‐
wahn zu wehren, erneut den Schlagworten
verfällt, die man voreinst zu prägen wußte,
um sie Anderen zuzuschleudern...
.Zu selbstgewisse Überheblichkeit ist noch
dabei der sehr naiven Meinung, daß der
117 Das Gespenst der Freiheit
Gegner es „nicht merken” würde, wenn
man seinem Schlagwort nur das eigene
entgegenwirft, weil man nicht anders sich
des Angriffs zu erwehren weiß.
.Die aber Meister ihrer Schlagwort‐
Kampfesweise wurden, weil sie Meister‐
schaft erlangen wollten, ‒ erkennen sehr
genau, daß ihnen nur mit Schlagworten
begegnet wird, die weniger schlagkräftig,
als die ihren wirken...
.So sind sie ihres Sieges schon im vor‐
aus sicher, ‒ es sei denn, ihre Gegner
könnten sich doch noch entschließen, end
lich auf das Kampfesmittel zu verzichten,
das sie ja doch nur halb beherrschen, weil
sie ihr ‒ Gewissen nicht zu sehr be‐
schweren wollen, um der Schlagkraft ihres
Schlagworts willen. ‒ ‒
.Gewissen-los muß der sein, der das
Schlagwort meistern will, denn wer noch
ein Gewissen in sich trägt, der ist nicht
118 Das Gespenst der Freiheit
fähig, die Belastung zu ertragen, um deren
Preis allein im Schlagwortkampf der Sieg
erreichbar wird! ‒
.Denen, die erkannten, daß das Schlag‐
wort nie zur Freiheit führen kann, ist
heute nur zu helfen, wenn sie konsequent
das Schlagwort meiden!
.Andere Waffen müssen ihrer Abwehr
Wirkung sichern!
.Ihre Worte müssen fortan wohl „er
wogen” sein, und dürfen nur durch Wahr
heit wirken wollen!
.Nicht jede Wahrheit aber ist zur Ab
wehr wirksam, denn nicht jede Wahrheit
läßt sich von dem ungeübten Blick sofort
erkennen. ‒
.Nur dort, wo Wahrheit augenblick
lich sich empfinden läßt, kann sie dem
Irrwahn wirklich wehren, den das Schlag‐
wort zu verbreiten sucht!
119 Das Gespenst der Freiheit
.Wer endlich sich zu der Erkenntnis
durchgerungen hat, daß hinter allem Schlag‐
wortwahn sich nur die Wüste weitet, ‒
wer das Gespenst der Freiheit hier in
einer seiner fürchterlichsten Formen wüten
weiß, ‒ der wird wahrhaftig sich auch
gleicher Mühe, gleicher Anspannung zu
unterziehen wissen, um der Wahrheit
zweckgerechte Form zu finden, wie jene,
die das Schlagwort schleifen bis zur
schärfsten Schärfe, sie sich auferlegen ohne
Unterlaß. ‒ ‒
.Sein Wort darf nicht nur Selbstbe
rauschung wirken, ‒ darf nicht billige
Bestätigung der eigenen Meinung sein!
.Niemals darf er vergessen, daß er noch
zu „Feinden” spricht, die ihm erst durch
Erkenntnis Freunde werden sollen!
.Er wird vermeiden müssen, anzugrei
fen, und nur durch Abwehr wirken dürfen,
‒ durch eine Abwehr, die der Gegner
120 Das Gespenst der Freiheit
achten muß, selbst wenn er Gegner blei
ben sollte. ‒
.Man kann von denen, die in einem
Schlagwortwahn sich wohlgefallen, nicht
etwa erwarten, daß sie allsogleich der Wirk
lichkeit zurückgewinnbar wären!
.Gleichwie ein Arzt, der das umnachtete
Gehirn des Irren wieder heilen will, vor‐
erst gezwungen ist, dem Wahn des Kranken
sich zu fügen, soll der noch Gesundungs‐
fähige sich wiederfinden in der Wirklich‐
keit, ‒ so wird auch jeder, der die Seele
seines Nebenmenschen einem Schlagwort
wahn entreißen will, bedenken müssen,
daß dem Wahnbetörten noch als „Wahr
heitgilt, was er verlassen soll, um wieder
zu sich selbst zu kommen! ‒ ‒
.Noch ist der Arme, durch die Sugge
stionsgewalt des Schlagworts Eingefangene,
nicht fähig, sich aus den, ihn engum‐
schnürenden Gedankenfesseln, zu befreien!
121 Das Gespenst der Freiheit
.Noch wagt er nicht, nach eigener Er‐
kenntnisfähigkeit sich einzustellen!
.Das Schlagwort hält ihn allzufest im
Bann, und wenn er auch sich zu befreien
sucht, so fehlt ihm doch der Mut, der
Freiheit dort zu folgen, wo sie allzuweit von
dem geliebten Schlagwort sich entfernt. ‒ ‒
.Man wird den so Verirrten nicht mehr
anders retten können, als durch ein gütiges
Beachten seiner Torheit, und nur wenn
man ihm zeigt, daß man ihn gelten läßt,
wird er zuletzt doch auch die Kraft in
sich erwecken, die ihm Einsicht bringt,
daß nur ein Schlagwort ihn am Gängel‐
bande hielt, wo er vermeinte, wohlbe‐
gründeter Erkenntnis frei zu folgen.
122 Das Gespenst der Freiheit
SELBSTDARSTELLUNG
.Nicht die Schlechtesten sind es, die gerne
mehr” sein möchten, als sie vor ihren und
anderen Augen gelten.
.Dennoch aber schwebt den meisten dieser
Unzufriedenen mit sich selbst, eine „Fata‐
morgana” vor, ‒ dennoch läßt sich auch
hier so mancher von dem Gespenst der
Freiheit gerade dorthin verlocken, wo es
keine echte Freiheit für ihn gibt, so daß
er seine Erdentage in Verbitterung be‐
endet, weil seine Mitmenschheit ‒ nach
seiner Meinung ‒ ihm nicht zugestand,
was ihm gebührte...
.Der eine haßt die Stellung, die er aus‐
füllt, um sich seinen Lebensunterhalt zu
sichern, weil er sein Wissen und sein Kön
nen höher einschätzt als die Forderung,
125 Das Gespenst der Freiheit
die seine Stellung an ihn stellt, ‒ der An‐
dere geht nur voll Überdruß an seine Ar‐
beit, weil sie ihm nicht entlohnt erscheint,
wie er sie selbst bewertet sehen möchte.
.Einer hadert Tag für Tag mit seinem
Schicksal, weil es ihm die Vorbildung ver‐
sagte, deren Ausweis er besitzen müßte,
wollte er den Wirkungskreis erobern, der
allein ihm angemessen scheint, ‒ ein an‐
derer flucht aller Menschheit, weil ihm nicht
die Erdengüter von Geburt an mitgegeben
wurden, die er sich selber zuzusprechen
wissen würde, hätte er die Macht dazu.
.Jeder glaubt ein anderes Ziel für sich
verloren, ‒ einig aber fühlen alle sich in
ihrer starken Überzeugung, daß sie „mehr
sein könnten, als sie sind, ‒ und diese Über‐
zeugung ist gewiß begründet, wenn auch in
anderer Weise als die Überzeugten meinen!
.Du willst „mehr” sein, als du bist?!
.Demnach „bist” du zu wenig! ‒
126 Das Gespenst der Freiheit
.Zu wenig an dir „ist”! ‒ ‒
.Du fühlst, daß du „mehr”, aber wohl
auch „weniger” sein kannst, als die Geltung
ausmacht, die du vor dir selbst und anderen
zu erlangen wußtest.
.Du fühlst, daß eine Vielheit sich in
dir empfindet, ‒ daß diese Vielheit „größer”
oder auch „geringer” werden kann. ‒
.Willst du also „mehr” sein, als du bist,
so werde mehr!
.Lass' es nicht dabei, so „wenig” zu sein,
wie du heute bist!
.Begnüge dich nicht mit Wünschen, son‐
dern werde „mehr”, weil du „mehr” sein
willst!
.Es ist noch viel mehr in dir als du auch
nur zu ahnen wagen würdest!
.Gar vieles ist aus Urzeittagen her auch
heute noch in dir, was du gewiß nicht mehr
127 Das Gespenst der Freiheit
zu sein verlangst, und du wirst ihm dein
Sein sogar mit aller Macht entziehen
müssen, willst du dich selbst nicht zer‐
stören, indem du Andere zerstörst...
.Unnennbar vieles aber ist zugleich in
dir, was du bis heute noch nicht zu er‐
langen wußtest, und Vieles ist dabei, um
das du auch in deinen kühnsten Träumen
noch nicht weißt! ‒ ‒
.Zwischen dem, was du nun nicht mehr
sein sollst, und diesem anderen, das du noch
nicht bist, liegt jenes Wenige, das heute dir
mit Recht als „viel zu wenig” gilt, um
deine Selbstdarstellung zu bestimmen...
.Es ist der Geistesfunke Gottes, der
sich in deinem eigenen „Ich” erlebt, und
wahrlich weiß, daß du viel „mehr” sein
könntest, als du bisher bist!
128 Das Gespenst der Freiheit
.Du nimmst nur in dein irdisches Bewußt‐
sein auf, was in den innersten Bereichen
deines Seins empfunden wird.
.Dort aber dürstet dein Sein nach Er‐
füllung mit allem, was es noch nicht ist!
.Darum willst du „mehr” sein in den
Formen der Vergänglichkeit, ‒ darum
strebst du „mehr” zu werden in deinem
Alltagsleben, allwo Notwendigkeit al‐
lein bestimmt, was dir erlangbar wird! ‒
.Hier aber wirst du nur „mehr” werden
können als du heute bist, wenn du in dir
„mehr” aufzunehmen weißt in deinem
Sein!
.Du mußt mehr von dir verlangen,
wenn du mehr erhalten willst!
.Klaren, selbstsicheren Willens mußt du
in dir selber das als Anspruch fordern,
was du „sein” willst, ‒ mit jenem Willen,
den jeder Sportsmann kennt, wenn er von
129 Das Gespenst der Freiheit
sich weiß, daß ihm sein Training ein ge‐
wisses Recht gibt, seine „Klasse” zu be‐
haupten!
.So, wie der Sportsmann, aber wirst du
auch alles aufbieten müssen, um stets „bei
Form” zu bleiben, ‒ was dir, wie ihm, nur
möglich ist, durch Verzicht auf so Manches,
das zwar Anderen erlaubt sein kann, nicht
aber dem, der „mehr” zu werden strebt,
‒ selbst wenn er schon vieles ist! ‒ ‒
.Hinter dem Wunsche, „mehr” zu sein
als „Andere”, versteckt sich nur der An‐
trieb, mehr zu sein, als du selber bist,
denn noch bist du, gleichwie die Anderen:
‒ nur zum geringsten Teil, was du zu
sein vermagst! ‒
.Es handelt sich um den Gebrauch von
Kräften, die allen Menschen dieser Erde,
ausnahmslos, in Freiheit stets erlangbar sind.
130 Das Gespenst der Freiheit
.Diese „Seelenkräfte” aber kann kein
Mensch „gebrauchen”, solange er noch nicht:
sie seinem eigenen Sein zu einen wußte.
.Man muß selbst zu der Seelenkraft
werden, die man gebrauchen, und durch
die man seine Selbstdarstellung bestimmt
sein lassen will!
.Auch über niedere Kräfte in dir kannst
du nur dann verfügen, wenn sie dein Sein
erfüllen und dadurch mit dir identisch
wurden.
.Nur was du selber „bist”, ist dir hörig:
‒ es „gehört” zu dir und „hört” auf
deinen Willen!
.So wenig du zu Gott gelangen kannst,
es sei denn, Er habe sich selbst deinem
eigenen Sein geeint, ‒ so wenig kannst
du auch aus einer Seelenkraft wirken,
die du aus dir selbst nicht geeinigt hast
in deinem Sein! ‒ ‒
131 Das Gespenst der Freiheit
.Doch darfst du hier gewiß nicht etwa
schematisch verfahren wollen, indem du
die Seelenkräfte gleichsam einzeln aufzu‐
rufen beginnst, die fortan dein Sein er‐
füllen sollen!
.Du darfst die auslösende Macht nicht
unterschätzen, die stets in dir zur Aus‐
wirkung erwacht, wenn du vor einem bloß
Erahnten stehst! ‒ ‒
.Achte in dir auch das, was sich dir
noch verhüllt! ‒
.Es ist nichts anderes dir vonnöten, willst
du hohe Seelenkräfte, die noch nicht in
deinem Sein lebendig wurden: ‒ die du
demnach noch nicht „bist” ‒ dir dereinst
einen, als daß du deine allgemeine Ziel
richtung zu wahren weißt!
.Auch unter Verbrechern gibt es solche,
die „mehr” als andere sind, ‒ aber ihr
Zielen geht nach der Abgrundstiefe tier‐
haften Vormenschentums auf dieser Erde,
132 Das Gespenst der Freiheit
während dein hohes Ziel der ewige
Geistmensch ist, in dem du dich dereinst,
nach dieses Erdenlebens stetem Ringen
mit dir selbst, geeinigt allen Geistgeborenen,
wiederfinden willst! ‒
.Hältst du dein Ziel stets im Auge, dann
kannst du sicher vorwärts schreiten, ohne
Besorgnis und ohne Ängstlichkeit!
.Du wirst dir während deines Erden‐
lebens dann immer mehr der Seelenkräfte
einen, deren du zu deinem höchsten Auf‐
stieg einst bedarfst!
.Je mehr du aber selbst in deinem Sein
dich zu erfüllen weißt mit hohen Seelen‐
kräften, desto leichter wird es dir gelingen,
zu erkennen, daß du dich in allen Gel‐
tungsstufen dieses Erdenlebens frei zur
Selbstdarstellung bringen kannst!
.Kein menschlicher Beruf ist so gering,
als daß er eines Menschen, der sich viel
133 Das Gespenst der Freiheit
zu einen wußte, wirkungsweite Selbst
darstellung nicht ertragen würde!
.In jeglichem Beruf, ‒ in jeder Stel‐
lung, die Notwendigkeit zur Zeit dir dar‐
zubieten hat, ‒ kannst du weit „mehr”
sein, als du scheinen magst!
.Du wirst dich aber auch nicht wundern
dürfen, wenn du bald bemerkst, daß auch
die Anderen dein reiches Sein erkennen,
und dich dann allein nach seiner Fülle
Strahlgewalt bewerten, wie immer auch
der Geltungswert der Stellung, die du hier
auf Erden einnimmst, sich bemessen las‐
sen mag! ‒ ‒
.Du bist dann wirklich „mehr” ge‐
worden als die Andern, und wirst Anderen
zum Antrieb dienen, „mehr” zu werden,
als sie vorerst sind, ‒ so wie ein Mensch,
der auszog, Gold zu graben, und reich zu‐
rückkam, Anderen den Willen wecken wird,
ein Gleiches zu beginnen.
134 Das Gespenst der Freiheit
.Irrend, weil du deine Unzufriedenheit
allein im Äußeren begründet glaubtest,
hast du bisher nur stets Vergebliches ver‐
sucht, um deinem Triebe, „mehr” zu sein
als was du bist, Befriedigung zu schaffen.
.Sie bleibt dir aber keinesfalls versagt,
wenn du nunmehr dein Streben in dein
Inneres verlegst!
.Hier, wo du selber eine Vielheit dar‐
stellst, die sich mehren oder mindern
kann, ‒ hier wird dir keine äußere Macht
die Freiheit schmälern, ‒ und bist du
wirklich „mehr” geworden, als du bis zu
diesem Tage werden konntest, dann wird
auch deine Selbstdarstellung in der
Außenwelt dich nur mit Glücksgefühl
und innerer Zufriedenheit erfüllen!
.Erst wenn du alles darzustellen weißt,
was du verborgen in dir trägst, damit es
sich in dir vollende, ‒ erst dann hast
du dich selbst erreicht und bist wahr‐
haftig nun zu dir gekommen! ‒
135 Das Gespenst der Freiheit
.In deiner Selbstdarstellung schaffst
du dir die ewig währende Bewußtseins‐
form, die du in deinen heimlichsten und
innerlichsten Bitten an dein Schicksal dir
ersehnst...
.Nur du allein jedoch bist Bildner
deines Schicksals, ‒ und wie du hier auf
Erden auszukosten hast, was du dir vor
dem Fall ins irdische Bewußtsein zube‐
stimmtest, so wirst du auch nach deinem
letzten Atemzuge dich nur in der von
dir selbst gewirkten Form des Selbstbe‐
wußtseins: ‒ deiner Selbstdarstellung, ‒
dereinst wiederfinden. ‒ ‒
136 Das Gespenst der Freiheit
RELIGION
.In Asien, dem Mutterschoß Europas, und
dem Urquellgrunde aller großen Religionen,
fließt verborgen eine stille Quelle, die alles
speist, was in der Erdenmenschheit je an
echtem religiösen Fühlen keimte und
erwuchs, wie alles, was in diesen Tagen
noch die Kruste materiell gebundenen Den‐
kens zu durchstoßen weiß.
.Auch in der fernsten Zukunft wird aus
gleicher Quelle gleiches Fühlen Nahrung
nehmen!
.Wie nirgends wahrnehmbar wird, was
dem Leben seine Keimkraft gibt, und
Keimkraft dennoch sich bezeugt durch das,
was ihr entsprießt, so ist auch diese Quelle
allen echten religiösen Fühlens nur in
ihrer Auswirkung bezeugbar, und selten
nur wird Seltenen sie selber kund.
139 Das Gespenst der Freiheit
.Bis in die neuesten Tage zwar geht
lächerlichste Zaubermär durchs Land und
findet Gläubige, die ihrer wahrlich „wert”
sein müssen, allein die Wundermeister all‐
zukenntlichen Gewandes, die in solchen
Märchenbüchern für die Allzuvielen
sich ergehen, leben nur in den geschäfts‐
gewandten Köpfen ihrer, mit dem Zubehör
des Zaubers niemals geizenden, Erzeuger.
.Wirkliche Meisterschaft berufenen Er‐
kennens ist romanhaften Gebilden solcher
Spekulanten auf die Lesegier der Wunder‐
süchtigen so wenig ähnlich, daß jeder Maß‐
stab der Vergleichung fehlt, auch wenn die
rührigen Erfinder wundersamer Meister‐
mären sich aus allenthalben zugänglichen
fremden Schriften Material zu „borgen”
wußten, wo es galt, den allenfalls erregten
Argwohn harmlos gläubiger Gemüter zu
betäuben.
.Es ist wahrhaftig kein erfreulicher Ge‐
danke, daß sich zu dieser Zeit noch, ‒
140 Das Gespenst der Freiheit
mitten im Getriebe der modernen Welt,
‒ nicht wenig Menschen finden, deren
Hirne ohne jeden Widerstand die würde‐
lose Vorstellung ertragen, das Licht der
Ewigkeit bekunde sich in Fakirwundern
und geheimen Künsten, wie man sie allen‐
falls dem Magus einer alten Zauberoper
zugestehen kann! ‒
.Ich bin genötigt, diese peinlich wunder‐
lichen Blüten jahrmarktsmäßiger Romantik
zu zerpflücken, damit man das, was ich
nunmehr zu sagen haben werde, nicht miß
brauchen kann, indem man sich aus
meinen Worten Eideshelfer macht für irgend‐
welchen Wahn!
.Wir Menschen hier auf dieser Erde
leben keineswegs nur unser individuelles
Eigenleben, sondern sind mit allem denk‐
bewußten Dasein, ‒ nicht nur dem, was
dieser Erdball trägt, ‒ tiefinnerlich ver
bunden!
141 Das Gespenst der Freiheit
.Wirkt diese Allverbundenheit sich
schon bedeutsam in uns aus, so wird, was
sie bewirken kann, doch weitaus über
troffen durch die Wirkungskraft des erd
begrenzten Lebens denkbewußter Wesen,
dem wir hier irdisch einverwoben sind!
.Weit folgenreicher noch als All- und
Erdverbundenheit an sich ist für den
Einzelnen jedoch die durch Impulsver
wandtschaft scharf umgrenzte Gruppe,
der er seelisch zugehört! ‒
.Ihren unsichtbaren Einwirkungen ist er
ohne Unterbrechung ausgesetzt, wie alle,
die der gleichen Gruppe zugehören, ständig
auch durch seine Einwirkung beeinflußt
werden! ‒ ‒
.Zu solcher „Gruppe” können Menschen
eng verbunden sein, die nie in diesem
Erdendasein sich begegnen werden, nichts
hier im Außenleben voneinander wissen,
keine Sprachgemeinschaft haben, und in
142 Das Gespenst der Freiheit
gänzlich fremden Vorstellungsbereichen auf‐
gewachsen sind. ‒ ‒
.Alle Weiten werden in den Gruppen
der Impulsverwandten überbrückt!
.Entfernung bildet für die gegenseitige Be‐
eindruckung der Gruppenzugehörigen kein
Hindernis...
.Wie elektrische Wellen heute den ganzen
Erdkreis umspannen, und doch nur von
Antennen aufgenommen werden können,
die für gleiche „Wellenlänge” eingerichtet
sind, so strahlen unsichtbare Kräfte auch
von jedem Erdenmenschen aus und bringen
jede Menschheitsgruppe der jeweils Impuls‐
verwandten in die sicherste Verbindung,
ohne anderen Gruppen wahrnehmbar zu
werden.
.Es ist ganz einerlei, an welchem Ort
der Erde du zu finden bist: ‒ du wirst
auf alle Fälle dort erreicht von allen Ein‐
wirkungen deiner Gruppe, mögen die dir
143 Das Gespenst der Freiheit
so Verbundenen in deinem, oder irgend
einem anderen Erdteil leben!
.Es liegt auch keineswegs in deiner Macht,
die so geschaffene Verbindung aufzuhe
ben, ‒ es sei denn, daß du die Impulse,
denen du zu folgen pflegst, zu wechseln
weißt, so daß du „automatisch” einer anderen
Gruppe dich verbindest. ‒
.Dem Umfang und der Art nach sehr
verschieden, durchsetzen viele Tausende
von solchen unsichtbar vereinten Seelen‐
gruppen alles Menschendasein auf der Erde,
verbinden räumlich weit Getrennte,
wie sie auch recht oft die räumlich Nächsten
voneinander scheiden...
.An allem nimmst du, ohne es zu ahnen,
Anteil, was in jeder Seele vorgeht, die in
deiner Gruppe der Impulsverwandten sich
erlebt! ‒ ‒
.Du glaubst in dir nur eigene Seelen‐
regung zu vernehmen, und bist doch, mehr
144 Das Gespenst der Freiheit
als du vermuten könntest, bewegt durch
seelisches Geschehen, das in einem, deiner
Gruppe Zugehörigen zur Zeit erfahren
wird, so wie auch dein Erleben allen dir
Impulsverwandten fühlbar wird zu jeder
Zeit! ‒ ‒
.Was ich dir hier begreiflich nahe bringen
will, kann dir gar viel erklären, das oft,
und bis zu diesem Tage dir so manches
„Rätsel” aufzugeben hatte...
.Du hast nun Einsicht in die innere
Struktur der Formen seelischer Verbun‐
denheit, und weißt zugleich, daß du be
stimmen kannst, was dich am stärksten
mitbestimmen soll in deinem seelischen Er‐
leben, ‒ denn: läßt du selber die Impulse
fahren, die dir unerwünscht erscheinen,
kommen sie zu dir als Einwirkung Im
pulsverwandter, so entschwindest du
der Gruppe, der du eben noch verbunden
warst, und findest allsogleich dich einer
145 Das Gespenst der Freiheit
anderen geeinigt, die dem entspricht, was
du in dir nun hegst. ‒ ‒
.Verantwortung für all dein Denken,
Reden, oder Handeln trägst nur du allein,
auch wenn die dich bestimmenden Impulse
dir von anderer Seite unsichtbar und un‐
vermerkt vermittelt wurden!
.Auch die Impulsverwandten deiner See‐
lengruppe, die von dir beeindruckt werden
ohne es zu ahnen, tragen in der gleichen
Weise die Verantwortung für ihr Ver‐
halten.
.Leicht kannst du dir nun aber sagen,
daß die tausendfältig unterschiedenen Seelen‐
gruppen sich in Tausenden verschiedener
Erlebnisstufen „übereinander” schichten,
und daß du nur zu einem höheren Er‐
leben deiner Seele kommen kannst, wenn
du dich unermüdlich selbst dazu bestimmst,
die niederen Impulse aufzugeben, und
stets höhere in dir zur Auswirkung zu
bringen! ‒
146 Das Gespenst der Freiheit
.Vielleicht wirst du auch jetzt verstehen,
was ich von der stillen „Quelle” sagte,
die heute noch, wie vor Jahrtausenden,
vom Urquellgrunde aller geistbelebten Reli‐
gionen her das echte religiöse Fühlen
in der Erdenmenschheit speist, ‒ aus
welcher Form der Vorstellung auch solches
Fühlen keimen mag! ‒ ‒
.Vielleicht wirst du nunmehr begreifen,
daß ich deutlichst warnen mußte vor den
Ausgeburten aberglaubenübersättigter Phan‐
tasterei! ‒
.Vielleicht erkennst du jetzt auch schon,
daß ich von einer „Quelle” spreche, deren
Wasser aus dem Innersten des Lebens
quellen, und daß hier von nichts anderem
die Rede ist, als von der höchsten und
zugleich auch kleinsten Seelengruppe irdi‐
scher Impulsverwandter, die hineinreicht
in den Lichtkreis urgewissen Seins, ‒
weil sie in ihm schon im Bewußtsein war,
147 Das Gespenst der Freiheit
längst ehe irdisches Bewußtsein sie er‐
reichte! ‒ ‒
.Du wirst wohl auch begreifen, daß ihr
Einfluß denen nur zustatten kommen kann,
die sich zum Lichte sehnen, ‒ auf welcher
Stufe auch die Gruppe der Impulsver‐
wandten stehen mag, der sie verbunden
sind. ‒
.Nicht durch die engere Impulsverwandt‐
schaft, die die Wenigen der Lichtvereinten
unter sich verbindet, können sie den
anderen Gruppen sich vernehmlich machen,
sondern nur allein kraft jener allgemeinen
inneren Verbindung, in die alle Erden‐
menschen einverwoben sind, ‒ und wohl‐
verstehbar wird es dir erscheinen, daß sie
auch da nur Seelen nahekommen können,
die bereits ihr ganzes Streben aufwärts
führt!
.Hier handelt es sich nur um Aller
innerstes, und keine Neugier, keine Art
148 Das Gespenst der Freiheit
des Wissenstriebes, keine Macht der Erde,
kann hier mehr erspähen, als was der
Seele zuströmt, die sich selbst bereitet, um
die geistgezeugten „Sendewellen” zu emp‐
fangen, die aus dieser Gruppe Lichtver‐
einter ohne Unterlaß zu allen ihren Mit‐
menschen auf Erden strömen! ‒
.Unzählige sind diesem Lichtkreis längst
verbunden, mögen sie auch das, was sie
erreicht, nach Weise ihrer angestammten
Glaubenslehren deuten!
.Die „Quelle”, die hier fließt, kann jede
Form erfüllen, die sich ein geistbelebter
Glaube schuf, ‒ und jedes würdige Ge‐
fäß wird wertgeachtet, aufzunehmen, was
es „fassen” kann...
.Unfähig zu empfangen, sind nur die
mit Erdenschlamm gefüllten „Becher”, und
die „Siebe”, die nichts in sich selbst be
wahren können!
149 Das Gespenst der Freiheit
.Es werden deine Glaubenslehren aber
dich gewiß nicht hindern, und dein Be
kenntnis kann dir nur die Fassungs
fähigkeit erweitern für das Lebendige,
das es hier aufzunehmen gilt...
.Nur wirst du mit dem Herzen zu be‐
kennen wissen müssen, und dein Glaube
darf nicht nur gehirnbegründetes Ver
messen sein!
.Gehe deinem Glauben auf den Grund
und prüfe, ob er auch in deiner Seele
Wurzel faßte!
.Siehst du ihn so begründet und im Leben
stehen, dann werden ihm gewiß die licht‐
durchströmten Wasser wachen Wissens nie‐
mals schaden, sondern ihn vielmehr erst
zum Erblühen bringen und alsdann zur
Frucht! ‒ ‒
.Allen Aberglauben wirst du freilich
sorgsam roden müssen, denn er raubt, um
150 Das Gespenst der Freiheit
sich zu nähren, deinem Glauben nur die
Kraft, aus der er sich entfalten soll! ‒
.Doch darfst du hier gewiß nicht bloßen
Scherz und alter Vätersitte harmlosen
Gebrauch mit wüstem Wahn verwechseln,
der die Seele überwuchern will! ‒
.Noch weniger sollst du die Formen
alten Glaubens zu vernichten suchen, die
dir nur „fremd” geworden sind, weil sie
Symbole in sich bergen, die du nicht mehr
deuten kannst!
.Torheit allein reißt alles, was sie nicht
erkennt, gleich aus dem Boden, und zer‐
trampelt wild, was sie nicht nützen kann!
.Auch Religion kann nur in wahrer
Freiheit sich entfalten, obgleich zumeist
die Bahnen vorgezeichnet sind seit alter
Zeit, in denen sich die unterschiedlichen
Gebilde religiöser Formgestaltungsfreudig‐
151 Das Gespenst der Freiheit
keit allein beweglich und als Lebens
überformer zu erweisen wissen.
.So kann auch Religion in ihrer Aus‐
wirkung gewiß zu wahrer Freiheit führen,
und dir deine Freiheit sichern! ‒
.Tief in Notwendigkeit begründet ist
die vielfache Verschiedenheit der Lehren
und der Kulte!
.Es ist nur Selbsttäuschung, glaubt
man Verschiedenheit des religiösen Füh
lens dadurch ausgetilgt, daß man die Formen
einer einzigen Lehre und die Formen
ihres Kultes über manches Land ver‐
breitet hat! ‒
.Worte können wohl an allen Orten
ihre „Diener” finden, und nur begriff
liches Erfassen heischende Symbole lassen
sich gewiß von allen Völkern in der
gleichen Weise deuten.
.Das religiöse Fühlen aber wird sich
immer ‒ trotz erzielter äußerlicher Gleich‐
152 Das Gespenst der Freiheit
heit in Bekenntnisform und Kult ‒ aus
Seelensicherheit heraus die eigenen Wege
bahnen, die seiner Sonderart entsprechen
in Notwendigkeit.
.Äußerlich scheint ja in vielerlei Lan‐
den gleiche Religion zu herrschen, weil
gleicher Kult sich auswirkt, und die
gleichen Worte überall erklingen, ‒
innerlich aber bleibt bestehen, was schon
vor Jahrtausenden bestand und niemals
auszutilgen ist, da es in tieferen Tiefen
wurzelfest gegründet steht, als die viel‐
leicht ihm „seelenfremde” Lehre und ihr
Kult. ‒ ‒
.Es war nicht, wie die Heutigen meinen,
törichter „Götzendienst”, wenn alte Völker
ihre Landesgötter zu ehren wußten! ‒
.Wirkliches wußten sie so erreichbar,
und dieses gleiche Wirkliche wird auch
in vielen Landen und an vielen Orten dieser
Erde heute noch erreicht, wenn auch die
153 Das Gespenst der Freiheit
Vorstellung sich andere Bilder schuf, um
es zu fassen, und das äußere Bekenntnis
neue Namen für die ihm verhüllten Mächte
fand! ‒ ‒
.Gar wenig kommt es darauf an, was von
dem sagenhaften „Helden” eines Volkes auf‐
gezeichnet steht, und was die Heiligenlegende
von dem „Heiligen des Ortes” weiß!
.Held, wie Heiliger sind „Wahrheit
nur: als Bild der Vorstellung, und hin
ter solchem Bilde steht die geistgezeugte
Wirklichkeit, für die es ganz belanglos
ist, ob sie den Irdischen in diesem oder
jenem Bilde faßbar wird, ‒ ob man dem
Göttlichen in ihr Altäre baut, oder den
Geistes-Menschen in ihr ehrt und ihm
als „Schutzpatron” des Landes Kirchen
weiht. ‒ ‒
.Es ist darum nicht immer richtig, Re‐
ligion von alledem zu „reinigen”, was
noch in ihr an Formgebilden lebt, die einer
Vorzeitreligion ihr Dasein danken! ‒
154 Das Gespenst der Freiheit
.So wie ein altes Bild, das unter Kerzen‐
ruß und Kirchenstaub kaum noch erkenn‐
bar ist, nur durch die Hand des Kundigen
gereinigt werden darf, soll es in seiner
alten Pracht erneut erkennbar werden, ‒
so ist auch mehr, als nur der Drang nach
rationeller Klarheit nötig, soll Religion
gereinigt” werden von der Trübnis, die
ihr klares Antlitz zu zerstören droht...
.Zu teuer ist der Preis, um den die Lehre
Reinigung” erreicht, wenn allzugleich
dabei in törichter Verkennung „Zeichen
ausgewaschen werden, die man in späteren
Tagen dereinst wieder mühevoll dem Bild
der Lehre einzufügen haben wird, soll
sie auch noch zu denen sprechen, die als‐
dann erneut zu deuten wissen werden, was
einer Zwischenzeit nicht deutbar war! ‒ ‒
.Höher aber als die Lehre, steht das
Leben!
155 Das Gespenst der Freiheit
.In deinem Alltagsdasein kann sich erst
erweisen, ob die Lehre, der dein Herz er‐
geben ist, wirklicher Freiheit dich ent‐
gegenführt, oder ob du einer Lehre Knecht
bist, die dich blendet, damit du nicht
gewahrst, daß nur Gespenst ist, was sie
dir als „Freiheit” zeigt! ‒ ‒
.„Nicht um des Sabbaths willen lebt der
Mensch auf Erden, sondern der Sabbath
ist nur um des Menschen willen ein‐
gesetzt!”
.Erst wenn die Lehre eingeht in das
Leben, kann sie sich bewähren!
.Bekenntnis, das nur im Gehirnver
stande ankert, ist nicht viel mehr als
jedes „auswendige” Wissen, das nur Wert
besitzt, ‒ wenn man ihm Wert „ver
leiht”. ‒ ‒
.Solange noch dein Leben nicht „durch
drungen” ist mit Religion, solange weißt
du dein Bekenntnis nicht zu nützen! ‒
156 Das Gespenst der Freiheit
.Nur dann „lebt” Religion in dir, wenn
sie vom ersten Augenblicke deines Wieder‐
findens im Erwachen, bis zum letzten kla‐
ren Selbstempfinden, das der Schlaf als‐
dann verhüllt, dir ständig gegenwärtig
ist! ‒
.Nur dann, wenn jegliches Geschehen
deines Tages überstrahlt wird durch dein
religiöses Fühlen, ‒ gleichviel in wel‐
cher Form du es zu fassen suchst, ‒ darfst
du gewiß sein, daß du dem, was „ewig
ist in dir, entsprichst! ‒ ‒
.Vorher bist du nur selbst ein Hemm
schuh deiner Seele, weil du sie hinderst,
sich in diesem Erdenleben auszu‐
wirken! ‒
.Vorher bist du nur tierhaft deiner
selbst bewußt, auch wenn du glaubst, im
Geistigen dich zu erkennen! ‒
.Auch wenn dich alle Welt als einen
ihrer Großen ehren mag, so bist du doch
157 Das Gespenst der Freiheit
im Geiste dem Geringsten unterordnet, der
sein Tagewerk in krafterfüllte Strahlen ech
ten religiösen Fühlens einzutauchen weiß,
um so mit allem, was er tun mag, seiner
Seele neue Nahrung darzubieten! ‒ ‒
.Aus solcher innerer Durchdringung
allen Tagewerks mit Religion, ist hier auf
Erden jede der Kulturen vormaleinst ge‐
boren worden, die du heute hoch bewun‐
derst und kaum mehr erreichbar glaubst...
.Auch unsere Zeit verlangt nach neuer
Weltkultur, ‒ doch sucht sie nur Kultur
zu „konstruieren”, wie man eine Eisen‐
brücke konstruiert...
.Erst dann jedoch wird diese Zeit Kul
tur aus sich „gebären” können, wenn sie
wieder sich mit echtem religiösen Füh
len zu durchdringen weiß! ‒ ‒
.Du aber, der du selbst, als „Kind der
Zeit”, heute auf Erden hier im Dasein
stehst, ‒ beginne bei dir selbst! ‒
158 Das Gespenst der Freiheit
.Hast du erst selbst dein Dasein ein
getaucht in Religion, dann wirst du bald
auf Schritt und Tritt auch Anderen be‐
gegnen, die aus bloßen Erdentieren wieder
geistgeeinte Menschen werden wollen...
.Ihnen wird alsdann dein Leben beste
Lehre sein, ‒ und wenig Worte wird
man brauchen, diese Lehre zu bekräf
tigen! ‒
.Wenn man auch deinen Worten Glauben
schenken mag, so glaubt man doch viel mehr
noch deinem Tun!
.So, wie du vorzuleben weißt, was dich
im Innersten erfüllt, so werden es die An‐
deren nacherleben können!
.Du sollst jedoch gewiß kein „Spielver‐
derber” sein, wo andere die kargen Freu
den ihres Erdenlebens irdisch auszukosten
suchen, ‒ und nicht als „Frömmler” sollst
du dich mit himmelwärts verdrehten Au‐
159 Das Gespenst der Freiheit
gen über jede harmlos-tolle Torheit Fröh‐
licher „entrüsten”!
.Ist all dein Alltagsdasein wirklich durch
die dir gemäße Religion bestimmt, dann
wirst du wahrlich auch zu lachen wissen,
wo sich sündlos lachen läßt!
.Bald wirst du dann entdecken, daß ein
heiteres Wort denn doch noch Besseres
vermag, als alle sauertöpfisch-überernste
Mahnung und Belehrung.
.Wahre Religion ist frohgemute Freiheit!
.Mißtraue darum allem, was als „religiöses”
Fühlen gelten möchte, ohne in der Heiter
keit des Herzens sich bestätigt zu er‐
weisen! ‒ ‒
160 Das Gespenst der Freiheit
WISSENSCHAFT
.Aller Erkenntnis weltweise Mutter
ist die Sprache!
.Weit aber wurde der Weg von dem
lallenden Lautegebell, das unseren tierhaften
Vorahnen voreinst Verständigungsmittel
kümmerlichsten Verstandes war, bis zum
ersten geistgezeugten Wort!
.Nicht eher konnte bloßer Stimmklang
Sprache” werden, als bis die Urmensch‐
tiergehirne sich soweit beeindruckbar ge‐
staltet hatten, um den Splitterregen körper
lichen Lichtes, der sie allenthalben über‐
sprühte, in sich umzuformen zu Erfas
sungskräften, die auch Ungreifbares zu
umschließen wissen.
.Es ist nicht etwa nur ein sprachlicher
Vergleich allein, wenn man vom „Lichte
163 Das Gespenst der Freiheit
des Verstandes, der Vernunft, des Den
kens, und vom „Licht” des Geistes
spricht! ‒
.Was uns als körperliches Licht der
Sonne und der Sterne durch das körper‐
liche Auge wahrnehmbar wird, ‒ was der
Mond an abgeschwächter Sonnenstrahlung
wiederspiegelt, ‒ das alles ist zugleich
auch geistige Substanz, die zwar dem un‐
erschlossenen Gehirn der anderen Tiere
unwahrnehmbar bleibt, jedoch im längst
dafür empfindlichen Gehirn des Erden‐
menschentieres aufgenommen und ver
wandelt wird zu einer Kraft, aus der die
Seele sich ihr inneres Erkenntnis-Reich
gestaltet. ‒ ‒
.Wir würden selbst im Außendasein
kaum viel mehr erfassen können als den
höchstentwickelten der bloßen Tiere dieser
Erde faßbar wird, wenn sich die Seele
nicht aus reiner, umgeformter Lichtkraft
denkfaßbare Bilder aller Außendinge schaf‐
fen könnte. ‒
164 Das Gespenst der Freiheit
.Mit Hilfe dieser „Bilder” äußerer Ge‐
staltung können wir uns erst „begreiflich
machen, was unsere Nebentiere, ‒ seien
sie auch auf der höchsten Stufe tierhafter
Entwicklung angelangt, ‒ niemals, den
sinnlich unerkennbaren Zusammenhängen
nach, begreifen.
.Denken” aber, dessen Gegenstände
nicht mehr Wiederspiegelungen außen
weltlicher Gestaltung, sondern unsere ei
gene innere Schöpfung sind, wäre erst
recht unmöglich, hätten wir die umgewandelte
Substanz des körperlichen Lichtes nicht in
unserem Gehirn in reicher Fülle zur Ver‐
fügung.
.Jegliche „Vorstellung”, die sich im
Innenleben eines Erdenmenschen bildet, ‒
jeglicher Gedanke, den ein Mensch erfassen
kann, ‒ ist nur ein Bild aus umgeformter
körperlicher Lichtsubstanz, und nur
in solcherart erzeugtem „Niederschlag” kann
seelische und geistsubstantielle Wirklich
keit uns hier auf Erden faßbar werden.
165 Das Gespenst der Freiheit
.Die lautgemäße Wiedergabe dieser
inneren Bilder aber ist die Sprache, deren
Sonderart bestimmt wird, durch den, jeder
Einzelvolksgestaltung eingeprägten Lebens‐
rhythmus.
.Nun lassen sich aus dieser in Gehirnen
umgeformten Lichtsubstanz, ‒ die immer‐
fort in Wellenwogen unerfaßlich kleiner
körperlicher Lichtkraftsplitter alles
Erdenkörperliche zu durchdringen weiß,
‒ die mannigfaltigsten Gebilde formen,
die keineswegs auch irgend einem Wirk
lichen entsprechen müssen, sei es ein nur
allgemeinem Sprachgebrauch nach „Wirk‐
liches” der Außenwelt, oder das abso
lute Wirkliche, das nur in seelischen und
geistsubstantiellen Formen seinsgewal‐
tig ist. ‒
.Erfahrung ließ daher den denkbewußten
Erdenmenschen schon in alter Zeit gewahren,
daß die innere Bildnerkraft in strenger
166 Das Gespenst der Freiheit
Zucht gehalten werden müsse, damit sie wahr‐
haft Wirkliches erkenntnisnahe bringe.
.Fehlschluß, oder falsches Urteil,
waren jederzeit die Folge unbesorgter Art
des inneren Gestaltens.
.Es bedurfte aber einer Selbstkontrolle un‐
gezählter Einzelner in langen Generationen‐
reihen, um endlich die Gewißheit zu er‐
langen, welche innerlichen Formbildungs‐
methoden dauernd auszuscheiden seien,
wenn das Resultat des Denkens und Er‐
schließens zum gesicherten Erkennen des
Geschehens im Bereiche einer Wirklich
keitsbezeugung führen solle.
.So erst entstand, was man zu Recht als
Wissenschaft” bezeichnen darf.
.Da aber solche strenge Selbstzucht,
wie man hier sie in Notwendigkeit be‐
gründet fand, gar manche liebgewordene
Illusion zerstörte, konnte es auch nicht
an Selbstbetörten fehlen, die nicht ge‐
167 Das Gespenst der Freiheit
sonnen waren, ihre Art des hemmungs
losen Bildgestaltens aufzugeben, und aller‐
orten kann man darum hohlem Wahn be‐
gegnen, der sich aller strengbedingten Wissen‐
schaftlichkeit enthoben glaubt...
.Man fühlt die „Freiheit” seines Den‐
kens durch die Wissenschaft bedroht, und
merkt nicht, daß man dem Gespenst der
Freiheit folgt, weil man sich der Notwen
digkeit entwinden möchte, die auch alles
innere Gestalten ordnen muß, soll es ein
Bild der Wirklichkeit ergeben...
.Gewiß sind manche Diener der „exakten”
Wissenschaft nur arme „Kärrner”, die
nicht über ihres kleinen Karrens Last hin
auszublicken wissen!
.Gewiß muß vorgebliche „Wissenschaft”
auch manchen Dünkel decken!
.Wenn aber auch ein Werkzeug schlecht
gehandhabt wird, so ist damit noch keines‐
168 Das Gespenst der Freiheit
wegs erwiesen, daß es nicht zu rechtem
Werke taugt!
.Es ist nur Torheit, glaubt man echtes
religiöses Fühlen durch die Denkgesetz‐
lichkeit der Wissenschaft bedroht, ‒ und
Torheit nur wähnt wahrer Wissenschaft
den Weg verbaut zu höchstem geistigen
Erkennen, nur weil die Vorsicht heute
noch den wissenschaftlich Denkenden ver‐
hindert, sich auch in Bereiche vorzuwagen,
die man „wissenschaftlich” erst durch‐
dringen kann, wenn man sie im Erlebnis
sich eröffnet hat. ‒ ‒
.Unwissenschaftlich wäre es, zu fol‐
gern, daß sich niemals wissenschaftlich
Wirkende dazu entschließen könnten, geistige
Erlebnismöglichkeiten in sich aufzu‐
suchen, nur weil heute noch den Meisten
alles, was sich nicht erdenken läßt, da
es erlebt sein will, im Anruch alten Aber
glaubens steht...
169 Das Gespenst der Freiheit
.Wer freilich Wissenschaft in einer Weise
treibt, die ihn dem wachen Leben fremd
macht, dem allein das Denken dienen
sollte, der ist in gleicher Weise seiner
Träume Narr, wie irgend ein Besessener
der Ausgeburten wirrer Wahnideen!
.Alles menschliche Beginnen muß dem
Leben dienen, muß das Erdendasein zu
bereichern trachten, soll der Mensch nicht
selbst zum Sklaven werden, wo er Herr
schaft aufzurichten sucht!
.Da alle Wissenschaft sich aus der Sprache
nährt, die wiederum nur lautgerechte Dar
stellung der inneren Gestaltung umgeform‐
ter körperhafter Lichtkraft ist, so hängt
auch wissenschaftliche Entfaltung in
erheblich hohem Grade von der ihr gemäßen
Ausfragung der Sprache ab. ‒
.Viel zu wenig wird solche „Ausfragung”
betrieben, wo sie als zuverlässigstes Mittel,
170 Das Gespenst der Freiheit
neue Intuitionen zu erlangen, längst be‐
kannt sein sollte...
.Nicht alle Erkenntnis ergibt sich aus
dem Verhalten der zu erprüfenden Stoffe
in Retorten und Gläsern, oder erschließt
sich allein nur der steten Beobachtung!
.Wichtigstes wurde entdeckt, weil ein
Wort den Gedanken weckte, der darum
wußte, wo die von Vielen gesuchte Er‐
kenntnis sich verborgen hielt. ‒
.So wird auch vieles noch zu finden sein,
zu dem die Sprache dem die Wege weisen
wird, der sie in rechter Weise „auszufra
gen” weiß!
.Es gibt in diesem Erdenleben schlecht‐
hin keinerlei Erkenntnis, deren rechter Zu‐
gangsweg nicht aus der Sprache zu er‐
fahren wäre!
.Auch wenn wir glauben, mit den
Dingen selbst zu tun zu haben, sind es
doch nur die aus umgeformter Lichtkraft
171 Das Gespenst der Freiheit
nachgeschaffenen Innenbilder, die uns als
Beobachtungsobjekte zur Verfügung stehen,
und ihre lautgerechte Darstellung besitzen
wir dann in der Sprache.
.Du meinst, dein äußerliches Auge sähe
doch die Dinge und gewahre noch die
feinsten Formenteilchen ihrer Oberfläche?! ‒
.Jedoch, dein „Sehen” ist nur eine kon
zentrierte Umwandlung der Lichtkraft‐
splitter in die Formsubstanz, aus der sich
deine ganze „Innenwelt” erbaut, ‒ in
der allein du wirklich lebst, auch wenn
du glaubst, nur in der Außenwelt zu leben.
.Die „Linse” deines Auges sammelt aus
der dich umgebenden Lichtsplitterstrahlen‐
masse stets ein unbezeichenbar Vielfaches
von dem ein, was stets auch ohne sie die
Aufnahmemembranen deines Hirnes er‐
reichen würde, ‒ sendet aber dieses Einge‐
sammelte dann konzentriert, sogleich der
„Netzhaut” zu, die ein System von „Rastern
172 Das Gespenst der Freiheit
ist, und gleichsam automatisch, jeden körper‐
lichen Lichtkraftsplitter, augenblicklich zu
gestaltungsbildender Substanz gewan‐
delt, dorthin weiterleitet, wo das innere
Bild der Außenform seiner bedarf. ‒ ‒
.So lebst du nur in einer unbegreiflich
reichen, wechselvollen Welt von inneren
Bildern”, und nur als Folge dieser stets
belebten Innenwelt empfängst du all dein
Fühlen, Denken und Empfinden! ‒ ‒
.Wissenschaft” ist nun nichts anderes,
als Aufnahmebereitsein für die aus Not
wendigkeit bestimmte Ordnung innerer
Bildgestaltung, bei gleichzeitiger Enthaltung
von der Aufnahme willkürlichkeitser
zeugter Bilder.
.Jeder, dem das Streben nach Erkenntnis
nicht nur Spiel bedeutet, treibt schon für
sich selber „Wissenschaft”, auch wenn
sein anerlerntes Wissen nur gering, und
nicht etwa die Frucht der hohen Schulen ist.
173 Das Gespenst der Freiheit
.Sich von wissenschaftlich strenggefügtem
Denken abzuwenden, wo es sich um das
Erkennen außenweltlicher Zusammen‐
hänge handelt, bedeutet selbstgewollte
Täuschung, selbstbereiteten Betrug des
eigenen Erkenntniswillens!
.Wo es sich aber um Erkenntnisresultate
handelt, die nur im Erlebnis zu gewinnen
sind, dort wird der wissenschaftlich streng
geregelte Prozeß des denkgerechten Prüfens
dem, der ihn auch als Erlebender des
Übererdenhaften zu beherrschen weiß,
nur stets willkommene Kontrolle eigener
Erlebens-Sicherheit verschaffen.
.Was nicht zuletzt auch noch dem folge‐
recht geschulten Denken standzuhalten weiß,
so wie es Wissenschaft von ihren Dienern
streng verlangt, das ist gewiß auch im Er
lebnis nicht begründet, und vermag nur
für begrenzte Zeit ein Scheinbild wirk‐
licher Erkenntnis denen vorzutäuschen, die
sich lieber täuschen lassen wollen, als der
174 Das Gespenst der Freiheit
ihnen un-heimlichen „Wissenschaft” die
hohe Stelle im Erkenntnisstreben dieser
Erdenmenschheit zuzubilligen, die solcher
schwer erzielten Zucht des Denkens hier
unweigerlich gebührt.
.Es ist nicht sehr erfreulich, daß man
diese Binsenwahrheit erst noch feierlich
bezeugen muß, wenn es auch leider bitter
nötig ist um jener Vielen willen, die am
Gängelbande wirrer Schwärmer laufen,
denen alle „Schulweisheit” gar sehr ver‐
dächtig scheint, weil sie auf Denkprämissen
fußt, die keine Selbsttäuschungen dulden.
.Kann man gewiß auch nicht behaupten,
daß sich Wissenschaft zu jeder Zeit von
allem Irrtum freigehalten habe, so wurde
doch noch jeder Trugschluß, dem sich wissen‐
schaftlich Forschende ergeben hatten, früher
oder später durch die gleiche Wissenschaft
als unzulässig aufgezeigt.
175 Das Gespenst der Freiheit
.Wie alles erdenmenschliche Erkennen,
ist auch Wissenschaft der Möglichkeit des
Irrens unterworfen.
.Aber dort, wo wirklich reine Wissen
schaft betrieben wird, ‒ und nicht nur
Götzendienst vor ihren Dienern, ‒ dort
ist noch immer weitaus mehr Gewähr für
sichere Erkenntnis dargeboten, als jemals
jene wilden Wüsten darzubieten haben wer‐
den, in die sich urteilslose Eigenbrötelei
durch das Gespenst der Freiheit allzuleicht
verlocken läßt.
176 Das Gespenst der Freiheit
WIRKLICHKEITSBEWUSSTSEIN
.Jeder, seines Denkvermögens und der
Sinne mächtige der Erdenmenschen, glaubt
auf seine Art sich seiner selbst bewußt,
da er um seinen Körper weiß, und um die
durch Organe dieses Körpers wahrnehm‐
baren Reaktionen aus der Außenwelt, die
ihn umgibt.
.Des weiteren weiß jeder um den Namen,
den ihm voreinst Andere gegeben haben,
und kennt bis zu bestimmten Graden die
Familienzweige, denen er, als Frucht der
Einigung, sein körperliches Dasein zu ver‐
danken hat, selbst wenn er eher denen
fluchen möchte, die es ihm gegeben haben...
.Er weiß um seine Stellung in der Welt,
‒ weiß, was er tätig zu erwerben wußte,
179 Das Gespenst der Freiheit
und was noch an Erwünschtem ihm ver
sagt zu bleiben scheint.
.Ganz sicher weiß er auch um seine Titel
und Bevorrechtungen, falls ihm solche von
Geburt an, oder im Verlaufe seines Erden‐
wandels dargeboten wurden...
.Mit alledem jedoch weiß er noch keines‐
wegs um seine Wirklichkeit, denn alles,
was er an sich kennt, ist nur zeitweilig An
genommenes, das mit ganz unbezweifel‐
barer Sicherheit dereinst ihm wieder ab
genommen werden wird. ‒ ‒
.Es gibt jedoch etwas, das keiner an
zunehmen, oder abzulegen braucht, da er
es ewig war und ist und sein wird, selbst
wenn er die Macht verwirkt, sich ewig mit
dem so Bestimmten als identisch zu emp‐
finden...
.Es gibt etwas in uns, das nicht von
dieser Erde ist, auch wenn es sich in unserem
180 Das Gespenst der Freiheit
Erdendasein nur in erdenhaft bestimmter
Form erfassen läßt. ‒ ‒
.Dieses gilt es zu ergründen!
.Dieses, vor allem, gilt es an sich
wahrzunehmen!
.Wer dieses Eine nicht in sich ergründet
hat, der ist gleich einem Bettler, der durch
dunkle Gassen zwischen wohlverschlossenen
Häusern irrt, und in Verzweiflung aufspäht
zu den hellen Fenstern, die ihm zeigen, daß
die Anderen ihr Fest begehen, ‒ während
er zu seinem Feste längst noch nicht „ge‐
laden” ist...
.Es gibt so viele, die gleich einem solchen
Bettler noch in „dunklen Gassen” irren,
und sich in jeder „Kellerkneipe” seelischer
Betäubungsgifte zu berauschen suchen, um
ihr Elend zu vergessen, während andere
sich seiner kaum noch schämen, und es brüsk
zur Schau zu tragen trachten. ‒
181 Das Gespenst der Freiheit
.Wenn Egoismus, guten Rechtes, als ver
werflich gilt, soweit er Selbstbetonung ist,
die neben sich nichts gelten lassen will,
so ist man doch versucht, nach ihm zu fragen,
sieht man, wie so viele Tausende sich selbst
vergessen”, und wahrlich nicht, um An‐
deren dadurch zu nützen...
.Eingekeilt in eine Masse, deren Einzel‐
glieder, bis auf Wenige, die leicht zu zählen
wären, längst schon sichvergaßen”, und
statt dessen sich genannt zu haben glauben,
wenn sie ihre äußerlichen „Namen” sagen,
gewahrt der Mitgerissene nur selten, daß er
um sich selbst nicht weiß, und nur die
zeitlich zugefügten bunten Fetzen kennt, die
ihn „bezeichnen”. ‒
.Es liegt wahrhaftig allzuviel Genüg‐
samkeit in dieser Selbstaufgabe, nur um
jener Anderen willen, die in gleicher Weise
auch nicht um sich selber wissen!
.Hier könnte Egoismus „Tugend” heißen,
sofern der Einzelne, durch Sorge um sich
182 Das Gespenst der Freiheit
selbst zum Anlaß würde, daß auch Andere
Ermutigung empfingen, nach sich selbst zu
suchen...
.Fast bleibt es unbegreiflich für den Nüch‐
ternen, daß sich in diesem Erdendasein
Millionen an dem Maskenkram berauschen,
den sie sich ersonnen haben, weil sie nicht
mehr wissen, wer sie sind!
.Wo aber Wirkliches dem bloßen An
schein weichen muß, dort triumphiert in
Sicherheit der Trug, ‒ und selbst betrügt
sich jeder, der nicht mehr weiß, wer
er von Ewigkeit her ist!
.Die höchste Ehrung, die das äußere Ge‐
meinschaftsleben zu vergeben hat, kann
immer nur wie eine Mantelhülle, oder wie
ein Schmuck getragen werden.
.Als was der Träger dann erscheint,
das „gilt” er denen, die auf seine Ehrung
Wert” zu „legen” trachten, doch was er
ist, wird keineswegs durch solchen Wert
verändert. ‒
183 Das Gespenst der Freiheit
.Fühlt er in dem ihm zugestandenen Ge‐
wande sich etwa erhabener, als in der
Nacktheit seiner Menschentiergestaltung,
dann lebt er nur in einer Traumwelt, als
das arme Opfer der Hypnose seiner Eitel‐
keit, und ist noch himmelweit davon ent‐
fernt, auch nur zu „ahnen”, wer er ist! ‒
.Aus längst vergessenem Bewußtsein seiner
selbst erreicht den Erdenmenschen noch die
leise Ahnung, daß alles, was ihn heute un
frei macht, ihm ungemäß, und nicht in
seinem wahren Sein beschlossen ist.
.So wird ein unbewußtes Streben zu sich
selbst, verwandelt in den wohlbewußten
Drang nach Freiheit.
.Durch diesen Drang jedoch weiß hier,
wie überall im Erdendasein, das Gespenst
der Freiheit alsobald sich aufgerufen, um
die Klarheit wachen Denkens zu umnebeln
durch die Truggebilde gleißender Verheis‐
sungen, die nie Erfüllung finden können.
184 Das Gespenst der Freiheit
.Nun sucht der Mensch auch hier nach
einer „Freiheit”, die nicht in Notwendig
keit begründet ist, ‒ und als die „Wirk
lichkeit” gilt ihm das Scheingebilde irgend‐
einer irren Theorie, das ihn von Tag zu
Tag nur immer weiter von der Wirklich‐
keit hinwegverlockt.
.Wenn nicht zuletzt noch schreckerfüllte
Einsicht doch zur Umkehr zu bewegen
weiß, dann ist das Ende eines solchen armen
Wüstenwanderers ein elendes Verschmach
ten seiner Seele, oder ihr Ersticken in
den sturmgepeitschten Glutsandschwaden
auferweckten Urzeitwahns...
.Solchem Ende gilt es aber wahrlich doch
zuvorzukommen durch die aus vernunftge‐
mäßem Denken schon erschließbare Er‐
kenntnis, daß sich wirklichkeitsgezeugte
Freiheit nur erreichen läßt bei wacher
Nüchternheit, die alle unbegründete Ver‐
heißung, mag sie auch die farbenprächtigste
185 Das Gespenst der Freiheit
Gestaltung zeigen, allsogleich als leeren Trug
durchschaut.
.Wie sollte Freiheit eines Menschen
Fundgut werden, der sich selbst in Fesseln
legt, um seinen instinktiven Widerstand zu
überwinden, sobald ein wahngezeugter Spuk
erregten Eigendünkel zu betören sucht!?
.Wie sollte Freiheit zu erlangen sein für
einen Menschen, der sich selbst die Ketten
emsig schmiedet, denen er entfliehen
möchte!? ‒
.Alles Streben nach erahnter Freiheit
aber gilt ja hier doch nur dem Wieder
findenwollen seiner selbst! ‒
.Man wagt sich selbst nicht zu gestehen,
daß man sich „verloren” hat, und so ver
steckt man seine Not denn hinter bitter‐
licher Klage um die Freiheit, die nur in
Verlust geraten konnte, weil man in dem
Maskenwogen äußerlichsten Geltungstriebes
auch sich selbst verlor...
186 Das Gespenst der Freiheit
.Zwar kennt man seine Maske noch, doch
weiß man nicht mehr, in dem Wirklichen
bewußt zu werden, dem diese Maske nur als
irdische Verhüllung dient! ‒
.Und längst hat man sich so in seine
Maske „eingelebt”, daß man sich selbst
mit ihr identisch fühlt.
.Man weiß nicht mehr, und will es nicht
mehr wissen, daß man doch noch An
deres als seine Maske „ist”. ‒ ‒
.Zuweilen freilich kommen doch die
Zweifel, ‒ aber ist man nur erst wieder
mitten in dem langgewohnten Mummen‐
schanz, dann ist auch jede Frage bald ver‐
flogen, jeder Zweifel bald zerteilt!
.Von Jugend auf daran gewohnt, sich
immerfort in seiner Maske zu bewegen,
fürchtet man, sie abzulegen.
.In allen Spiegeln sah man sich bisher,
wie man sich sehen wollte, und argwöhnt
187 Das Gespenst der Freiheit
nun, sich selbst nicht mehr zu kennen,
legte man die wohlvertraute Maske ab.
.Es ist jedoch auch ganz unsagbar schwer,
sich heute wieder unter seiner Maske zu
entdecken!
.Von allen Seiten stürmen auf den Suchen‐
den, der seiner Urnatur sich vergewissern
will, die wunderlichsten Lehren, ‒ meist
aus unberufener Lehrer Munde, ‒ ein,
und alle treten mit dem Anspruch auf, als
unbestreitbare, gewisse „Wahrheit” Aner‐
kennung zu verdienen.
.In allen diesen Lehren, ob sie nun die
Weisheit alter Zeiten neu beleben wollen,
oder den Gehirnen Heutiger erwachsen
sind, ‒ kann man gewiß auch manchen
Niederschlag bedingter Wahrheit finden.
.So manche Weisheitsworte sind da auf‐
gezeichnet ‒ neugestaltet, oder aus dem
Schatze alter Völker übernommen, ‒ die
von jedem ehrlich Suchenden gewiß „er
wogen” werden wollen.
188 Das Gespenst der Freiheit
.Wie wenig aber hat das alles dennoch
mit der Wirklichkeit zu tun, in der des
Erdenmenschen stärkste, tiefstreichende
Wurzeln gründen!? ‒
.Wir müssen dieser Wirklichkeit in uns
bewußt zu werden trachten, wollen wir
nach den Jahrtausenden der steten Raub
tierbalgereien um den Fraß, zuletzt denn
doch noch Lebensformen Ausdruck schaffen,
die uns zum wenigsten soweit erheben, daß
des Menschen Nebentiere dieser Erde, ‒
hätten sie des Menschen Urteils-Fähigkeit,
‒ sich seiner nicht für alle Zeit zu
schämen brauchten. ‒ ‒
.Um solches Wirklichkeitsbewußt
sein zu erlangen, bedarf es weder einer
Glaubenslehre, noch der philosophi
schen Systeme!
.Noch keine Glaubenslehre wußte zu
verhüten, daß die Menschen sich er
schlugen, oder noch viel grausamer zer‐
189 Das Gespenst der Freiheit
fetzten vor der endlichen Erlösung durch
den Tod, als je ein Tiger seine Nahrungs‐
beute hungergierberauscht zerriß! ‒
.Kein Denkergebnis aus der hochgemuten
Hirnarbeit der großen Philosophen war
imstande, Völker von der gegenseitigen Zer‐
fleischung abzuhalten, sobald durch Haß
und Neid und Herrschsucht in Drei‐
einigkeit, die Tierinstinkte überreizt, und
die Gedanken dem Vernichtungstrieb
verflochten wurden! ‒
.Wir müssen tiefer graben, wollen wir
die nährungsfrohe Erde in uns finden, in
der wir Alle allverwachsen sind!
.Wir müssen endlich tiefer denken,
wollen wir auch die Bewußtheit in den
Wurzeln unseres Seins erreichen, die erst
erkennen lehrt, wie wir uns selbst die
Lebensadern unterbinden, schnüren wir, im
Trieb uns hochzuranken, Anderen den
Lebenszustrom ab...
190 Das Gespenst der Freiheit
.Voll Ehrfurcht müssen wir das Wirk
liche in uns ergründen, um den „Grund”
zu einer Willenswandlung zu erfühlen,
die aller Erdenmenschheit unerläßlich
bleibt, will sie nicht in rapider Rückbildung
zu einem Schuttgezücht des Tiergestaltungs‐
willens dieser Erde werden. ‒ ‒
.Der blutbesudelte, vom Schlammschleim
der Verwesung überspülte Weg zu solcher
Rückbildung in eine Tierart, der die Ur‐
waldaffen dermaleinst als hohe „Götter”
gelten müßten, ist leider heute schon von
Scharen selbstbetörter Erdenmenschen längst
beschritten, so daß es wahrlich an der
Zeit ist, laut vor der Gefahr zu warnen, die
durch kein Verlachen aus dem Munde tollen
Irrmuts aufzuhalten ist! ‒ ‒
.Willst du, der diese Worte liest, zu
Wirklichkeitsbewußtsein kommen, dann
mußt du jegliche Vermutung fahren lassen,
als sei das hier dem Streben deines Wil‐
191 Das Gespenst der Freiheit
lens dargezeigte Ziel etwa erreichbar durch
absonderliche Hirnverrenkung, oder irgend‐
welche Akrobatenkünste der Gedanken, bei
denen meistens der vermeintliche „Be
herrscher” des Gedankenlebens zum Be
herrschten wird: ‒ besessen von dem
Wunschgedanken nach geheimer Macht!
.Du mußt auch keineswegs ein Wissen
dir erwerben, wie es Wissenschaft verlangt!
.Wer das Bewußtsein seiner Wirklich
keit in sich zu suchen unternimmt, der
kann nur dann zu dem von ihm erstrebten
Ziele kommen, wenn er vom Anfang an
den Weg verfolgt, den ihm die Wirklichkeit
in seinem Erdendasein dargeboten hat.
.Hier gilt es nicht, in Parallele zu der
Frage des Pilatus, nun die Frage aufzu‐
werfen: „Was ist Wirklichkeit?” ‒
.Wir wollen das getrost den „Neunmal
weisen” überlassen, die beim zehnten
male stets zu Toren werden!
192 Das Gespenst der Freiheit
.Hier soll dir vorerst das als „wirklich”
gelten, was auch ein Kind als seine Wirk‐
lichkeit empfindet!
.Benenne ruhig diese „Wirklichkeit” mit
Worten, die dir deine Schulung an die Hand
gab um der Unterscheidung der im Denken
nötigen „Begriffe” willen!
.Auch wenn du solcher Unterscheidung
denkgeübter Meister bist, wirst du dein
intellektuelles Wissen wahrlich nicht zu
opfern brauchen, denn auch die Aus
wirkung der Wirklichkeit darf um des
hier erstrebten Zieles willen einmal hin‐
genommen werden als das erdensinnlich
faßbar „Wirkliche”...
.Auch wenn du nicht mehr „wirklich”
nennen magst, was deine Körpersinne dich
erkennen lassen, so bleibt doch dieses körper‐
sinnenhaft Erkannte Ausgangspunkt für den
Begriff der Wirklichkeit, wie hoch du ihn
auch denkend überhöhen mochtest. ‒
193 Das Gespenst der Freiheit
.In gleicher Weise muß dir jetzt das
erdensinnlichWirkliche” zum Aus
gangspunkte deines Weges werden!
.Das allernächste erdensinnlich „Wirk‐
liche” ist dir dein eigener Erdenleib,
und nur von ihm aus wirst du sicheren,
geraden Weges weiterkommen, willst du
schließlich auch das absolute Wirkliche
erreichen. ‒ ‒
.Es ist ein ziemlich langer Weg, den du
bedachtsam und gemessenen Schrittes
nun erwandern mußt!
.Das Ziel jedoch, dem du auf solche Weise
immer näher kommst, wird dir auch Kraft
verleihen, auf dem Wege auszuharren. ‒
.Beginne mit der Sicherheit, die jedes
menschliche Bestreben fordert, wenn man
es erfolgreich einstens enden will!
.Auch hier gilt jene alte Sprichwort‐
weisheit, daß nichts schwerer, als der An
fang ist.
194 Das Gespenst der Freiheit
.Es steht dir aber frei, die Weise des
Beginnens selber zu bestimmen.
.Verlangt wird nichts von dir, als daß
du deinen ganzen Körper von den Füßen
bis zum Scheitel in dein Selbstbewußt
sein aufzunehmen suchst!
.Du wirst zwar meinen, das sei längst
geschehen und bedürfe keiner Mühe mehr,
‒ allein, du darfst mir dennoch glauben,
daß du sicherlich dich irrst!
.Wenn du den Weg der hier beschritten
werden soll, noch nicht betreten hast, dann
weißt du noch nicht, was er von dir fordert.
.Es ist ein Anderes, ob deine Körper
zellen dir gehirnbewußt sind, oder ob
dein ganzer Erdenleib durchströmt von
deinem Selbstbewußtsein ist!
.Was hier Notwendigkeit verlangt, er‐
fordert vieles Mühen, äußerste Beständig
keit und unermüdbare Geduld!
195 Das Gespenst der Freiheit
.Dann aber wirst du auch dein Ziel mit
aller Sicherheit erreichen, und endlich an‐
gelangt, wird all dein Mühen dir nur als
ein gar geringer Preis erscheinen für den un‐
verlierbaren Gewinn, den du errungen hast!
.Die höchste Form der Freiheit hast
du im gesicherten Bewußtsein deiner
ewigkeitsgezeugten Wirklichkeit er‐
reicht, und schaudernd nur wirst du der
Tage noch gedenken, die auch dich vor‐
einst inmitten der Betörten sahen, denen
ein Gespenst aus Grüften irrenden Ver‐
langens für die heißersehnte Freiheit galt...
196 Das Gespenst der Freiheit
ENDE
DAS BUCH
DER
GESPRÄCHE
Verlagslogo
Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Zürich
Der bürgerliche Name von Bô Yin Râ war
Joseph Anton Schneiderfranken
2. Auflage
Die erste Auflage erschien im Verlag der Weissen Bücher,
München, 1920
©
Copyright 1958 by
Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Zürich 48
Alle Rechte vorbehalten
Druck: Schellenberg-Druck, Pfäffikon ZH
INHALT Seite
Bekenntnis 3
Wissen und Geschehen 5
Licht und Schatten 15
Die Macht des Geistes 19
Das Kleinod des Herzens 21
Überkehr 23
Das Gespräch vom innersten Osten 27
Das Gespräch vom Scheiden des Vollendeten 31
Der Blumengarten 34
Die schlechten Schüler 39
Die Nacht der Prüfung 44
Individualität und Persönlichkeit 48
Das Reich der Seele 52
Das Finden seiner selbst 67
Von den älteren Brüdern der Menschheit 73
Magie 86
Originalscan
BEKENNTNIS
Sterne sah ich erblinken,
Die keiner noch vor mir sah, ‒
Nächstes musste versinken,
Fernstes erblickte ich nah...
Klänge hab' ich vernommen,
Die selten nur einer vernahm,
Worte sind zu mir gekommen,
Die «das Wort» aus dem Ur-worte nahm...
Wer vor mir ein «Meister» gewesen,
Gab mir als «Bruder» die Hand...
So bin ich vom «Träumen» genesen,
So fand ich das leuchtende Land. ‒ ‒
Dort hab' ich die «Weihe» erhalten
Nach den langen Jahren der Pflicht:
Die Söhne der höchsten Gewalten,
Sie führten den «Bruder» zum Licht. ‒
3 Das Buch der Gespräche
Nun bin ich im «Lichte» ertrunken
Wie ein Tropfen im ewigen Meer...
Was ich hinter mir liess, ist versunken,
Und die Zeit, da es lebte, ward leer. ‒
Ich fand, was nur wenige fanden,
Ich sah, was nur Seltene sehn ‒ ‒
Ich erlebte, in erdhaften Banden,
Meines «ewigen Reiches» Erstehn...
Doch, ‒ wollte ich jemals der Erde
Meine herztiefe Liebe entziehn,
Dann ‒ ‒ müsste auch meine Seele
Aus den leuchtenden Landen entfliehn...
4 Das Buch der Gespräche
WISSEN UND GESCHEHEN
.Als ich nach langer Zeit die Hand meines
hohen Lehrers, dem ich alles danke, was mir
wurde, wieder in der meinen halten durfte, als
ich zum erstenmal in des Südens Sonne sein gü‐
tiges Auge leuchten sah und seiner Stimme lei‐
sen Klang vernahm, da sagte ich ihm, wie gross
meine Freude sei, nun auch aus seinem Munde
jenes letzte Wissen zu erhalten, das nur so
Wenigen auf dieser Erde erfahrbar wird, und
ich glaubte damals noch, dieses Wissen sei
nichts anderes, als die Lehre einer geheimen
«Wissenschaft», den Wissenschaften dieser
Erde gleich, jedoch nur wohlerprobten Schülern
überlieferbar. ‒ ‒
.Der hohe Meister sah mich lächelnd an und
schwieg eine lange Weile.
.Dann sprach er:
.«Du bist ein echter Sohn des Westens! Was
du nicht als 'Wissenschaft' empfängst, das er‐
5 Das Buch der Gespräche
scheint dir fragwürdig, und du wagst es nicht,
der Wahrheit zu vertrauen, sofern sie nicht im
Gewande der 'Wissenschaft' auf die Weise, in
der man dieses Wort an eueren hohen Schulen
versteht, dir gegenübertritt. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Du wirst 'umlernen' müssen, mein Freund!
.Du wirst eine andere Art der Belehrung ver‐
stehen lernen müssen, als die es ist, die in eue‐
ren Landen allein nur Geltung hat. ‒ ‒ ‒
.Wenn du zur Wahrheit kommen willst, so
musst du vor allem den Wahn ertöten, als
wenn Wahrheit ein 'Wissen' wäre!
.Dein Streben muss hinfort auf anderes ge‐
richtet sein.
.Du musst dich bestreben, das Geschehen
zu ergründen! ‒ ‒ ‒»
.Und als er wieder eine Weile geschwiegen
hatte, fuhr er fort:
.«Die Welt der Seele ist ständiges Geschehen.
.Nicht anders kann die Welt der Seele sich dir
enträtseln, als dadurch, dass du eingehst in
diese, irdischen Sinnen unerfassbare Welt, als
ein Zeuge ihres Geschehens.
.Dann wirst du erst jene Weisheit finden, von
6 Das Buch der Gespräche
der auch der Weiseste nichts 'wissen' kann, son‐
dern der nur wirklich weiss, der jenes Ge
schehen in sich erlebt hat und zu jeder
Stunde neu zu erleben vermag...»
.Als der verehrungswürdige Lehrer hier ge‐
endet hatte, herrschte lange Zeit grosse Stille,
die nur durch den höhnischen Schrei eines Pfef‐
fervogels dann und wann unterbrochen wurde.
Der Meister sah hinaus mit weitem Blick über
das silbergrüne Laubgewölke der Olivenhaine,
während ich in meinem Geiste die Frage formte,
ob nicht doch wohl eine gewisse Stufe der
Kultur und des Wissens auch für diese
Form der Erkenntnis Vorausbedingung und
Notwendigkeit sei.
.Da begann der Erhabene, der meine Frage in
ihrem Entstehen beobachtet und in meinem
Geiste gelesen hatte (da er meine äussere Spra‐
che des Mundes nur mit Mühe verstand und so
auch, obwohl in nächster Nähe, mit mir auf
geistige Weise Verständigung schaffen musste)
aufs neue zu reden, und er sprach:
.«Kulturhöhe, Wissen, Gelehrsamkeit, ästhe‐
tisches Gefühl, Kunstverständnis und Philoso‐
7 Das Buch der Gespräche
phie, ‒ kurz alles, woran du bei deiner Frage
streifend dachtest, sind völlig indifferente
Dinge bei Erreichung letzter Wahrheits
erkenntnis. ‒
.Das, was ihr 'philosophische Spekula
tion' nennt, und was auch nicht zum wenigsten
in meinem Lande seit Jahrtausenden geübt
wird, wenn nicht gar mein Land die Wiege die‐
ser Art 'Wissenschaft' zu treiben, ist, ‒ ‒ wirkt
geradezu hemmend auf jene geistigen Kräfte,
die dem Menschen das Erlebnis seelisch-geisti‐
gen Geschehens verschaffen können. ‒ ‒
.Hier sind unsere Gelehrten im Irrtum,
wenn sie letzte Wahrheitserkenntnis auf ihre
Weise gefunden zu haben glauben, und eure
Gelehrten im Westen irren, wenn sie ehr‐
furchtsvoll die Tiefe unseres Denkens bestau‐
nen und in seinen Resultaten die letzte er
reichbare Kenntnis der Wahrheit ver‐
muten. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Es ist auch kein Zufall, dass bei euch im
Westen Männer des messerscharfen Denkens er‐
wuchsen, die durch ihr Denken zu ziemlich
ähnlichen, wenn nicht gleichen, Resultaten
kamen, wie die Denker unseres Landes. ‒
8 Das Buch der Gespräche
.Wie beim Schachspiel unzählige Kombinatio‐
nen des Figurenbildes auf dem Brette möglich
sind, und dennoch niemals das Brett als Spiel‐
platz verlassen wird, so sind auch alle durch
Denken zu erringenden Resultate stets an die
Gesetze des Denkens selbst gebunden und ver‐
mögen ihr Spielfeld nie zu verlassen.
.Das aber, was man erdenken möchte, liegt
fernab von diesem Spielfeld, kann zwar ein
Gegenstand des Denkens werden, ‒ ‒ nach
dem man es gefunden hat, ‒ ist aber nie und
nimmer durch Denken zu finden...»
.Und nachdem wieder eine kleine Pause ein‐
getreten war, die der Meister dazu benutzte,
meiner Begleiterin, ‒ einer in allen Fächern des
Wissens bewanderten Frau aus alter Gelehrten‐
familie, ‒ einige Aufklärungen über die Unter‐
schiede östlicher und westlicher Art des Lehrens
und Lernens zu geben, fuhr er fort:
.«Um den 'Stein der Weisen' ‒ 'die
Wahrheit' ‒ das urtiefe Geheimnis aller Ge‐
heimnisse zu entdecken, ‒ ‒ das Urquellende,
Ruhe-gebende, alles Sehnen Stillende, ‒
dazu braucht man nicht zu wissen, dass die
9 Das Buch der Gespräche
Erde sich um die Sonne dreht, dass die Sterne
der Nacht keine Lichter an der Kuppel des
Himmels, sondern Weltkörper sind, woher der
Blitz und der Donner kommt, und was derarti‐
ger Dinge, die der Verstand des Menschen ent‐
rätselte, mehr sind. ‒
.Alles das ist im letzten Sinne für das Erlebnis
des Urgründigen völlig gleichgültig. ‒
.Die Sonne könnte sich täglich um die Erde
drehen, Blitz und Donner könnten Äusserungen
dämonischer Mächte sein, und die Sterne könn‐
ten als kleine Leuchtkörper sich allabendlich
über unseren Häuptern durch Geister der Luft
entzünden lassen. ‒
.Alles das ist nur als durchaus unwesentlich
zu betrachten, wenn es sich um die letzte Wahr‐
heitserkenntnis, um das Erleben des Ewigen,
handelt...
.Irgendeine Fiktion zur Erklärung aller die‐
ser Erscheinungen würde dem Menschen eben
so dienen, wie das sicherste, durch allerlei
komplizierte Instrumente zu bestätigende Wis‐
sen um den naturgegebenen Zusammenhang.
.Wir bedauern die menschliche Willensrich‐
tung, die dem Menschen solches Wissen so un‐
10 Das Buch der Gespräche
gemein wertvoll erscheinen liess, weil sie ihm
seinen Weg zum Geiste mehr und mehr er‐
schwert. ‒ ‒
.Er verliert durch all dieses Wissen eine
Welt der Gefühle, in der er heimisch blei‐
ben sollte. ‒
.Er schafft sich durch seine Instrumente gigan‐
tische Organe gedanklichen Erfassens, die zu
seinem gegebenen Erfassungsvermögen
durchaus in keinem harmonischen Verhältnis
stehen, und belügt sich selbst, wenn er
glaubt, durch diese, seinen wirklichen Wir
kungs-Möglichkeiten längst nicht mehr ent‐
sprechenden Verstandes-Erkenntnisse, der
Wahrheit, die er letzten Endes sucht, auch
nur um Fadenbreite näher zu kommen...
.Alles, was er so erreicht, ist das Bewusstsein
einer Ohnmacht in bezug auf die ihm gegebene
Gewalt, ein Gefühl der Disharmonie zwischen
'Wissen' und Erreichenkönnen. ‒
.Dieses Gefühl der Ohnmacht verleitet ihn
dazu, die ihm wirklich, aber in rein geistiger
Weise gegebene Macht gering zu schätzen,
während er zu gleicher Zeit mit Stolz auf seine
'Erfindungen' blickt, ohne sich bewusst zu wer‐
11 Das Buch der Gespräche
den, dass sie es sind, die ihm gerade das Beste
rauben, weil sie das Streben seines Willens in
durchaus das eigentliche Endziel fliehen
der Richtung erhalten...
.Er verliert den Sinn für das Relative in den
Gegebenheiten der Aussenwelt, verliert den
Sinn dafür, dass die 'Gesetze' der Natur, die er
so zu erkennen meint, ‒ auch wenn er sie rich
tig erkannte, ‒ doch nur bedingungsweise
gültig sind, und dass die Kraft des Geistes
zwar nicht die 'Gesetze' wohl aber die Be
dingungen der Aussenwelt zu ändern ver‐
mag..
.Das Ewige aber, das er mit all seinem Mühen
doch eigentlich immer klarer erkennen lernen
möchte, bleibt seiner Erkenntnis auf diese
Weise, solange er nicht die Richtung seines
Suchens wechselt, ‒ dauernd fern. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Morgen schon könnte diese ganze Welt des
unermesslichen Raumes in Trümmer zerstäu‐
ben, ein neues Weltenall mit ganz anderer Be‐
dingtheit könnte die Räume erfüllen, 'Natur‐
gesetze' könnten zur Wirkung kommen, von
denen all eure 'Wissenschaft' noch nichts
12 Das Buch der Gespräche
ahnt, und doch hätte sich nichts geändert im
ewigen Geiste, den es durch Erleben zu er‐
fassen gilt. ‒ ‒ ‒
.Eitel und eintägig ist alles stolze 'Wissen'
das ihr im Äusseren zu erreichen sucht, ‒ eitel
und eintägig ist alle vermeintliche 'Erkennt‐
nis' die noch der Krücken philosophierenden
Denkens bedarf, ‒ aber das durch Erleben
bewirkte Erfassen des Wesenhaften macht
aus dem ungelehrtesten Bettler, der, nichts von
allem ahnend, was ihr 'Kultur' und 'Fortschritt'
nennt, in seiner Hütte im Walde sitzt, und nur
von den milden Gaben der Pilger lebt, die den
Dschungel durchwandern müssen, ‒ ‒ einen
ewigen König aller Welten, ‒ einen Mei
ster alles Lebens. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Wohl sollt ihr nicht, einem solchen Yogi
gleich, in den Urwald ziehen, wohl ist es er‐
wünscht, wenn der Schüler der Weisheit, der
im Abendlande wohnt, so viel von dem äusseren
Wissen seiner Zeit sein eigen nennt, dass er in
der Sprache seiner Zeit zu den Menschen seines
Landes zu sprechen weiss, allein, alle äus
sere Wissenserkenntnis darf ihm den Weg nicht
13 Das Buch der Gespräche
verbauen, der ihn erlebend zum Wissen des
Geistes führt, darf ihm keine Fessel werden,
die sein Schreiten hindert! ‒ ‒
.Erst wenn er sein äusseres Wissen über
wunden hat, darf er ernstlich hoffen, das ge
wisse 'Wissen' im Erleben des Geistes in
sich zu finden! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒»
‐‐‐‐‐‐‐‐
14 Das Buch der Gespräche
LICHT UND SCHATTEN
.In jenen Tagen fragte ich den hohen Meister,
ob es wohl wirklich, wie man mir sagte, ‒ Men‐
schen auf dieser Erde gäbe, denen letztes Ge‐
heimnis kund und geistige Macht zu eigen sei,
die aber von ihrer Macht nur zum Schaden der
Menschheit Gebrauch zu machen wüssten? ‒
.Und der Verehrungswürdige sprach:
.«Wer aufgenommen wurde in die hohe Ge‐
meinschaft der Leuchtenden, den verpflichtet
das Gesetz, sich selbst und anderen als eine
Sonne des unendlichen Raumes zu
leuchten.
.Wollte er weiter bei anderen sein Licht zu
borgen suchen, wie es dem Schüler noch zu‐
stehen mag, so müsste er die hohen, schaffenden
Kräfte, die ihm übertragen wurden, unweiger‐
lich verlieren...
.Für ihn, der ein 'sehendes Auge der Welten'
wurde, darf es in keiner Weise mehr Verwir
15 Das Buch der Gespräche
rung geben, denn er trägt eine Macht in sich,
die von ihm Rechenschaft fordert, für jeden
Augenblick, den er durchlebt. ‒ ‒ ‒
.Mit Königen und Bettlern muss er spre‐
chen lernen, als ob er jeweils ihresgleichen
wäre, und er darf in jedem Menschen nur den
Menschen sehen, muss Stand und Rang, Ver‐
dienst und Schuld, Krone und Bettelstab ver
gessen können. ‒ ‒
.Er wird vor keiner Macht der Menschen je
betört verweilen, denn alle Macht, die ihm be‐
gegnen kann, hat in sich selbst ihr Ende, je‐
doch die Macht, die er bewussten Willens trägt
und der er dient, trotzdem er ihr befehlen darf
und sie nach seinem Willen lenken muss, ist
in sich selbst unendlich. ‒ ‒ ‒
.So sehr er auch ans Erdenmenschliche sich
selbst gebunden fühlen mag, so ist er doch in
jedem Augenblick auch davon frei, denn seine
Seele ist 'ein Reich der Ewigkeit' geworden. ‒
.Nichts ausser ihm selbst kann ihn jemals
dieses Reiches Krone und Zepter verlieren las‐
sen...
.Nur er selbst kann sich verderben durch
eigene Schuld!
16 Das Buch der Gespräche
.Doch, wenn er auch auf solche Weise 'fallen'
kann, so bleibt er dennoch, auch nach dem
Fall, verbunden jener Macht, der er zum Trä
ger wurde...
.Er zählt dann zu jenen Kräften der Zerstö
rung, die im Meere psychischen Daseins so
vonnöten sind, wie Sturm und innerer Aufruhr
irdischem Meer. ‒
.Er wird zum Feinde dann, dort wo er
Freund und 'Bruder' war, und die erhabene
Gemeinschaft trauert um einen Stern, der sich
aus eigenem Willen hinab in den ewigen
Abgrund chaotischer Auflösung fallen
liess...
.In tiefster Finsternis, ohne die Kraft zur Er‐
hebung, lebt er nur noch dem Vernichtungs
willen, bis er einst selbst seinem eigenen
Willen erliegt, und so zerfällt in Tausende von
Energieatomen, die des Lebens Wanderung als
freigewordene Kräftezentren dann aufs neue be‐
ginnen. ‒
.Die gleiche Macht wirkt in dem 'Leuch
tenden' und in seinem Gegenpol, dem Herrn
der Finsternis, und dieser Herrscher des
17 Das Buch der Gespräche
Abgrunds, erfüllt von Vernichtungswillen,
besitzt nur seine Macht, weil er sie einst erhielt
als ‒ 'Leuchtender' ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Durch seinen Fall aus dem 'Leuchten' ist er
einer der 'Brüder des Schattens' geworden.
.Dies ist die Wahrheit an dem, was man dir
erzählte, und auch in den Ländern des
Abendlandes gibt es unzählige Menschen,
die nicht ahnen, dass sie nur Marionetten
dieser grossen Vernichter sind, ‒ ganz
deren grossem geistigen Einfluss hingegeben. ‒»
‐‐‐‐‐‐‐‐
18 Das Buch der Gespräche
DIE MACHT DES GEISTES
.Wieder fragte ich einst den hohen Weisen,
der mir zu jener Zeit sein Wissen übertrug, be‐
vor ich selbst zu «Wissen im Geiste» werden
konnte, ob nicht doch aus alten, geheimgehal‐
tenen Büchern, in der «Wissenden» Besitz, sich
manche Weisheit, manches hohe Können er‐
lernen lasse, und er antwortete mir:
.«Mehr sollst du dich freuen über jede
kleinste Weisheit, die dein Geist
dir gibt, als über alle Lasten 'erlernten'
Wissens! ‒
.Mehr sollst du dich freuen über jedes klein
ste Gelingen, das dein Geist dir schenken
mag, als über alle erlernte Kenntnis und
Geschicklichkeit der Erde! ‒
.Du sollst nichts zu tun haben wollen mit de‐
nen, die alles 'gelernt' haben müssen, um es
zu können! ‒ ‒
.Du sollst nichts zu tun haben wollen mit
19 Das Buch der Gespräche
denen, die alles 'gehört' haben müssen, oder
'gelesen' um es zu wissen! ‒ ‒ ‒
.Dein Geist soll immerdar frei sein und in
Freiheit seine Kräfte erproben können!
.Dein Geist soll allezeit all deiner Seelen
kräfte Herr und Meister sein und sie unter
seiner Herrschaft einen! ‒ ‒ ‒
.Wahrlich, deine Seele hat tiefe Kräfte,
die noch keiner in sich völlig ergründet
hat, und auch dein Körper hat vieles geheime
Können, das noch keiner völlig in sich er
kannte! ‒ ‒
.Ich will deinen Körper lösen und lebendig
machen und deiner Seele Kräfte dir zu stets
bereiten Dienern geben!
.Du sollst nicht aus Büchern haben, was du
an Weisheit erlangst, und nicht von anderen
sollst du dir dein Können borgen! ‒ ‒ ‒
.Du hast selbst in dir deinen kunst
reichsten Lehrer, und alle Weisheit, die
in Büchern aufgezeichnet wurde, ist nur ein
Kleines neben dem, was deine Seele in sich
selber birgt! ‒»
‐‐‐‐‐‐‐‐
20 Das Buch der Gespräche
DAS KLEINOD DES HERZENS
.Ein anderes Mal kam die Rede darauf, wie
das Erleben des Erdendaseins, im Lichte
des Geistes betrachtet, zu werten sei, und
der Erhabene begann zu sprechen:
.«Du sollst dein Erleben schleifen, wie man
den Diamanten schleift, ‒ in seinem eige
nen Staube!...
.Du sollst dein Erleben 'fassen' ‒ wie einen
kostbaren Edelstein! ‒ ‒
.All dein Erleben muss sich in klare Facet
ten schleifen lassen, damit es das Licht des
Himmels gleichsam: wie in geometrisch geord‐
neten Formen, wiederstrahle. ‒
.Wie ein Goldschmied sollst du bedächtig den
'goldenen Ring' zu schaffen wissen, der deinem
'geschliffenen' Erleben die würdige 'Fas
sung' werden darf!
.Du selbst bist dein Erleben! ‒
.Du selbst bist die 'Fassung'! ‒
21 Das Buch der Gespräche
.Du selbst bist der Edelstein-Schleifer
und der Goldschmied deines Lebens-Rin
ges! ‒
.Was du so schaffen wirst, ‒ schenke du
dem Unendlichen! ‒
.Dich selbst ‒ schenke dem Unendlichen,
als ein Geschmeide!...
.In seiner Schatzkammer wirst du sicher
und geborgen sein. ‒ ‒ ‒
.Als ein Kleinod des Herzens wird dein
Erleben ewig im Lichte der Ewigkeit
strahlen! ‒»
‐‐‐‐‐‐‐‐
22 Das Buch der Gespräche
ÜBERKEHR
.Ein andermal aber, während der Zeit, da ich
noch Chela meines weisen Guru war, lehrte er
mich einst und sprach:
.«Siehe das Tier mit den unendlich vielen
Häuptern!
.Du bist ausgezogen, es zu vernichten, aber
jedes Haupt, das du abgeschlagen hast, ist stets
wieder aufs neue gewachsen und bedroht dich,
wie vorher. ‒ ‒
.Wer dieses Tier töten will, der darf dabei
nicht des Tieres Blut vergiessen...
.Siehe zu, dass du das Tier vernichtest, indem
du ihm zu folgen scheinst!
.Sei gut zu dem Tiere, ‒ ‒ denn daran muss
es schliesslich zunichte werden! ‒»
.‒ ‒ Und ich tat, wie mir geraten worden war,
obgleich der Rat mir damals sinnlos scheinen
wollte...
23 Das Buch der Gespräche
.Lange musste ich dem Tiere «gut» sein, ehe
es begriff: ‒ «da ist einer, der fürchtet sich
nicht vor mir. ‒»
.Immer und immer wieder versuchte es, mich
zu schrecken, und es verstand «schreck‐
lich» zu sein. ‒ ‒ ‒
.Aber endlich kam der Tag, an dem ich ihm
zum letzten Male «gut» sein musste, ‒ mehr
als je vorher, ‒ und das Tier legte sich müde zur
Seite, und ‒ ‒ starb.
.Die Wogen eines vorweltlichen Meeres spülten
seinen Leichnam hinweg.
.‒ ‒ Von diesem Tage an fühlte meine Seele,
dass sie frei geworden war aller Dienstbarkeit.
.Nun schwebte ich über meinem Körper, und
verbarg mich, nach Willen, auch wie eine
Schnecke in ihm. ‒
.Nun war ich Herr geworden, wo ich vorher
Sklave war.
.‒ ‒ Und es kam zu mir die Stimme des
Gesetzes und sprach:
.«Da du gelöst hast, was in deinem Stamme
von Anbeginn der Erde gebunden war, sollst
du binden und lösen können hinfort, was
deines Stammes ist!»
24 Das Buch der Gespräche
.Also ward mir in jenen Tagen die Kraft,
zu wirken, als einer unsichtbaren Heerschar
Herr...
.Also sprachen meine hohen Brüder von jenem
Tage an:
.«Dem Abendlande ist ein neuer Lehrer ge‐
boren! ‒ Die Sterne des Westens sind noch nicht
erloschen. ‒ ‒ ‒»
.Von jenem Tage an ward mir die hohe Pflicht,
nun selber in Gesprächen und Gleichnisreden
zu lehren, was sich lehren lässt, und ich be‐
gann, in eigenen Worten zu formen, was nun
der Geist der Ewigkeit in wortelosem
Schauen mich vernehmen liess, und was mir
auf meinem Wege zum Geiste jemals Erlebnis
geworden war, soweit ich es mitteilen durfte.
.Nun war mir geboten, andere zu sich
selbst zu führen, da ich in mir selbst «gewis
ses Wissen» geworden war. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Ich gebe, was ich zu geben habe, und auf
die Weise in der ich zu geben vermag.
.Ich setze kein einziges Wort in meinen
Schriften, das nicht mit allem Bedacht erwogen
werden will. ‒
25 Das Buch der Gespräche
.Oft mag sich an einer Stelle eine Frage er‐
heben, die erst an anderer Stelle ihre Ant
wort findet, aber man möge bedenken, dass es
in diesen Dingen eine feste Grenze erlaubter
Antworten gibt, die niemals überschritten
werden darf. ‒ ‒
‐‐‐‐‐‐‐‐
26 Das Buch der Gespräche
DAS GESPRÄCH
VOM INNERSTEN OSTEN
.Ein Weiser wurde einst von seinen Schülern
gefragt nach den «weisen Männern des Ostens»,
und er sprach:
.«Suchet in euch selbst den 'innersten
Osten'! ‒
.Wenn ihr selbst im 'innersten Osten' lebt,
werdet ihr den 'weisen Männern des Ostens' be‐
gegnen, ‒ ‒ eher aber nicht! ‒ ‒ ‒
.Wer in sich den 'Osten' erschliesst, der hat
ein 'Reich' erlangt, das grösser als alle Reiche
der Erde ist. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Der Allbarmherzige, der Erbarmer, ‒ sein
Name sei gelobt, ‒ ist gleich einem Schah-in‐
Schah, der über alle Königreiche der Erde
herrscht.
.Er setzt, in Gerechtigkeit und Liebe, Könige
über die Länder der geistigen Welt und gibt
ihnen Macht und Weisheit, auf dass sie das An‐
27 Das Buch der Gespräche
vertraute verwalten können, aber ihm allein
bleibt dennoch alles Land. ‒
.Im innersten Herzen, in euch selbst, ist ein
Vorraum, gross wie ein Senfkorn, und in ihm
eine kleine Pforte, kleiner als das kleinste
Sonnenstäubchen.
.Durch diese Pforte muss sich zwängen, wer
zum 'innersten Osten' will! ‒ ‒
.Ist er da hindurch, dann wird er hinter der
Pforte ausgebreitete Länder finden, ‒ eine ewige
'Erde' ‒ ein 'Indien' aller Indien, ‒ ein 'Ge‐
birge' aller Gebirge...
.Dort wird er sein Reich gegründet finden, von
aller Ewigkeit her.
.Bevor er aber zu seinem Reiche hingelangen
kann, das in jenen Landen ihm verliehen wird
von jenem Schah-in-Schah, der dort von Ewig‐
keit zu Ewigkeiten herrscht, muss er an den
heiligen Strom gelangen, der ewig im
Kreislauf um das Innerste der Lande fliesst,
der keine Quelle und keinen Abfluss hat, ‒
der stets sich selbst erzeugt und sich selbst
verschlingt...
.Dort wird er den 'Fährmann' finden und der
28 Das Buch der Gespräche
Fährmann wird ihn nach seinem 'Namen'
fragen. ‒
.Weiss er hier seinen 'Namen' nicht, so muss
er unweigerlich sogleich zurück auf die äussere
Erde.
.Doch, wenn er dem Fährmann Antwort geben
kann, so wird er ihn übersetzen auf die an
dere Seite des Stromes, wo er alsdann im ‒
'innersten Osten' ist. ‒ ‒ ‒
.Dort wird er den Führer finden, der ihn zum
'grossen Gebirge' im 'innersten Osten' hingelei‐
ten wird.
.Dort wird er inmitten ewig schneebedeckter
Höhen plötzlich ewig grüne Matten voll
blühender Blumen finden, so dass er sich
vor Staunen kaum zu fassen wissen wird.
.Dort wird er die ragenden Kuppeln eines him‐
melhohen Tempels erspähen, ‒ und wenn er
endlich anlangt und ihn betreten darf, ‒ dann
wird er in diesem Tempel auch die 'weisen
Männer des Ostens' sehen, nach denen er
bis hierher stets vergeblich suchte.» ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Als aber die Frager weiter fragten, ob es denn
unumgänglich nötig sei, die «weisen Männer»
29 Das Buch der Gespräche
des Ostens zu finden, wenn einst die Seele ihr
geistiges Reich erlangen wolle, sprach der Weise:
.«Ihr wisst noch nicht, was ihr da fragt! ‒
.Wer das Reich seiner Seele finden will, dem
muss von innen her dabei geholfen werden. ‒
.Helfen aber können nur jene Wenigen,
die im 'innersten Osten' leben, und die der
Allerbarmer mit Macht begabte, ihren 'Brü‐
dern im Dunkel' Licht zu spenden, sobald
deren Wille und nicht nur ihr 'Wünschen' ernst‐
lich nach solchem Lichte verlangt. ‒ ‒ ‒
.Also müsst ihr die 'weisen Männer des Ostens'
in euch finden, wenn ihr jemals das Reich,
das in euch ist, erlangen wollt! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒»
‐‐‐‐‐‐‐‐
30 Das Buch der Gespräche
DAS GESPRÄCH VOM SCHEIDEN
DES VOLLENDETEN
.«Was geschieht nun», fragte ein Schüler den
Meister, «wenn einer der hohen Gemeinschaft
aus diesem Erdenleben scheidet? ‒ Ver‐
schwindet er dann in dem unendlichen Ozean
geistigen Lichtes, nur seiner selbst im Lichte
noch bewusst, ‒ lebt er in hoher geistiger Ver‐
einigung, allein nur mit seinem Geiste
seinen erhabenen 'Brüdern' verbunden, ‒
oder ist er auf irgendeine Weise auch weiterhin
der Erde nahe?? ‒»
.Der Meister aber antwortete und sprach:
.«Wenn der Gesalbte die Tage seiner Gebun‐
denheit an der Erde Kleid zu Ende gehen sieht,
dann gibt er sich selbst, und die Kraft, der
er der Einheit Glanz verdankt, an den anderen
der Kette weiter, der sein Menschtum an
der Sonne entzündet hat, um einst der
Nachfolger des Gesalbten im Leben der
Menschheit seiner Zeit zu sein.
31 Das Buch der Gespräche
.Bis dahin war der andere noch des Gesalb‐
ten Schüler, auch wenn er längst bereits unter
den Meistern der sieben Tore ein Meister
war...
.Nun spricht der Scheidende zu ihm:
.'Heute will ich dich zum Wege machen,
denn ich selbst war 'Weg' und habe mich selbst
überschritten.
.‒ Zwei sind fortan eines und aus zweien
wird der dritte, ‒ ‒ darin verbirgt sich das
Geheimnis, in dem nun du mit mir vereinigt
wirst! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Stets dreht sich der Kopf des Janus!
.Der Alte weicht dem Jungen und der
Junge muss der Alte werden. ‒ ‒ ‒
.Beide aber gebären aus sich den dritten, ‒
den einen, der immer im Dasein bleibt, und
da sein muss, wo immer 'Dasein' ist...
.Was mitten durch die Kette strömt, gibt
Leben dem Alten, dem Jungen, und dem,
den sie beide aus sich erstehen lassen! ‒
.So in die Kette verwoben durch alle kommen‐
den Gezeiten, spende du nun das Licht, das in
uns beiden leuchtet! ‒
32 Das Buch der Gespräche
.Dieses Kleid der Erde lege ich nun ab.
.Was es barg, lege ich in deine Hand!
.Mich selbst verberge ich nun in dir, denn
zu jenen gehöre ich, die bei den Menschen
dieser Erde helfend bleiben, und du gehörst
in gleicher Weise zu uns! ‒ ‒ ‒
.Niemals können wir die Erde verlassen, nicht
in dieser und nicht in einer kommenden
Weltenperiode, ehevor nicht der letzte der
Menschen einging ins Licht! ‒
.Es ist auf Erden kein Mysterium, das
diesem gleicht! ‒'
.So geht der Geist des Gesalbten ein, in den,
der vorher sein Schüler war, und beide sind nun
eines. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .»
‐‐‐‐‐‐‐‐
33 Das Buch der Gespräche
DER BLUMENGARTEN
.«Hier, wo du die Fülle der Blüten siehst,
war vor wenigen Jahren noch öde Wüstenei.
.Unkraut wucherte in dichten Büschen, wo
heute Rosen stehen, und alles schädliche Ge‐
würm war hier in seinem Paradiese.
.Narzissenduft strömt jetzt aus dieser selben
Erde, aus der vor kurzer Zeit noch stinkende
Gewächse sprossten. ‒
.Und alles treibt die gleiche Sonne aus dem
gleichen Boden! ‒ ‒»
.So sprach der Gärtner...
.Ich aber will dir einen anderen Garten zeigen,
in dem du selber der Gärtner bist! ‒
.Noch kannst du nicht das gleiche wie jener
Gärtner sagen von deinem Garten. ‒ ‒ ‒
.Du jätest früh und spät das Unkraut aus
und wartest nun auf deine Blumen, ‒ doch
immer wächst dir neues Unkraut nach. ‒ ‒
.Nun haderst du mit einem «Gott», den du
34 Das Buch der Gespräche
dir selbst erfindest, und willst von ihm die
Früchte deiner Mühen zugeteilt erhalten, statt
selbst zu säen, und dazu den Blumensamen
auszubitten, dort, in jenen Gärten, denen
schon die Früchte reiften...
.Der «Gott», nach dem du rufst, ist nur der
Schatten deines angsterfüllten Herzens! ‒ ‒ ‒
.Von ihm erwarte nicht, dass er dir je dein
Mühen lohne! ‒ ‒
.Nicht eher wirst du deinen lebendigen Gott,
den wahren, einzigen Gott, nach dem
deine Seele verlangt, in deinem «Garten»
sehen, als bis der Same aufgegangen ist, den du
aus den Blütengärten der älteren Gärtner dir
erbeten hast! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Siehe, das ganze Menschendasein ist an
sich nur «wüstes Land», das aber der «Gärtner»
harrt, die es zu einem «Blumengarten» schaf‐
fen! ‒ ‒ ‒
.Die selbe «Erde» und die selbe «Sonne»
werden dann nur «Blumen» treiben, wo jetzt
das «Unkraut» nistet...
35 Das Buch der Gespräche
.Du hast dir hohe Ziele gesteckt! ‒
.Du strebst nach allem, was dich erheben
kann! ‒ ‒
.Doch eines hast du bisher noch vergessen: ‒
.Dass nichts dir erwachsen kann, wo du
selbst keinen Samen legtest...
.Den «Samen» aber musst du dir von andern
erbitten, ‒ von solchen, denen schon die Beete
reiften! ‒ ‒ ‒
.Doch, sie geben dir willig von dem Samen
ihrer Blumen, ‒ aber du glaubst noch nicht,
dass aus diesen unscheinbaren Körnern einst‐
mals Blüten werden könnten. ‒ ‒
.So wirfst du dann den erhaltenen Samen
achtlos fort, und andere Wanderer werden
am Rande des Weges seltsame, leuch‐
tende Blumen später finden, während dein
Garten dir wie bisher nur immerfort Un
kraut trägt. ‒ ‒ ‒
.Oder, ‒ wenn du den Samen schon in die
Erde legst, so gräbst du jeden Tag aufs neue
die Erde wieder auf, damit du etwa deinem
Zweifel Antwort schaffen könntest, ‒ deinem
36 Das Buch der Gespräche
Zweifel, ob der Blumensamen, den man dir gab,
auch wirklich keimen könnte...
.So aber wirst du niemals Blumen erhalten!
.Alles Wachsende will Ruhe und tiefe
Verborgenheit! ‒ ‒ ‒
.Willst du nun endlich deinen Garten in Blü‐
ten sehen, dann musst du auch wirklich tun,
was vonnöten ist. ‒
.Gehe hin zu den älteren Gärtnern, die
reifen Blütensamen haben, bitte darum,
und sammele sorglichst, was man dir geben
wird!
.Dann streue diesen Samen auf das gut gero‐
dete Land, und überlasse es Erde und Sonne,
die Keime und Blüten zu treiben! ‒
.Sorge dich nicht, auch wenn noch einzelnes
Unkraut zwischen den Blütenpflanzen sich er‐
heben sollte!
.Wenn deine Blumen erst wirklich erblüht
sein werden, dann wirst du leicht das Unkraut
entfernen können. ‒ ‒ ‒
.Dein lebendiger, ewiger Gott wird erst
dann in deinem Garten wandeln, wenn alle
deine Beete einst in Blüte stehen...
37 Das Buch der Gespräche
.Du sollst sie nicht künstlich zum Erblühen
bringen wollen!
.Du sollst nur das Erdreich roden und Samen
legen. ‒ ‒
.Alles weitere musst du der Erde und der
Sonne überlassen. ‒
.Auch deine Erde wird die Sonne über
strahlen! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.In deinem Garten, mein Freund, wenn du
sorglich gesät und vorher das Land gehörig ge‐
rodet hast, wird dir auf deiner eigenen
Erde dein lebendiger Gott dereinst geboren
werden! ‒ ‒
.Die Wohlgerüche deiner Blütenbeete werden
ihm zur Nahrung dienen...
.In heiliger Stille wird er sich zu hehrer Gestalt
entfalten...
.In deinem eigenen Garten, wenn
alles in Blüte steht, wirst du dereinst
mit deinem Gotte wandeln! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
‐‐‐‐‐‐‐‐
38 Das Buch der Gespräche
DIE SCHLECHTEN SCHÜLER
.Ein Meister lebte in einer grossen Stadt, bei
der die Schiffe aus allen Ländern ihren Hafen
fanden, so dass er gar bald auch viele Schüler
um sich sah.
.Es waren unter ihnen solche, die sehr sorglich
seine Worte sammelten.
.Nach Jahren «wussten» sie fast alle seine
Worte, und sie hatten nahezu vergessen, dass es
nicht ihre eigenen Worte waren...
.Sie galten in der Stadt, und weit in allen
Landen, als weise, und man fragte sie, wenn
man des Meisters Meinung wissen wollte. ‒
.Andere seiner Schüler hörten den Klang sei‐
ner Worte wohl mit offenem Herzen, aber die
Weise seiner Rede haftete nicht in ihrem
Gedächtnis.
.Ihr Leben jedoch fand Gestalt durch des
Meisters Lehre, und es war kein Geschehen um
39 Das Buch der Gespräche
sie her, das sie nicht durch des Meisters
Augen gesehen hätten. ‒
.Wiederum waren einige, die hörten begeistert
des Meisters Worte und versenkten sie tief in
ihrer Seele, so dass sie zwar auch nach des
Meisters Lehre, aber auf die Weise ihrer
Seele lebten, und mit ihren Augen zu sehen
wussten, nicht wie der Meister sah, sondern
wie er die Dinge gesehen wissen wollte...
.Nach einiger Zeit aber entstieg darauf ihrer
Seele ein eigenes, neues Erkennen.
.Das eigene Erkennen kämpfte mit des
Meisters Lehre und erstarkte immer mehr
in diesem Kampfe, bis es am Ende Sieger
blieb...
.Das eigene Erkennen lehrte sie nun aber
des Meisters Worte anders deuten, als sie je‐
mals gedeutet worden waren. ‒ ‒
.In der Stadt des Meisters sagte man daher:
.«Seht doch diese schlechten Schüler! Des
Verehrungswürdigen Lehre können sie nicht
begreifen und darum ward ihnen seine Weis‐
heit fremd! ‒
40 Das Buch der Gespräche
.Ach, dass er solche Hörer ohne Gehör, solche
Verehrer ohne Ehrfurcht finden musste!! ‒ ‒»
.Da kamen eines Tages Männer von fernen
Meeren, die in der Stadt des Meisters noch
Spuren seiner Weisheit suchen wollten, denn der
Meister selbst war bereits lange schon verstor‐
ben.
.Sie gingen dahin und dorthin suchen, aber
keiner konnte ihnen die Weisheit zeigen, die sie
finden wollten.
.Da kamen sie endlich auch zu jenen, die man
des Meisters «schlechte Schüler» nannte in
seiner Stadt, und alsbald ‒ entbrannte ihr Herz,
denn sie sahen, dass hier des Meisters Weisheit
erst völlig erfasst worden war, dass seine
Lehre aber eine grössere Lehre geboren hatte,
die alles in sich enthielt, was des Meisters Lehre
noch verschweigen mochte.
.Im Tiefsten bereichert und beglückt in ihrer
Seele fuhren sie wieder den fernen Meeren ihrer
Heimat zu und verkündeten in ihren Ländern
allenthalben die neue Lehre, die des Meisters
Weisheit in sich barg in neuer Form. ‒
.Erst lange danach hörten die Menschen in des
41 Das Buch der Gespräche
Meisters Stadt, dass diese Lehre der «schlechten
Schüler» über fernen Meeren bereits als Weis
heit galt, die allein des Meisters höchste
Weisheit in sich enthalte.
.Da verwunderten sie sich sehr, und nachdem
sie Rat gehalten hatten, sprachen sie:
.«Lasst uns aus jener Ferne einen Lehrer
holen, dem wir vertrauen können, denn wer
weiss, welche Lehre dort als die Lehre dieser
«schlechten Schüler» gelten mag! ‒»
.Und sie schickten ein Schiff in die fernen
Lande, das einen Lehrer zu ihnen bringen sollte.
.Als aber die Abgesandten dort erschienen,
weigerte sich jeder Lehrer der neuen Weisheit,
ihnen zu folgen und man sagte: «Ihr selbst
habt doch eure hohen Meister und bei ihnen
haben wir allein die Weisheit gefunden, die
wir hier lehren. ‒ Wie sollten wir aus der Ferne
euch erst bringen wollen, was eure Stadt uns
doch gegeben hat! ‒ Wie sollten wir auch nur
zu lehren wagen, da wir doch nur Schüler
eurer Meister sind, die ihres grossen Meisters
Lehre zur Vollendung brachten!?! ‒»
.Da die Abgesandten aber nicht unverrichte‐
ter Dinge heimkehren wollten, suchten sie so‐
42 Das Buch der Gespräche
lange, bis sie endlich einen Menschen fanden,
der als Lehrer mit ihnen ziehen wollte, weil sie
ihm hohe Belohnung versprechen konnten.
.Es war dies aber einer, der die neue Lehre
nur halb verstanden hatte, und bei allen
wirklichen Lehrern darum kein Ansehen
fand. ‒
.Als dieser nun in die Stadt des Meisters kam
und zu lehren anhub, hörten ihm alle aufmerk‐
sam zu, und man freute sich, einen solchen
«grossen Lehrer» in seiner Mitte zu haben, ‒ um
so mehr, als das, was er lehrte, doch gar sehr
verschieden war von der Lehre der «schlech‐
ten Schüler». ‒
.Und das Volk sprach:
.«Wie töricht waren doch jene Leute, die von
fern herkamen, um bei diesen 'schlechten Schü‐
lern' des alten Meisters Weisheit sich zu holen!
.Nun erst wissen wir den Meister zu verstehen!
.Dieser 'grosse Lehrer' aus fernen Landen hat
seine Weisheit uns erst nahe gebracht.
.Wahrlich, nur er allein ist würdig des grossen
Meisters, der unter uns lebte, grosser Nach
folger zu sein! ‒»
.Und dabei blieben sie...
‐‐‐‐‐‐‐‐
43 Das Buch der Gespräche
DIE NACHT DER PRÜFUNG
.Es war noch damals, als ich erst meines hohen
Guru Schüler war. ‒
.Es war noch damals, als ich erst beweisen
sollte, dass ich ein «Bruder» meines Meisters
werden könne...
.Tiefen, lautlosen Gründen entquoll die Nacht.
.Es zogen die Täler sich zusammen und die
Berge reckten sich wie zum Widerstand.
.Dröhnend, aus höchsten, dünnen Lüften,
sank ein Adler mit schwerem Flügelschlag.
.Dann ward eine Stille um mich her, die das
Blut meiner Adern rauschen liess gleich einem
Strom.
.Mein Geist war so voll der Schwermut, dass
auch Sturzbäche trüber Schauer ihn nicht höher
füllen konnten...
.Reglos, wie eine verschleierte Hostie am Kar‐
freitag, tauchte lebend-starr der Mond aus wehe‐
schwangeren Wolken.
44 Das Buch der Gespräche
.Mein Leib bebte in allen Fasern und fühlte
sich fast der Vernichtung nahe, durch die Pro‐
ben, die vorhergegangen waren...
.Ein Ungeheueres schien ihn nun unsichtbar
erwürgen zu wollen. ‒ ‒
.Da ward mein Auge plötzlich ‒ auf neue
Weise «sehend», und was es sah, waren We‐
sen verwesender Welten, ‒ Wesen, die an
Scheusslichkeit nicht leiden konnten, denn sie
erschienen sich, wie ich fühlte, ausnehmend
schön in ihrer unsagbaren Hässlichkeit...
.Grauen und Entsetzen ging von ihnen aus und
mein Blick sog Myriaden giftiger Pfeile in mein
Herz, sobald er ihren verschleimten Blicken be‐
gegnen musste. ‒
.Sie aber freuten sich ihrer Scheusslichkeit,
und jede neue Wunde, aus der mein pfeildurch‐
bohrtes Herz zu bluten begann, war ihnen eine
greuliche, süsse Wollust. ‒ ‒
.Ich wollte in die Erde versinken vor innerer
Qual, oder mein Fleisch noch lieber den Wölfen
geben, als diesen Ungeheuern verfallen, ‒ aber
die Erde öffnete sich mir nicht, und selbst die
Wölfe flohen den Ort solchen Grauens...
45 Das Buch der Gespräche
.Meine Seele wimmerte in namenloser Pein
und mein Leib krümmte sich wie ein zertretener
Wurm...
.Da fletschten die Unholde mit den grossen,
breitkantigen Zähnen, die aus ihren blutigen
Mäulern starrten, und ihre Schleimaugen sprüh‐
ten grüne Giftblitze. ‒ ‒
.Ich aber fühlte, dass sie mich jetzt für schwach
genug hielten, ihre Beute zu werden und dass
sie schon jetzt sich ihres Sieges freuten...
.Den Untergang aber vor Augen erwachte
die Kraft der Verzweiflung in mir, und
ich bot ihnen Widerstand.
.Ich packte den ersten der Dämonen, der mir
am nächsten war ‒ er fühlte sich an wie eine
kalte, klebrige Masse ‒ und ich würgte ihn,
trotzdem mich Ekel fast überwältigte, bis er er‐
mattet von mir liess.
.Da wich der ganze Haufe, der mich umringte,
wie schreckgelähmt zurück, so dass ich in
dem einen aus ihnen gleich alle bezwungen
hatte.
.Angstvoll duckten sie sich nun am Boden hin
und suchten meinen Blicken zu entschwinden.
46 Das Buch der Gespräche
.Je näher ich ihnen entgegentrat, desto weiter
wichen sie schleunigst vor mir zurück.
.Als aber der Mond dann verblasste, und ein
junger Tag heraufstieg im Osten, klammerten
alle die scheusslichen Wesen sich brünstig an‐
einander, hoben sich mählich über die Erde
empor und schwebten so dahin, wie ein langer
dunkler Wolkenstreif.
.Ich aber fühlte, dass sie dem Tode nahe sein
mussten und der Vernichtung kaum mehr ent‐
rinnen konnten.
.Da ging blutig-rot über glühendem Meere die
Sonne auf, und in ihrer Strahlenhelle löste sich
die dunkle Wolke, ward zu goldenen Flocken
und ertrank zuletzt in goldig-weissem Licht. ‒ ‒
.Vor mir aber stand plötzlich der Meister,
reichte mir die Hand, blickte mir freudeerfüllt
ins Auge und sprach:
.«Ich freue mich, dass ich dich wieder im
Lichte des Tages begrüssen kann. ‒ Ich habe
grosse Sorge um dich erlitten, doch nun hast du
der Zwischenwelt dich als Herr bezeigt; nun
kannst du gefahrlos stets ihr Gefilde betreten,
und alle Dämonen werden zu deinen Füssen
liegen! ‒ ‒»
‐‐‐‐‐‐‐‐
47 Das Buch der Gespräche
INDIVIDUALITÄT
UND PERSÖNLICHKEIT
.Es ward von den vielerlei Formen gespro‐
chen, unter denen der Mensch sein «Ich» zu
erkennen vermeint.
.Schliesslich bat man den Meister um Beleh‐
rung.
.Er aber liess sich also vernehmen:
.«Was dem nottut, der das Leben im
Ewigen sucht, ‒ hier, wie in nachir
dischen Zuständen, ‒ das ist nicht Ver‐
neinung seiner Individualität, sondern
die innere Verneinung, die Nichtaner
kennung der Person, als die ihn die
Aussenwelt und seine eigene Unwissen
heit ‒ maskiert. ‒ ‒ ‒
.Wunschlos geworden als «Person», kann er
dennoch Wünsche in sich hegen, die weiter
weisen, ‒ über seinen Zustand hinaus, ‒ empor
zu reinerer Höhe, wenn auch die Wünsche nie‐
mals anders wirksam werden können, als da‐
48 Das Buch der Gespräche
durch, dass sie Willenskraft in ihrem Sinn
bewegen. ‒
.Nur solche Wünsche wurzeln im wahrhaft
Individuellen.
.Die Wünsche der Person aber sind immer
derart, dass sie als bleibend erhoffen, was vor
übergehen soll, und als Wahrheit nehmen,
was nur zeitliche Täuschung ist. ‒
.Sie führen in ihrer Erfüllung niemals höher
und hindern nur das freie Höhersteigen...
.Wo noch Persönliches gehätschelt wird in
Vorstellung und Wunsch, kann Ewiges, kann
«Individualität» noch nicht zum Ausdruck
kommen.
.Wer als Person sich selbst erhalten will,
muss anderes vernichtet wissen wollen.
.Immer noch findet er ein anderes ausser ihm,
das ihm im Wege steht. ‒
.Auch Individualität will nur sich selbst,
aber nur, um in sich selbst alles andere zu
erhalten. ‒ ‒ ‒
Alles was ist, weiss Individualität mit
sich selbst vereinigt.
.Sie kann sich selbst nicht lieben, ohne in
49 Das Buch der Gespräche
sich selbst auch alles andere in Liebe zu um‐
fangen. ‒
.Nie wird sie Persönliches hassen!
.Sie hat es ja als unreal erkannt...
.Es ist ihr wie die 'Rolle' eines Schauspielers
geworden. ‒
.Sie mag die 'Rolle' werten nach dem Grade,
in dem sie ihren Träger, als ewige Individua
lität, zum Ausdruck kommen lässt.
.Stets wird 'Individualität' nur jene Werte
suchen, die zur Erhöhung und zu reinerer
Gestaltung alles Daseins führen.
.Was dem nicht dient, wird ihr wie 'nicht
vorhanden' sein. ‒ ‒
.Ewige Individualität und bleibendes
'Ich' sind ineinander eines. ‒
.'Person' ist enge Begrenzung!
.Individualität ist zeitlich wie räumlich
unendlich! ‒
.Keine 'Individualität' könnte jemals die an‐
dere hindern, sich selbst zu entfalten.
.Jede hat ihr unendliches Reich für
sich!
.Vereinigt mit allen anderen 'Individuali‐
50 Das Buch der Gespräche
täten' alle anderen durchdringend und von
ihnen durchdrungen, erlebt sie alle nur in
sich selbst. ‒ ‒ ‒
.Stets dem einzig Seienden entströmend,
baut sie nur sich selbst, als eine der unend‐
lichfältigen Formen des einzig Seienden. ‒
.Trotzdem erlebt sie alle anderen dieser For‐
men in sich selbst und weiss sich mit allen
formal identisch.
.Nichts ausser ihr kann ihr jemals zum Hin
dernis werden, und nichts kann sie vernich
ten, wenn sie in sich selbst begründet
ruht. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒»
‐‐‐‐‐‐‐‐
51 Das Buch der Gespräche
DAS REICH DER SEELE
.Die Lehre von der Seele, wie sie in grauer
Vorzeit schon die Leuchtenden erkannten,
will ich dir hier verkünden.
.Dies ist die Weisheit jener Wenigen, die auch
heute noch im Lichte dieser Lehre leben. ‒
.Menschen des Westens lehrten andere
Lehre, und selbst auch im Osten wirst du sel
ten nur dieser Lehre der wahrhaft durch
Selbsterfahrung Wissenden begegnen...
.Dennoch wird jeder dich in Irrtum führen,
der anderes lehrt! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.So höre denn, und verstehe in deinem Herzen:
.Urewig ist des Menschen Geist, anfanglos
und ohne ein Ende. ‒
.Ewig lebt er in eigenem, wesenhaftem
Lichte, denn er selbst ist Licht, ‒ ein
leuchtender Funke jener ewig sich selbst ge‐
52 Das Buch der Gespräche
bärenden Sonne, die stetig sprühend ihren
Funkenregen in den Raum ergiesst. ‒ ‒ ‒
.Nenne diese «Sonne» nicht «Gott», denn
Gott ist etwas anderes!
.Schwer wird es werden, dir das begreiflich zu
machen. ‒
.Ich muss ein Wort aus der Alltagswelt ge‐
brauchen, um dir verständlich zu werden, und
so sage ich dir denn:
.«Gott» ist das subtilste Destillat des
Geistes, nicht «der Geist» in seinem
stetig sich gebärenden Entbrennen! ‒ ‒
.Des Menschen ewiger Einzelgeist aber
ist gleichsam ein Funke jener ewig sprühenden
Sonne, ein Funke, in dem sich das Destillat
des Geistes bilden, ‒ in dem sich der leben
dige Gott unendlichfältig gebären kann...
.Ewig gebärt sich selbst die ewig sprühende
Ursonne ewigen Geistes!
.Ewig sprüht diese kreisende Sonne ihre
Geistesfunken, als Geister-Hierarchien in den
geistigen «Raum»!
.Die «Funken», die sie selbst aus sich
sprüht, sind gleichsam noch selbst Riesen
53 Das Buch der Gespräche
sonnen, doch diese sprühen wieder ewig
«Funken», ewig «Sonnen» aus, die wieder
in gleicher Weise stets kleinere und schwä
chere «Funken» oder Funkensonnen sprü‐
hen...
.Was im Menschtier der Erde sich selbst ge‐
fangen hat, der Geistesfunke, durch den
dieses Menschtier erst zum «Menschen» wird,
ist keineswegs der kleinste dieser Funken.
.Du kannst deiner Vorstellung dadurch am
besten zu Hilfe kommen, wenn du die
«Grösse» dieses «Funkens» etwa im gleichen
Verhältnis zu grösseren und kleineren «Geistes
funkensonnen» suchst, wie sie das Verhältnis
der Grösse dieses Erd-Planeten zu grösse
ren oder kleineren Weltkörpern zeigt. ‒ ‒ ‒
.Es lag im Wesen des Geistesfunkens, der sich
im Erdenmenschentiere sein Gefängnis schuf,
beschlossen, dass er das Reich der Seele sich
als Wirkungsfeld erkor, und dass er schliesslich,
um auch Herrscher in dem Reiche der Materie
zu werden, nach einem «Körper», einem «Leib»
der materiellen Gestaltung strebte.
.Ein solcher «Körper» aber war ihm bereits
gegeben, ein Körper, der wohl der Materie
54 Das Buch der Gespräche
verbunden, doch nicht ihr unterworfen
war. ‒ ‒ ‒
.Dass er aus Furcht vor der materiellen Wir‐
kung seiner Kräfte sich mit dem Körper des
Menschentieres der Erde verband, das erst
gereichte seinem Streben zum «Fall». ‒
.Ein «Fall» ist dieses Streben, doch zugleich
ein Tauchen in die tiefsten Tiefen, in denen
ein neues Bewusstsein geboren werden
kann. ‒ ‒
.Es verlor zwar der Geistesfunke im Fallen
das Bewusstsein um sich selbst, als einer
Sonne des ewigen Geistes, aber die ewige
Kraft, die ihm trotzdem innewohnen bleibt,
treibt ihn wieder empor zu sich selbst, aufs
neue sich selbst erkennend bei seiner völligen
Rückkehr, und dies in einer Herrlichkeit, die
nur aus der Tiefe, in die er gefallen war, zu er‐
schauen und zu empfinden ist ............
.Uranfänglich muss jeder dieser kleineren
Geistesfunken, dieser kleinen «Funkensonnen»,
nach dem Reiche der Seele streben, und nur
die Heftigkeit seines Strebens lässt ihn das
Ziel, das er eigentlich erreichen will, über
schiessen. ‒
55 Das Buch der Gespräche
.Zum Reiche der Seele muss jeder dieser
Geistesfunken, will er sich seine Welt ge
stalten und sich selbst in seiner Wirkung
finden.
.Vorher ist nur ein Wissen um sich selbst in
ihm, als ein Wissen um sein reines Sein. ‒
.Im Reiche der Seele erst wird er seiner
eigenen Wirkungskräfte bewusst. ‒ ‒ ‒
.Im Reiche der Seele erst kann er nach
seiner Göttlichkeit in sich verlangen und erst im
nach «Gott» verlangenden Geiste kann sich
das «Destillat» des Geistes gestalten, kann
sich sein lebendiger «Gott» im Geistesfunken
«gebären». ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.In jener ewig kreisenden, ihrer selbst allein
in ihrer unermesslichen Grösse bewussten
«Geistessonne», die ewig ihre «Funkensonnen»
in den geistigen Raum ersprüht, ‒ dort ist kein
Bedürfen nach einem «Gott», denn dort ist
alles nur leuchtende Einheit des Seins...
.Damit aber «Gott» sein könne, muss etwas
Empfindendes sein, das nicht «Gott» ist,
nicht nur in sich selber kreist, in sich
selbst genug und vollendet...
56 Das Buch der Gespräche
.Wie das weisse Licht des Tages sich
zerspalten lässt in helle und dunklere Farben,
also muss sich die Ur-Einheit des Geistes
gleichsam zerteilen in mancherlei Strahlen,
wenn «Gott» sich im «Geiste» gebären kön‐
nen soll...
.Es müssen farbige Dunkelheiten im an
sich farblos weissen Lichte des Geistes wer‐
den, damit das gold-weisse Licht der Gott
heit sich zeigen kann. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Dazu aber dient das Reich der Seele.
.Ein jeder Menschengeistesfunke taucht ein in
dieses Reich, und um ihn bilden sich, wie Kri‐
stalle in einer salzgeschwängerten Flüssigkeit,
die seelischen Formen, die eure westliche
Lehre: seine «Seele» nennt. ‒ ‒
.Ihr glaubt im Abendlande hier, diese «Seele»
sei gleichsam ein abgeschlossener Leib aus un‐
sichtbarem, fluidischem Stoff, und eure Lehre
lässt diesen Seelenorganismus mit eurer Geburt
im Fleische entstehen, damit er nie mehr euch
verlasse, damit er, in der Zeit entstanden, ewig
erhalten bleibe. ‒
.Eure «Seele» ist aber keineswegs dies festge‐
fügte, in sich Geschlossene, denn das Reich der
57 Das Buch der Gespräche
Seele ist ein unsichtbares, fluidisches Meer,
in dem es keine unveränderlichen Formen
gibt, ausser jenen unzählbaren Kräften, die man
als Seelen-Atome bezeichnen könnte, und die
zeitweilig euere Seele bilden, sie aus sich ge
stalten; doch in jeder «Seele» sind es jeweils
ihrer Tausende, und mehr als tausendmal
Tausende! ‒ ‒ ‒ ‒
.Sobald das, was ihr wirklich im höchsten
Sinne seid, jener ewige Geistesfunke, das
Reich der Seele erreicht, sobald er eintaucht
in dieses fluidische Meer, ‒ schiessen diese Mil‐
liarden von Kräften um ihn zusammen und
werden von dem Eigenlichte des Geistes erfüllt.
.Der Geistesfunke aber strebt tiefer und tiefer,
bis auf den Grund dieses Meeres, wo ihm die
furchterregenden Kräfte dann begegnen, die ihn
verleiten, im äusseren Reiche der dich
testen Materie Schutz zu suchen, so dass er
sich dem Menschentiere eint, und sich in
seiner Form verliert.
.Aus einer Mutter Leibe wird er nun hier als
der Mensch der Erde geboren.
.Stetig aber bleibt er, auch auf dem «Grunde»
58 Das Buch der Gespräche
des Meeres der Seele, in seiner Hülle von Fleisch
und Blut, von dem Meere umschlossen. ‒
.Allmählich lernt er die Formen, die sich um
ihn kristallisieren, im eigenen, wenn auch sehr
verdunkelten, Geisteslicht erkennen.
.Nicht zum ersten Male bildeten diese
Kräfte solche Formen!
.Sie dienten schon vielen Menschengeistes‐
funken in früherer Zeit und werden sich stetig
wieder lösen und wieder von neuem ähnliche
Formen bilden, bis der Impuls, der sie einst
Form zu bilden zwang, durch einen Menschen‐
geistesfunken völlig zur Auswirkung
kommt, bis dass ein Menschengeistesfunke
alle Kräfte dieser Form in seinem Willen
zu einigen weiss. ‒ ‒ ‒
.So kommt es, dass du in deiner «Seele»
Klänge findest, die nicht erst in diesem deinem
Erdenleben zum erstenmal erklangen, ‒ ‒ und
dies verführte die Völker des Ostens zu jenem
Glauben, als ob der Menschengeistesfunke oft
mals diese irdische tierhafte Einkörperung zu
überstehen habe. ‒
59 Das Buch der Gespräche
.Dem ist aber nicht so, wie man im Osten
glaubt, und wie auch im Abendlande heute gar
viele annehmen möchten.
.Zwar gibt es Fälle, gleichsam des «Miss‐
lingens», in denen zweimal einem Menschen‐
geistesfunken jener tiefste Fall zum Triebe
wird, allein es sind dies Sonderfälle, die so selten
sind, dass sie der Regel keinen Abbruch tun.
.Selbstmord und früher Tod, auch allzu
dichtes Einverkrusten in die dichte
Tiereshülle können diesen Trieb zur Wieder‐
Inkarnierung schaffen, allein auch hier nur in
besonderen Fällen, die nicht allzuoft sich
ereignen.
.Du findest in dir vielleicht Menschen früher
Vorzeit wieder?!
.Du kannst, wenn du einmal zu den Erwach‐
ten des Geistes gehörst, selbst ganze Lebens
läufe zum Erklingen bringen, und dies Erinnern
deiner Seelenkräfte wird dann dir bewusst, ‒
dem heute auf der Erde Lebenden, ‒ allein, ‒
nicht du warst jener, den du heute also
neu erlebst! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Du trägst nur jene Seelenformen, die in
seinem Erdenleben sich gestaltet hatten und
60 Das Buch der Gespräche
nicht in ihm zum letzten Ausgleich der
geschaffenen Impulse kamen. ‒ ‒ ‒
.Was du deine «Seele» nennst, ist ein stetig
wechselndes Gebilde im Meere der Seelen‐
kräfte, im Reiche der Seele.
.Jeder Gedanke, jeder Willensimpuls,
jede Tat kann dieses Gebilde sogleich ver
ändern. ‒
.Du wirst, wenn du nicht ganz im Materiellen
verkrustet bist, von Jahr zu Jahr eine andere
«Seele» haben, und nach den Lehren uralter
Weisheit wirst du sicher alle sieben Jahre
völlig andere Seelenkräfte bei dir tätig fin‐
den. ‒
.Gewisse Seelenformen werden sich auch bei
dir wiederholen, und jene, denen du nicht
zur Vollendung verhilfst, wirst du den Men‐
schengeistesfunken hinterlassen, die einst, in
späteren Tagen, dieses Erdendasein durch‐
leben müssen.
.Mit dieser Hinterlassenschaft verbunden ist
stets die Möglichkeit des Rückerinnerns an
das Erdenleben dessen, von dem sie stammt.
.So kann sich ein anderer einst auch deines
61 Das Buch der Gespräche
Lebens erinnern und zu dem Irrglauben kom‐
men, er habe dein Leben einst hier gelebt...
.Das Reich der Seele hält dich so umschlossen,
dass du niemals seine Grenzen finden oder gar
überschreiten könntest. ‒
.Mit den an dich jeweils kristallisierten Seelen
formen, die in steter Veränderung sind,
wirst du dich immer in diesem fluidischen,
und irdischen Augen unsichtbaren «Meere
der Seelenkräfte» bewegen. ‒ ‒
.Aber auch nach dem «Tode» des tierischen
Erdenkörpers wird dir dort nichts zu völliger
Macht verhelfen, bevor nicht alle Impulse,
deren Erzeuger du während deines Erden‐
lebens warst, in späteren Menschenleben ihre
restlose Auswirkung fanden. ‒ ‒
.Du selbst kannst deine Seelenformen dann
nicht mehr ändern!
.So wie sie waren, als dein Erdentiereskörper
dieser Welt der materiellen Kräfte nicht mehr
genügen konnte, so wirst du sie behalten müs‐
sen, bis zu jenem Tage, da auch der letzte der
von dir geschaffenen Impulse durch einen
später hier lebenden Menschengeist seine Aus
wirkung fand...
62 Das Buch der Gespräche
.Jedoch, fürchte dich nicht!
.Die vor dir im Reiche der Seele zu freien
Beherrschern wurden, werden dir dort zur
Seite stehen, und die Zeit bis zu deiner wahr‐
haften «Auferstehung» wird nicht ungenützt
verstreichen, auch wenn es sich um «Jahr‐
tausende», nach irdischem Zeitbegriff, handeln
sollte. ‒
.Wie aber du dann auf den letzten deiner Er‐
löser harren magst, so warten heute Menschen‐
geister, die in früher Vorzeit auf der
Erde im Fleische waren, ‒ auf dich! ‒ ‒ ‒
.Siehe zu, dass in deinem Leben den letzten
Ausgleich findet, was du von jenen früheren
in dir trägst!
.Siehe zu, dass du auch nicht neue Impulse
schaffst, wenn du nicht selbst gewillt bist,
sie in deinem Erdenleben zum völligen Er
schöpfen zu bringen! ‒ ‒
.Du sollst zwar auch neue Impulse schaf‐
fen, aber nur solche, denen du sicher in
deinem Erdenleben selbst genügen kannst,
nach menschlichem Ermessen. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Was nützt es dir, wenn du Impulse schaffst,
die deiner Ansicht nach das Wohl der ganzen
63 Das Buch der Gespräche
Welt bezwecken, wenn aber deiner Hand sich
dann entwindet, was du also schufst, bevor du
selbst imstande warst, das so geschaffene zum
Ausklang hinzuleiten! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Dir und anderen wirst du so nur Leiden
schaffen, denn im Reiche der Seele kann nichts
verursacht werden, ohne bis in seine letz
ten Konsequenzen durchzuwirken durch
Jahrtausende...
‐‐‐‐‐‐‐‐
.Die Lehre von der Seele, so wie sie die
«Leuchtenden» schon in grauer Vorzeit fanden,
so wie sie die «Wissenden» wissen, die gar we‐
nige sind, habe ich dir hier in einfacher Rede
vorgetragen.
.Wenn du klarsehende Augen hast, und nicht
von Vorurteilen geblendet bist, dann wirst du
diese Lehre in vielem wiedererkennen, das
Wahrheitswissen und Täuschungswahn zu bun‐
ten Arabesken verwoben hat.
.Vielleicht auch fasste meine Hand allzufest
deinen Lieblingsglauben, deinen Lieblings
wahn? ‒ ‒
.Aber täusche dich nicht!
64 Das Buch der Gespräche
.Weder im Sinnenreiche, noch im Reiche
der Seele richtet sich das Geschehen jemals
nach deinem Bedünken! ‒ ‒ ‒
.Es sind in allen Reichen des Universums si
chere Wege gebahnt, und nur auf diesen
Wegen bewegt sich Leben und Werk. ‒
.Du kannst nicht neue Wege bahnen, auch
wenn nach deines Verstehens Ermessen die
alten Wege dir nicht gangbar erscheinen!
.Es gibt heute viele im Abendlande, die den
Wahrheitskern in den Lehren des Ostens
ahnen...
.Jedoch, sie glauben blind, dort, wo sie
sehend sichten sollten. ‒ ‒ ‒
.Du wirst in keinem Volke eine «fertige»
Lehre finden, die dir alle Wahrheit restlos ent‐
hüllt!
.Allüberall aber wirst du auf Spuren der
Weisheit stossen, und wohl dir, wenn du sie er
kennst! ‒ ‒ ‒
.Du wirst dann manchen langen Umweg
vermeiden lernen!
.Auch wir wollen dich nur vor Wegen be‐
hüten, die lange Umwege wären.
.Dazu diene dir diese Lehre.
65 Das Buch der Gespräche
.Wir geben dir nur, was wir aus Selbst
erfahrung gewisslich wissen, nachdem
auch wir vor Zeiten einst nur glauben konnten,
als wir solches hörten. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
‐‐‐‐‐‐‐‐
66 Das Buch der Gespräche
DAS FINDEN SEINER SELBST
.In jenen Tagen, da ich noch schwer zu ringen
hatte, um die Proben zu bestehen, die meine
Meister mir auferlegen mussten, ehedem ich
einer der ihren werden konnte, war ich einst
Gast eines hohen Meisters, von dem wohl nie‐
mand in der Welt, in der er lebte, jemals ge
ahnt haben würde, dass er ein Meister des
Lichtes sei.
.Als wir nun an einem der köstlichen Abende
des Südens einsam am Ufer des Meeres uns er‐
gingen, fragte ich ihn, auf welche Weise ihm, der
stets mit tausend Geschäften der Welt beladen
war, einst die Erleuchtung gekommen sei, und
der Mann, vor dem Tausende zitterten, die
seiner Herrschaft untergeben waren, begann zu
sprechen:
.«Gewiss, auch mir, dem Unwürdigsten, gab
der Geist einst sein letztes Geheimnis zu eigen,
und seit jenem Tage ward mir die Kraft, weise
zu sein...
67 Das Buch der Gespräche
.Aber dennoch war ich gar selten weise
zu jener ersten Zeit, denn allzu tief war
mir in Mark und Blut gedrungen, was
mir, bevor der Geist mir sein Geheimnis
gab, als 'Weisheit' von mancherlei Lehren des
Abend- und Morgenlandes angepriesen worden
war. ‒ ‒ ‒
.‒ Es ist nicht allzu leicht, das alles auszu‐
scheiden, was man in Knochen und Adern schon
von den Vätern her mit sich trägt, und was
noch gekräftigt wurde durch Erziehung und
Lehre! ‒ ‒
.Aber es kam ein Tag, da der Geist in furcht‐
erregender Grösse also zu mir sprach:
.'Alles Übel ist Furcht!
.Du fürchtest dich noch, dich der Weisheit
zu vertrauen, und diese Furcht nennst du
Zweifel! ‒
.Ich gebe mich nur dem, der mich nicht
fürchtet!
.Ich gebe mich nur dem, der in mir selbst,
befreit von aller Furcht, zu denken weiss, zu
fühlen und zu handeln!
.Wehe dem, der mich noch aussen sucht!
68 Das Buch der Gespräche
.Wehe dem, der noch in Zweiheit lebt und
noch nicht 'Ich' geworden ist in mir! ‒ ‒ ‒
.Alles Äussere ist dir gegeben, es zu überwin‐
den!
.Ich aber bin der Herr des Äusseren und
Inneren, und du wirst nur in mir, ‒ mit mir
zu einem Ich vereint, jemals zur Herrschaft
gelangen können über alles, was in dir und
ausser dir ist! ‒ ‒ ‒ '
.‒ Hätte ich immer, seit jenem Tage, nach dem
Worte der Weisheit gehandelt, wahrlich, ich
wäre weise gewesen! ‒ ‒
.Aber in Knochen und Adern lebte mir noch
eine Stimme, die da sprach:
.'Du Törichter! ‒
.Wie magst du solchem Worte glauben!? ‒
.Weisst du nicht, dass du Erde bist, und ein
zweifüssig Tier??! ‒ ‒
.Wie könntest du dich denn vereinen wollen,
dem, das als Herr alles Äussere und alles
Innere beherrscht!?! ‒'
.Und ich liess mich gar oft von dieser Stimme
täuschen, und vertraute ihr zuzeiten mehr, als
dem Worte der Weisheit...
69 Das Buch der Gespräche
.Ich ward klein und erbärmlich vor mir selbst,
weil ich der zweiten Stimme glaubte und der
Furcht erlag, ‒ ‒ der Furcht vor jener höch
sten aller Kräfte, die sich selbst mir geben
wollte. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.So sank ich in Leid und Qual zurück, und ver‐
gass, was mir geworden war in jenen Stunden,
da ich dem Geiste mich vereinigt hatte. ‒ ‒
.Nun aber ward mir, nach abermaligem, lan‐
gem Irren, doch der Tag geboren, an dem zu
dauerndem Erleben werden sollte, was
früher nur als 'Gabe' und 'Erleuchtung' zu
mir kam...
.Nun erst ward ich selbst zu lebendigem
Licht! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Ich weiss nicht mehr, was ich vorher war,
und ich will es nicht wissen!
.Mag ich ein Leichnam gewesen sein, der
in den Gräbern hauste und von dem sich
ekle Maden nährten, ‒ oder war ich nur ein
Gespenst meiner selbst, ‒ ‒ genug, dass ich
70 Das Buch der Gespräche
nun weiss, wer ich bin, und es nie mehr ver‐
gessen kann. ‒ ‒ ‒
.Ich glaube, es war nur ein kleines Leid
dieser Erde, das mir so unendlich gross er‐
schien, dass es die ganze Welt vor meinem Auge
verdeckte. ‒ ‒
.Diesem kleinen Leide aber danke ich die Ge‐
nesung!
.Als mir die ganze Welt versunken war in
grauer Trübsal, da fand ich endlich ‒ mich
selbst, obwohl ich ja längst schon im Wahne
gewesen war, 'mich selbst' gewisslich gefunden
zu haben...
.Aber ehedem hatte ich mich zwar so manches‐
mal gefunden, für Augenblicke und geseg
nete Stunden, ‒ ‒ dann jedoch ent-zweite
ich mich wieder, und der Andere, der ein Ge‐
spenst oder ein Leichnam war, nahm von mir
aufs neue Besitz. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Nun endlich ward mir die Kraft, den An
deren schonungslos zu erwürgen, wie sehr er
auch bitten und winseln mochte, als er merkte,
dass ich ihn nicht länger in mir dulden wollte.
71 Das Buch der Gespräche
.So bin ich endlich in mir selber auferstan
den! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Erschauernd fühle ich jetzt, was ich einstens
gewesen war! ‒ ‒
.In eigenem Lichte leuchtend, nicht begrei‐
fend, weiss ich nun:
.wer ich bin ‒ ‒ ‒
.Ich, der ich nun 'Ich selbst' geworden bin,
und niemals mehr einem andern ausser mir
dienen kann...
.Seit jener Zeit erst weiss ich auch anderen
zu befehlen und sie gehorchen mir, weil sie
fühlen, dass einer hier befiehlt, der befehlen
darf. ‒
.Vorher aber musste ich nur befehlen, und
man gehorchte mir nur mit Ingrimm und Wider‐
willen, weil ich, wie so mancher, dem es geboten
wird, kein Recht zum Befehlen hatte. ‒ ‒ ‒»
‐‐‐‐‐‐‐‐
72 Das Buch der Gespräche
VON DEN ÄLTEREN BRÜDERN
DER MENSCHHEIT
.Du wirst gewiss schon lange die Frage auf den
Lippen tragen, wie ich wohl selbst jenen We‐
nigen nahekam, von denen ich dir so manches
in meinen Büchern sage?
.Du wirst wissen wollen, wie diese Menschen
zum allerersten Male in mein Leben traten,
lange bevor ich auch nur ahnen durfte, dass ich
einstmals einer der ihrigen werden sollte. ‒ ‒
.Ich fürchte, die allererste Begegnung würde
von dir in das Reich der «Halluzinationen»
verwiesen werden, wenn sie in gleicher Weise
in deinem Leben erfolgen sollte, wie sie bei mir
im frühesten Kindesalter sich ereignete?!
‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Vielleicht bist du recht wenig geneigt, zu
glauben, dass es eine Möglichkeit gibt, diesen
Körper von Fleisch und Blut zu verlassen, ohne
zu «sterben», und dass jene Wenigen, die das
73 Das Buch der Gespräche
vermögen, in ihrem fluidischen Leibe fast
mit Gedankenschnelle die grössten Reisen aus‐
zuführen imstande sind, dass sie an bestimmten
Stellen und unter ganz genau gegebenen Be‐
dingungen sich unter Umständen sichtbar,
fühlbar und hörbar machen können, so dass
du sie niemals von «Menschen in Fleisch und
Blut» zu unterscheiden vermöchtest!? ‒ ‒ ‒
.Trotzdem ist dieses «Können» keineswegs nur
auf die legitimen Meister der «Weissen Loge»
beschränkt, und gar manche Sage mag der Be‐
tätigung solchen «Könnens» ihren Ursprung
danken. ‒ ‒
.Du kannst nicht einmal mit absoluter Sicher‐
heit behaupten, dass solches «Können» dir
selber ferne läge, denn manche Menschen üben
es unbewusst, was soviel sagen will, dass ihr
Gehirnbewusstsein in tagwachem Zustand
nichts von ihrem Tun im äusseren Zustand
tiefen Schlafes ahnen kann...
.Hier sind wir auf einem Gebiete, von dem
unsere westliche Wissenschaft noch nicht die
Grenzgebiete kennt und das sie wohl auch
niemals genauer kennenlernen kann, denn die
Bedingungen zur Erforschung verlangen hier
74 Das Buch der Gespräche
den ganzen Menschen und nicht nur den
Verstand. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Wo aber «wissenschaftlich» nichts «festge
stellt» wurde, da existiert nun einmal auch
für die meisten Menschen nichts, und ich bin
weit entfernt davon, es dir zu verübeln, wenn
du es in dieser Hinsicht mit der Mehrzahl halten
willst.
.Ich weiss nicht, ob ich nicht ohne meine
eigene Erfahrung in gleicher Weise denken
würde. ‒
.So aber kann ich dir sagen, dass derartige
Dinge nicht nur «möglich» sind, sondern sich
viel häufiger ereignen, als man selbst in recht
«überzeugten» Kreisen vielleicht glaubt...
.Der erste Bote jener Gemeinschaft, der ich
heute angehöre, kam in mein Leben auf diese
Art, als ich noch kaum das Alphabet beherrschte.
.Erst hielt ich ihn für einen Bettler, dem die
Mutter öfters Suppe gab, dann aber ‒ und fast
scheue ich mich, davon zu reden ‒ ‒ als er wieder
und wieder zu mir kam, bei geschlossenen Tü‐
ren, und plötzlich vor mir stehend in Feld und
Wald, wie er ebenso plötzlich verschwand,
75 Das Buch der Gespräche
suchte sich mein kindlicher Verstand eine an‐
dere Erklärung, der auch mein alter Freund und
Beschützer in grosser Weisheit seine Zustim‐
mung gab, obwohl sie, streng genommen, irrig
war.
.In einer frommen Mutterhand erzogen zu
einem Glauben, der «Heilige» am «Throne
Gottes» kennt, glaubte ich, jener Bote der
hohen Gemeinschaft könne wohl niemand an‐
derer sein, als eben ein «Heiliger», und gerade
der, den ich besonders verehrte, und den ich
gerne in gleicher Gestalt mir vorstellen mochte,
in der mir mein geistiger Führer «erschien».
.Die traditionellen Bilder des «Heiligen»
konnten mich nur in meinem Glauben bestär‐
ken, und als ich dann schliesslich den Mut zur
Frage fand, hörte ich aus dem verehrten Munde
des alten seltsamen Freundes die Worte: «Du
hast recht, mein Kind, und später wirst du
noch mehr von mir wissen!» ‒ ‒ ‒
.Ich deutete diese Antwort in kindlicher Weise
als uneingeschränkte Bejahung, hütete mich
aber, irgendeinem Menschen etwas zu verraten,
denn der alte Freund hatte mir gesagt, sobald
ich von den Begegnungen sprechen würde,
76 Das Buch der Gespräche
könnte er nicht mehr zu mir kommen,
und ich hatte ihn bereits so liebgewonnen, dass
mir nichts entsetzlicher gewesen wäre, als ihn zu
verlieren.
.Vielleicht hätte es selbst dieser Warnung
nicht bedurft, denn die Furcht vor allerlei mög‐
lichem Spott hätte mir auch ohne sie den Mund
verschlossen.
.Im Laufe der Zeit wurde mir das plötzliche
Auftauchen und Verschwinden dieses Freundes
derart selbstverständlich, dass ich gar nicht auf
den Gedanken kam, wie seltsam doch die ganze
Sache von andern Geschehnissen sich unter‐
scheide.
.Als ich einige Jahre älter war, wurden seine
«Besuche» jedoch immer seltener und blieben
schliesslich völlig aus, was mich mit tiefstem
Schmerz erfüllte, denn ich glaubte nicht anders,
als dass meine jugendlichen «Untaten» dies ver‐
schuldet haben müssten.
.In erzieherischem Sinne wirkte dies eine
Weile recht gut, als ich aber sah, dass alle meine
Versuche, recht «brav» zu werden, doch nichts
halfen, gab ich sie auf, und führte mein Wald‐
und Wiesenleben wie jeder andere ungebärdige
77 Das Buch der Gespräche
Junge, so dass ich den alten Freund von ehedem
fast völlig vergass. ‒
.Erst viel später wieder tauchte plötzlich in
mir die Empfindung auf, er müsse mir dennoch
nahe sein, und diese Empfindung war stets von
einem Glücksgefühl begleitet, das schwer be‐
schreibbar ist.
.Mancherlei äussere Erlebnisse liessen mich
deutlich fühlen, was er für gut hielt und was er
vermieden wünschte, aber ‒ ‒ ich sah,
hörte und berührte ihn nicht, so wie es
ehedem war. ‒
.Fast möchte ich sagen: er war wie in mir,
oder als ob er «hinter mir» stünde...
.So vergingen weitere Jahre, bis ich eines
Tages, unter Umständen, die auch einem mehr
mysteriös veranlagten Gemüt als dem meinigen,
genügend «mystisch» erschienen wären, aufs
neue die Bekanntschaft jenes alten Freundes
machte.
.Diesmal in wesentlich anderer Art. ‒ ‒
.Es erschien ein Besucher bei mir, ‒ dem ersten
Blicke nach fremd, aber in der zweiten Sekunde
schon ‒ ‒ nur zu wohl vertraut.
.Diesmal nicht in den mir früher so merkwür‐
78 Das Buch der Gespräche
dig erschienenen orientalischen Gewändern, son‐
dern in europäischer Art gekleidet, mit jener
etwas nachlässigen Eleganz, in der zuweilen
Orientalen europäische Kleidung zu tragen
pflegen.
.Nun wurden mir Pflichten aufgetragen, die
eine völlige Geheimhaltung der Begegnung,
wenigstens der geliebten Frau gegenüber, die
mein Leben bereits in recht jungen Jahren teilte,
nicht mehr möglich erscheinen liessen.
.Meine Lebensgefährtin gehörte zu den ersten
Frauen, die sich das Recht auf Hochschul‐
studium erzwungen hatten, und sie war durch‐
drungen von einer durchaus skeptischen, mate‐
rialistischen Philosophie.
.Briefe, die ich dazumal an sie richten musste,
da sie bei jenem ersten Besuche abwesend war,
erfüllten sie mit unsäglicher Angst vor der Mög‐
lichkeit einer plötzlichen «geistigen Erkran‐
kung» bei mir, und nur die nüchterne Erwä‐
gung, dass dieser «Wahnsinn» denn doch zu
viel «Methode» habe, verscheuchten schliesslich
die, für ihre Weltanschauung recht naheliegen‐
den Bedenken...
.Sie sollte später selbst den Besucher, und
79 Das Buch der Gespräche
noch andere seiner Art, leibhaftig kennen
lernen und konnte damals noch nicht ahnen,
dass ihr diese Besucher zu hochverehrten
Freunden werden würden. ‒ ‒ ‒
.Durch sie angeregt fand sie manche Klarheit
über gar vieles, das ihr in den Schriften des
Altertums früher als «sagenhaft» erschienen
war, und soweit eine Frau okkulten Gesetzen
entsprechen kann, entsprach sie ihnen, um jene
'Schätze' zu heben, die in den Mysterien der
Antike beschlossen waren, und sie fand mehr,
als sie erwartet hatte. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Ihr früher Tod liess den Plan nicht zur Aus‐
führung kommen, auf ihre Weise über das was
sie gefunden hatte, zu berichten...
.Ich aber kann dir nur sagen, dass die Myste
rien der Antike auch heute noch nicht
erloschen sind, auch wenn sie in den damals
verstandenen Formen nicht mehr existieren.
.Ich kann bezeugen, dass es einen Akt der
«Einweihung» gibt, von dem kein gedrucktes
oder geschriebenes Buch mehr, als nur dunkle
Andeutungen geben kann...
.Ich weiss von einer «Bruderschaft», der ich
selber zum Bruder werden musste, da ich dazu
80 Das Buch der Gespräche
geboren war, ‒ und die den Ausgangspunkt dar‐
stellt für alle Gemeinschaften, die nach höch
ster Geisteserkenntnis jemals auf dieser
Erde strebten. ‒
.Wir sind sehr wenige!
.Was wir sagen dürfen, geben wir gerne der
Welt, aber darüber hinaus sind wir durch kos‐
misches Gesetz zu ewigem Schweigen ver‐
pflichtet. ‒ ‒
.In früheren Jahrhunderten standen auch im
Abendlande viele bedeutende Menschen in
recht naher Beziehung zu unserer Gemein‐
schaft, ‒ vom Philosophen bis zum Heerführer,
vom Mönch in seiner Zelle bis zum Kardinal am
Hofe der Päpste...
.Zu gegenwärtiger Zeit wirst du die Menschen,
die mit uns in geistiger Verbindung stehen, mehr
im weiten Morgenlande suchen müssen, und
viele sind darunter, denen es wenig gefällt, dass
die Gemeinschaft nun durch mich in klarer
Sprache sich auch wieder an die Menschen des
Westens wendet.
.Dies musste aber geschehen, und mir ward
der Auftrag dazu, da in den Ländern des
Westens mehr oder minder verzerrte, mehr
81 Das Buch der Gespräche
oder minder märchenhafte Gerüchte über das
Dasein einer solchen «Bruderschaft» in Umlauf
kamen, und zwar durch gutgläubige Menschen,
die wohl annehmen konnten mit uns in Verbin‐
dung zu stehen, da sie durch seltsame Heilige,
deren es im Orient gar mancherlei Arten gibt, zu
diesem Glauben verleitet worden waren, ‒ nach‐
dem eine Frau, die ein mediales Phänomen
erster Ordnung war, von dem Bestehen der
«Bruderschaft» Kunde erhalten hatte.
.Es gibt auch noch andere Zirkel in aller
Welt, die an ihren Ausgangspunkten uns
nicht ferne standen. ‒
.Wir sehen ihre Vertreter heute auf Abwegen
und Irrwegen.
.Wir müssen zusehen. ‒ ‒ ‒
.Wir dürfen nur allen geben, was allen ge‐
geben werden kann.
.Wir dürfen nur den Weg zeigen, der zu un‐
serer Einflussphäre in geistiger Weise führt. ‒
.Du darfst dich nicht zu dem Glauben verlei‐
ten lassen, als ob das persönliche Hervor‐
treten eines Gliedes der «Bruderschaft» der
Menschheit den Nutzen bringen könnte, den sie
durch uns erlangen kann!
82 Das Buch der Gespräche
.Wir sind in unserem persönlichen Verhal‐
ten in der Aussenwelt durch mancherlei
strenge Gesetze an Händen und Füssen ge‐
bunden.
.Wir selbst könnten in persönlicher Nähe
weniger geben, als so mancher, der nur unsere
Lehre kennt und sie begriffen hat, ohne aber
durch unsere Gesetze gebunden zu sein. ‒
.Eine Übertretung dieser Gesetze, die bei
persönlichem Wirken in der Aussenwelt fast
völlig unvermeidlich wäre, würde früher oder
später durchaus vermeidbare Opfer fordern,
und solche «Opfer» nach aller Möglichkeit zu
vermeiden, ist alleroberstes Gesetz für
uns. ‒ ‒ ‒
.Von dem Wege, der in die geistige Einfluss‐
sphäre der «Bruderschaft» führt, von ihrer Art
und ihren kosmischen Zusammenhängen
habe ich genugsam in meinen Büchern gespro‐
chen.
.Wenn du den Weg gehen willst, wirst du
auch gewiss einst das Wirken der geistigen
Kräfte bezeugen können, die von der Gemein‐
schaft als einem organischen Ganzen ge‐
leitet werden.
83 Das Buch der Gespräche
.Sie gehen nicht etwa von uns aus!
.Wir sind nur ihre berufenen Leiter und Ver‐
mittler!
.Hüte dich aber, mit diesen Kräften «spielen»
zu wollen!
.Wer sich hier nicht der Tragweite dessen be‐
wusst ist, was er tut, der treibt ein gefährli
ches Spiel! ‒ ‒ ‒
.Du darfst auch das, was du durch uns fin
den kannst, nicht wie eine «Wissenschaft» die‐
ser Erde betrachten und suchen. ‒
.Glaube auch nicht, dass «Askese» oder
Pflanzennahrung, Abstinenz vom Al
kohol, oder Sexualabstinenz, noch irgend
eine absonderliche Lebensweise zur Er‐
langung des Zieles etwa «nötig» oder auch nur
nützlich sei!
.Alle solche asketischen oder abergläubigen
Gepflogenheiten, die dazu führen sollen, ein
geistiges Ziel zu erreichen, sind Auswüchse
einer der unwürdigsten und unfruchtbar
sten Weltanschauungen, die nichtsdestoweni‐
ger unter allen Völkern und in allen religiösen
Gewändern einherstolziert. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Wer aber zu uns kommen will, damit wir
84 Das Buch der Gespräche
ihm auf geistige Weise geben können, was
er sucht, der sei ein nüchterner, gütiger, stiller,
aber ‒ ‒ erdfarbener Mensch! ‒ ‒ ‒
.Ihn wird die hohe Gemeinschaft gewiss zu er‐
reichen wissen.
.Er wird ihrer Gaben an jedem Orte der Erde
und in jedem Zustand äusseren Lebens teilhaft
zu werden vermögen, und dies umso eher, je
mehr er sich bemüht, vor allem, was er geistig
erstrebt, seine irdischen Pflichten gegen
sich selbst, gegen seine Nächsten im engeren
Sinn, und gegen die Menschheit im allgemeinen,
zu erfüllen. ‒ ‒
‐‐‐‐‐‐‐‐
85 Das Buch der Gespräche
MAGIE
.Das flimmernde, körperhaft weisse Mondlicht
des Südens rann herab über die Felsschründe
der kahlen Berge und füllte das weite Tal mit
seinen Olivenwäldern wie einen See.
.Die Marmorsäulentrümmer des verfallenen
Heiligtums leuchteten wie Opale, und auf den
Fliesen lag eine seidene Decke bläulich-weissen
Leuchtens, so dass es den Anschein hatte, als sei
alles bedeckt mit frisch gefallenem Schnee.
.Die beiden Männer durchschritten schweigend
die heiligen Stätten der Vorzeit, bis sie zu den
Fundamenten eines alten Tempels gelangten
und dort sich niederliessen.
.«Diesen Tempel», sprach der eine der beiden
Männer, «hat einst, vor Jahrtausenden, einer
der unseren begründet, und manches Jahr‐
hundert hindurch standen seine Priester unter
unserer Leitung...
.In der Sage des Volkes hiess es dann später,
86 Das Buch der Gespräche
einer ihrer Götter sei der Gründer des Heilig‐
tums gewesen.
.Der Ort, an dem wir lagern, ist heute noch
geheimnisvoll, nur wissen die Menschen dieser
Zeit nichts mehr von seinem Geheimnis...
.Wo immer einer der unseren in alter Zeit ein
solches Heiligtum begründete, dort suchte er
sich eine Stätte, an der es gelingen konnte, ge
wisse fluidische Kräfte der Erde zum
Überquellen zu bringen, was durchaus nicht an
allen Orten auf diesem Planeten möglich ist.
.Heute sind diese Quellen fluidischer Kräfte
zwar an den meisten dieser Orte längst versiegt,
aber noch immer sind die Kräfte, die einst hier
wirksam werden konnten, an solchen Orten wie
auf einen Anziehungspunkt konzentriert, die
Kräfte folgen noch den gleichen Bahnen, die
einst den Schöpfer des Heiligtums bewogen
hatten, an dieser Stätte einen Tempel zu be‐
gründen und Priester zu heiligem Dienste heran‐
zubilden.
.Die Priester dieser Tempelheiligtümer waren
keineswegs von Anfang an jene «Betrüger», für
die man sie heute halten muss, da man nichts
mehr von den geheimnisvollen Kräften ahnt,
87 Das Buch der Gespräche
die an solchen Orten zur Betätigung kamen,
durch eine wahrhafte Magie, von der die Welt
nur noch den Namen kennt und ihn dem Be‐
trug und der Täuschungslust als Mantel ver‐
liehen hat...
.Es gab eine wahrhaftige hohe Magie, und es
gab magische Stätten auf dieser Erde, ja,
man könnte sie jetzt noch finden, wenn man zu
suchen wüsste.
.Dieses «Suchen» jedoch ist den Menschen
der heutigen Zeit nicht mehr möglich, denn
sie haben allmählich die Kräfte in sich verküm‐
mern lassen, die sie zum erfolgreichen Suchen
benötigen würden. ‒ ‒
.Der Mensch ist enger mit den Kräften der
Erde verbunden, als er, dem blossen Augen‐
schein zu sehr vertrauend, glauben kann.
.Unzählige Kräfte dieser Erde wären ihm un‐
tertan, wenn er in sich jene Macht zur Ent‐
faltung bringen würde, der diese Kräfte Gehor‐
sam leisten müssen...
.Wenn man es lehren könnte, diese Macht in
sich zu entfalten, dann würde gar bald alle Welt
zu eines solchen Lehrers Füssen sitzen. ‒
.Die Entfaltung dieser Macht ist aber an ein
88 Das Buch der Gespräche
inneres Wachstum gebunden, und bevor es
nicht im Innersten eines Menschen licht und
klar geworden ist, so dass er bei geschlossenen
Augen alles was er sehen will, in sich selber
sieht, kann er die Macht in sich nicht finden,
noch jemals gebrauchen lernen.
.Er ahnt nicht einmal wovon man spricht,
auch wenn man ihm von der Macht in seinem
eigenen Innern redet. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Auch wenn man von dem 'Sehenkönnen bei
geschlossenen Augen' zu sprechen wagt, weiss
keiner, was das ist, und die meisten glauben,
sie vermöchten das längst, weil sie die Gebilde
ihrer Phantasie mit wahrer Innenschau ver‐
wechseln. ‒ ‒
.Was es heisst, dass alles im Innern klar und
leuchtend werden müsse, vermögen sie nie‐
mals zu erfassen, und sie glauben, dass die
Klarheit des Verstandes, das logisch auf‐
gebaute Denken, ‒ diese Klarheit sei. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Sie ahnen noch nicht, dass es über diesem
vielgepriesenen 'Denken' das für immer zu
Ende ist, wenn der Erdenleib zerfällt, noch ein
anderes Denken gibt, bei dem der Gedanke
selbst lebendig und seiner bewusst wird, so dass
89 Das Buch der Gespräche
er, losgelöst von allem erdgebundenen 'Den‐
ken' sich selbst zu denken vermag. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Da gibt es kuriose 'Lehrer' in meinem Lande,
und sie fanden auch den Weg zu euch ins Abend‐
land, ‒ die ihre Schüler dazu erziehen wollen,
'die Gedanken zu beherrschen' und sie sehen
darin alles Heil, weil sie eine leise Spur der
Wahrheit gefunden haben, und entdeckten,
dass irgend etwas hier mit dem Gedanken
zusammenhängt...
.Wenn diese Törichten fassen könnten, dass
kein Mensch je zur Wahrheit gelangen kann,
in dem nicht der lebendige, seiner selbst
bewusste Gedanke aus dem Schlafe er
wacht, und Herr und Meister wird, dann
würden sie voll Entsetzen sehen, wie sie sich
selbst und andere einer zwecklosen Marter
unterwerfen, die schon so manchen an den Rand
des Wahnsinns, wenn nicht zu völliger Um
nachtung seines Denkens führte...
.Sie lassen ihre Schüler stille sitzen und sich
auf einen einzigen Gedanken des Gehirns nun
'konzentrieren'.
.Sie wollen es soweit bringen, dass sie selbst
90 Das Buch der Gespräche
und ihre Schüler minutenlang und länger ohne
jeden Gedanken zu verharren vermögen, und
glauben so das Licht der Wahrheit endlich zu
empfangen.
.Alles aber, was sie so erreichen, ist eine Zer
rüttung der Nerven und des Gehirns in
diesem physischen Körper. ‒ ‒
.Die 'Erlebnisse' geistiger Art, die sie zu haben
vermeinen, sind niemals etwas anderes, als die
Ergebnisse der widernatürlichen Reizung ihrer
physischen Nerven. ‒ ‒ ‒»
.«Demnach», sprach der andere, «sollte man
doch eigentlich vor aller 'Gedankenkonzentra‐
tion' und aller Beherrschung des 'Gedanken‐
lebens' lieber warnen?! ‒»
.Doch jener, der zuerst gesprochen hatte, fiel
ihm in die Rede und liess sich also vernehmen:
.«Mitnichten, mein Freund!! ‒
.Es kommt nur darauf an, was man er
reichen will, und wie man diesen Rat ver‐
steht! ‒ ‒
.Wenn es sich nur darum handeln soll, jenes
'Denken' das durch die Vermittlung subtilster
physischer Organe, also durch das Gehirn
91 Das Buch der Gespräche
bewerkstelligt wird, und durch die gleichen Or‐
gane 'bewusst' zu werden vermag, von seinem
planlosen Schweifen abzubringen, dann
magst du stets empfehlen, alle Mittel anzuwen‐
den, um diese 'Gedanken' die nur Reflexe des
wirklichen Gedankens in den abertausend
Facettenspiegeln der Gehirne sind, jeweils auf
einen Punkt zu sammeln.
.Der denkende Mensch, der an sich noch nichts
anderes ist als ein höher geartetes 'Tier' wird
die Fähigkeit, auf solche Weise die Arbeit seines
Gehirns zu bestimmen, auf dieser Erde sehr
wohl gebrauchen können.
.Auch sollst du ihn lehren, seine 'Gehirn‐
gedanken' an Gehorsam zu gewöhnen, so dass
er nicht ihr Sklave wird. ‒
.Er soll lernen, jene Gedanken festzuhal
ten, die sein Tun bestimmen dürfen, allen
anderen aber keine Beachtung zu schen‐
ken. ‒ ‒
.Er soll wissen, dass er nur seine Nerven zu‐
grunde richtet, wenn er unfruchtbare oder ver‐
derbliche Gedanken durch Kampf gegen sie,
aus sich entfernen will, dass er aber leicht ihr
Herr wird, wenn er sie völlig unbeachtet
92 Das Buch der Gespräche
lässt, wie sehr sie auch immer wieder sich in sein
Bewusstsein einzudrängen versuchen.
.Er muss wissen, dass er niemals, es sei denn
auf Kosten seiner Nerven, ohne Gedan
ken sein kann, dass es aber in seiner Macht
steht, den gewollten Gedanken sich hinzu‐
geben und die ungewollten dabei in aller
Ruhe, wie Bilder, die ihm nichts mehr zu sagen
haben, an sich vorüberziehen zu lassen. ‒ ‒ ‒ ‒
.Solche stete Übung, die dann allmählich zur
Gewohnheit wird, schafft Ruhe und Ordnung
im Denken, das des Gehirns bedarf, und diese
Ruhe und Ordnung ist erste Vorbedingung,
will der Mensch einst dahin gelangen, den sich
selbst bewusst empfindenden, lebendigen
Urgedanken aus seinem Schlafe zu erwecken.
.Hat er ihn erst in sich erweckt, was allerdings
unter Zehntausenden kaum einem gelingt, nur
weil so wenige wagen, ihn zu erwecken, ‒ dann
wird ihm alles 'Denken' wie er es vorher
gleich allen andern allein vermochte, nur wie
der Schatten eines Lichtes erscheinen, das er
bis dahin kaum in seinen fernsten Strahlen er‐
ahnte. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒»
.«Alles, was du sagst, o Verehrungswürdiger»,
93 Das Buch der Gespräche
begann nun der andere zu erwidern, ‒ «alles,
was du sagst, kann ich ja aus eigener Erfah‐
rung, wie sie durch deine grosse Güte mir zuteil
wurde, selbst bestätigen.
.Ich würde dir aber Dank wissen, trotz allem,
was mir selber kund geworden ist, wenn ich
aus deinem Munde, solange wir noch in irdi‐
scher Nähe sind, vernehmen könnte, wie du
selbst die Macht, die im Menschen verborgen
liegt und die uns in steter Weitergabe übertra‐
gen wurde, die Macht über geheime
Kräfte der Erde, in menschlichen Worten
darzustellen weisst.»
.Und der Erhabene sprach:
.«Glaube nicht, dass ich den Faden meiner
Rede verloren hätte!
.Ich wollte dir nur an diesem heiligen Orte und
in dieser Stunde den Weg der Worte weisen,
den du befolgen sollst, willst du den Menschen
des Westens von jener hohen, wahren Magie
berichten, die du nun selber kennst und von der
sie glauben, dass sie nur Ausgeburt des from‐
men Truges und gemeiner Täuschung sei.
.So musste ich nun die deutliche Unterschei‐
dung setzen zwischen dem, was die Menschen
94 Das Buch der Gespräche
'Denken' nennen und dem lebendigen, sei
ner selbst bewussten Gedanken, der in uns,
die wir ihn erweckten, aller 'Meister' Meister
ist, da doch nur er allein jene Macht uns gab,
durch die wir geheimen Kräften der Erde ge‐
bieten können.
.Sage nun aber den Menschen des Westens,
dass sie diese Macht in irriger Weise ver‐
stehen, ‒ sage ihnen, dass keiner aus ihnen diese
Macht erlangen kann aus sich selbst, ‒
dass nur einer ist, der den Schlüssel zu dieser
Macht in Händen hält, und dem auch wir sie
danken, ‒ dass aber auch wir sie nicht empfan‐
gen hätten, wäre nicht vorher in uns der le
bendige, seiner selbst bewusste Ge
danke aus seinem vieltausendjährigen Schlafe
erwacht, wäre er nicht in uns zu unsterbli
cher Herrschaft und Herrlichkeit ge‐
langt! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Die Menschen glauben noch immer, diese
Macht sei Folge einer äusseren Tätigkeit,
verlange von dem, der sie besitzt, die Ausübung
'magisch' genannter Künste, und ihre Wirkung
sei an 'Riten' und 'Zeremonien' gebunden.
.Du sollst nicht verbergen wollen, dass es auch
95 Das Buch der Gespräche
eine Art niederer und nur zeitweiliger Herr‐
schaft über gewisse geheime Kräfte der Erde
gibt, die durch solcherlei Übung bewirkt wer‐
den kann, ‒ allein du sollst mit aller Deutlich‐
keit auch verkünden, dass alles dies keines
wegs mit jener Macht über Kräfte dieser Erde,
und durch sie über kosmische Kräfte, in Be‐
ziehung steht, die man als die erhabene Magie
des Geistes bezeichnen darf. ‒ ‒ ‒
.Die 'Magie' die durch äussere Mittel,
durch 'Riten' und 'Zeremonien' wirkt, und an
die Ausübung gewisser äusserer Verrich
tungen gebunden ist, steht in dem gleichen
Verhältnis zur Magie des Geistes, wie der
'Gedanke' der das Gehirn zu seiner Darstel‐
lung gebraucht, zu dem ewigen, seiner
selbst bewussten und sich selbst denken‐
den Gedanken. ‒ ‒ ‒
.Versuche es, den Menschen des Westens Klar‐
heit darüber zu geben, dass das einzige Wir‐
kungsmittel der göttlichen Magie des Geistes
der Wille ist, den kein Wunsch mehr be
herrscht, und dass dieser Wille über weite
Reiche der geheimen Kräfte der Erde gebietet
durch sich selbst. ‒
96 Das Buch der Gespräche
.Schenke ihnen Klarheit darüber, dass wir
selbst uns in enge Bindung an ewige Gesetze
geben mussten, als wir diesen wunschlosen
Willen in uns erlangten, dass wir in keiner
Weise mehr tun können, 'was wir wollen',
wobei der Mensch der Erde gemeinhin sein
Wünschen als Wollen fasst, sondern dass wir
uns einem ewigen Willen einen mussten, der
nun in unserem Willen sich selber will, ohne
Rücksicht auf unsere Wünsche, wenn sie ihm
entgegenstehen wollten. ‒ ‒
.Sage den Menschen, die du lehren magst, dass
wir alle unsere Wünsche dem ewigen Willen
ein für allemal unterordnet haben, so dass
unser Wille frei ist von jedem Wunsch und
nur aus sich selber wirkt, im Dienste des
ewigen Willens und aufs innigste mit ihm
vereint...
.Man wird dich schwerlich gleich richtig ver‐
stehen, denn allzusehr sind die Menschen, unter
denen du wirken sollst, daran gewöhnt, jede
neue Lehre in die Formen alter Lehren einzu‐
pressen, bis sie ihnen als alte Lehre 'verständ‐
lich' erscheint.
.Zwar gibst du ihnen die älteste Geistes
97 Das Buch der Gespräche
lehre der Welt, allein, du darfst niemals ver‐
gessen, dass Elemente dieser Lehre sie zu jeder
Zeit erreichten, und dass sie aus diesen Elemen
ten sich allezeit Lehren schufen, die Irrtum
und Wahrheit in krausem Arabeskenspiel
vermengen.
.Ich zweifle auch nicht daran, dass viele ihrer
neuesten Lehrer uralter 'Weisheit' mit Freu‐
den der Wahrheit dienen würden, wenn sie die
Wahrheit nur zu erkennen vermöchten, und
nicht befangen wären in dem Wahn, die Wahr‐
heit sicher zu besitzen.
.Es wird deine eigene Aufgabe sein, dich von
solchen 'Lehrern' sorglichst und klar erkennbar
zu scheiden, und wie du weisst, teilen wir in
keiner Weise deinen menschlich so verständli‐
chen Glauben, dass die von jenen Lehrern Be‐
lehrten am besten vorbereitet seien, die Wahr‐
heit zu empfangen.
.Willst du unter diesen Menschen irrtumsbela‐
denen Wissens deine Schüler suchen, so wirst du
es tun auf eigene Gefahr und mit persön
licher Verantwortung. ‒
.Obwohl du nun mit uns in organischer
Geistesgemeinschaft vereinigt bist, müs‐
98 Das Buch der Gespräche
sen wir dir jede persönliche Freiheit lassen,
aber nur du allein trägst in diesen Dingen
die Verantwortung.
.Willst du unserem Rate hier nicht entspre‐
chen, so mag es immerhin geschehen, und auch
deine spätere Erkenntnis, dass wir dich recht
beraten hatten, wird dir zur Förderung die‐
nen, die mancher Enttäuschung wert erschei‐
nen darf. ‒
.Wir raten dir, ‒ wende dich mit deiner Lehre
an alle, die du erreichen kannst, so wie
der Regen über fruchtbare Gefilde und über
steiniges Felsenland herniederströmt!
.Auch in steinigter Einöde harren Pflanzen‐
keime der Entfaltung...
.Es darf dich wenig bekümmern, ob du von
den einzelnen weisst, die durch deine Lehre
zur Wahrheit finden, oder nicht. ‒ ‒
.Deine Aufgabe ist, die Weisheit des innersten
Ostens, die so lange verhüllt und verborgen
war, den Menschen des Westens in deiner Weise
aufzuzeigen.
.Du weisst, dass andere aus uns, die stets in
völliger Verborgenheit leben, die Aufgabe ha‐
ben, jene jungen Keime aufzusuchen, die
99 Das Buch der Gespräche
durch den befruchtenden Regen deiner Lehre
in den Ländern des Westens nun ihrer Entfal‐
tung entgegenstreben!
.Du darfst dich nicht verleiten lassen, durch
wen immer es auch sei, dir selbst eine Auf
gabe zu erteilen, die wir, die organische
geistige Einheit der hohen Gemeinschaft, dir
nicht übertragen haben. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Du darfst dich auch nicht entmutigen lassen,
wenn du selbst keine 'Erfolge' deiner Lehre ent‐
decken kannst.
.Du sollst wieder und wieder deine dir ver‐
traute Lehre verbreiten, sollst in den gleichen
und ähnlichen Worten stets wieder die gleiche
Lehre geben, ohne darauf zu achten, wer dir zu‐
hören mag und wer deiner Lehre zu folgen ge‐
sonnen ist.
.Wir wollen, ‒ wir, als organische, geistige
Einheit, ‒ dass du, unser Bruder, den Menschen
des Westens die Möglichkeit gibst, zu erkennen,
dass auch heute noch jene 'Mysterien' leben,
von denen die Gebildeten unter ihnen aus der
Geschichte wissen.
.Wir wollen, dass eine neue Zeit tiefsten
geistigen Lebendigwerdens auf dieser Erde
100 Das Buch der Gespräche
beginnen möge, und wir glauben, dass die Völ‐
ker des Westens einst die reifen Früchte
mit uns teilen werden, die sie aus dem
Samen, den wir durch dich ihnen gaben, er‐
zielen können...
.Du weisst, dass du als irdische Persönlichkeit
nur der Vermittler einer Weisheit sein kannst,
die dir nie geworden wäre, hätte nicht einer
derer, die der Menschheit schon seit Urzeittagen
ihre Hilfe senden, sich mit bewusstem Willen
deinem Geiste geeint, bevor du noch auf
dieser Erde deiner Mutter zum Sohne geboren
wurdest!
.Wir verstehen, dass es dir mehr entsprochen
haben würde, deine Weisheit für dich zu be‐
halten, und still deine Erdenwege zu ziehen,
aber wir müssen dich zum Lehren ver
pflichten, auch wenn wir dir dadurch eine
Bürde auferlegen, die dich zuzeiten sehr be‐
drücken mag. ‒ ‒
.Lehre die westliche Welt, dass die magischen
Kräfte auf dieser Erde nicht verschwunden
sind, und dass sie nur einer neuen Menschheit
harren, um sich aufs neue zu betätigen.
.Lehre alle, die dich fragen, wie sie den magi‐
101 Das Buch der Gespräche
schen Pol in sich selber wieder zum Leben brin‐
gen können.
.Lehre sie, dass Bereitsein, hohen Kräften
zu begegnen, diese Kräfte wieder ins Leben
rufen kann!
.Lehre sie, dass aller Anspruch auf höheres in‐
neres Erleben sich nur auf die innere Hal
tung gründet, niemals auf die Heftigkeit des
Wunsches!
.Lehre sie, dass nur in völliger Ruhe der
Seele die Botschaft des Geistes zu empfangen
ist!
.Lehre sie, dass die Fähigkeiten ihrer
Seele nur zum allerkleinsten Teil sich
ihrem Bewusstsein zeigen!
.Lehre sie, auf nichts sich zu verlassen, als auf
das eigene innerste 'Ich' das alle Hilfe
automatisch herbeizieht, deren es bedarf!
.Alles Vertrauen, so sage ihnen, muss Ver‐
trauen zum Leben, zum eigenen 'Ich' muss
Selbstvertrauen sein!
.Sage ihnen:
.Das 'Ich' ist eure gegebene Quelle
aller Kraft!
.Im 'Ich' nur findet ihr euch selbst!
102 Das Buch der Gespräche
.Im 'Ich' spiegelt sich alles Wirkliche!
.Das 'Ich' ist die Quelle alles Wissens
letzter Wahrheit und Wirklichkeit!
.Das 'Ich' ist das Forum, auf dem ihr
allen Geistern des unendlichen Daseins
begegnen werdet!
.Im 'Ich' ist die Kraft gegeben, die
alle Kräfte meistern lernen kann!
.Das 'Ich' ist ewig still. ‒ ‒
.Wer in die grosse Stille gelangt, der
kann in ihm die höchsten Kräfte fin
den!
.Im 'Ich' findet ihr den allumfassen
den ewigen Geist!
.Im 'Ich' nur kann sich euch euer le
bendiger Gott gebären!
.Der Körper der Erde aber muss glau
ben lernen an das ewige 'Ich'!
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Sage ihnen weiter:
.Niemand kommt zum Bewusstsein
seines ewigen 'Ich' der nicht verges
sen kann, was er vorher war! ‒ ‒ ‒
.'Ich' ist: nicht etwas, ‒ kein Gegen
stand, der ergriffen werden könnte, kein
103 Das Buch der Gespräche
'Wesen' ‒ also ein 'Nichts' aber das
Nichts, das Alles ist: ‒ ‒ die Form der
Einheit alles Seienden!
.Ihr seid wahrhaftig nur in diesem 'Nichts'!
.Wird es von euch als euer 'Ich' empfunden,
dann habt ihr alles, was da ist, gefunden in
euch selbst!
.'Ich'-Bewusstsein ist das Bewusstsein
alles Seins 'Mittelpunkt' in sich selbst zu
tragen. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.So lehre die Menschen der westlichen Welt,
die deiner Lehre sich anvertrauen, und du wirst
sie zu ihrem höchsten Ziele führen.
.Keiner hat das 'höchste Ziel' mit dem an‐
deren gemein.
.Verschieden wie die Sterne des Himmels in
ihrer Grösse sind die 'letzten Ziele'.
.Jeder aber kann hier auf Erden in seiner
Weise das höchste Ziel, das ihm allein be‐
stimmt ist, erreichen!
.Führe alle, die sich dir vertrauen, zu ihren
höchsten Zielen, aber warne sie davor, die
'höchsten Ziele' die nur wenige zu jeder Zeit
erreichen können, als ihre 'höchsten Ziele' an‐
zusehen.
104 Das Buch der Gespräche
.Sage ihnen, dass es genügt, zu seinem
eigenen 'höchsten Ziele' zu gelangen, dass es
aber Verderben bringt, das 'höchste Ziel'
eines anderen zu erstreben, auch wenn es das
eigene 'höchste Ziel' um Himmelshöhe über‐
ragt!
.So führe die Menschen des Westens auf ge
raden Wegen zu jenem Licht, das sie heute
noch auf Schleichwegen suchen, da sie es
nicht anders zu erreichen vermeinen!
.Ich verlasse dich nun in meiner erdenhaften
Form und andere unserer Brüder werden dir be‐
gegnen, um mit dir in irdischen Worten Zwie‐
sprache zu halten.
.Keiner aber wird dir anderen Rat auf dei‐
nen Weg zu geben haben, und du selbst wirst
in kurzer Zeit nach deinem eigenen Rate in
gleicher Weise dir raten, denn wie wir eines
im Geiste sind, so wird auch jeder, der zu uns
gehört, in kurzem eines Sinnes mit uns allen,
in den Dingen, die er selbst allein für sich er‐
wägt. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒»
.Unter solcher Belehrung war der junge Tag
allmählich emporgestiegen und die ersten Strah‐
105 Das Buch der Gespräche
len der aufgehenden Sonne vergoldeten bereits
die Zinnen der Berge.
.Tief unten lag in der Ferne schwarzblau das
südliche Meer.
.Da kamen Leute den Weg entlang gezogen,
der vorbeiführte an der Ruinenstätte des alten
Heiligtums. Sie führten ein Lasttier mit sich
und erwarteten den hohen Meister.
.Dieser aber umarmte seinen jüngeren Bruder
zum Abschied, bestieg das Lasttier und zog mit
jenen Leuten weiter, einem fernen Ziele zu. Der
Jüngere aber, nachdem er den kleinen Zug der
Wanderer noch eine kurze Wegstrecke begleitet
hatte, wandte sich schliesslich mit einem letzten
Gruss zurück und schritt in den ersten Strahlen
der Morgensonne seiner Herberge zu, die Worte
des hohen Bruders in seinem Herzen erwägend,
und bereit, danach zu tun. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.So endet nun dieses «Buch der Gespräche»
damit, dass ich dich teilnehmen liess an einer
Unterredung, deren es viele gab, und die zum
Anlass wurden, dass solche Bücher von mir ge‐
schrieben werden mussten.
.Gar manches Jahr ist seit jener Nacht in den
106 Das Buch der Gespräche
Ruinen eines Heiligtums der alten Welt ver‐
flossen, und längst schon bedarf der dort Be‐
lehrte der Frage nicht mehr...
.Längst ist er seinen Brüdern in allem gleich
geworden. ‒ ‒ ‒
.Noch aber ist die Aufgabe, die ihm wurde,
erst am Beginn ihrer Lösung angelangt.
.Möge auch dieses «Buch der Gespräche» zu
ihrer völligen Lösung beitragen helfen!
.Möge es dir zur Klärung vieler Fragen
dienen! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
107 Das Buch der Gespräche
ENDE
DAS BUCH
VOM
GLÜCK
Verlagslogo
KOBERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG AG
BERN
5.Auflage
Erste Auflage Verlag der Weissen Bücher, München 1920
© 1980 by Kobersche Verlagsbuchhandlung AG,
3001 Bern
(frühere Auflagen daselbst in den Jahren 1928-1972)
ISBN 3-85767-068-1
BÔ YIN RÂ
ist der geistliche Name von
Joseph Anton Schneiderfranken
INHALT Seite
Präludium 3
Die Pflicht, glücklich zu sein 9
«Ich» und «Du» 18
Liebe 34
Reichtum und Armut 46
Das Geld 58
Optimismus 71
Schlußwort 85
Originalscan
PRÄLUDIUM
.Hast Du jemals ein Kind gesehen, das
eine Burg aus Sand erbaute, und fröhlich in
die Hände klatschte als sein Werk vollendet
war? ‒ ‒
.Hier hast Du Deinen Meister gefunden,
Du, den nach Glück verlangt...
.Hier ist ein Mensch, der das Glück ge
funden hat, und so Du nicht suchen willst,
dem Kinde gleich, das Glück zu finden,
wirst Du vergeblich Qual und Durst nach
Deinem Glück erleiden.
.Alles Glück der Erde, und von ihm nur soll
in diesem Buche die Rede sein, ist ein Glück
des Schaffenden ‒ ‒ sei es, daß er in sich
das königliche Reich der Liebe schaffe, sei
es, daß sich sein Werk aus dem Geist ge‐
stalte, sei es, daß materielle Werte seinem
Schöpferwillen in Materie Gestaltung ge‐
ben. ‒ ‒ ‒
3 Das Buch vom Glück
.Die Freude des Schaffenden an seinem
Werke allein ist Glück, und alles, was
Du sonst mit diesem Namen nennen magst,
wird, wenn Du ihm vertraust, Dich sicher‐
lich um wahres Glück, soweit es diese Erde
geben kann, ‒ betrügen...
.Du Liebender, der Du Dein Glück allein
in Deiner Liebe findest, sage mir, was Deine
Liebe Anderes ist als Freude des Schaffen‐
den?! ‒ ‒
.Gefühle sind die Kräfte Deines Schaf‐
fens, und wenn Du wahrhaft «glücklich»
bist in Deiner Liebe, dann hast Du Dir im
Reiche der Gefühle einen Tempel aufer‐
baut, den keiner, außer Dir betreten kann,
und dessen Allerheiligstes das Gottesbild
umschließt, dem Du als Priester Deiner
Liebe dienen willst und Opfer spendest...
.Vielleicht bist Du noch niemals Dir be‐
wußt geworden, hier ein Schaffender zu
sein, ‒ fühlst Dich bemeistert von Gefühlen,
die Dich leiten, oftmals gegen Deinen Wil‐
len, ‒ glaubst Dich in Banden, die Dich
fesseln, wo Du gerne Fesseln tragen willst,
und lebst dem Wahn, dies alles käme nur
4 Das Buch vom Glück
von außen her, und schalte frei mit Dir nach
ewig in das Erdenleben eingewobenen Ge‐
setzen?? ‒
.Du stehst Dir selbst im Lichte, wenn Du
also denken magst! ‒ ‒ ‒
.Wohl folgst Du ewig unbesiegbarem Ge‐
setz, wenn Deine Seele sich dem Strom der
Liebe öffnet, der das All durchfließt, und
mit geheimnisvoller Kraft die Seelen und
die Leiber zueinanderzieht, doch wird die
Folgeleistung Dir nur Glück versprechen,
und Du wirst in Deiner Liebe niemals auch
Dein Glück erreichen, wenn sie nicht
vermag, in Dir den Schaffenden zu wek‐
ken. ‒ ‒
.Was Dich dann wirklich «glücklich»
macht, das ist Dein eigen Werk, ‒ das
Schaffen aus dem Chaos der Gefühle, und
dieses Schaffens Folge: ‒ ‒ jene Harmonie
der Seele, die sich selbst vollendet,
wenn sie sich der anderen Seele schenkt. ‒
.Selbst jener sinnliche Genuß, der unter
Menschen, die kein höheres Verlangen ken‐
nen als den Trieb der Tiere, «Liebe»
heißt, zwingt niederste Gefühle dennoch,
5 Das Buch vom Glück
schaffend sich ein Trugschloß zu erbauen, in
dem sie ihrer geilen Träume Götzenbild, als
Sklaven ihres kurzen «Glückes» sich errich‐
ten.
.Du aber, Du Liebender, der Du wahr‐
haft «glücklich» werden willst, wirst eine
andere Art des Glückes suchen müssen,
und wenn Du ein wahrhaft Liebender
bist, dann wird Dir ein Glück der körper
lichen Empfindung niemals von dem
Glück der seelischen Vereinung trenn‐
bar sein. ‒
.Nur als ein Schaffender kannst Du die‐
ses Glück der Seele finden! ‒ ‒ ‒
.Du läßt Dich immer noch gar leicht be‐
trügen, und erwartest täglich das Nahen des
Glückes von außen her. ‒
.Dem Einen ist es die Liebe eines geliebten
Menschen, dem Anderen ein Werk, das er
erstehen sehen möchte, und wieder Anderen
wird es nur als die Befreiung von des Leibes
Not und Sorge erscheinen.
.Aber wenn auch dies Alles von Dir er‐
rungen wurde, wirst Du am Ende immer
6 Das Buch vom Glück
wieder Dir gestehen müssen, daß noch ein
Weiteres zu Deinem Glücke fehlt, und Du
wirst in Unrast weiter suchen, wo Du vorher
Dich am höchsten Ziele wähntest. ‒ ‒
.Du ahnst nicht, welches Glück das Leben
dieser Erde in sich birgt, und daß es allen
«ewigen» Glückes Unterpfand und Nähr‐
boden ist! ‒
.Sinnlos wird dieser Erde Dasein für Dich
und zu einer Kette täglich sich erneuernder
größerer oder kleinerer Peinigungen, wenn
Du nicht hier auf dieser Erde zu Deinem
irdischen Glücke findest! ‒
.Glaube nicht jenen trostlosen Lehren, die
Dir ein «Glück der Ewigkeit» in Aussicht
stellen, wenn Du auf dieser Erde Glück
verzichtest!
.Auch hier und jetzt, zu dieser Stunde,
da Du dies lesen magst, bist Du mitten in
der Ewigkeit, und was Du jetzt Dir
nicht zu schaffen vermagst, wird Dir kein
Gott in aller Ewigkeit verschaffen können...
.Du wirst erkennen lernen müssen, daß
alles Glück nur Folge einer Fähigkeit ist,
die Du in Dir trägst, und daß Du niemals
glücklich werden kannst, weder jetzt, noch
7 Das Buch vom Glück
in irgend einer anderen Daseinsform, wenn
Du diese Fähigkeit nicht zur Entfaltung
bringen magst, wenn Du träge wartest dar‐
auf, daß Dir einst Dein Glück begegnen
müsse, oder wenn Du gar glaubst, es müsse
als «Belohnung» Deiner Taten Dir von
außen her, als Folge «göttlicher Gerechtig‐
keit», gegeben werden! ‒ ‒ ‒
.Nur als ein Schaffender wirst Du Dein
Glück erringen und für die Dauer Dir er‐
halten!
.Nur was Du Dir selber jetzt in Dir auf‐
erbauen kannst, wird ewig Dir Befriedigung
gewähren!
.Nur wenn Du Dir Glück zu schaffen
weißt, wirst Du in jeder Lebensform zu
Deinem Glücke gelangen! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
8 Das Buch vom Glück
DIE PFLICHT,
GLÜCKLICH ZU SEIN
.Wenige nur auf dieser Erde wissen wahr‐
haft, das Glück an ihre Tage zu fesseln,
und diese Wenigen werden gut tun, nicht
von ihrem Glücke zu reden, soll nicht der
Neid zu ihrem wühlenden Widersacher
werden.
.Unzählige jedoch ersehnen das Glück, ohne
es jemals zu finden, weil sie nicht wissen,
daß sie selbst nur ihres Glückes Schöpfer
werden können.
.Sie streben nach Glück, wie nach einer
verbotenen Frucht, weil sie es finden möch‐
ten als Geschenk, und dennoch dunkel
ahnen, daß es nur zu seinem gerechten Kauf‐
preis zu erwerben ist.
.Von Jugend auf wurde ihnen gesagt, daß
alles irdische Glück eine Gabe des Zufalls
sei, und daß dem Edlen zieme, nicht nach
Glück zu streben.
9 Das Buch vom Glück
.Keine Lehre erreichte je ihr Ohr, die ihnen
von der Verpflichtung sprach, das Leben
dieser Erdentage so zu nützen, daß es eine
Quelle steten Glückes werde.
.Zwar möchten sie alle «glücklich sein»
und jeder versucht es auf eine andere Weise,
aber das Glück soll als Zugabe kommen,
und tausend andere Dinge sind ihnen wahr‐
haft wichtiger als ihr Glück.
.Wer aber das Glück erringen will, der darf
nur nach seinem Glücke streben und alles,
was er sonst noch erreichen möchte, muß
diesem Streben untergeordnet und weise
eingeflochten sein. ‒ ‒
.Kein anderer Wunsch darf seinen Willen
behindern, das größte Glück, das diese Erde
ihm zu geben hat, durch seine freie Tat zu
schaffen.
.Keine andere Aufgabe darf ihm höher
stehen, als die Pflicht, zum reinsten dauern‐
den Glück zu gelangen, und dieser Erde
Glück in sich, und dadurch auch für Andere,
zu mehren.
.Unselige Lehre hielt seit den ältesten Ta‐
gen das Glück der Erde nur für Wenige er‐
10 Das Buch vom Glück
reichbar, während allen Anderen die Mög‐
lichkeit zu ihrem Glücke zu gelangen, immer‐
dar verschlossen sei.
.Man ahnt nicht, daß diese Erde grenzen
lose Möglichkeiten des Glückes wie des Un‐
glücks birgt, und daß der Wille des Men‐
schen ‒ nicht sein Wünschen! ‒ ‒ in bei‐
den Fällen alles Geschehen lenkt ..........
.Man glaubt sich «willensstark» ‒ und ist
doch nur ein Sklave seiner Wünsche, die viel‐
leicht dann und wann ein Weniges des Wil‐
lens zu bewegen wissen, an dessen Wirkung
man bescheiden sein Genüge findet, ohne je‐
mals weiter zu verlangen, weil man längst
sich an der Grenze aller Willenswirkung
glaubt.
.Wüßte man aber, was der Wille des Men‐
schen wirklich vermag, dann wäre bald auf
dieser Erde eine Zahl der Glücklichen zu
finden, weit größer als sie selbst der kühnste
Träumer zu erhoffen wagt, der alle Glückes‐
möglichkeit vom Siege seiner Weltverbesse‐
rungs-Ideen abhängig glaubt. ‒ ‒
.Wir sind, was wir sein wollen!
.Wir sind nur so lange die «Spielbälle des
11 Das Buch vom Glück
Schicksals», solange wir das Schicksal mit
uns spielen lassen. ‒ ‒
.Wir sind nur so lange «vom Unglück ver‐
folgt», solange wir dem Unglück voraus
laufen, um ihm zu entfliehen. ‒ ‒ ‒
.Wir sind nur so lange «Enterbte des
Glückes», solange wir nicht die Verpflich
tung anerkennen wollen, auf dieser Erde
das jeweils höchste Glück der Erde
zu erstreben. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Es ist Sünde, nicht nach Glück zu ver‐
langen, aber es ist eine größere Sünde:
sein Glück hier nicht schaffenwollen!
.Sündhaft und eine Lästerung der All‐
gewalt des Geistes ist auch die erbärmliche
Bescheidenheit, mit der man nach Glück
verlangt. ‒
.Da heißt es dem Einen schon ein Glück,
wenn er ohne Sorge sich und die Seinen zu
nähren vermag.
.Dem Anderen gälte es als Glück, wenn er
in Schlössern wohnen und in Karossen fah‐
ren könnte.
.Ein anderer wieder sucht Ruhm und Ehre,
Stellung und Würde als sein «Glück».
12 Das Buch vom Glück
.Nur Wenige wissen, daß weder Reichtum
noch Ehre Glück verleihen können, daß
aber Glück eine Macht ist, die jedem
Menschen von allen Gütern dieser Erde
gerade so viel verschafft, wie gerade er
zu seinem glückerfüllten Dasein braucht, ‒
‒ nicht mehr und nicht weniger. ‒
.Wer das Glück in der Erlangung be
stimmter Erdengüter zu finden glaubt,
der sucht noch diese Erdengüter, ‒ nicht
das Glück!
.Glück ist die Befriedigung des
Schaffenden in seiner Schöpfung.
.Diese Schöpfung aber ist niemals be
endet, und ihr Schöpfer kennt nur «Ruhe‐
tage», ‒ Sabbate der Seele, die ihm neue
Kraft zu neuer Schöpfung spenden.
.Der Glückliche ist allezeit ein Schaf
fender und wird des Schaffens niemals
müde.
.Was er schaffend formt, ist sein Glücks
grund und die Bedingung seines Glückes, ‒
sein Glück aber ist die Macht des Schaffen‐
den, die ihm alles zuführt, was ihm dauernde
Befriedigung gewährt.
13 Das Buch vom Glück
.Nicht Jeder braucht das Gleiche, aber
Jeder, der sein Glück zu schaffen unter‐
nimmt, wird alles erlangen, was er wirklich
zu seinem Glücke braucht.
.«Suchet vor allem das Reich Gottes und
seine Gerechtigkeit, so wird Euch alles
Übrige beigegeben werden!»
.Wie übel hat man doch diese Worte des
Meisters von Nazareth mißdeutet!
.Zwar sagte er nach den Büchern, die seine
Lehre schildern, auch die Worte: «Das
Reich Gottes ist nicht da oder dort; es ist
in Euch!» und zeigte dadurch eine Kraft
im Menschen auf, deren «Gerechtigkeit»,
deren Gesetzbedingungen zu erfüllen
sind, wenn «alles Übrige beigegeben
werden» soll, ‒ ‒ allein wer hatte je den
Mut, die Worte, die hier überliefert wurden,
so zu deuten, wie der Meister sie in schlichter
Weisheit einst gegeben hatte!?!
.Aus dem «Reich Gottes», das er meinte,
haben kleingläubige Seelen ein Reich sal‐
bungsvoller Reden und milder Vertröstun‐
gen gemacht, oder sie suchten dieses
«Reich», ganz entgegen seinen Worten,
14 Das Buch vom Glück
irgendwo in einer fernen Überwelt, seiner
Lehre nicht achtend, daß «das Reich der
Himmel nahe» sei. ‒ ‒ ‒
.Ach, daß die Verhaftung an die irdisch‐
sinnliche Anschauungsform der Dinge den
Menschen nicht erkennen läßt, daß das
«Reich Gottes» in ihm wirksam werden
kann, und daß das «Reich der Himmel»
allenthalben ihn umgibt, selbst wenn er sich
in einer «Hölle» wähnen möchte!...
.Er brauchte nur «in sich» zu gehen, um
einen unerschöpflichen Schatz zu heben, ‒ ‒
er brauchte nur die Wellen jener Kraft, die
er in sich birgt, nach außen zu senden,
und das Angesicht der Erde würde sich er‐
neuern.
.Allen Wissenden aller Zeiten ward aber
gezeigt, daß in dieser Weltenperiode immer
nur Wenige diesen Willen zur Befreiung in
sich wirken lassen wollen, und daß erst eine
neue Weltenperiode und eine neue Erde ent‐
stehen muß, bis das «Warten aller Kreatur
auf die Erlösung durch die Kinder Gottes»,
von dem Paulus spricht, eine kosmische
Tatsache werden kann. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
15 Das Buch vom Glück
.Der Wille ist bei den meisten Menschen
noch zu sehr durch sie selbst in die
«Hypnose» irdisch-sinnlicher Anschauungs‐
art gebannt, als daß sie die irdisch-sinn‐
lichen Dinge durch Kräfte des Geistes
zu lenken sich getrauen würden.
.Kleingläubig warten sie auf etwas, das
mechanisch von außen Hilfe bringen soll, ‒
oder sie haben alles Hoffen und Erwarten
längst begraben, ‒ und die Wenigsten nur
finden sich bereit, auch nur den Versuch
zu wagen, geistige Lenker ihres Schicksals
zu werden. ‒
.Und doch können dieser «Wenigen» auch
in dieser Weltenperiode mehrere werden,
und gar mancher fühlt in sich ein dunkles
Ahnen einer in ihm beschlossenen Macht,
ohne zu wissen, wie er ihrer mächtig wer‐
den kann.
.Die Lehre, die dieses Buch ihm kündet,
kann ihn auf rechte Wege weisen, und der
sie ihm gibt, formt nur uraltes Weisheits
gut, das in früheren Tagen streng geheim‐
gehalten wurde, und nur selten durch Be‐
rufene besonders erwählten Menschen über‐
geben ward.
16 Das Buch vom Glück
.Es ist ein Erfahrungswissen, das
Jahrtausende zu seiner Erprobung zur
Verfügung hatte, und keiner, der es er‐
probte, wurde je getäuscht.
.Die es nun weitergeben, fanden sich bereit,
es aller Menschheit offenbar zu machen und
die Verantwortung dafür zu tragen.
.Es ist diese Lehre vom irdischen Glück
wie ein geschlossener Ring.
.In Dir ist die Kraft allein, Dein Glück zu
schaffen und alles Glück ist nur gegründet
in der Macht des Schaffenden, denn die
Befriedigung, die diese Macht gewährt,
allein, ist wahres Glück. ‒ ‒ ‒
.Du bist zu der Betätigung der Kraft,
die in Dir schläft, verpflichtet, ‒ Du bist
verpflichtet, jeweils hier auf dieser Erde Dir
Dein höchstes Glück zu schaffen, und
wie Du Deiner Pflicht genügen kannst,
wirst Du durch dieses Buch nun in Erfah‐
rung bringen. ‒
17 Das Buch vom Glück
«ICH» UND «DU»
.Du empfindest Dich allein als «Ich» und
keinen Anderen außer Dir kannst Du in
diesem «Ich» noch unterbringen.
.Für Dich bist Du als «Ich» der Mittel‐
punkt der Welt.
.Du bist für Dich, als «Ich», das «Ich»
der ganzen Menschheit. ‒ ‒
.Diese «Menschheit» aber ist ein homo
genes Ganzes, gebildet aus Milliarden von
«Ichen», von denen zwar kein einziges
Dir völlig gleicht, und deren jedes doch,
der Formgestaltung nach, mit dem, was
Du in Dir als «Ich» empfindest, durchaus
identisch ist. ‒ ‒ ‒
.Schwer in menschliche Worte zu fassen ist,
was ich Dir hier sagen will, und ich muß
Dich bitten, meiner Rede letzten Sinn er
fühlend zu ertasten, denn ich weiß gar
wohl, daß letzte Klarheit hier in Worten
sich nicht restlos geben läßt, und daß ich
18 Das Buch vom Glück
nur in meiner Sprache reden kann, die
Du erst in die Deine «übersetzen» lernen
mußt.
.Ich möchte Dir zum Bewußtsein bringen,
daß Du der einzigartige Mittelpunkt
eines Ganzen bist, das nur aus einzigarti‐
gen «Mittelpunkten» gebildet ist, und, da
es ein Unendliches, wenn auch nicht Un‐
Begrenztes, ist, an jeder Stelle seinen
«Mittelpunkt» besitzt . . . . . . . . . . . . . . . . .
.Jeder Mittelpunkt aber ist sich selbst
hier «Ich» und jeder andere Mittelpunkt
ist für ihn «Du». ‒
.Willst Du Dein Mittelpunkts-Glück Dir
schaffen, so mußt Du diese Gegebenheit im
Auge behalten, und mußt die geheimen
Beziehungen zu finden suchen, die zwischen
«Ich» und «Du» obwalten.
.Diese Beziehungen sind stets fluktuierend
und in jedem Augenblick anders zu beur‐
teilen.
.Unabänderlich bestehen bleibt allein der
immerfort geregelte Ausgleich aller Wir‐
kungen und Gegenwirkungen im Mensch‐
heits-Ganzen.
19 Das Buch vom Glück
.Du kannst als «Ich» auf ein «Du» nur
wirken, entweder absichtslos, ohne daß
Du eine Wirkung erzielen willst, ‒ oder
bewußten Willens.
.Willst Du aber auf ein «Du» wirken,
so sind Deine Mittel: Bitte, Überredung
oder Gewalt.
.Wisse aber, daß Du für allen Erfolg Dei‐
nes Wirkens, ja für die Absicht schon,
einen bestimmten, unabänderlichen Preis
zu erlegen hast! ‒ ‒ ‒
.Bitte und überrede daher nicht, wenn Du
Dich nicht willens findest, Dich von irgend‐
einem anderen «Du» gleichfalls bitten und
überreden zu lassen, ‒ noch weniger aber
wirke durch Gewalt, wenn Du selbst jede
Gewalt als unerträglichen Zwang emp‐
findest! ‒
.Es wird dir nichts «geschenkt» werden, so
sicher Du Dich auch geborgen fühlen magst
und so gut Du auch Deine wahren Absichten
verhüllt glaubst.
.Vor dem einzelnen «Du» kannst Du Dich
wohl verbergen, aber dem Gesamtorga
nismus der Menschheit ist stets alles
enthüllt, was in Dir vorgeht, und mit auto
20 Das Buch vom Glück
matischer Sicherheit wirst Du die Kon
sequenzen Deiner Handlungsweise zu ge‐
setzmäßig gegebener Zeit, früher oder spä‐
ter, zu tragen haben. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Wenn Du Dich selbst nicht gerne bit‐
ten läßt, und dennoch bittest, wenn Du
selbst keiner Überredung zugänglich bist,
und dennoch zu überreden suchst, ‒ wenn
Du selbst Dir nicht Gewalt antun lassen
magst, und dennoch Gewalt gebrauchst, so
wirst Du in jedem dieser Fälle etwas er‐
reichen, für das du den Kaufpreis nicht ent‐
richten zu müssen glaubst, aber Du irrst! ‒
.Die Gesetze des Geistes lassen sich nicht
wie irdische Gesetze ‒ umgehen, oder nur
zu Deinen Gunsten deuteln. Du fin‐
dest auch keinen Anwalt, der versuchen
würde, Dich vor den Folgen Deiner Hand‐
lungsweise zu bewahren. ‒
.Du mußt restlos alles bezahlen, was
Du durch Dein Verhalten, irgend einem
anderen Menschen gegenüber, der Mensch
heit schuldig geworden bist und du
wirst dem Gesetze nicht entrinnen, bis auch
«der letzte Heller» bezahlt ist. ‒ ‒
21 Das Buch vom Glück
.Je länger man Dir die Zahlung stundet,
desto mehr hast Du alle Ursache, recht be‐
sorgt zu sein, ‒ denn es werden dir Zins und
Zinseszins in Ewigkeit nicht erlassen...
.Ja noch mehr!
.Du selbst kannst für Dich zum Gläubi‐
ger werden, denn auch Du bist für Deine
Person der Menschheit verantwort
lich und Du darfst von Dir nichts ver‐
langen, wofür Dir nicht ein Äquiva
lent durch die Menschheit in Aussicht
steht...
.Andernfalls mußt Du für Dich ebenfalls
den Kaufpreis Deines Handelns früher oder
später erlegen, ‒ mit Zins und Zinseszins, ‒
wie für irgend einen Andern. ‒ ‒ ‒
.Du hörst erst heute zum erstenmal von
diesem Gesetze, oder es wird Dir vielleicht
erst heute zum erstenmal seine unerbittliche
Folgerichtigkeit und Unbeirrbarkeit klar? ‒
.Es steigen Bedenken in Dir auf wegen
Deiner früheren Taten, auch wenn Du
nun entschlossen bist, Deine Handlungs‐
weise diesem Gesetze gemäß in Zukunft
weise abzuwägen? ‒
22 Das Buch vom Glück
.Willst Du Dein Glück Dir schaffen, dann
wisse, daß Du Mittel und Wege finden
wirst, Deine Schuld an die Menschheit in
einer Dir genehmen Weise abzutragen,
sobald Du erst wissen wirst, was Du wirk‐
lich noch zu bezahlen hast!
.Du mußt nicht warten, bis das Gesetz mit
rücksichtsloser Gleichgültigkeit gegen Dein
Wohl und Wehe seine Forderung geltend
macht. ‒
.Arbeite Dir selber eine «Bilanz» aus und
erschrick nicht, wenn das «Soll» Dein
«Haben» ganz gewaltig übersteigt!
.So unerbittlich der Gesamtorganismus der
Menschheit von jedem seiner Einzelglieder
jede Forderung einziehen muß, an deren
Bezahlung geflissentlich «vergessen» wurde,
so teilnahmslos und automatisch muß er
auch einem anderen Gesetze folgen, das
ihm jede Gewaltsamkeit unmöglich macht,
jede Selbsteintreibung verbietet, sobald
Du auch nur den Willen zur Begleichung
Deiner Schuld einmal ernsthaft in Dir auf‐
gerichtet hast, und solange Du Dich stets
verpflichtet fühlst, ‒ auch wenn Dir die
Umstände noch nicht gleich erlauben, die
23 Das Buch vom Glück
ganze Schuld zu begleichen, ohne dadurch
wieder aufs neue Dich oder Andere zu
Schaden zu bringen.
.So viel von dem Gesetz des Ausgleichs im
menschlichen Gesamtorganismus wirst Du
wissen müssen, wie ich Dir hier sagte, ‒
willst Du Dein Glück Dir schaffen.
.Es liegt bei Dir, wenn Du dieses Gesetz in
seinen gar mannigfachen Abzweigungen im
Leben des Alltags noch weiter verfolgen
willst. ‒ Es wird Dir sicherlich nicht zum
Schaden gereichen.
.Willst Du zum Schöpfer Deines Glückes
werden, dann wirst Du bald entdecken, daß
vielleicht der weitaus größte Teil des von
Dir erstrebten Glückes in die Beziehungen
Deines «Ich» zu allem «Du» aufs engste
verflochten ist. ‒
.Dein Glück will auch die Liebe umfassen
in allen ihren Formen.
.Die Liebe aber ‒ und ich meine hier nicht
etwa nur «sexuelle Vereinigung» ‒ braucht
immer ein «Du», und wenn dieses «Du» ‒ ‒
Du selber wärest.
.Auch hier herrscht das Gesetz des Aus‐
24 Das Buch vom Glück
gleichs, und Du darfst nicht erwarten, daß
Deine Liebe ohne Enttäuschung bleiben
könnte, wenn Du den Austausch zu «ver‐
gessen» pflegst, oder mehr erhalten willst,
als Du gibst! ‒ ‒ ‒
.Du wirst für alles, was Du erhalten willst,
vollwertige Äquivalente darbieten müs‐
sen, oder der Menschheit Gesamtorganismus
wird von Dir einstens fordern, was Du
schuldig geblieben bist, und Du darfst Dich
nicht beklagen, wenn er in einer, durch
Deine Wünsche unbeirrbaren Weise, sich zu
seinem Rechte verhilft...
.Ob es nun Dein Verhalten zu völlig
Fremden anlangt, ob Deine Liebe und
Dein Liebesbedürfnis in den Beziehungen
zwischen Weib und Mann in Frage kommt,
ob es sich um die Liebe der Eltern zu
ihren Kindern oder der Kinder zu
ihren Eltern handelt, oder um Geschwi
sterliebe, ‒ ‒ nie darfst Du rechtmäßig
mehr erwarten als Du gibst, und gibt man
Dir mehr, so siehe zu, daß Du baldigst
das Deine dafür entrichtest, wenn Du nicht
willst, daß man es einmal von Dir nehmen
wird, wenn Du es am wenigsten erwartest,
25 Das Buch vom Glück
und auf eine Art, die Dir vielleicht wenig
gefallen wird! ‒ ‒ ‒ ‒
.Die geistigen Gesetze wirken nicht
anders, als die sogenannten physikali
schen Gesetze der äußeren Natur, und wenn
Du eines dieser Gesetze verletzt, dann
weißt Du aus Erfahrung, daß Du die Folgen
zu tragen hast, ob sie Dir gefallen oder nicht.
.Es wäre ebenso vermessen, in Bezug auf
geistige Gesetze «Vergebung» oder Be
freiung von den Folgen zu erwarten,
wie bei irgendeiner Verletzung eines physi
kalischen Gesetzes. ‒ In beiden Fällen
würdest Du verlangen, daß Deines Feh
lers wegen die kosmische Ordnung eine
Störung erleiden solle. ‒ ‒ ‒
.Da Milliarden von Menschen tagtäglich
solche Fehler begehen, so würde hier «Ver‐
gebung» nichts anderes bedeuten, als ein
Versinken aller geistigen Welten in völlige
Chaos-Nacht...
.Rüttle Dich auf aus der dumpfen, düste‐
ren Gläubigkeit des Wilden, der mit seinem
Götzen hadert, wenn er ihm anscheinend
26 Das Buch vom Glück
nicht zu Willen ist, und schaffe Dir lieber
einen Glauben an das unermeßliche Ganze,
dessen Teil, und Mittelpunkt als Teil
Du bist, damit Dir begreiflich wird, wie
klein Du von einer Gottheit zu den
ken wagst, die Deine törichten Wünsche
über ihre eingewobenen Ordnungen setzen
soll, wenn es Dir nicht gefallen mag, die
Folgen Deiner Handlungsweise als ein Teil
des Ganzen zu ertragen.
.Wenn Du einst höchste Erkenntnis Dir
erringen solltest, wirst Du es nicht mehr ver‐
mögen, ohne tiefste Scham der Tage zu ge‐
denken, da es Dir ganz in göttlicher Ordnung
begründet schien, daß ein «Gottessohn»
für Deine Taten leiden müsse, weil Du
selbst auf diese Art bequem Dich aller Fol‐
gen Deiner Taten zu entledigen gedach‐
test...
.Du wirst dann nicht mehr begreifen, daß
Du nicht lieber völlige Selbstvernich
tung wolltest, als daß Du auch nur einen
Augenblick den Gedanken ertragen konn‐
test, daß ein Schuldloser Deine Schuld
durch Folterqualen tilgen solle. ‒
27 Das Buch vom Glück
.Doch wenn Du auch zu Denen gehörst,
die sich für ihre Taten selber haftbar
glauben, so fürchte ich doch, daß Du noch
nicht wissen könntest, wie Du in gleicher
Weise für alle Deine Gedanken haftbar
bist. ‒ ‒ ‒
.Ich sagte dir schon, daß es für den Ge
samtorganismus der Menschheit, dessen
Teil Du bist, nichts Verborgenes gibt,
und auch Deine verborgensten Gedanken
sind ihm entschleiert.
.Hier möchte ich aber nicht den Irrtum
verschulden, als lehrte ich etwa eine «Ge‐
samtmenschheits-Seele», als ein für sich
bestehendes, bewußtes Wesen!
.Bewußt wird der Gesamtorganismus der
Menschheit stets nur in seinen «Mittel‐
punkten», ‒ den einzelnen Menschen, und
in jedem Einzelnen wird er seiner selbst
anders, sowie bald mehr, bald in gerin
gerem Grade bewußt.
.Wenn ich sage: «nichts ist dem Gesamt‐
organismus der Menschheit als solchem je‐
mals verhüllt», ‒ so will ich Dir nur be‐
greiflich machen, daß alles was Du denken
oder tun magst, weit über Dich als
28 Das Buch vom Glück
Person hinaus, mit automatischer Sicher‐
heit auf den ganzen geistigen Organis
mus der Gesamtmenschheit einwirkt
und dort seine Folgen zeitigt, für die Du
dann später oft vergeblich nach einer Ver
ursachung suchst, weil es Dir nie in den
Sinn gekommen ist, daß auch Deine leise‐
sten Gedanken, die Du fast vor Dir selbst
schon verborgen glaubtest, so weittragender
Folgen Ursache werden könnten. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Willst Du der Schöpfer Deines Glückes
werden, dann mußt Du wissen, daß Deine
Gedanken Dir als gehorsame Zugtiere
treue Dienste leisten, wenn Du sie zu
diesen Diensten erzogen hast, daß sie aber
als wilde Bestien hausen, wenn sie des
Dienens entwöhnt, ohne Fessel von Dir
auf die Menschheit losgelassen werden. ‒ ‒ ‒
.Du kannst nicht wahrhaft glücklich sein,
wenn Du nicht anderen, so viel an Dir
liegt, Glückesmöglichkeiten schaffst,
aber du vernichtest anderer Glück, wenn
Deine Gedanken, wilden Stieren gleich, in
die seelischen Blütengärten anderer Men‐
schen brechen...
29 Das Buch vom Glück
.Denkst Du in Harmonien, so wirst Du
in Anderen Harmonien zum Erklingen
bringen, doch denkst Du Verderben und
Chaos, so wirst Du auch in Anderen Ver‐
derben und Chaos bewirken. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Du kannst Dich selbst nicht gesund er‐
halten ohne stete, kontinuierlich festgehal‐
tene Gedanken voll Gesundheit, Schön
heit und Kraft, und Du wirst gleichzeitig
auf Andere wie ein Seuchenherd wirken
durch deine Gedanken, wenn Du, in Deinen
Gebresten seelisch wühlend, nichts als Krank‐
heit und Siechtum zu denken weißt.
.Ich kenne einen, der wurde von den
Ärzten für «unheilbar» erklärt und seine
Krankheit war von einer Art, die noch
heute kein Arzt zu heilen weiß, ‒
aber durch seiner Gedanken Kräfte hat er
sich selbst geheilt und lebt seit Jahr‐
zehnten als gesunder Mensch.
.Ich kenne einen Andern, dem offenbarte
man auf seinen dringenden Wunsch, daß er
«im besten Falle noch vier bis fünf
Jahre» zu leben habe; ‒ er nahm keine der
ihm verordneten Medikamente, gebrauchte
keinerlei «Kur» und setzte es sich zum
30 Das Buch vom Glück
Ziel, durch seine Gedankenkräfte al
lein sich am Leben zu erhalten. Nun sind es
fast zwanzig Jahre her, seit man ihn auf‐
gegeben hatte, ‒ er lebt, ohne jede Kränk‐
lichkeit, in Frische und rüstiger Kraft, und
es erscheint ihm heute wie ein Traum, daß
er einmal die Ärzte brauchte. ‒ ‒ ‒
.Solche Menschen aber wirken wie Strah
lungszentren der Gesundheit auf ihre
weiteste Umgebung, auch wenn sie nach
strengen ärztlichen Begriffen nicht einmal
als de facto «geheilt» zu betrachten wären.
.Sie fühlen sich geheilt, und die Zeit gab
ihnen Recht, denn die Beschwerden sind
verschwunden.
.Die Sicherheit, die der Erfolg ihnen
gab, schafft ihren Gedanken weiter unwider‐
stehliche Gewalt, und so vermögen sie auf
weite Ferne als Gesundheitsträger nun
zu wirken. ‒ ‒
.Denke stets Armut und Not, und Armut
und Not werden nicht auf sich warten las‐
sen, ‒ fürchte stets irgendein Ungemach,
und das Mißgeschick wird sich mit Sicher‐
heit an Deine Fersen heften!
31 Das Buch vom Glück
.Sieh aber in der trübsten Stunde noch
immer Deine Sache nicht als verloren
an und sie wird Dir niemals verloren sein, ‒
Du wirst sicherlich in Bälde einen Ausweg
finden!
.Betrachte ein Mißgeschick, das Dir be‐
gegnet, nicht anders, als wie ein Gewitter
das Dich auf einem Ausflug überraschte und
Du kannst sicher sein, daß Dir stets selte
ner und seltener ein Mißgeschick be‐
gegnen wird!
.Du selber bist der Magnet für
Dein Wohl und Wehe!
.Du kannst Dich «einstellen» für die
Kräfte, die Du heranziehen willst, und sie
müssen Dir folgen. ‒
.Du wirkst aber nicht nur als «Ich» für
Dich selbst, sondern zugleich für jedes
«Du», das mit Dir im gesamten Mensch‐
heitsorganismus geistig verbunden ist. ‒ ‒ ‒
.Die Stärke Deiner Wirkung wird sich
viel weniger als Du glaubst nach äußeren
Entfernungen richten, vielmehr werden
alle Stärkegrade bestimmt durch die grö
ßere oder geringere Ähnlichkeit Dei
32 Das Buch vom Glück
ner Eigenschwingungen mit denen
anderer Menschen. ‒ Aber ein Jeder aus
den Milliarden, die Du als «Du» empfin‐
dest, wird in irgendeiner Weise noch
von den Ausklängen der von Dir erzeug‐
ten Wirkungen erreicht werden. ‒
.Daher trägst Du ungeheure Verantwor‐
tung! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Du bist niemals allein, magst Du Dich
auch hinter den dicksten Mauern verborgen
glauben...
.Stets handelst Du, als «Ich», in Bezie
hung und Verbindung mit allem
«Du», denn obwohl Du ein einzigarti
ges «Ich» jeweils bist, herrscht doch völ
lige Identität aller «Mittelpunkte» des
Menschheitsganzen...
33 Das Buch vom Glück
LIEBE
.Es läßt sich nicht vom Glücke reden,
ohne des Glückes zu gedenken, das Mensch
und Mensch sich in der Liebe auferbauen
können.
.Allzuleicht aber vergißt man auch hier,
daß dieses Liebe-Glück, wie jedes Glück,
geschaffen werden will. ‒ ‒
.Gar Viele leben dahin in einem steten
Warten auf irgend ein kommendes «Glück»,
und unter ihnen sind wieder Viele, die nach
keinem anderen Glücke verlangen, als
nach dem Glück der Liebe zwischen
Mann und Weib.
.Manche warten vergeblich ihr Leben
lang, weil das Glück, wie sie es sich erträu‐
men, sich nicht finden lassen will auf ihrem
Lebenswege.
.Andere wieder glauben eines Tages ihr
Liebe-Glück gefunden zu haben, aber
nach kurzer Zeit tritt eine «Ent-Täuschung»
34 Das Buch vom Glück
ein, und sie verzweifeln an der Möglich
keit, ein dauerndes Liebe-Glück er
reichen zu können. ‒
.Törichte Reden vom «Kampf der Ge‐
schlechter» klingen in ihren Ohren wider,
um das Unheil zu vollenden...
.Aber die so «Enttäuschten» sind in Wirk‐
lichkeit noch lange nicht ‒ wahrhaft ent‐
täuscht, von Täuschung frei, ‒ sondern nur
einer neuen Täuschung erlegen. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Anfänglich glaubten sie, das Glück der
Liebe sei ein Geschenk des «Zufalls», müsse
sich ohne ihr Zutun finden und erhalten
lassen.
.Nun sind sie von dieser Täuschung
scheinbar frei, aber nur in bezug auf ihre
gegenseitige Wahl, ‒ und sie verfallen so‐
gleich der neuen Täuschung, indem sie
glauben, alles Un-Glück sei nur ihres irri‐
gen Wählens Folge. ‒ ‒
.Ach nein, ‒ Ihr, die Ihr um Euer Liebe‐
Glück Euch «betrogen» glaubt, ‒ ‒ Euer
erster Impuls, der Euch zueinander
führte, wird (in den allermeisten Fäl
len) Euch kaum betrogen haben, aber Ihr
35 Das Buch vom Glück
betrügt Euch nun selbst, weil Ihr nicht
loskommen könnt von dem irrigen Glauben,
daß alles Liebe-Glück sich ohne Euer
Zutun finden lassen müsse...
.Ihr wißt nur noch nicht, daß Ihr Euer
Glück Euch erst schaffen müßt, soll es
Euch zu dauerndem Besitz, zu unver
lierbarer Lebensbereicherung wer
den! ‒
.Euer Wille, wirklich zum Glück zu
gelangen, war noch nicht rein!
.Zwar war der Wunsch, nun alles Liebe‐
Glück zu finden, wohl in Euch vorhanden,
aber «Wünsche» haben niemals befehlende
Gewalt und Euern Willen, der allein
Euer Glück hätte schaffen können, ‒ habt
ihr in tausend kleinste Strebungen zer
splittert, statt ihn gesammelt auf das
eine Ziel zu lenken: Euer Glück zu
schaffen! ‒ ‒ ‒
.Wer immer sein Glück in der Liebe finden
will, und nicht nur «möchte», ‒ der darf
hier nur sein Glück und nichts daneben
wollen.
.Er darf nicht von vornherein schon ge
36 Das Buch vom Glück
sichert wähnen, was er erst schaffen soll, ‒
darf nicht wie ein Träumer Früchte ge
nießen wollen, bevor sie reifen konnten,
Früchte, die nur sein Traum ihm zeigt,
und die er schmerzlich vermissen muß, wenn
er durch ein plötzliches Pochen der Wirk‐
lichkeit aus seinem Traume erwacht. ‒ ‒
.Vom ersten Tage seiner Liebe an muß er
den Willen zum Glück in sich zur Ent
faltung bringen und muß ihm alles unter‐
ordnen, was nur seiner Wünsche Ziel und
Sehnsucht ist. ‒ ‒ ‒
.Das Glück der Liebe läßt sich nur er‐
ringen, wenn man, mit einem wahren «Ei
gen-Sinn», mit dem Menschen, den man
liebt, auf die Dauer glücklich werden will. ‒
.Man darf nicht eine Sekunde mehr
mit dem Gedanken «spielen», daß es ‒
«auch anders kommen» könnte. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.«Glück in der Liebe» ist, wie alles Glück,
ein Glück des Schaffenden, ‒ ist die Be
friedigung, die wohlgewirktes Werk ver‐
leiht, ist «Werk» und Macht zum Werke...
.Das Werk der Liebe aber will stets den
geliebten Menschen glücklich durch uns
37 Das Buch vom Glück
sehen, und als unser eigenes Glück wird die
Befriedigung empfunden, daß wir ihn
glücklich machen können. ‒
.Wer aber die Macht in sich besitzt, einen
anderen Menschen glücklich machen zu
können, der besitzt damit in gleicher
Weise auch die Macht, ihn tief unglück
lich zu machen. ‒ ‒
.Faßt nicht ein fester Wille täglich neu
das Ziel ins Auge, die eigene Macht nur zur
Beglückung des geliebten Menschen zu
gebrauchen, dann wird diese Macht zur
Sklavin einer Dämonenschar, der Schar der
tausend kleinen und größeren Wünsche,
die das Leben des Tages stündlich wechselnd
erstehen läßt...
.Dann mag Deine Liebe, wenn sie echt
ist, zwar unter stetem neuem Leid am
Leben bleiben, doch das Glück der Liebe,
das Du in Wochen des Rausches und des
Träumens schon zu besitzen glaubtest,
wird gar bald Dich fliehen, statt zu dau
erndem Besitz zu werden. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Ihr werdet Euch Beide fragen: «Wie
kommt es nur, daß wir uns nicht ver
38 Das Buch vom Glück
stehen können, daß wir uns immer wie‐
der die trübsten Unglückstage bereiten,
nachdem doch, trotz all der gegenseitigen
Qual, unser Herz uns sagt, daß wir uns
dennoch wirklich lieben!?!» ‒
.Ihr werdet aber niemals die einzig er‐
lösende Antwort finden, werdet in guten
Stunden immer neue Pakte schließen,
um sie bald darauf schon wieder zu ver
letzen, werdet Euch aneinander zerreiben
und zermürben, und, ‒ wenn es gut geht, ‒
schließlich in Resignation ein leidliches
Leben nebeneinander führen, ‒ ‒ überzeugt,
daß Ihr Beide nur Opfer eines grau
samen Schicksals seid...
.Aber alles dies ist in den weitaus meisten
Fällen nichts als Täuschung, ist Folge
eines Wahns, der sich ein Glück erträumt,
und nach seiner Träume Vorbild wünschend
erhofft, statt es zu wollen und festen
Willens zu erschaffen. ‒
.Noch heute ist Euch das Glück der
Liebe nicht verloren, wenn noch ein
Fünklein echter Liebe tief verschüttet
39 Das Buch vom Glück
in Euch glüht, sobald Ihr Euch der Er
kenntnis nicht verschließen wollt, daß Ihr
nur deshalb Eurer Liebe Glück nicht
fandet, weil Ihr es findbar erhofftet, ohne
es selbst zu schaffen, weil Ihr ernten
wolltet ohne Saat! ‒ ‒ ‒
.Noch heute könnt Ihr beginnen, das
Leben der Liebe wirklich leben zu ler‐
nen, könnt Euch erwecken aus dem
Traum, der Euch zu Unglück führte und
zu entsagungsschwerem Verzicht!
.Ihr werdet Euch gegenseitig wohl man‐
ches zu verzeihen haben, was schwer ver‐
zeihbar ist, ‒ und manches böse Wort wird
sich nicht leicht aus Eurer Seele tilgen lassen,
allein ‒ wenn Euch jemals, auch nur für
Stunden, wahrhafte Liebe einte, dann
werdet Ihr bald mit aller Klarheit sehen,
daß Ihr einem Selbst-Betrug erlegen
wart, und daß alles, was Ihr Euch zu ver
zeihen haben werdet, nur gegenseitig einem
Phantom entgegengeschleudert war, das
Ihr verbittert aus Euch selbst gestaltet habt,
an das Ihr glaubtet und auch heute noch
wohl glaubt, weil das Phantom dem einst
40 Das Buch vom Glück
Geliebten Vorbild wurde, sich tatsäch
lich auch nach ihm zu formen...
.Ihr müßt Euch vor allem nun anders
sehen wollen, wenn Eure Liebe noch ge
sunden soll, wenn Ihr Eurer Liebe Glück
in nunmehr wahrhafter «Ent-Täu‐
schung», also: von Täuschung frei, ‒ er‐
schaffen wollt! ‒
.Nicht leicht mag es Euch werden, im
Anfang jenen steten Argwohn zu besiegen,
jenen «argen Wahn», der förmlich danach
sucht, ob nicht der einst Geliebte, und nun
vielleicht schon lange Zeit fast Gehaßte,
doch noch das Bild des Phantoms in
seinem Herzen trägt...
.Aber wenn trotz aller Anfangs-Rück‐
fälle, täglich und stündlich der eigen-sinnige
Wille erneuert wird, die Macht, die Ihr
gegenseitig über einander besitzt, nur
auszuüben, um den Anderen wahrhaft
glücklich zu machen, dann werdet Ihr
sicher in Bälde lernen, Euer Glück zu schaf
fen. ‒ ‒ ‒
.Du wirst vielleicht sagen: «Ja, aber was
nutzt es mir, wenn ich selbst auch den
41 Das Buch vom Glück
besten Willen habe, uns zum Glück zu füh‐
ren, wenn aber mein Partner nicht des
gleichen Willens ist? ‒ ‒ »
.Solange Du noch so fragen kannst, hast
Du noch nicht begriffen, was es heißt: ‒
sein Glück zu schaffen!
.Du möchtest Dich immer noch von außen
abhängig sehen, und wagst es noch nicht,
Dich auf eigene Füße zu stellen.
.Du schenkst Dir selber noch kein Ver
trauen und bist noch weit davon entfernt,
Deinen Willen wirklich gebrauchen zu
wollen. ‒
.Sobald Du Dein Liebe-Glück Dir wirk‐
lich schaffen willst, darf es Dich wenig
stören, ob der Geliebte Deinen Wünschen
«entgegenkommt» oder ihnen entgegen
handelt. ‒
.Du mußt Deine eigenen Wünsche völlig
zur Ruhe bringen, damit sie Deinen Willen
nicht mehr stören können!
.Du darfst nichts anderes wollen, als
den Erfolg Deiner Macht, den geliebten
Menschen glücklich machen zu können. ‒
.Im Genuß des Erfolges wirst Du dann
selber glücklich werden!
42 Das Buch vom Glück
.Hier gilt es Selbst-Beherrschung zu
lernen, um sich selbst zum Erfolge zu
führen. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Du wirst Neigungen zu bekämpfen,
aufwallende Affekte zu bändigen haben,
wirst stündlich Wünsche unterdrücken
lernen müssen, ‒ aber alles dieses wird Dir
eine Quelle des Selbst-Genusses werden,
denn Du wirst fühlen, welches Glück Du
allein Dir schon dadurch schaffst, daß Du
Herr wirst über Dich selbst, wo Du bis
heute vielleicht noch nicht einmal zu ahnen
vermagst, wie sehr Du noch in den Skla
venketten alles dessen liegst, was ‒
nicht Du selber bist...
.Du läßt Dich vielleicht heute noch in
Erregung bringen, wenn Du siehst, daß
der geliebte Mensch eine Sache, die Du
richtig erkennst, in durchaus falscher
Weise betrachtet, wenn Du siehst, daß er
Vorlieben hegt, wo Du Abscheu empfin‐
dest, daß sein «Geschmack» ihn Manches
lieben läßt, was Dir fast «unerträglich
geschmacklos» erscheint. ‒ ‒
43 Das Buch vom Glück
.Was sind aber alle diese Dinge gegen der
Liebe Glück!?!
.Wie lächerlich nebensächlich ist doch
dies alles gegen das Glück, das zwei Lie
bende sich geben können!
.Wer immer auch von Euch Beiden in sol‐
chen Dingen «Recht» oder «Unrecht»
haben mag, kommt gar nicht in Be
tracht, wo es gilt, das Glück einer Liebe
aufzurichten!
.Es ist nur übelste Sucht nach Macht‐
Ersatz, wenn Du immer darauf beharrst,
daß der von Dir geliebte Mensch in Deiner
Auffassung der Dinge auch die seine sehen
soll, magst Du nun wirklich «Recht», oder
nur in eingebildetem Rechte, durchaus
«Unrecht» haben. ‒
.Wenn Du erst Deine Macht, den geliebten
Menschen glücklich machen zu können, er
folgreich sehen wirst, dann wirst Du auch
mit Staunen sehen, wie Eure früher so entge
gengesetzte Art die Dinge zu betrachten,
‒ plötzlich zu Vereinigung kommt. ‒ ‒ ‒
.Dann wirst Du beschämt Dir gestehen
müssen, daß doch all Euer früheres Streiten
44 Das Buch vom Glück
um nichtige Dinge, die Euch so «wichtig»
erschienen, ‒ nur eitel Torheit war. ‒
.Du wirst dann erkennen, daß Ihr ver‐
geblich Eure «Ansichten» zu einigen er‐
strebtet, solange ihr noch selbst nicht ge‐
einigt waret. ‒ ‒
.Das Glück der Liebe will erst geschaf
fen werden, bevor es aus Euch jene «Ein
heit zu Zweien» gestalten kann, die aller
Trennung, aller Scheidung spottet, und
Euch vereint in allem Denken und Emp‐
finden. ‒ ‒ ‒
.Auch in Eurer Liebe, ‒ mein Freund, ‒
meine Freundin, ‒ seid Ihr verpflichtet, ‒
glücklich zu sein, ‒ ‒ und all Euer «Un
Glück» ist nur ‒ Pflicht-Verletzung!! ‒ ‒
45 Das Buch vom Glück
REICHTUM UND ARMUT
.Alles Leben im Kosmos ist die Wirkung
polarer Gegensätze, ist Austausch zwi‐
schen polar entgegengesetzten Kräften.
.Wer da den Reichtum vernichten
möchte, um der Armut zu helfen, der hat
noch nicht erkannt, daß auch Armut und
Reichtum einander brauchen, wie je
der Pol seines Gegenpoles bedarf.
.Nur wenn die entgegengesetzten Pole in
vollem Gegensatz verbleiben, gestaltet
sich Leben und erblüht das Werk des Men‐
schen. ‒ ‒
.Vernichtung und Verderben ist die Folge
aller Aufhebung polarer Gegensätze. ‒ ‒ ‒
.Wer der Armut wirklich helfen will, der
muß den Reichtum wollen, wenn auch
Armut und Reichtum keineswegs stets wei‐
ter und weiter jene rohen, brutalen For
men zeigen müssen, in denen sie allein die
Menschheit bis heute kennt. ‒ ‒
46 Das Buch vom Glück
.Armut ist selig zu preisen, aber
Armut muß nicht Mangel sein...
.Reichtum kann unermeßlichen Se
gen stiften, aber er darf nicht auf jener
niederen Stufe satt und ohne Bildnerkraft
sich wälzen, von der einst ein Göttlicher zu
sagen wußte, daß «eher ein Kamel durch ein
Nadelöhr gehe», als «ein Reicher» durch
die Pforte zum «Himmelreich»...
.Tausendjähriger Irrtum glaubte die Güter
dieser Erde derart eng begrenzt und un
vermehrbar, daß unmöglich alle Men
schen ohne Mangel auf der Erde leben
könnten, und so entstand ein Begriff des
«Reichtums», der zur Verbitterung aller
Mangel Erleidenden führen mußte.
.Näher wäre man der Wahrheit gekom‐
men, hätte man erkannt, daß es keineswegs
entschuldbar ist, wenn auch nur Einer
derer, die auf Erden leben, Mangel leiden
muß, daß aber der Reichtum der Anderen
keineswegs die Ursache jenes Mangels
ist. ‒ ‒ ‒
.Es ist eine unbedingte Pflicht der
Menschheit, dafür zu sorgen, daß keines
47 Das Buch vom Glück
ihrer Glieder Mangel leidet, daß jedem
Menschen, wer er auch sei und wie man
ihn auch werten möge, Nahrung, Klei‐
dung und Obdach werde, und diese Pflicht
ist unabänderlich, auch wenn es sich um
einen Menschen handelt, der in keiner
Weise Nutzen schafft. ‒
.Bewirkt er Schaden, so mag man ihn
isolieren, allein man hat nicht das Recht,
ihn jemals Mangel erleiden zu lassen an
dem, was er bedarf, um seines Leibes Not‐
durft zu befriedigen. Man hat auch nicht das
Recht, ihm jene Werte zu verweigern, die
sein Geist bedarf, um sich, wenn er danach
verlangt, aus seiner Tiefe zu erheben.
.Alles, was man heute noch «Strafe des
Verbrechers» nennt, ist ein übles Unter‐
fangen, denn es geht nicht von der Erkennt‐
nis aus, daß der gesamte Menschheits‐
Organismus aufs engste verbunden ist,
und daß die gesamte Menschheit die
Tat des Verbrechers mit verschuldet
haben muß, ‒ sobald sie möglich wird. ‒ ‒ ‒
.Hier wird höhere Erkenntnis einst
weit segensreicher wirken, indem sie das
48 Das Buch vom Glück
Verbrechen unmöglich werden läßt,
während man heute noch geradezu das
Verbrechen als naturnotwendige Ge
gebenheit nimmt, und nur darauf sinnt,
den Verbrecher zu «bestrafen». ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Aber abgesehen vom «Verbrecher» wird
es jederzeit gar manche Menschen geben,
deren Nutzen für das Erdenwohl der Mensch‐
heit nicht recht einzusehen ist und die den
noch von eigentlichem Mangel frei er‐
halten werden müssen, will sich die Mensch‐
heit nicht durch sie in ihrer Gesamtheit
schaden.
.So viel über den Begriff des Mangels,
den die Menschheit zu tilgen suchen muß,
will sie nicht selbst an ihrem Gesamt
organismus Schaden leiden und dadurch
stets neue Schäden schaffen.
.Niemals aber darf sie versuchen, Armut
und Reichtum tilgen zu wollen, wenn sie
sich nicht selbst vertilgen will. ‒ ‒ ‒
.Armut und Reichtum sind Gegenpole, die
der Menschheit Leben bewirken, die
den Gesamtorganismus der Menschheit in
49 Das Buch vom Glück
jener Kräftespannung erhalten, in der er
allein seine kosmische Aufgabe einst
erfüllen kann. ‒
.Wehe einer Menschheit, die den Reich
tum nicht mehr mit Ehrfurcht achten
kann! ‒ ‒
.Wehe einer Menschheit, die vor der Ar
mut nicht mehr in Ehrerbietung sich
neigt! ‒
.Aller Ehre würdig ist der Arme, der seine
Armut mit Würde zu tragen weiß, und nicht
minder zu ehren ist jeder Reiche, der seines
Reichtums Bürde als ein verantwortungs‐
volles Lehen der Menschheit trägt! ‒ ‒
.Jeder hüte sich vor der Verachtung
des Anderen, und der Reiche wie der Arme
möge wissen, daß Beide gleichen Wer
tes sind für das Ganze!
.Irrig aber ist es, anzunehmen, daß die
Armut, deren die Menschheit ebenso wie
des Reichtums bedarf, stets nahe an Man
gel grenzen müsse, um des Reichtums Ge
genpol zu sein. ‒
.Reichtum und Armut sind sehr relative
Begriffe.
50 Das Buch vom Glück
.Je höher der Reichtum ansteigt, desto
höher wird die Grenze der Armut sich er
heben, und es kann gegenüber hohem
Reichtum eine Art «Armut» geben, die
selbst wieder, im Bereiche der Armen, als
«Reichtum» gelten mag.
.Du hast, als Teil und «Mittelpunkt» des
Menschheitsganzen, stets ein Recht, nach
allem Reichtum hinzustreben, den Dir diese
Erde bieten kann!
.Wieviel Du davon erlangen magst, wird
durch Dein Karma, durch Dein Schick
salsbeherrschungsvermögen sich ent‐
scheiden. ‒
.Stets aber sollst Du nach dem höchsten
relativen «Reichtum» streben, der nach
menschlichem Ermessen Dir auf edle Art
erreichbar scheint!
.Du darfst nicht glauben, daß darum der
Gegenpol der Armen je eine Einbuße er‐
leiden könne.
.Auch wenn die tausendfache Zahl an
Reichen auf der Erde zu finden wäre, würde
es niemals an Armen fehlen, ‒ und wenn
selbst alle Menschen dieser Erde zu Reich
tum kämen, würde doch solche Verschie
51 Das Buch vom Glück
denheit des Reichtums noch bestehen, daß
auch dann die Gegenpole erhalten blieben.
.Die Erde ist so unendlich reich an Reich‐
tumsgütern, daß dies wohl möglich wäre,
allein in unserer Zeit ist es nicht zu er‐
warten, denn noch kennen die allermeisten
Menschen die geistigen Gesetze nicht,
nach denen die Erde ihre Schätze gibt, und
würden sie auch bekannt, so wären doch nur
Wenige bereit, Gesetzen zu entsprechen,
wo sie gesetzlos Gabe heischen. ‒ ‒ ‒
.Auch hier herrscht vor allem Andern das
Gesetz des Austauschs oder des Aus
gleichs, und Du wirst nie etwas empfan‐
gen und behalten können, für das Du nicht
den vollen Kaufpreis gibst, das Du
nicht willens bist, in vollwertigen Äqui
valenten zu bezahlen. ‒ ‒
.Heute und morgen vielleicht kann Dir
zwar ein Gut auch ohne Begleichung zu
eigen werden, und Du wirst glauben, es nun
auf die Dauer zu besitzen, aber nur allzu‐
bald wirst Du es verloren haben, so sehr
Du auch darauf achten magst, Dir seinen
Besitz zu erhalten. ‒
.Es herrschen hier die unerbittlichsten
52 Das Buch vom Glück
geistigen Gesetze, die ebensowenig zu
beugen sind, wie die Gesetze, denen in der
Außenwelt die Kräfte der Materie ge‐
horchen.
.Du hast ein Recht zu allem Reich
tum; willst Du aber zu irgend einer noch so
bescheidenen Stufe des Reichtums kom
men, so wirst Du Dich bequemen müssen,
Äquivalente dafür zu geben! ‒ ‒ ‒
.Du wirst mir sagen, daß Du auch solche
Reiche kennst, die ihren Reichtum von
ihren Vätern haben, aber das widerspricht
in keiner Weise dem erörterten Gesetz.
.Auf alle Fälle wurden die Äquivalente
dafür entrichtet, und wenn der Erbe nicht
für steten, weiteren Ausgleich sorgt, dann
wird er eines Tages den Besitz, den Andere
ihm schufen, sicherlich verlieren.
.Dies kann sehr lange währen und erst die
Erben des Erben treffen, denn die geistigen
Gesetze wirken stets gemäß dem Impuls,
der ihnen einst genügen wollte.
.Ein schnell errafftes Vermögen wird
auch schnell verschwunden sein, sobald
nicht neue Impulse es zu schützen wissen,
53 Das Buch vom Glück
und schwer errungener Besitz wird sich
noch lange halten, auch wenn die Erben
ganz gewiß nicht seiner würdig sind. ‒ ‒
.Glaube nur ja nicht, daß hier irgendeine
«Ungerechtigkeit» im Spiele sei!
.Und Dir auch wird gewißlich nichts ent‐
zogen!
.Es steht Dir jederzeit frei, zu erringen,
was Du erringen kannst, und Du kannst
erringen, was Du wahrhaft erringen willst.
‒ ‒ ‒
.Daß Andere vieles besitzen, ohne es
selbst errungen zu haben, darf Dich dabei
nicht stören.
.Der Reichtum, über den die Erde ver
fügt, ist so unermeßlich groß, daß jeder‐
zeit auch für Dich der ungeheuerlich
ste Reichtum verfügbar bleibt. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Aber verwechsle nicht Deine Wünsche
mit Deinem Willen!!
.Deine Wünsche werden nur etwas er‐
reichen, wenn es ihnen gelingen sollte, etwa
Deinen Willen in ihrem Sinne zu überreden.
.Die Menschen des großen Willens haben
fast unermeßliche Vermögen geschaffen, ob‐
wohl sie beginnen mußten in tiefster Ar
54 Das Buch vom Glück
mut; ‒ die Menschen des großen Wün
schens aber kannst Du auf allen Gassen
finden, und Du wirst selten einem begegnen,
der auch nur das Wenigste seiner Wün‐
sche schließlich durch seinen Willen in Er‐
scheinung treten lassen konnte...
.Willst Du aber den Dir erreichbaren
Reichtum schaffen, dann hüte Dich vor dem
Neid! ‒ ‒ ‒ ‒
.Willst Du selber einst ein «Reicher»
werden, sei es auch nur, daß Dich nach dem
Reichtum eines reichen Armen verlangt,
dann mußt Du in jedem Reichen, der Dir
begegnet, eine Verheißung sehen, die Dir
Erreichung Deines Zieles verbürgt.
.Du mußt Dich freuen lernen, daß es
Reiche gibt, und mußt ihren Reichtum
gleichsam als Vorbedingung für die Er‐
füllung Deines Willens werten. ‒
.Wenn Du «reich» werden willst, dann
hüte Dich auch, in kleinlicher Weise zu
«sparen»! ‒ ‒
.Du wirst gewiß genug Reiche finden, die
äußerst «sparsam» sind, aber Du würdest
vergeblich suchen, wolltest Du mir einen
55 Das Buch vom Glück
wirklich «Reichen» zeigen, der seinen Reich‐
tum nur durch «Sparsamkeit» erlangte.
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Willst Du «reich» werden, und glaubst
Du, daß «Reichtum» hier auf dieser Erde
zu Deinem Glücke unerläßlich ist, dann prüfe
Dich auf Herz und Nieren, damit Du die
Äquivalente findest, mit denen Du Deinen
zu erhoffenden Reichtum zu bezahlen ge‐
denkst! ‒ ‒ ‒
.Es wird Dir auf dieser Erde wie in aller
Ewigkeit niemals etwas geschenkt, und
wenn Du hier in die Lage kommst, jemals
Geschenke, und seien es auch nur Ge‐
schenke konventioneller Art, wie man sie zu
gewissen Festestagen gibt, annehmen zu
müssen, dann frage Dich sofort, wie Du
diese Geschenke an das Menschheits
ganze wieder bezahlen kannst, sonst
wirst Du sie bezahlen müssen, dort, wo Du
es keinesfalls willst...
.Du siehst, es ist nicht ganz leicht,
willst Du alle Bedingungen erfüllen, die
man von Dir verlangt, wenn Du zu
«Reichtum», sei es auch nur in beschei
denster Weise, jemals gelangen willst. ‒ ‒
56 Das Buch vom Glück
.Aber glaube mir, ‒ alle, die jemals zu
Reichtum gelangten, haben ihn nicht auf
andere Weise erreicht, auch wenn sie
selbst sich nicht Rechenschaft geben
konnten!
.Immerfort findet ein Austausch der Güter
statt auf dieser Erde.
.Es ist nichts zu erlangen und auf die
Dauer zu besitzen, wenn Du verwei
gerst, was Du als Gegengabe zu geben
hast an anderen Werten. ‒
.Hast Du aber nichts zu geben, dann
darfst Du auch gerechterweise nichts er
warten!
.Du wirst nicht mehr erwerben, als was
dem Kaufpreis entspricht. ‒ ‒ ‒
.Gib Dich keiner Täuschung hin!
.Hier walten unerbittliche Gesetze, und
Du kannst nur durch den Austausch
irgendwelcher in Dir ruhenden Werte
jemals zu «Reichtum» kommen...
57 Das Buch vom Glück
DAS GELD
.Die meisten «ideal» gesinnten Menschen
werden sich entsetzen, wenn in Abhand‐
lungen über hohe Geisteswerte plötzlich
vom Gelde die Rede ist.
.Sie ahnen nicht, daß auch das Geld
geistigen Gesetzen gehorcht, und eine
Ausdrucksform geistiger Beziehun
gen darstellt...
.Sie möchten am liebsten von Geld und
Geldesangelegenheit nichts wissen, und
ich verstehe dies gar wohl, denn auch mir
sind alle «Geldgeschäfte» übelste Erforder‐
nisse dieses Erdenlebens.
.Aber die Form nur schafft hier Wider‐
stände, während die Sache selbst höch‐
ster Geistigkeit entspricht. ‒ ‒ ‒
.Kein Mensch, der die «Kurse» der
Börsen liest, wird auf den Gedanken kom‐
men, daß hier Gesetze des Geistes, der alle
58 Das Buch vom Glück
Materie beseelt, ihren vollentsprechen
den Ausdruck finden. ‒ ‒
.Den weitaus Meisten unter allen feineren
Seelen erscheint «Geld» als eine durchaus
«schmutzige», von vielen Händen abge‐
griffene Sache, und sie fassen alles, was mit
Geld in Zusammenhang steht, nur mit den
Fingerspitzen, und selbst da noch mit Wi
derwillen an. ‒
.Trotzdem ist Geld etwas Heiliges, und ich
wage das auszusprechen, obwohl ich weiß,
daß so mancher sonderbare Heilige nun fin‐
den wird, ich sei ein arger Lästerer geworden.
‒ ‒ ‒
.Ich kann solchen edlen Träumern nicht
helfen und ich hege sogar den Verdacht, daß
unter ihnen gar manche zu finden sein möch‐
ten, denen Geld zwar nicht «etwas Heili
ges», aber etwas mit allen Mitteln zu
Erstrebendes darstellen mag...
.Geld ist nur ein Ausdruck für den Wert,
den irgend etwas Geistiges in der mate
riellen Welt sich zu erringen vermag.
.Geistige Werte sind auch in letzter Linie
Besitz und Vermögen, denn es gibt
59 Das Buch vom Glück
keinen Besitz und gibt kein Vermögen, von
denen nicht zu behaupten wäre, daß sie in
irgendeiner Weise geistigen Werten ihren
Ursprung dankten.
.Willst aber Du, der Du dieses «Buch vom
Glück» zur Hand nimmst, wirklich in heuti‐
ger Zeit Dein Glück gestalten, dann wirst
Du schwerlich am «Gelde» vorübergehen
können. ‒
.Du wirst erkennen müssen, daß Geld
durchaus nicht die «schmutzige» Sache ist,
als die man es Dir zu verdächtigen pflegte,
und Du wirst mit einiger Ehrfurcht vom
Gelde reden lernen müssen, willst Du wirk‐
lich seinen Wert erfassen. ‒
.Ich wiederhole nochmals: Geld ist etwas
Heiliges, denn es drückt die Wertung aus,
die sich geistige Bedeutung irgendwel‐
cher Art in dieser Welt der Materie zu ver‐
schaffen wußte.
.Den allermeisten Menschen ist Geld frei‐
lich nur zur «Bezahlung» da, und sie ahnen
nicht, daß man auf dieser Erde auch in
anderen Werten bezahlen kann, ja mei‐
stens bezahlen muß. ‒ ‒ ‒
.Die Eignung des Geldes als Ausdruck
60 Das Buch vom Glück
höherer geistiger Werte ist ihnen
fremd, und sie empfinden es als Profana‐
tion, wenn man vom Gelde als «Ausdruck
geistiger Werte» spricht.
.Trotzdem gibt es keinen klareren Beweis
der Wirkung geistiger Werte in dieser mate‐
riellen Welt, als den, der durch Geld oder
Geldeswert zu bezeichnen wäre.
.Alle hohen geistigen Werte, die jemals auf
dieser Erde erschienen, bewegten mannig‐
fach Geld und Geldeswert.
.Wollen geistige Werte sich auf dieser
Erde Geltung verschaffen, so müssen sie
quasi mit der Materie eine Verbindung
eingehen, müssen selbst «materiell» wer‐
den, um Materie zu bewegen. ‒
.Nicht anders können sie Materielles auch
nur von ihrem Dasein in Kenntnis setzen.
.Ein noch so hoher geistiger Wert, dem es
nicht gelingt, die allgemein gültige Aus
drucksform materieller Werte, ‒ das
Geld, in Bewegung zu setzen, wird der
Menschheit nicht faßbar, nicht nutzbar
werden. ‒
.Je größer die Summen sind, die ein gei‐
stiger Wert in Bewegung setzt, desto fester
61 Das Buch vom Glück
wird er sich hier in der materiellen Welt
verankern. ‒ ‒ ‒
.Daraus kannst Du eine Lehre ziehen!
.Du darfst niemals erwarten, mit all Dei‐
nem «Idealismus» der Menschheit Gutes
geben zu können, und ihn zum Siege zu
führen, solange Du noch Geld und Geldes‐
wert verachtest. ‒ ‒
.Gewiß sollst Du nicht «vor dem Götzen
Mammon knien» und den Geldbesitz als
Endzweck erstreben. Dein ganzes Trach‐
ten soll vielmehr als Ziel nur die Bewe
gung des Geldes sehen, soll Dir weniger den
Besitz, als die Möglichkeit schaffen,
immer größere Summen im Dienste geistiger
Werte «ins Rollen» zu bringen. ‒ ‒
.So wenig Geld Du auch Dein Eigen nennst,
sollst Du doch der Kraft bewußt sein, die in
jedem Pfennig steckt, einem Steinchen
gleich, das eine Lawine verursachen kann,
die größten Summen in Bewegung
setzen zu können. ‒ ‒ ‒
.Und Du mußt der bewegenden Kraft, die
hinter dem Gelde steht, auch Vertrauen
schenken!
62 Das Buch vom Glück
.Diese magische Kraft reagiert sehr emp‐
findlich auf jeden Mangel an Vertrauen,
wie sie auch umgekehrt, ein unerschütter
liches Vertrauen, das mit Geduld ge‐
paart ist, niemals enttäuscht.
.Je mehr Geld Du für eine an sich gute
Sache «arbeiten» lassen kannst, desto mehr
Aussicht wirst Du haben, dieses Geld im
Laufe der Zeit mit Zins und Zinseszins zu‐
rückerstattet zu erhalten.
.Wenn Du aber nur kärglich, und erfüllt
von Mißtrauen, Deines Geldes Kräfte er‐
proben willst, dann kommst Du gar leicht
in Gefahr, auch das Wenige zu verlie
ren, mit dem Du den Einsatz zögernd
wagtest. ‒ ‒
.Gewiß sollst Du nicht über Deine
Kräfte hinaus waghalsig spekulieren, und
immer vorher wohl bedenken, ob die Sum‐
men, die für eine Sache gefordert werden,
mit Deinem verfügbaren Besitz in Ein
klang stehen, sonst kann das geistig wert‐
vollste Gut, das durch Dein Geld in der Welt
der Materie verankert werden soll, für Dich
zum Fluch und Unglück werden. ‒
.Eine jede Sache, durch die Du der
63 Das Buch vom Glück
Menschheit wirklichen Nutzen bringst,
wird früher oder später mit aller Sicher
heit auch neue materielle Werte schaf‐
fen, aber jede Sache verlangt auch den ihr
entsprechenden Einsatz, und wenn er Dir
nicht zur Verfügung steht, dann ist es bes‐
ser, Du läßt Deine Hände völlig aus dem
Spiele, auch wenn Dir die Förderung dieser
Sache hohen Gewinn zu versprechen scheint
und allen Menschen großen Vorteil bringen
könnte.
.Du würdest nur von vornherein unehr
lich handeln, wenn Du einen Gewinn er‐
warten wolltest, ohne den ihm entsprechen‐
den Einsatz riskieren zu können.
.Niemals auch darfst Du das Geld ande
rer Menschen für eine Dir am Herzen
liegende Sache in Bewegung setzen, wenn
Du nicht mit Sicherheit weißt, daß jene
Anderen auch den erforderlichen vollen Ein‐
satz zur Verfügung haben, der ihnen
letztlich die Schaffung neuer Werte und
damit den ihrem Einsatz entsprechenden
Gewinn verbürgt.
.Du könntest nur sonst jene Anderen um
ihre Habe bringen, und Dich allein würden
64 Das Buch vom Glück
die geistigen Gesetze des Menschheitsganzen
dann für den angerichteten Schaden haftbar
machen.
.Diese Gesetze wissen einen Jeden auf
irgendeine Weise zu erreichen und sie for‐
dern dann Begleichung bis zum letzten
Heller, ganz gleich, in welchen Äqui‐
valenten Du allein Entschädigung leisten
kannst, und wenn auch der Andere, den
Du geschädigt hast, persönlich nicht da‐
durch entschädigt werden wird.
.Den Gesetzen im geistigen Menschheits‐
Gesamtorganismus ist es niemals darum zu
tun, den Einzelnen etwa zu «entschädi‐
gen» oder den Schadenstifter zu «bestra‐
fen». ‒ Sie haben nur Ausgleich zu schaf‐
fen im organisch verbundenen Leben des
gesamten Ganzen, und jeder Einzelne
tritt ihnen für den Anderen ein, ‒ kann, ohne
es zu ahnen, Werkzeug werden ihrer uner‐
bittlich sicheren, automatisch geregelten
Tätigkeit...
.In höherem Sinne gibt es keinen wirk‐
lichen Geld-Besitz!
65 Das Buch vom Glück
.Der scheinbar Besitzende ist stets nur der
zeitweilige Verwalter eines Teiles, der
jeweils in der materiellen Welt durch das
Wirken der Menschheit im Ganzen geschaf‐
fenen Werte. ‒
.Die Höhe des scheinbaren Geld-Besit
zes zeigt nur die Eignung eines Menschen
als Werte-Verwalter an, und wer da Weni
ges getreu zu verwalten weiß und damit
neue Werte schafft, den werden die
geistigen Gesetze im Menschheits-Gesamt‐
organismus mit aller Sicherheit einst auch
über Vieles als «Verwalter» setzen, wenn
sein Wille, und nicht nur sein Wünschen,
ernsthaft danach begehrt. ‒ ‒ ‒
.Die «steten Fehlschläge», über die so
viele, anscheinend tüchtige Leute zu klagen
haben, sind immer nur der Beweis dafür,
daß sie in irgendeiner Weise gegen geistige
Gesetze gewohnheitsmäßig verstoßen,
ohne es zu wissen. ‒ ‒
.Entweder ist der Wille nur matt und
wird durch Wünsche ersetzt, oder es wird
nur ein Teil der Gesetze erfüllt, der andere
aber unbeachtet gelassen...
.Sehr viele wissen auch nicht, daß es
66 Das Buch vom Glück
durchaus nicht in ihrem Belieben
steht, bis zu welcher Höhe sie neue mate‐
rielle Werte erzeugen wollen, sondern daß
jeder Einsatz seine bestimmte Summe
neuer Geldes-Werte schaffen muß, ob diese
Summe nun über oder unter dem er
wünschten Ergebnis steht. ‒ ‒
.So arbeiten Manche jahraus, jahrein und
sorgen sich wegen ihrer «Mißerfolge», nicht
ahnend, daß sie an irgendeiner Stelle grobe
Verstöße gegen geistige Gesetze begehen,
deren Bestehen ihnen niemals zum Be‐
wußtsein kam.
.Nun könnte man leicht vermuten, ich
hätte hier lediglich solche Menschen im
Auge, die da mit eigenem oder fremdem
Gelde ihre eigenen Unternehmungen
leiten.
.Ich denke jedoch nicht minder an alle die
Tausende, die in irgendeines Anderen Dien‐
sten stehen.
.Hier müssen oft ganze Kategorien
durch die Verstöße Einzelner leiden, und
darum wächst hier die Verantwortung des
Einzelnen ins Riesenhafte an, während die
67 Das Buch vom Glück
Beachtung der geistigen Gesetze, von
denen ich spreche, gleichfalls jeweils Tau
senden ihren Weg erleichtert.
.Mit dem Moment, in dem Du Dich zum
Dienste für das Unternehmen eines Anderen
verpflichtest, übernimmst Du alle Verant
wortung für den Dir anvertrauten Teil
seines Unternehmens, und alle Verstöße
gegen geistige Gesetze, die Du Dir zu schul‐
den kommen läßt, werden für Dich die
gleichen Folgen zeitigen, als wenn Du für
eigene Rechnung Dein eigenes Unterneh‐
men leiten würdest.
.Ich kann Dir keinen besseren Rat geben,
als an Deiner Stelle, mag sie hoch oder un‐
bedeutend sein, stets so zu handeln, wie du
handeln würdest, wenn Du in Deinem
eigenen Unternehmen die gleichen Ob‐
liegenheiten zu erfüllen hättest.
.Fühlst Du Dich «schlecht besoldet», so
versuche, im Rahmen der gegebenen
Möglichkeiten eine bessere Entlohnung
zu erhalten, aber vergiß nicht, daß auch die
schlechteste Entlohnung Dich niemals
von Deiner Pflicht befreit, gemäß den
68 Das Buch vom Glück
geistigen Gesetzen zu denken und zu han‐
deln, die im Bereiche des Geldes befolgt
werden wollen, sollst Du nicht Schaden
erleiden, weil Du für eines Anderen Scha‐
den Ursache schaffst! ‒ ‒
.Auch mußt Du wissen, daß Deine Ent‐
lohnung durch geistige Gesetze stets in
gerechtester Weise, genau Deinem Ein
satz an Arbeit entsprechend, bemes‐
sen wird, ‒ so daß alles, was Dir der Andere,
dem Du dienst, etwa vorenthalten mag,
Dir einst, auf irgendeine Weise, auf Heller
und Pfennig erstattet werden muß, während
im anderen Falle, ‒ wenn Du höhere Ent‐
lohnung erreichst, als Dein Einsatz an Ar‐
beit und Interesse rechtfertigen mag, ‒ mit
absoluter Sicherheit, früher oder später,
alles von Dir gefordert werden wird, was
Du zuviel empfangen hast. ‒ ‒
.Dem steten Ausgleich, den diese geistigen
Gesetze schaffen, gilt jede Wertform gleich,
so daß Dir vielleicht in völlig anderer
«Währung» gegeben oder entzogen werden
mag, was Dir zusteht, oder was Du unge‐
rechterweise empfangen hast. ‒ ‒
.Geld ist der Vertreter aller materiellen
69 Das Buch vom Glück
Werte und es ist für den Ausgleich, den die
geistigen Gesetze schaffen müssen, völlig
einerlei, durch welchen dieser Werte sie
den Ausgleich bewirken, oder ob sie ihn
durch den Vertreter aller materiellen Wer‐
te ‒ durch Geld ‒ bewirken können. ‒ ‒ ‒
.Nun wirst Du auch verstehen, weshalb ich
Geld «eine heilige Sache» nannte, ‒ vertritt
es doch jeden Wert, den die materielle
Erde spendet, ‒ ist es doch Ausdruck allen
Wertes, den Geistiges hier durch seine
Einwirkung auf die Materie schafft,
und gleichzeitig dieser Einwirkung Zwi‐
schenglied und Träger! ‒
.Wohl oder übel wirst Du auch Geld zu den
Wirkungsmitteln Deines irdischen Glückes
rechnen müssen, und willst Du Dein Glück
Dir schaffen, mußt Du auf die Gesetze
achten lernen, denen Geld und aller
materielle Wert, den Geld vertritt, stets
nur ein Diener geistiger Impulse ist...
70 Das Buch vom Glück
OPTIMISMUS
.Wer entschlossen ist, sein Glück zu schaf‐
fen, für den gibt es keinen «grauen All
tag», keine Furcht und keine Sorge mehr!
.Er weiß eine Macht in sich, die alles
Trübe, alles Drohende bezwingt.
.Er wird sich heute nicht um das, was
«Morgen» sein mag, sorgen, und doch wird
jeder seiner Tage ihm den kommenden
Tag in bester Weise vorbereiten. ‒
.Er wird zu lernen wissen, in der Gegen
wart zu leben, und als ein Schaffender
das Gegenwärtige zu formen.
.Er wird der Bildner seines eigenen Le
bens sein, und wird die Kunst, das Leben
lebenswert zu machen, durch Beispiel,
Alle, die ihm nahekommen, lehren.
.Zwar wird er nicht Allzuviele als seine
Schüler sehen, allein ein Jeder, dem er
durch sein Beispiel Lehre gibt, wird als
«Geheilter» durch diese Lehre auch wieder
71 Das Buch vom Glück
Andere «heilen» und so die kranken Zellen
im Menschheits-Gesamtorganismus vermin‐
dern helfen.
.Wahrlich, es ist nötig, daß die «kranken
Zellen» im geistigen Menschheitsleibe ge
sunden, und jeder Einzelne ist hier
verpflichtet, zu ihrer Heilung das Seinige
beizutragen.
.Jeder trägt eine Schuld von Äonen in
sich, die es abzutragen gilt, denn was auch
immer an diesem Gesamtleib der Mensch‐
heit krank und bresthaft ist, das hat
jeder Einzelne im «Ur-Sprung» mit
verschuldet, als sich die Menschheit
aus ihrer Gottheit löste...
.Der ganze unendliche Kosmos könnte ein
Garten unnennbarer Seligkeit sein, wäre
jener Ur-Sprung niemals erfolgt, den erst
Äonen wieder schließen können.
.Aber auch heute, auf unserem Wege
durch diese Äonen, kann die Erde viel mehr
Glück erstehen sehen, als die Menschheit
ahnt und glauben will, wenn auch in dieser
Weltenperiode gewiß kein «himmlisches»
Leben auf Erden erreichbar ist.
72 Das Buch vom Glück
.Es kommt nicht auf neue Gemein
schaftsformen im äußeren Leben der
Völker und Länder an, soll die Fülle irdi‐
schen Glückes, die erstehen kann, zu Le‐
bens-Wirklichkeit erstehen.
.Alle äußere Gemeinschaftsform ist nur ein
Notbehelf, zu dem uns ein dumpfes Ahnen
unserer Einheit im geistigen Mensch
heitsorganismus rät, damit wir nicht
völlig uns des Bewußtseins unserer Ein
heit im Geiste entwöhnen.
.Es ist nur ein «Gliederbewußtsein»,
das noch durch «Staatenbildung», «Na‐
tion» und «Volkstum» erhalten bleibt, aber
für den, dem es nicht gelingt, sich als Teil
und Mittelpunkt des ganzen geistigen
Menschheitsleibes zu empfinden, mag auch
das Bewußtsein vorerst noch genügen, Teil
eines Gliedes dieses geistigen Leibes zu
sein, um so nicht gänzlich aus aller Ein‐
heit und allem Lebensfluidum des Mensch
heits-Ganzen sich zu lösen. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Töricht aber, und einer Selbstbesude
lung gleich, ist jeder Haß und jede Ver
achtung eines dieser Menschheitsglieder
gegen ein anderes!
73 Das Buch vom Glück
.Es ist ‒ Verwesungsgeruch, der um den
Haß solcher Einzelglieder der Menschheit
sich verbreitet...
.Immer beweist er Fäulnis und Zer
setzung ihrer einzelnen Zellen!
.Oft auch ist es der giftige Dunst eines
Pestgeschwürs, der Gestank von Eiter
beulen, die an dem erkrankten Gliede zeh‐
ren und ihm sein Lebensmark zu rauben
drohen. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.«Wer den Fremdling und den Mann
des anderen Stammes nicht zu ehren
weiß, der ist unwert, der Sohn eines
edlen Volkes zu heißen» ‒ sagt tiefste
östliche Weisheit, die im Besitze höchster
Erkenntnis bestrebt war, das Volk zur
Achtung vor sich selbst zu erziehen...
.Wirkliche Achtung vor Dir selbst kannst
Du nur erlangen, wenn Du Deine Verant
wortung kennst, und Du kannst Deine
Verantwortung nicht kennen, solange Du
nicht weißt, daß Du als ein Teil des
geistigen Menschheitsganzen nicht nur Dir
selbst, sondern auch diesem Ganzen
verantwortlich bist. ‒ ‒ ‒
74 Das Buch vom Glück
.Bist Du ein Schöpfer Deines Glückes, so
vermehrst Du die Menge des Glückes auf
dieser Erde und dienst damit mehr dem
Menschheitsganzen, als wenn Du die
weltbeglückendsten Theorien in der äußeren
Welt zu verwirklichen strebst. ‒
.Mêng tse sagte: «Das rechte Handeln
richtet sich auf das Naheliegende, aber
alle suchen es im Fernliegenden; das
rechte Tun besteht in dem leicht zu Voll
bringenden, aber alle suchen es im schwer
Erfüllbaren.» ‒ ‒ ‒
.So suchst auch Du vielleicht noch, im
Wahne: «Großes» tun zu müssen, nach dem
«schwer Erfüllbaren», ‒ suchst hohe
Ziele außer Dir, während Dein höchstes
Ziel Dir so nahe liegt, da es nur in Dir
selbst zu finden ist. ‒ ‒ ‒ ‒
.Erziehe Dich selbst und Du wirst
durch Dein Beispiel ein Erzieher der
Menschheit sein, ohne Dir Rechte an‐
gemaßt zu haben, die man Dir nicht über‐
tragen hat! ‒
.Schaffe Dir selbst Dein Glück, und Du
75 Das Buch vom Glück
wirst glückliche Menschen um Dich schaf‐
fen, wirst dem «Glück der Menschheit»
eine Gasse bahnen! ‒
.Um Dir Dein Glück zu schaffen, mußt
Du jedoch, trotz allem Übel, trotz allem
Schlechten, das Dir begegnen mag, mit
unerschütterlicher Energie Dir den Glau
ben an die siegende Kraft alles Guten
erkämpfen.
.Du darfst niemals den Mut verlieren,
wie trübe sich auch die Wetterwolken über
Deinem Haupte zusammenballen mögen! ‒ ‒
.Bist Du krank, dann er-glaube Dir Deine
Gesundheit, und wenn Dein Körper noch
zu retten ist, dann werden die Ärzte, denen
Du Dich vertraust, Dir dankbar für Deine
Hilfe zur Genesung sein! Ist aber Deinem
Körper nicht mehr aufzuhelfen, dann hast Du
durch Deinen Glauben Dir einen Fond an
Energien geschaffen, der Deinem geisti
gen Körper dienen wird, sobald Du diesen
Körper der sichtbaren Erde, der Dich quälte,
von Dir abgespalten haben wirst.
.Bist Du in materieller Not, so «er
glaube» Dir materielle Hilfe, und höre
76 Das Buch vom Glück
nicht auf, Deinen Glauben mit allen Mitteln
lebendig und wirksam zu erhalten, bis
Hilfe eingetroffen ist, ‒ während Du gleich
zeitig in aller Ruhe die Wege weiter be‐
schreitest, von denen Du nach äußerem Er‐
messen, auch ohne Deine Glaubensmagie,
Dir Hilfe erwarten würdest.
.Vielleicht wird die magische Kraft des
Glaubens sich mit diesen Wegen verbinden,
vielleicht auch kommt Dir Hilfe von einer
Seite her, von der Du sie sicher nicht erwar‐
tet hättest.
.Aber niemals darf Dich Dein Vertrauen
in die Kraft des Glaubens dazu verleiten, die
Hände müßig in den Schoß zu legen, so
wenig wie Du, im Falle der Krankheit, die
Dir nach äußerem Ermessen gebotene Hilfe
ausschlagen darfst. ‒
.Die Kraft Deines Glaubens würde den
Lebensnerv verlieren, wenn Du nicht auch
zu gleicher Zeit alle anderen Energien
nach der gleichen Richtung hin anspannen
würdest, ‒ und wenn dann auch schließlich
die Hilfe aus einer Richtung kommt, nach
der Du niemals Ausschau gehalten hast,
wenn es auch den Anschein gewinnen sollte,
77 Das Buch vom Glück
als wäre Dein äußeres Mühen «völlig über‐
flüssig» gewesen, so lasse Dich dennoch da‐
durch nicht verleiten, in einem späteren
Falle die äußeren Mittel, die Dir zu Ge‐
bote stehen, zu verschmähen.
.Du würdest es bitter bereuen müssen,
denn die Kraft Deines Glaubens kann die
Anspannung aller Deiner Energien niemals
entbehren, wenn sie für Dich wirksam wer‐
den soll. ‒ ‒
.Ohne die Anspannung aller Deiner übri‐
gen Kräfte ist die Kraft Deines Glaubens
biegsames Blei, ‒ erst dadurch, daß Du
trotz allem Vertrauen in die Kraft Deines
Glaubens jede nur auffindbare Ener
gie in Dir, um Dir selbst zu helfen,
auch nach außen hin tätig werden läßt,
wird die Kraft Deines Glaubens zu federn
dem Stahl, zu einer «Toledoklinge», die
auch am härtesten Widerstand nicht zer‐
bricht und schließlich den Knoten durch‐
schlägt und durch-schneidet, der sich
anders nicht mehr lösen läßt...
.In jeder Sorge, in jeder Art Not, gilt
dieses gleiche Verfahren, wenn Du die
78 Das Buch vom Glück
magischen Kräfte des Glaubens in
Deinem Alltagsleben erproben willst. ‒
.Die meisten Menschen verstehen nicht
wirksam zu glauben, weil sie in irgend‐
einer Lage einmal vergeblich versuchten, die
magische Kraft des Glaubens in ihre Dienste
zu zwingen, und es unterlassen hatten, zu
gleicher Zeit alle Energie zu gebrauchen,
um sich von außen her selbst eine Hilfe
heranzuholen...
.So fallen sie nun in den entgegengesetzten
Fehler und suchen alle Hilfe nur in äuße
ren Dingen, mühen und quälen sich mit nur
geringem Erfolg, weil sie die größte Kraft,
über die sie gebieten könnten, nicht in der
richtigen Weise einst zu gebrauchen wuß‐
ten und darum kein Vertrauen mehr in
die helfende Kraft des Glaubens setzen
können. ‒
.Mangel an Einsicht in die Wirkungs
bedingungen geistiger Kräfte hindert die
meisten Menschen an dem gesetzmäßig siche‐
ren Aufbau ihres irdischen Glückes.
.So kommen sie in die Lage, sich für aus
geschlossen von jeder Glückes-Möglich
keit zu halten, und in dieser Geistesver‐
79 Das Buch vom Glück
fassung flieht sie tatsächlich jedes Glück.
‒ ‒
.Willst Du Dein Glück begründen auf
dieser Erde, dann mußt Du mit unerschüt
terlichem «Optimismus» auf Dein
Glück und auf Dein gutes Recht zum Glück
vertrauen!
.Du mußt wissen, daß Du nur Deine
Pflicht erfüllst, wenn Du mit allen gerech‐
ten Mitteln Dein Erdenglück, das wahr‐
lich mehr als ein Herden-«Glück» sein
kann, erstrebst. ‒
.Aus allem, was Dir begegnet, mußt Du
ein, wenn auch noch so winziges, Fünkchen
Glück herauszuschlagen suchen und stets
mußt Du bestrebt sein, alles zu Deinem
Glück zu deuten!
.Vom Morgen bis zum Abend darf kein
Geschehnis, und sei es auch noch so unbe‐
deutend, an Dir vorüberziehen, aus dem Du
nicht irgendein noch so kleines Glück Dir
herauszuholen weißt.
.Jeder Blick Deiner Augen, alles was Du
hören magst, muß Dir irgendein Weniges
als Glücks-Tribut hinterlassen und Du mußt
Dich so daran gewöhnen, wie Dich das Glück
80 Das Buch vom Glück
tatsächlich auf all Deinen Wegen verfolgt,
daß es Dir «selbstverständlich» wird,
wenn Dir ein großes Glück dereinst be‐
gegnet. ‒ ‒ ‒
.Ohne die stete Gewöhnung, auf allen
Wegen dem Glück auf allerlei Weise und
auch im allerkleinsten Ausmaß begegnen zu
wollen, wirst Du nicht die richtige
Atmosphäre schaffen, die Du brauchst, um
Dir Dein volles Erdenglück zu gestalten. ‒
.Du mußt für Dich und Andere ein Ma
gnet des Glückes werden, wenn du bald
und ohne Fehlschlag zum Schöpfer Deines
Glückes werden willst. ‒
.Du mußt sozusagen vorher schon lernen,
passiv glücklich zu sein, bevor Du als
aktiver Schaffender an die Gestaltung
Deines von Dir gewollten Glückes gehst.
.So bewirkst Du in Dir eine Geistesver‐
fassung, die Dich die geheimen geistigen
Gesetze erfühlen läßt, denen das Glück
gehorcht.
.So wirst Du Dir selbst mit Sicherheit
Dein Glück verschaffen und wirst es zu
erhalten wissen, aber gleichzeitig wirst
Du auch die Möglichkeit erhöhen, daß An
81 Das Buch vom Glück
dere, gleich Dir, auf dieser Erde wirklich
alles Glück sich erobern, das diese Erde
ihnen zu geben hat, und das sie nur nicht
finden, weil sie noch nicht wissen, daß sie
selber allein die Schöpfer ihres Glückes
werden können...
.Kein Unglück in dieser Welt des reich‐
lichen Unglücks ist so groß, daß es dau
ernd dem Glück den Weg versperren
könnte!
.Mit jedem Fünklein Glück aber, das Du
in Deinem Bewußtsein als Glück emp
findest, bringst Du eine der abertausend
kleinen Unglücks-Quellen auf dieser Erde
zum Versiegen, ‒ und wenn Du erst wirklich
Dein Glück Dir geschaffen haben wirst,
dann hast Du für immer die Menschheit von
einem der großen Moraste des Unglücks
befreit, die durch die Unbedachtsamkeit und
Unbelehrtheit von Jahrtausenden entstan‐
den sind, und nur durch die Sonnen selbst
geschaffenen Glückes Einzelner aus‐
getrocknet werden können.
.Je mehr solcher einzelner wahrhaft
Glücklicher diese Erde trägt, desto mehr
82 Das Buch vom Glück
wird die Kraft des Chaos von ihrer Ober‐
fläche verschwinden, die heute noch so viel
Unglück schafft. ‒ ‒ ‒
.Es ist Sisyphus-Arbeit, das Unglück
auf dieser Erde anders tilgen zu wollen,
denn Glück und Unglück sind nur Ergebnis
restloser Auswirkung geistiger Gesetze, aber
niemals werden die okkulten Kräfte, die alles,
was wir «Unglück» nennen, automatisch in
diesem Weltall wirken, zu paralysieren
sein, wenn nicht die Kräfte des Glücks
durch stetes bewußtes Empfinden, wie
der galvanische Strom in einer Spirale von
Kupferdraht, derart verstärkt zur Wirkung
gelangen können, daß sie die Kräfte des
Unglücks aus ihrer Richtung zu rei
ßen vermögen, so daß sie genau so auto‐
matisch dann dem schöpferischen Auf
bau in der Welt des Menschen dienen müs‐
sen. ‒ ‒ ‒
.Um alle «Unglückskräfte» im weiten
Weltenraum aus ihrer verderblichen Rich‐
tungsbahn zu lenken, reicht unsere Erden
Willenskraft nicht aus, und ihren Ein‐
83 Das Buch vom Glück
fluß würde der Mensch der Erde immer noch
verspüren, auch wenn es gelänge, aller Un‐
glückskräfte in diesem Erden-Planeten Herr
zu werden. ‒ ‒ ‒
.Aber auf dieser Erde, auf dem Plane‐
ten, der ihn trägt, kann jeder einzelne
Mensch, durch seinen Willen zum Glück,
wahre «Wunder» bewirken, und je mehr der
Menschen sich in dieser Hinsicht üben, desto
größer wird die Zahl der Glücklichen, der
Glückes-Träger hier auf dieser Erde wer‐
den. ‒
.Da aber alles mit Allem verbunden und
durch geheimnisvolle Kräfte in Verknüp
fung ist, so wirkt das vermehrte Glück auf
dieser Erde auch «hinaus» auf den gan
zen Weltenraum, und keine Vorstellung
ist zu phantastisch, um nicht noch immer
hinter der Wirklichkeit zurückzu
bleiben, ‒ will sie sich ein Bild jener Wir
kungen gestalten, die durch ein rapid ver‐
mehrtes Glücksempfinden auf dieser
Erde, bis in die entferntesten Räume der
Sphären ausgelöst werden können...
84 Das Buch vom Glück
SCHLUSSWORT
.Die Wenigen, die diese Gesetze schon seit
grauer Urzeit kannten und danach lebten,
waren lange genug verhindert, ihr Wissen
anders als nur an ihre erprobten Schüler auf
Erden weiterzugeben. Sie fanden in Jahr‐
tausenden die mannigfachste Gelegenheit,
diesen geistigen Gesetzen, auf denen das
vorliegende Buch beruht, bis in ihre letzten
Verzweigungen nachzuspüren und, was die
Wirksamkeit betrifft, sie an sich selbst
und im eigenen Leben zu erproben.
.Du kannst Dich mit gutem Grunde dieser
Führung anvertrauen und wenn Du ein
Weiteres über ihre Art zu wissen begehrst,
so werden Dir meine Bücher: «Vom leben‐
digen Gott», «Vom Jenseits» und «Vom
Menschen», sowie «Das Buch der könig‐
lichen Kunst» und «Das Buch der Ge‐
spräche», in genügender Weise allen Auf‐
schluß geben.
85 Das Buch vom Glück
.Ich beende hier nun das «Buch vom
Glück» mit dem innigen Wunsch, daß es
Dir die Wege zeigen möge, auf denen Du
zu einem Schöpfer Deines Glückes
wirst. ‒
.Es ließe sich ja noch so Vieles sagen über
die Arten des Glückes, das Du auf dieser
Erde Dir schaffen kannst, allein Du wirst
wohl nicht vermuten wollen, daß ich etwa
irgendein menschliches Glück geflissentlich
übersehen habe, weil in diesem Buche nicht
davon die Rede ist...
.Wenn Du recht zu lesen weißt, dann wirst
Du für jede Art des Glückes auf dieser Erde
wohl anwendbare Lehre finden. ‒
.Ich wollte Dir hier nur in der gedrängte
sten Form alles Wesentliche sagen, was
Du bei allen Arten menschlichen Glückes
zu beachten hast und ich habe nur einzelne
Elemente menschlichen Glücks auf dieser
Erde herausgegriffen, bei denen besonders
klar zu zeigen war, was diese Lehre vom
Glücke sagen will. Es war mir nicht möglich,
jede Wiederholung stets zu vermeiden. Ich
hätte das nur auf Kosten der Deutlichkeit
wagen dürfen.
86 Das Buch vom Glück
.Dagegen war ich bemüht, so wenig Seiten
wie nur möglich zu gebrauchen, und dennoch
alle die Punkte zu berühren, die mir für
Deine klare Einsicht in die Materie wertvoll
erschienen.
.Ich möchte nicht, daß man meine Bücher
liest wie Novellen, die man aus der Hand
legt, wenn man auf der letzten Seite ange‐
langt ist, um sie vielleicht nie mehr im Leben
in die Hand zu nehmen.
.Ich weiß bereits von Vielen, denen meine
Bücher ständige Lebensbegleiter wur‐
den, und ich hoffe, daß sie es noch Vielen
werden mögen.
.Wenn ich aber auch jedes meiner Bücher
in der Absicht schrieb, meinem Leser einen
ständigen Berater an die Hand zu geben,
so wünschte ich doch ganz besonders, daß
dieses «Buch vom Glück» keinem seiner
Leser jemals außer Seh- und Reichweite
käme, denn während ich in anderen Büchern
von Dingen handle, die oft gar weit vom
Leben des Alltags sich entfernen, glaube ich
hier doch so Manches gesagt zu haben, zu
dem ein jeder Tag den Anlaß bringen kann,
87 Das Buch vom Glück
aufs neue das Buch zur Hand zu nehmen,
um sich mit seiner Lehre völlig vertraut zu
machen.
.Es wird Dir gewiß in keinem Falle zum
Schaden gereichen, und kann Dich vielleicht,
‒ wie sehr Du auch heute noch der allzeit
pessimistischen Denkungsart ergeben
sein magst, ‒ im Laufe der Zeit, trotz allem
äußeren Ungemach, das Dich umgibt ‒ ‒
zum glücklichen Optimisten machen...
.Du darfst Dich nicht von jenen Leuten
irreführen lassen, die Dir aus ihrer «Lebens‐
erfahrung» heraus beweisen wollen, daß das
Glück den Erdenweg so mancher Menschen
fliehe, trotzdem sie stetig ihm entgegen‐
strebten.
.Wer solche Lebenserfahrung macht, der
frage sich vielmehr, durch welchen Irrtum
er dem Glück, das ihn erreichen wollte,
selbst den Weg verbaute!...
.Er frage sich, ob nicht seine eigene «Be‐
triebsamkeit» das Glück von seiner Seite
scheuchte? ‒
.Wohl will alles Erdenglück von Dir ge
schaffen werden, aber die stille Tätigkeit
88 Das Buch vom Glück
des Schaffenden ist gar weit entfernt von
jener unruhvollen Besorgtheit, die immer
ängstlich darauf bedacht ist, nur ja «nichts
zu versäumen», und darüber das Beste, die
Ruhe der Seele, versäumt, ohne die das
Glück auf dieser Erde niemals zu erlangen
ist. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Erzeuge in Dir einen heiteren Glauben an
Deine Berechtigung zum Glück und laß
Dich durch kein Mißlingen jemals aus dem
sicheren Gehege Deines wohlbegründeten
Glaubens vertreiben!
.Sei überzeugt, daß allezeit Kräfte und
Mächte am Werke sind, Dir zu helfen, sobald
Du nur selbst Dein Glück Dir erringen
willst und nicht nur in kraftlosem Wün
schen nach Glück verlangst! ‒ ‒ ‒
.Gehe gelassen Deinen Dir gegebenen Er‐
denweg und bewahre stets Deine innere
Ruhe, wie sehr auch von außen her die
«Schicksals-Schläge» regnen mögen.
.Läßt Du Dich aus Deiner Ruhe zerren,
dann bist Du freilich verloren, aber niemals
werden Dich die Kräfte, die auf dieser Erde
Unglück schaffen, wirklich besiegen kön‐
89 Das Buch vom Glück
nen, wenn Du in steter sicherer Ruhe, trotz
ihres Wütens, auf Dein Glück und auf die
helfenden Mächte, die Dir zur Seite ste‐
hen, vertraust. ‒ ‒ ‒
.Du wirst mit einiger Ausdauer sicher
Dein Glück Dir zu schaffen vermögen, auch
wenn Du zu dieser Stunde noch umgeben
sein magst von «Unglück» aller nur er‐
denklichen Art. ‒
.Glaube nicht, was Dir andere Lehre von
der geringen Glückesmöglichkeit auf dieser
Erde vorerzählen mag!
.Glaube vielmehr an Dein Recht und
Deine Pflicht, zum Glücke zu gelangen,
und suche in heiterer Sicherheit, vertrau
end und festen Willens Dein Glück zu
schaffen, auf daß auch Du einst zu den
Glücklichen dieses Erdballs zählen magst.
90 Das Buch vom Glück
ENDE
HORTUS
CONCLUSUS
Verlagslogo
BERN
2. Auflage 1979
Unveränderter Nachdruck der ersten Auflage 1936
© 1936 and 1979 by Kober´sche Verlagsbuchhandlung AG
Bern
ISBN 3-85767-026-6
UM DEN FORDERUNGEN DES URHEBERRECHTES
ZU ENTSPRECHEN, SEI HIER VERMERKT, DASS
ICH IM ZEITBEDINGTEN LEBEN DEN NAMEN
JOSEPH ANTON SCHNEIDERFRANKEN FÜHRE,
WIE ICH IN MEINEM EWIGEN GEISTIGEN SEIN
BESTIMMT BIN IN DEN DREI SILBEN:
BÔ YIN RÂ
INHALT Seite
Gespräch an der Pforte 7
Von der Einfachheit in allem Ewigen 19
Vom Wechsel des Standortes
.und von den Stufen
29
Über Bewußtseinslagen und Leidhilfe 37
Vom Bewußtsein der Abgeschiedenen 45
Vom hohen Einsatz des Helfenden 55
Vom Spottbild des ewigen Ich 65
Nochmals über Wahrheit und Wirklichkeit 77
Von zeitlichem und ewigem Raum 83
Von asiatischem Religionsgut 91
Vom Mysterium des Morgenlandes 101
Über die Religionsformen 111
Über Zustimmung und Glaube 123
Von irrtümlichen Gottesbildern 133
Vom Sinn aller Belehrung 143
Wo ich nur Überbringer bin 151
Wem ich nichts zu sagen habe 159
Vom ewigen Seelenheil 167
Von der verzögernden Fragelust 175
Von zeitlicher und ewiger Seele 183
Was nach dem Tode bleibt 193
Von einem Namen und einem Notbehelf 203
Was man selber folgern sollte 211
Von arger Unterschätzung 221
Über die Zwangslage der Seelsorgerschaft 231
Wie Ewiges sich selbst „natürlich” ist 243
Zum Abschluß und Abschied 257
Originalscan1  Originalscan2
GESPRÄCH AN DER PFORTE
Dem nur auf seine gehirnlich bedingte Be‐
obachtung und seine gedanklichen Schlüsse
angewiesenen Menschen dieser Erde bleibt
fast alles, was an ihm „ewig” ist ‒ also
keiner wie immer vorgestellten Beendigung
oder Auflösung anheimfallen kann ‒ wahr‐
haftig ein „Hortus conclusus”: ‒ ein Um
schlossener Garten! Das Vorhandensein
eines solchen, den physischen Sinnen
wie allem Denken unzugänglichen Berei‐
ches wird zwar zuweilen geahnt, zuweilen
gefühlt, und innerhalb großer Menschen‐
gruppen geglaubt, aber der Ahnende, Er‐
fühlende, oder Glaubende bleibt außer
halb der Mauer, die den ihm verschlossenen
Garten des Bewußtseins eigener Ewig‐
keit: ‒ das „verlorene Paradies” ‒ von
den Gebieten erdenhafter Erkenntnismög‐
lichkeiten abgrenzt. Von Einzelnen, die sich
mit allem, was sie ahnen, erfühlen und
glauben, noch nicht zufriedengestellt
9 Hortus Conclusus
sehen, wird die trennende unübersteigbare
Mauer unermüdlich umwandert und
abgetastet, um vielleicht doch eine verbor‐
gene Lücke zu finden, die man erweitern
und durch die man sich dann hindurch‐
zwängen könnte. Die glücklichsten unter
diesen Suchern gelangen zu ihrer eigenen
Überraschung wirklich an die einzige und
nur schwer findbare enge Pforte, die den
Zugang zu dem „Umschlossenen Garten”
bilden könnte, wenn man sie nur zu öffnen
wüßte. Statt aber geduldig und vertrauend
zu warten, ob nicht etwa von innen her
eines Tages geöffnet werde, suchen fast
alle, die das Glück hatten, diese Pforte zu
entdecken, bei schlauen Schlossern die
wunderlichsten Nachschlüssel aufzutreiben
und vertun ihre irdische Lebenszeit mit
immer neuen und immer wieder erfolg‐
losen Versuchen, das nur vom Innern des
„Umschlossenen Gartens” her zu öffnende
10 Hortus Conclusus
Schloß von außen aufzubrechen. Vergeb‐
liche Mühe und verhängnisvolle Selbst‐
täuschung!
.Nur einer, der selbst des Ewigen bewußt,
in dem aller irdischen Zudringlichkeit un‐
erbittlich verschlossenen Garten aus eige‐
ner Geistnatur heimisch ist, vermag die
geheimnisvolle Pforte von innen her zu
öffnen, die jedoch, auch wenn sie so geöff‐
net wurde, keinen einläßt, der nicht alle
Belastung mit den Ergebnissen gedank
licher Spekulation, und alle Verkleidung
in die er sich bisher gehüllt hatte, von sich
wirft, um nackt und bloß, wie er aus seiner
Mutter Leibe hervorging, einzutreten.
.Meine ganze Lebensarbeit ist ein von
innen her erfolgendes, immer wieder er‐
neutes Öffnen der Pforte, von der aus ich
dann auf mannigfachen Wegen, alle, die
nichts anderes mit sich nehmen wollen, als
was an ihnen ewigem Leben zugehört, zu
11 Hortus Conclusus
den von mir auferbauten Lehrtempeln und
von mir gesetzten, mit Worten ewig gül‐
tiger Lehre beschrifteten Bildsäulen führe.
Jede Belehrung, die von mir meinen Mit‐
menschen gegeben wurde, ist umschlossen
von der Mauer dieses „Hortus conclusus”,
so daß ich mit Fug und Recht mein gesam
tes Lehrwerk unter diesem, mich selbst
mit ihm zusammenfassenden Namen hinter‐
lassen kann, der mir aus guten Gründen
angemessen erscheint, um das hier vorlie‐
gende Abschlußwerk symbolisch zu be‐
zeichnen. Auch dieses Buch macht Ant‐
worten, die im Laufe der Jahrzehnte Ein
zelnen privatim durch mich zuteil wurden,
nun Vielen zugänglich, und soll ebenso
wie das Buch der „Briefe an Einen und
Viele” den meinen Lehren Zugeführten
und Vertrauenden die Augen dafür öffnen,
daß die Bücher- und Schriftenreihe, in der
zu finden ist, was ich aus dem Ewigen her
12 Hortus Conclusus
zu geben habe, als ein Ganzes betrachtet
werden muß, das im Ewigen gründet
und nur zugänglich werden kann, wenn
die Bedingungen erfüllt werden, die das
Ewige fordert. Ich habe oft genug von die‐
sen Bedingungen gesprochen und sie in
den hier vorangehenden Zeilen aufs neue
charakterisiert.
Die Stätten im Innern des aller Neugier
immerdar verschlossenen Gartens, zu denen
ich die Berufenen nunmehr noch durch die‐
ses vorliegende Buch zu führen trachte, ge‐
ben mancherlei orientierende Ausblicke aus
seinen heiligen Hainen, von denen her die
Baugliederung der von mir errichteten Lehr‐
tempel in klarster Perspektive erkennbar
wird. Auch manche, bisher in ihrem unbe‐
absichtigten Versteck noch nicht entdeckte
Schrifttafel und beschriftete Säule wird dem
aufmerkenden Auge nicht mehr entgehen.
13 Hortus Conclusus
Ich weiß wahrhaftig, wie befremdlich die
in meinen Schriften dargebotene Lehre
den allermeisten meiner Mitmenschen er‐
scheinen muß, und ich verstehe nur zu
gut, daß der im Ewigen erfahrungsfremde
Mensch dieser Tage fürs erste noch außer‐
stande ist, in sein ihm anerzogenes Be‐
griffsbildungsvermögen im richtigen Sinne
aufzunehmen, was ich ihm leider auch über
mich selber zu sagen genötigt bin, will ich
ihn nicht vor Lücken stehenlassen, die er
aus eigener Erkenntnis nicht ausfüllen
kann. Nicht minder weiß ich Bescheid um
die vielerlei Formen der psychologisch mas‐
kierten Verdächtigungen, die verantwor‐
tungslose Voreiligkeit für alles, was ihr un‐
erklärlich erscheint, bereithält, als be‐
quemste Verbergung ihrer eigenen Urteils‐
ohnmacht. Angesichts der Unzahl gedank‐
lich spekulativer Erörterungen über das
Ewige, ist es mir auch durchaus begreif‐
14 Hortus Conclusus
lich, wenn man keinem seiner Mitmen‐
schen das Vermögen zutrauen mag, daß er
selbst imstande sei, vor jeder Selbsttäu‐
schung gesichert, sich im unanzweifelbar
Ewigen wach zu erleben.
.Alles richtige Verstehen erschwerend
wirken außerdem viele primitive religiöse
Vorstellungen, die nicht nur in hochaus‐
gereifte Religionen übernommen wurden,
sondern sich merkwürdigerweise von theo‐
logischen Begriffsbezirken her mit unkraut‐
artiger Zähigkeit auch in Gehirnen festzu‐
halten wissen, deren Eigner sich als hoch
über jedem Dogmatismus erhaben dünken.
Nicht geringer sind die gedanklichen Hin‐
dernisse, die, wie fäulnisgenährte gigan‐
tische Schlingpflanzen in tropischen Ur‐
wäldern, im Bereiche der philosophischen
Systeme alles Erkennen des wirklichen
Ewigen unmöglich machen.
.Es ist unter diesen hier nur summarisch
15 Hortus Conclusus
angedeuteten Umständen eine recht pein‐
volle Aufgabe, als Mensch unter Menschen
davon zu künden, daß man ‒ neben eini‐
gen wenigen, in strengster Verborgenheit
verharrenden Mitmenschen außereuropäi
scher Kulturkreise ‒ selbst Exponent des
Ewigen im Bereiche der Erdenmenschheit
ist, und dazu noch aus dem Ewigen her
unabweisbar bestimmt, als einziger Über‐
setzer in erdenmenschliche Sprache zu
übertragen, was nur in wortelosem Er‐
leben erkundbar wird. ‒ Man muß in sich
wahrhaftig jede Form versteckten oder offe‐
nen erdenmenschlichen Geltungstriebes
verlachen gelernt haben, soll man in sei‐
nem irdischen zeitbegrenzten Dasein nicht
an der Erfüllungsmöglichkeit der Aufgabe
verzweifeln! Nur unbegrenzte Liebe zu
allem ewig Liebenswerten, das man in je‐
dem seiner Mitmenschen gegeben sieht,
auch wenn es den meisten kaum bewußt
16 Hortus Conclusus
wird, erzeugt die Kraft, sich selber immer
wieder aus dem Ewigen her zu eröffnen,
trotzdem man weiß, daß man dennoch den
allermeisten seiner Mitmenschen ein „Hor‐
tus conclusus” bleibt.
17 Hortus Conclusus
VON DER EINFACHHEIT
IN ALLEM EWIGEN
Die Milde ewigen geistigen Lichtes wird
von überreizten Nerven nicht wahrgenom‐
men. Nur in der vorher erlangten unstör‐
baren heiteren Ruhe der Seele kann sich
das goldweiße Licht der Gottheit irdischem
Erfühlen offenbaren.
.Ich darf wahrhaftig über die Art des
Lebens und Erlebens im ewigen Geiste
mit innerster geistiger Vollmacht sprechen,
und so, wie es nur dem Selbsterfahrenden
möglich ist. Gerade darum aber muß ich
bekennen, daß auch im höchsten geistigen
Leben, das mir jedoch als faßbares Erlebnis
bewußt ist, die gleiche nüchtern klare
Einfachheit und Selbstverständlichkeit
herrscht, die jeder kennt, dem auch nur
ein einzigesmal in seinem Erdenleben
Ewiges, gleichviel in welchem Grade, zu
Bewußtsein kam.
.Was sich die meisten Menschen unter
dem Leben des ewigen Geistes und dem
21 Hortus Conclusus
menschlichen Erleben dieses geistigen
Lebens vorstellen, ist derart irdisch gefärbt
und derart kompliziert erdacht, daß es die
sicherste ‒ Ausschaltung wirklichen Er‐
lebens im ewigen Geiste bewirkt. Wer aber
einmal vor der unsagbaren Selbstverständ
lichkeit und nüchtern klaren Einfachheit
geistigen Lebens und Erlebens im Tiefsten
erschüttert stand, der weiß zu begreifen,
weshalb ich vor allen phantastischen Vor‐
stellungen warne, die im voraus festlegen
möchten, wie Geistiges dem Irdischen sich
darbieten „müsse”.
Ich habe wahrhaftig allem Darstellbaren
ewiger substantieller Geistgestaltung ein
Wahrbild in Worten erwirkt, und nur jene
Gebiete der Struktur geistigen Lebens mit
Schweigen umhegt, die sich jedem Ver‐
gleich, und somit jeder Erfassung in irdi‐
scher Sprache entziehen. Aber auch dieser
22 Hortus Conclusus
Gebiete erhabenstes Geheimnis ist durch
ihre unbeschreibliche, irdisch unvorstell‐
bare Einfachheit geschützt: ‒ durch das
über jede Frage hinaus „Selbstverständ‐
liche” des in ihnen zu erlebenden Ge‐
schehens. Es gibt da nichts Beunruhi‐
gendes, Aufregendes, Verblüffendes, Er‐
schreckendes oder gar „Unheimliches” zu
erleben, sondern vielmehr Welten abso
luter geistiger Klarheit, die jegliches Ver‐
schwommene, Fragwürdige und Ungewisse
ausschließen. So ist es in allen Bereichen
vollbewußten inneren, geistsubstantiellen
„ewigen” Lebens und mithin auch in der
ewigen Seele eines Irdischen, in der sich
ein Leuchtender des Urlichtes darlebt
innerhalb der Abmessungen seiner ihm
zubestimmten irdischen Zeit.
.Es ist jedoch der Leuchtende des Ur‐
lichtes nur darum der ewigen Seele des
ihm Dargebotenen im irdischen Leben ver‐
23 Hortus Conclusus
eint, weil allein durch solche Vereinung
auch allen anderen ewigen Seelen, die sich
zeitlich in Erdenmenschen erleben und
formen, die „Kraft aus der Höhe”: ‒ die
geistgeborene ewige Lichtesenergie ‒ zu‐
geleitet werden kann, deren sie zur Er‐
reichung ihres Erwachens im ewigen Be‐
wußtsein bedürfen. Was ich als Leuchten‐
der des Urlichtes in Worten lehre, mag
vielen zum ersten Anlaß werden, um durch
ihr eigenes Nachfühlen und Mitempfinden
sich allmählich für das Erwachen ihrer
ewigen Seele vorzubereiten, aber vom
ewigen substantiellen Geistigen her ge‐
sehen, ist mein bloßes geistigesDasein
innerhalb des Erdenlebens weitaus be‐
deutsamer als all mein bewußtes „Tun”,
wobei noch zu sagen ist, daß die in
Worte geformte, sichtbarlich aufnehm‐
bar gewordene Lehre wahrlich nur den
geringsten Teil dessen darstellt, was mir
24 Hortus Conclusus
vom ewigen Geiste her zu bewirken ob‐
liegt.
.Was aber mein bewußtes Tun ‒ wie im
Seelischen, so bei der sprachlichen Dar‐
legung lehrenden Bekundens ‒ am aller‐
ärgsten erschwert, ist die Diskrepanz zwi‐
schen der sich selbst immer weiter kom‐
plizierenden Kompliziertheit gehirnlich
bedingten Vorstellungserzeugens und der
irdisch unfaßbaren Einfachheit ewigen sub‐
stantiellen geistigen Lebens. Hier ist vor
allem in der sprachlichen Sphäre eine
Kluft zu überbrücken, über die sich nur
mit den Materialien aus der irdisch gehirn‐
lichen Vorstellungs- und Gedankenwelt
kompliziertester Trennungen die Brücke
spannen läßt. Da alle Worte einer mensch‐
lichen Sprache ‒ gleichviel welcher ‒
ungeeignet sind um als Ausdruck oder
Darstellung des Ureinfachsten dienen zu
können, muß man die kompliziertesten
25 Hortus Conclusus
Vorstellungen und Begriffsbilder heran‐
holen, will man irdischem Empfindungs‐
vermögen auf dem Umweg über die Sprache
Empfindungen nahebringen, die ihm un‐
erlebbar bleiben würden, hätte es keine
Möglichkeit, sie auf seine gedanklich kom‐
plizierte Weise auszulösen. Soll solcher
Brückenbau aber wirklich verbinden, was
ewig getrennt zu sein scheint, dann darf
nicht die Torheit begangen werden, das
Material aus dem Reiche gehirnlich er‐
wachsener Kompliziertheit, das ja nur ein
Überschreiten der Kluft ermöglichen soll,
durch philosophische Säuren und Scheide‐
wässer auflösen zu wollen, denn es hält
nur so lange, solange es nicht der denke‐
rischen Auflösung unterliegt. Eine Brücke
ist da, damit man über sie hinüberschreite,
aber nicht um sie unter den Füßen aus‐
einanderzunehmen!
26 Hortus Conclusus
Ich weiß wahrlich „ein Lied davon zu sin‐
gen”, was es für einen Menschen der in der
freien Ur-Einfachheit des Ewigen heimisch,
und dessen psychophysischer Empfindungs‐
organismus aus dem ihm normalerweise ir‐
disch entsprechenden Bindungszustande
gelöst ist, seelisch bedeutet, allen den tau‐
senderlei geradezu „höllischen” Schwin‐
gungen ausgesetzt sein zu müssen, die den
Lebensraum der gegenwärtigen, an ihrer
fortzeugenden Kompliziertheit fast erstik‐
kenden abendländischen Zivilisation durch‐
beben. Aber die Unmöglichkeit, ewiges
substantielles geistiges Leben in seiner un‐
geahnten Einfachheit innerhalb des Lebens‐
raumes dieser Zivilisation anders zur Ein‐
wirkung zu bringen als durch das irdische
Mitleben” eines aus dem Urlichte Leuch‐
tenden, legt mir ‒ als dem in dieser Zeit
dazu Geborenen ‒ kategorisch die Pflicht
des Mit-Lebens auf, der ich nie und nim‐
27 Hortus Conclusus
mer genügen könnte, wenn ich mich ‒ nur
vereint mit meinen, mir im ewigen Geiste
ewig gleichgeborenen geistigen Brüdern ‒
von den Bereichen äußeren Lebens, denen
meine europäischen und in der übrigen
Welt nach europäischer Weise lebenden
Mitmenschen einverwoben sind, fernhalten
oder gar dauernd sondern wollte.
.Wohl aber muß ich mir auch innerhalb
der Bereiche dieser komplizierten ‒ übri‐
gens keineswegs an sich und in Bausch und
Bogen „verwerflichen” ‒ abendländischen
Zivilisation dennoch eine relative Abge‐
schiedenheit schaffen, wenn es mir möglich
werden soll, alledem geistig zu entsprechen,
was mir in meinem Mitleben, zum Wohle
der Mitlebenden obliegt, denn das mir Ob‐
liegende verlangt Tag um Tag seine reich‐
lich bemessenen Stunden bedingungslos
dargebotener Einsamkeit.
28 Hortus Conclusus
VOM WECHSEL DES STANDORTES
UND VON DEN „STUFEN”
Es gibt im geistigen Leben keine Stufe,
auf der man es sich etwa versagen müßte,
wieder ganz die Haltung anzunehmen, in
der man sich fand, als man den Fuß vor‐
einst zu heben suchte um die allererste,
unterste Stufe zu betreten. Man darf allem
was einem begegnet und die Seele be‐
wegt, immer wieder unbefangen so gegen‐
übertreten, als hätte man noch keinerlei
Lehre erhalten, und als hätte man noch
nicht das Geringste im Geistigen der Ewig‐
keit erlebt.
.Es kann sogar sehr förderlich werden,
auch ohne besonderen Grund, von Zeit zu
Zeit solcherlei Standortwechsel vorzuneh‐
men. Wie die Maler gewohnt sind, nach
einer jeden durchgeführten neuen Vervoll‐
kommnung des Werkes, von der Leinwand
an der sie arbeiten, zurückzutreten, um
durch die Zusammenschau aller Bildpar‐
tien ein Urteil über das noch Nötige zu ge‐
31 Hortus Conclusus
winnen, so sollte auch der Mensch, der sich
zur Aufnahme ewigen geistigen Lichtes vor‐
bereitet, dann und wann Distanz zu sich
selbst gewinnen, damit ihm bewußt werde,
was zu der erstrebten Aufnahmefähigkeit
noch fehlt. Außerdem befestigt sich durch
solches freiwilliges Zurücktreten vor sich
selbst und dem bereits Errungenen, das
bereits Erlangte in ungeahnter Weise.
.Man würde sich aber sehr täuschen, wenn
man annehmen wollte, ich erteilte hier Rat‐
schläge, deren Befolgung einer leicht ei‐
nem anderen nahelegen könne, nachdem
er selbst dergleichen entrückt sei... Ich
kann mir vielmehr keinen Tag vorstellen,
an dem mein Bewußtsein nicht, aus mei‐
nem höchsten innersten ewigen Standort
herausgehend, alle Zwischenlagen wieder‐
erkunden würde bis zum untersten Tier‐
bewußten des vergänglichen Erdenkör‐
pers, den ich hier im Irdischen verbrauche.
32 Hortus Conclusus
Aus solcher Tiefe wieder in mein Ewiges
gelangt, bin ich imstande, erfühlend zu
ermessen, was jeweils aus dem ewigen Gei‐
stigen her getan werden muß. Wollte ich
mich immer nur auf meiner höchsten Höhe
erhalten, dann wäre ich nicht, der ich von
Ewigkeit her im ewigen „Augenblick” bin,
aus dem ich in diese Zeit nur dadurch ge‐
langen konnte, daß ich das Wagnis wagte,
aufzusuchen, was nur der „weiß”, der in
sich auch die tiefste Tiefe bewußt erlebt.
So bin „ich”: der im Urlicht Leuchtende,
‒ auch „ich”: ein im ewigen Geiste wie‐
der Bewußtgewordener aus denen, die
durch ihre Schuld in das Zeitliche fielen,
und zuletzt noch ‒ dem irdisch bewirkten
Anscheine nach ‒ „ich”: der vergängliche
Erdenmensch im Menschentier. ‒ Die Stu‐
fenleiter von meinem eigenen Höchsten
herab in mein Tiefstes, ist freilich wesent‐
lich stufenreicher als diese knappe Skiz‐
33 Hortus Conclusus
zierung vermuten läßt. Es kann nur über
das Einzelne nicht gesprochen werden, da
kein Verstehen zu erzielen wäre. Nur, wer
als Leuchtender des Urlichtes dazu befähigt,
selbst diese Stufenleiter hinab und wieder
hinauf zu steigen vermag, ‒ was dem Ir
dischen aus sich versagt ist ‒ weiß um die
differenzierte Art ihrer Stufen. Jedem an‐
deren Bewußtsein wäre auch ein Wissen
darum zu nichts nütze.
.Ich spreche von allen diesen Dingen, um
den törichten Gedanken, ‒ es könne etwa
„unter der Würde” sein, sich noch Emp‐
findungen zuzugestehen, die an die Besorg‐
nisse allererster Anfänge erinnern, ‒
gleich mit der Wurzel auszurotten, so daß
er niemals mehr erwachsen kann. Wenn es
mir Notwendigkeit ist, tagtäglich den
höchsten Standort meines ewigen geistigen
Bewußtseins zu verlassen, um den seeli‐
schen Zustand der in den tiefsten Erden‐
34 Hortus Conclusus
höllentiefen Lebenden mitempfindend zu
erleben, ‒ dann darf auch jeder Suchende
ohne Sorge sein, wenn er dann und wann
sich wieder wie auf seiner ersten Stufe
gewahrt.
.Der Segen aus dem ewigen Lichte würde
ihn auch dann ‒ und um gar vieles Inne‐
werden bereichert ‒ wieder zu seiner der‐
zeit höchsten Höhe des Bewußtseins hinauf‐
geleiten, wenn er sich zuweilen abgrund‐
tief unter den erfühlten Einsichten seiner
allerersten Wegstufe gewahren müßte. Die‐
ser Stufenweg kennt ja keine „Rangstufen”
von denen einer hinabgestürzt werden
könnte, sondern nur Stufen der Einsicht
und Erleuchtung, und es bleibt ganz dem
Suchenden allein überlassen, ob und wann
er sich gelegentlich zu einer früheren Ein‐
sichtstufe zurückbegeben will, um auf ihr
in der Erinnerung wie sodann beim Wie‐
deraufstieg, das ihm bereits insgesamt
35 Hortus Conclusus
Zuteilgewordene erneut zu durchleben.
Dieser ganze Stufenweg ist ein Weg des
„Innewerdens”. Darum ist jede Stufe, die
erklommen wird, nicht nur für alle Zeit,
sondern auch in der Ewigkeit bleibender
Besitz, der selbst dann erhalten bleiben
würde, wenn er durch irdische Schuld
äonenlang für das Bewußtsein unzugänglich
werden müßte. Zu solchem unsäglich be‐
klagenswerten Schicksal neigen aber glück‐
licherweise nur wenige.
36 Hortus Conclusus
ÜBER BEWUSSTSEINSLAGEN
UND LEIDHILFE
Es ist gewiß niemals ganz leicht, von
einem Bewußtseinsinhalt der irdisch nicht
geschildert werden kann, ‒ weil alle die
Klischeeworte, wie „absolute Harmonie”,
„reinste Klarheit”, „höchste Seligkeit”,
auch nicht entfernt vor ihm bestehen kön‐
nen, ‒ freiwillig zu scheiden um durch
immer unerleuchtetere Regionen hinab‐
zusteigen, bis man die Dumpfheit des
bloßen Tiermenschentums wieder gewahr
zu werden vermag, ‒ aber in alledem liegt
zugleich ein solcher Erlebensreichtum für
den noch der Erde Verbundenen, der na‐
turgemäß auch noch mit irdischen Meß‐
bändern zu messen versteht, daß ich es als
„Gnade”, empfinde, diesen täglichen Weg
immer neu erprüfen zu müssen.
.Gewiß muß auf diesem täglichen Weg ins
Dunkel und wieder zurück ins Licht, auch
alles Leid seelisch mit erduldet werden, das
alle die in verschiedenem Grade verdunkel‐
39 Hortus Conclusus
ten Regionen aufzuweisen haben. Das wäre
unerträglich, wenn ich nicht dazu seelisch
erzogen und geschult worden wäre, ‒
wenn ich nicht in jedem Leid zugleich die
„Lüge” am Werk sähe und um des Leides
sichere dereinstige „Umwertung” wüßte.
Ich muß aber zugeben, daß mir dieses, mit‐
unter alles bereits nur zu genau bekannte
noch um Unermeßliches übersteigernde
Leid zuweilen wahrhaftig nur mit Aufbie‐
tung aller seelischen Kräfte in all seinem
Furchtbaren bewußt miterleidbar wird,
und daß seine Schwingungen oft noch tage‐
lang peinigend in irdischem Bewußtsein
nachklingen, obwohl sie im ewigen Geisti‐
gen „augenblicklich” aufgelöst wurden.
Was will aber all mein freiwilliges Mitemp‐
finden, ‒ als eigenes seelisches Leid, ‒
besagen, gegenüber der Überfülle von Leid,
die in allen Bewußtseinsregionen ohne
Unterlaß unfreiwillig de facto erduldet
40 Hortus Conclusus
wird! ‒ Es wäre schon teuflische Gleich‐
gültigkeit dem Empfindenmüssen anderer
individueller Seele gegenüber, wenn einer,
der weiß, daß Miterleben hier nötig ist,
insoferne Linderung geschaffen werden
soll, sich vor diesem Miterleben scheuen
wollte, und es ist wahrhaftig kein „Ver‐
dienst” hier seiner selbst nicht zu schonen.
Kein einziger Bewußtseinsbereich öffnet
sich „von außen her”! Man muß selbst
vorübergehend in ihm nach seiner eigenen
Art bewußt sein wollen, wenn man inner‐
halb seiner Herrschaft Hilfe leisten kön‐
nen soll.
.Nach allem, was ich schon anderenortes
an Erläuterung gegeben habe, brauche ich
wohl kaum noch zu sagen, daß dieses frei‐
willig gewollte tägliche Miterleben der ver‐
schiedensten, nicht zur normalen eigenen
Bewußtseinslage gehörenden Bewußtseins‐
bereiche nicht etwa eine „Ortsverände‐
41 Hortus Conclusus
rung” bedeutet, und daß alles Miterleben
des in jedem Bewußtseinsbereich zu fin‐
denden Leides ein generelles Aufnehmen
der in diesem Bereich aktuellen Leid‐
„Schwingungen” darstellt, wobei mitemp‐
funden wird, was alle in dieser Region
durch Leid Gepeinigten primär empfinden,
aber ohne jede Aufrollung persönlicher
Schicksale innerhalb derer das Leid emp‐
funden wird. Die Hilfe besteht in der Aus
lösung der jeweils verlangten geistigen
Kräfte, die dann ohne jegliches Zutun
innerhalb des betreffenden Bewußtseins‐
bereiches ihr Wirken dort einsetzen, wo
es vonnöten ist: ‒ je nach dem Einzelfall
als Kraftspendung zur weiteren Ertragung
des Leides, als Leid-Linderung, Leid-Be
freiung, oder in irgendeiner anderen nö‐
tigen Form.
.Allerdings ist solches Miterleben und
wirksame Helfen nur möglich durch uner‐
42 Hortus Conclusus
hörten Verbrauch an irdischen Lebens‐
energien. Oft ist es nötig, in wenigen Stun
den mehr Lebensenergien zu verbrauchen,
als Menschen, die im intensivsten tätigen
äußeren physischen oder gehirnbedingten
Leben stehen, in vielen Monaten zu ver‐
brauchen vermögen. Im ewigen geistigen
Wirken Dahingegebenes ist dabei natür‐
lich dem Irdischen unwiederbringlich ent‐
zogen. Äußere intensivste Tätigkeit emp‐
findet man geistigsubstantiellem Wirken
gegenüber zwar im Irdischen wie Erho‐
lung, aber man kann nicht Beides zugleich
tun, und was im rein geistigen Wirken
verbraucht wird, fehlt immer unersetzbar
im Erdendasein. Aus dem Ewigen strö‐
mende Kräfte hingegen, die sich ins Irdi‐
sche transformieren lassen, schaffen hier
nicht etwa irdischer Energie Zuwachs, son‐
dern ‒ nur die Möglichkeit eines sonst
unmöglichen Mehrverbrauches irdisch ge‐
43 Hortus Conclusus
gebener Energien im Ewigen. ‒ Es ist
keineswegs etwa so, daß Ewiges des Irdi‐
schen nicht bedürfte! Nur was der im Ur‐
lichte Leuchtende während seines Erden‐
lebens für sein Wirken im Ewigen freizu
halten weiß, kann er dort einsetzen, wo
er geistig helfen, und wo er vermeidbares
Leid verhüten will, gleichviel, welche Be‐
schwerde ihm selbst sein irdisches Dasein
aufbürden mag, das seiner ganzen Natur
nach ja nur ein Leben für Andere ist, ohne
Wahl und Frage.
44 Hortus Conclusus
VOM BEWUSSTSEIN
DER ABGESCHIEDENEN
Die stets wiederholten Erkundungen ei‐
ner ansehnlichen Reihe verschiedener Be‐
wußtseinslagen, wie sie zu meinen freiwillig
übernommenen täglichen geistigen Oblie‐
genheiten gehört, umfassen natürlich auch
die Bewußtseinsbereiche der von dieser
Erde Abgeschiedenen. Auch da aber gibt
es hinsichtlich der Unmöglichkeit, be‐
stimmte Einzelschicksale auszuforschen,
keine Ausnahme.
.Hingegen liegt die Zeit noch nicht lange
zurück, die mich episodisch auf andere,
nur schwer erträgliche Art in der Möglich‐
keit sah, unter gewissen seltenen aber
durchaus nicht von mir allein abhängigen
Verhältnissen, kurzen Kontakt auch mit
individuell bestimmten, von der Erde ab‐
geschiedenen Seelen innerhalb ihres Be‐
wußtseinsbereiches zu erlangen. Es war das
die nicht gerade erwünschte und auch ge‐
wiß von keiner Seite her erstrebte psy‐
47 Hortus Conclusus
chophysische Nachwirkung gewisser Not‐
wendigkeiten meiner früheren jahrelangen
geistkörperlichen Schulungen, und ich
habe sehr darunter gelitten, ‒ auch kör‐
perlich! ‒ da die ganze Situation einen
unerhörten Kräfteaufwand verlangte, um
ihr gewachsen zu bleiben. Gewiß konnte
ich auch in einzelnen Fällen Menschen die
ihnen Liebes verloren hatten, authenti‐
schen Trost bringen, aber die Vermittler‐
schaft zwischen auf der Erde im Sichtbaren
Lebenden und denen, die diese Sichtbar‐
keit verlassen haben, ist weder im physisch
kosmischen, noch vom ewigen geistigen
All her vorgesehen, und am allerwenigsten
könnte sie gerade meine Aufgabe sein. Ich
war daher recht froh, eines Tages keiner
Gegenwehr mehr zu bedürfen, und dann
immer deutlicher diesen unerwünschten
Zustand einer nicht gewollten Sensitivität
im Abklingen zu gewahren. Aber noch
48 Hortus Conclusus
mehr war ich erfreut, als es mir gelungen
war, ihn definitiv zu beenden, und ich
trauere ihm gewiß nicht nach.
.Über die Beziehungsmöglichkeiten eines
Leuchtenden des Urlichtes zu erdentrück‐
ten Menschenseelen herrschen selbst unter
sonst recht einsichtigen und belehrbaren
Menschen leider phantastische Vorstellun‐
gen. „Richtig” vermutet wird dabei nur,
daß wir imstande sind, innerhalb der Be‐
wußtseinsbereiche irdisch „Gestorbener”
zu empfinden. Was das aber in Wahrheit
bedeutet, macht man sich keineswegs klar,
‒ denn es bedeutet nichts anderes, als im‐
stande zu sein, sich selbst innerhalb der Be‐
wußtseinsbereiche Gestorbener als realiter
auf Erden „verstorben” zu empfinden. ‒
.Statt dessen aber nehmen sonst recht
urteilsfähige Menschen überlegungslos an,
es müsse einem doch ein Leichtes sein,
unter ungezählten Millionen Seelen, die
49 Hortus Conclusus
zu innerst in beglückender Konzentration
auf ihr geistig gegebenes Licht versunken
sind und allen „Anruf” als bitterste Stö‐
rung empfinden würden, eine bestimmt
bezeichnete Seele geradezu „herbeizu‐
rufen” um von ihr gleichsam eine Art
jenseitiges „Interview” zu erhalten.
.Daß Menschen, die schwer ertragbaren
irdischen Verlust durch das Abscheiden der
ihrem Herzen unlösbar Verbundenen aus
dieser physischen Sinnenwelt erlitten ha‐
ben, zu jeder Naivität fähig werden können,
zeigen in erschütternder und erschrecken‐
der Weise die enormen Zahlen der Anhän‐
ger des Mediumismus, mögen sie sich
noch wie früher „Spiritisten” nennen oder
den etwas anrüchig gewordenen Namen mit
einem neuen, ebenso irreführenden ver‐
tauscht haben. Man sollte doch wahrhaftig
unter den Lesern meiner Lehrschriften als
unter Leuten, die sich mir als meine Schü‐
50 Hortus Conclusus
ler zurechnen, solcher Ahnungslosigkeit
jenseitigen Dingen gegenüber nicht mehr
begegnen müssen, aber auch in diesen doch
wahrlich genügend unterrichteten Kreisen
stößt man noch auf Einzelne, für die das
Buch vom Jenseits” ebenso nicht zu exi‐
stieren brauchte, wie alles Andere, was ich
an so vielen sonstigen Stellen über das
gleiche Thema mitgeteilt habe.
.Die einzigen Abgeschiedenen, denen
man auf die Art „begegnen” könnte, wie
die oben charakterisierte Naivität sich das
vorstellt, wären die ‒ wahrhaftig „armen”
‒ Seelen, die noch in ihren selbstgeschaf‐
fenen „Strandreichen” ihr Wesen treiben.
Aber sie sind ja derart im Banne ihrer
Schöpfung, daß sie nichts anderes erleben
wollen und daher nichts zu erleben ver
mögen, als was sie sich durch ihren eigenen
Glauben, als das für sie allein zu Erlebende,
gestalten und nach ihrem „Außen” proji‐
51 Hortus Conclusus
zieren. Es ist uns unmöglich, uns ihnen er‐
kennbar zu machen, bevor sie die von der
Erde mitgebrachten Glaubensenergien auf‐
gebraucht haben, und das kann sehr lange
währen. Menschenseelen, die Jahrtausende
vor unserer Zeitrechnung in einem Erden‐
körper lebten, sind heute noch in ihre
„Strandreiche” gebannt! Es gibt da auch
keine „Massenerweckungen”, sondern die
Auflösung dieser durch fehlgeleitete Glau‐
bensenergien geschaffenen Kollektivgebil‐
de erfolgt, ‒ auch in den günstigsten Fäl‐
len, ‒ immer nur sporadisch infolge des
Aufwachens Einzelner und wieder Einzel
ner. Aber ich habe ja schon genug über
diese Dinge öffentlich mitgeteilt, so daß
ich kaum noch Erläuterndes bringen kann.
.Wie man wirklich mit Denen in Bezie‐
hung bleibt, die uns im Irdischen für die
physische Wahrnehmung entzogen wurden,
habe ich wahrhaftig ebenfalls deutlich ge‐
52 Hortus Conclusus
lehrt, so daß ich nur auf das Gegebene zu
verweisen brauche. Wir Leuchtenden des
Urlichtes aber können den Abgeschiede‐
nen die zu erreichen sind, nur lehrend und
erleuchtend helfen, in überpersönlicher
Weise.
53 Hortus Conclusus
VOM HOHEN EINSATZ DES
HELFENDEN
Bei dem Hinabsteigen in niedere Bewußt‐
seinsbereiche sind es nicht die sachlich in
der Struktur dieser Bereiche zu findenden
„Gefahren”, die dem Leuchtenden des Ur‐
lichtes zu schaffen machen können. Vor
diesen Bedrohungen weiß sich der geistig
Bewußte zu schützen, wo immer sie ihm
begegnen mögen. Was ihn hingegen immer
wieder doch mit Grauen zu bedrängen
sucht, sobald er in Bewußtseinslagen hin‐
absteigt, die einen zeitweisen Verzicht auf
die ihm gemäße Bewußtseins-Stufe ver‐
langen, ist das unerbittliche Wissen darum,
daß er sich damit seiner geistigen Macht
zeitweilig begibt, und somit solange ohne
Wehr bleibt gegenüber möglichen „Über‐
fällen” zerstörender Kräfte des Unsicht‐
baren der physischen Welt, ‒ wobei dieses
Wissen auch darum weiß, daß immerfort
subjektive Vernichtungsimpulse auf den
günstigsten Augenblick zur Auslösung sol‐
57 Hortus Conclusus
cher Überfälle auf jeden der Leuchtenden
des Urlichtes warten, der ihnen in dem
irdisch Zugänglichen erreichbar wird. Der
Mensch auf niederster Bewußtseinsstufe,
die aber zur Zeit die seine ist, bleibt ge
schützt vor jedem Angriffsversuch verder‐
benbringender Impulse aus der unsicht‐
baren physischen Welt, solange er nur sein
eigenes Fühlen und Wollen freizuhalten
weiß von gleichgearteten Zerstörungsten‐
denzen. Der Leuchtende des Urlichtes aber,
der sich bewußten Willens in eine ihm nicht
gemäße Bewußtseinsregion begeben will,
kann das nur, wenn er sich selbst zeitwei‐
lig aus seinem ihm zugehörigen geistigen
Bewußtsein löst und für bestimmte Dauer,
auf seine eigene geistige Form verzichtend,
niedere Form als „sich selbst” empfindet,
wobei er sich naturnotwendig selbst ent
waffnet halten muß, was jene Unsichtbaren
und ihre sichtbaren Handreicher sehr wohl
58 Hortus Conclusus
wissen, denen das irdische Wirken eines
jeden Leuchtenden des Urlichtes schwer‐
sten Abtrag für ihre eigene zeitbestimmte
Existenz bedeutet.
.So ist jedes derartige Niedersteigen ‒
scheinbar ‒ tollkühne Torheit. Und wenn
man auch, ‒ vom Irdischen her betrach‐
tet, ‒ sein Tun mit ganz alltäglichen Ge‐
fahren vergleicht, denen man sich tausend‐
mal ausgesetzt hat und denen sich Tag um
Tag unzählige Menschen in aller Welt schon
auf den Wegen zu ihrer Arbeitsstätte aus‐
zusetzen gezwungen sind, ‒ ganz abge‐
sehen von allen, deren Beruf an sich schon
voller Gefahren ist und zu ihrer Bewälti‐
gung jederzeit furchtlose Ruhe voraus‐
setzt, ‒ dann bleibt doch die unerhörte
Höhe des Einsatzes unterscheidend, da die
Gefahren des Alltagslebens in einer großen
Stadt oder in gefahrumdrohtem Beruf zwar
das irdische Leibesleben in Frage stellen
59 Hortus Conclusus
können, ‒ niemals aber: im Irdischen er‐
langtes geistiges Bewußtsein des eigenen
Ewigen. ‒ Hier steht für den Leuchten‐
den des Urlichtes nichts Geringeres als der
Bewußtseinsverlust seines im Geiste be‐
wußten Irdischen zu befürchten, und kei‐
ner weiß im voraus mit Sicherheit, ob
es ihm bis zur Beendigung dieses Erden‐
lebens gelingt, sich seiner selbst immer
wieder auch erdenmenschlich bewußt zu
werden, oder ob ihm sein Irdisches eines
Tages doch für sein Ewiges verlorengeht: ‒
auf Erden also nichts von ihm übrig bleibt
als ein Irrsinniger oder eine kindisch ver‐
blödete Karikatur seiner selbst. Das ist
die wirkliche Gefahr in der noch jeder bis
zum irdischen Abscheiden schwebte, der
ewiges Licht in dieses Erdenleben brachte!
Was will dagegen alles jemals mögliche
physische und seelische Leid bedeuten! ‒
Es ist ein „Nichts” gegenüber dem, was
60 Hortus Conclusus
hier ständig bis zum letzten Atemzug
droht. Sowohl vom ewigen Geistigen, wie
von dem sein zeitumgrenztes Behagen su‐
chenden Erdenmenschlichen her gesehen,
ist wahrlich kein Anlaß gegeben, solchen
Gefahrzustand aufzusuchen, wo er nicht
unbedingte Voraussetzung einer unerläß‐
lichen geistigen Hilfeleistung ist, die allein
es ewiger Liebe möglich macht, ihr un
zugänglich gewordenes Bewußtsein wie‐
der zu erreichen.
.Ich werde kaum noch zu sagen brauchen,
daß natürlich solche Gefahr niemals ande
ren Erdenmenschen nahekommen kann,
einerlei welche Höhe der Einsicht sie be‐
wußt zu erreichen vermögen, denn selbst
wenn sie es wollten, könnten sie sich nicht
aus dem von ihnen erlangten Bewußtseins‐
bereich lösen um sich in geistesfernen Be‐
wußtseinslagen wach zu erleben.
.Träume können gewiß in die Gespinste
61 Hortus Conclusus
eines der unzähligen „Strandreiche” ver‐
flechten, deren Influenzen ja auch das tag‐
wache menschliche Trieb- und Empfin‐
dungsleben unausgesetzt erfährt, wenn der
Einzelne sich nicht selbst kategorisch feste
Richtlinien gibt, für das, was er an unsicht‐
baren Einflüssen anzunehmen gewillt ist
und das, was an ihm abprallen soll. Aber
mag auch das, was da geträumt wurde, so
lebhaft gewesen sein wie das eindrucks‐
vollste Tageserlebnis, so war es doch nie‐
mals etwas anderes als ein Traum, denn
es ist ja ‒ glücklicherweise ‒ nur den
Leuchtenden des Urlichtes allein möglich,
die Bewußtseinsakkumulierungen, die ich
als „Strandreiche” jenseitiger Welt be‐
zeichnet habe, wachbewußt wahrzuneh‐
men. Aus dieser Scheidung allein erhellt
schon, was von allen den wirklichen oder
vermeintlichen „Hellsehern” und ähnli‐
chen Leuten zu halten ist, die mit „Erleb‐
62 Hortus Conclusus
nissen auf geistigen Ebenen” aufzuwarten
pflegen, ohne auch nur zu ahnen, daß ihnen
nicht einmal die besagten „Strandreiche”
zu wachem Erleben offenstehen, wenn
ihnen auch Trance- und Traumzustände ge‐
legentliches halbwaches Bewußtwerden er‐
lauben.
.Dabei will ich nun aber auch noch einen
Irrtum aufklären, der beinahe „Gemein‐
gut” ist, so daß ich mich nicht wundere,
ihn unter jeglichem menschlichen Mei‐
nungsgepäck zu gewahren. Es geht hier um
die irrtümliche Meinung: in allen „jensei‐
tigen” Zuständen müsse alles Empfinden,
Erkennen und Erleben allen auf gleicher
Bewußtseinsebene Bewußten gemeinsam
sein, so daß jeder individuelle Unterschied
wegfalle. Das ist aber lediglich eine der
zahlreichen „erdachten” Erkenntnisse, mit
denen sich der Erdenmensch „jenseitiges”
Dasein faßbar zu machen sucht. Die Wirk‐
63 Hortus Conclusus
lichkeit sieht anders aus und kennt auf je
der „jenseitigen” Bewußtseinshöhe unzäh‐
lige distinkte Unterschiede des Eigenbe‐
sitzes. Wohl aber gibt es in „jenseitiger”
Erfahrungsweise keine der hier im Tier‐
menschentum der Erde gründenden Mög‐
lichkeiten der Verstellung voreinander,
und keiner kann sich eine „Geltung” ver‐
schaffen, die seinem wirklichen Werte
nicht entspricht.
.Ich muß aber davor warnen, sich zu viel
Gedanken” über das nachirdische Leben
zu machen. Was man durch mich bereits
darüber weiß, genügt reichlich, um das ir‐
dische vorübergehende Dasein so zu be‐
stimmen, daß es seine wahrlich nicht ge‐
ringen Resonanzkräfte zur Verfügung stel‐
len muß, um dem Suchenden zu ermög‐
lichen, bereits hier und heute den Charak‐
ter „jenseitigen” Lebens mit Sicherheit
kennenzulernen.
64 Hortus Conclusus
VOM SPOTTBILD
DES EWIGEN „ICH”
Wenn sowohl in der mittelalterlichen als
auch in der so viel älteren orientalischen
Mystik die Abkehr vom „Ich”, ja das innere
Auslöschen des „Ich” verlangt wird, so
darf ich gewiß von mir sagen, daß es wohl
kaum einen „Mystiker” auf Erden gab,
der mit solcher Bestimmtheit von sich wis‐
sen konnte, daß dieses vergängliche „Ich”
in ihm bis auf den letzten Funken ausge‐
brannt sei, wie ich das von mir ‒ aus mei‐
nem bewußten ewigen Geistigen her ge‐
sehen ‒ unumstößlich weiß. Sage ich also
in meinen Lehrtexten dennoch, daß der
Weise „Ich” ist von Grund auf, und daß
alles in ihm untertan ist seinem „Ich”, so
liegt doch wohl zutage, daß ich mit dem
gleichen Worte etwas Anderes meine als
die erwähnten „Mystiker”. Ich rede viel‐
mehr: ‒ vom Entgegengesetzten, ‒ von
der ewigen, aus dem ewigen Geiste stam‐
menden Urgestalt, deren verzerrte tier‐
67 Hortus Conclusus
heitsbestimmte Vortäuschung allein jene
Meister der Mystik meinen. Ich warne
wahrhaftig nicht vor der Verachtung dieser
Maske, die sich „Ich” nennt! Leider ge‐
nießt sie ja in aller Welt und unter allen
Völkern ein solches Ansehen, daß fast
keiner, der sie mit sich identifiziert
noch merkt, wie er damit nur sein
wirkliches Selbst karikiert. Kein Wunder,
daß nur so wenige Menschen das Trugbild
fahren zu lassen willens sind, wie das un‐
erbittliche Voraussetzung für das Bewußt‐
werden in der geistigen Urgestaltung
„Ich” ist! Man hat sich im selbstgeschaf‐
fenen Trugbilde seines ewigen „Ich” viel
zu lieb, ist viel zu sehr von seiner tatsäch‐
lich vorhandenen irdischen Geltung, von
wirklicher oder vermeintlicher, diesem
Trug-Ich zugedachter Bedeutung durch‐
drungen, als daß man sich noch dazu
überreden möchte, das gekannte, anschei‐
68 Hortus Conclusus
nend so Sichere dahinzugeben um eines
vermeintlich so Unsicheren willen, wie der
eigenen ewigen Urgestaltung „Ich”. ‒
.Keiner weiß mehr, daß das, was er im
Begriff und Wort „Ich” zusammenbündelt,
nur ein irdisch Angenommenes ist, das ihm
nur darum anzunehmen möglich wird,
weil die ihn durchlebende geistige Urge‐
staltung „Ich” das ihm unbewußte Vor
bild abgibt, dem er die seinen irdischen
Neigungen am meisten entsprechende Dar‐
stellung seiner selbst in sich gegenüber‐
zustellen sucht und so seinen täuschenden
„Ich”-Begriff sich selber suggeriert. ‒
.Das zum ersten Erkunden seiner Umwelt
fähig gewordene Kind weiß noch nicht, was
das ist, wenn eine Stimme in seiner Um‐
welt „Ich” sagt. Es ist sich selbst noch „Um‐
welt”, in der offenbar, wie ihm seine kleine
Alltagserfahrung zeigt, alle Dinge mit ge‐
wissen Lautverbindungen zusammenhän‐
69 Hortus Conclusus
gen. So hört es denn auch eine bestimmte
Lautegruppe immer mit seiner Selbstäuße‐
rung in Verbindung gebracht und lernt
seinen „Namen” in seiner Umwelt genau
so mit sich identifizieren, wie das auch
einem jungen Tiere gelingt, das in Men‐
schennähe lebt. Will das Kind aber, ‒ das
ja vor allen Tieren die Möglichkeit einer
differenzierten Sprache voraushat, ‒ sich
selbst bezeichnen, so nennt es das Stück
seiner Umwelt, das es für sich selber ist,
indem es den immer wieder dafür gehörten
Namen” sagt. Erst viel später lernt es
dann auf mechanische Art durch Nachspre‐
chen: ‒ „Ich” sagen und dann auch all‐
mählich begreifen, daß das scheinbar der
Allen gemeinsame „Name” ist, wenn sie
von sich zu sprechen haben. Sagt das Kind
nun aber fortan auch zu sich selber: „Ich”,
so ist doch der Umfang und die Tiefe sei‐
nes Bewußtseinsinhaltes dadurch in keiner
70 Hortus Conclusus
Weise verändert, wenn auch den Erwach‐
senen der Gebrauch der ihnen so wichtigen
Selbstbezeichnung bei dem kleinen Wesen
wie ein gewaltiger Fortschritt erscheint.
.Für den heranwachsenden, wie später
für den erwachsenen Menschen, bedeutet
all seine Lebenserfahrung eine mosaikartig
geformte Zusammensetzung von vielem
Einzelnen, das erst „Umwelt” war, bis es
sich dem schon in kindhafter Zeit gebil‐
deten Selbstbegriff „Ich” einfügen ließ,
und falls unter dem vielen Einzelnen auch
der Glaube an eine Bewußtseinsfortdauer
über den Tod hinaus zu dem eigenen „Ich”‐
Mosaik gehört, dann erscheint dem Selbst‐
bewußtsein im „Ich” nichts einleuchten‐
der, als daß alle seine zusammengelebten
Inhalte auch auf „ewige” Dauer Anspruch
haben müßten.
Wenn dann aber doch die abgründige
71 Hortus Conclusus
Naivität dieser Annahme zu Bewußtsein
kommt, dann ist die Erschütterung derart
zerreißend, daß sich aller übrige Selbst‐
bewußtseinsinhalt nicht nur von dem vor‐
maligen Glauben, sondern auch von jeder
Möglichkeit, ihm eine weniger gefahrum‐
drohte Begründung zu finden, in brüsker
oder elegischer Weise löst. Eine Revision
der einzelnen Mosaiksteine auf ihre mög‐
liche Ewigkeitsbeständigkeit hin, und ein
rücksichtsloses Ausmerzen des mit Sicher‐
heit Vergänglichen aus dem „Ich”-beton‐
ten Bewußtseinsinhalt erscheint nicht nur
als unerfüllbare Zumutung, sondern auch
als aussichtslos. Man hat ja jeglichen Prüf‐
stein mitverloren, nach dem man be‐
stimmen könnte, was ewigkeitsgezeugt und
was irdisch vergänglich ist, so daß man nun‐
mehr nur dann noch sicher zu gehen meint,
wenn man unterschiedslos Alles dem Unbe‐
ständigen tellurischer Existenz zurechnet.
72 Hortus Conclusus
.Es ist ein Spottspiel, das von Gläubigen
wie von den ungläubig Gewordenen mit
dem ewigen „Ich” getrieben wird, dem
allein sie zu danken haben, daß sie nicht
nur Tiere, sondern auch „Menschen” sind:
denn der „Mensch” wurzelt nicht auf
der Erde, sondern im Herzen der Ewig
keit, ‒ im innersten Göttlichen, das in
seinem höchsten Selbstbilde „Mensch” in
sich selber ist! Damit aber, statt des Spott‐
bildes, das ewigeIchder Wirklichkeit
im Erdenmenschen Fleisch und Blut durch‐
dringe, wird vom Ewigen her wahrhaftig
nicht verlangt, daß alles aus dem Bewußt‐
sein schwinde, was nicht „ewiger” Abkunft
ist. Wohl aber muß unerbittlich im Bewußt‐
sein unterschieden werden, was ewiger
und was zeitlicher Inhalt ist. Lange Zeit
braucht es unausgesetzte Sorgfalt, damit
sich nicht morgen womöglich unversehens
das wieder in dem ihm verwehrten Be‐
73 Hortus Conclusus
wußtseins-Innersten: ‒ im „lch”, ‒ er‐
neut einwachse, was gestern ausgerottet
erschien. Es ist, wie wenn man einen mit
Unkraut überwucherten Acker zu einem
geordneten Garten voll edelster Gewächse
umschaffen will. Erst wird der Boden wie‐
der und wieder gepflügt, und rücksichts‐
los unter der Hacke gereinigt werden
müssen, bis er ganz leer wird von allem,
was vorher seine Kräfte saugte. Dann aber,
nachdem man das Neue einpflanzte, wird
es noch langehin eifrige Wachsamkeit ko‐
sten, damit nicht zum wiederkehrenden
Wachstum komme, was ausgerodet wurde,
was aber Vögel und Wind immer wieder
unvermerkt auszusäen wissen.
.Das alles ist kein gedankliches Tun,
sondern Empfindungsarbeit mit der schar‐
fen Pflugschar und dem kräftigen Grab‐
scheit aus unabnützbarem geheimnisvol‐
lem Stahl, der nur in der Glut des innersten
74 Hortus Conclusus
seelischen Fühlens geschmiedet werden
kann... Man läßt aber statt dessen leider
zuerst immer noch die früher vertraut ge‐
wordenen gedanklichen Scheinerkennt
nisse in sich weiterwachsen, und hier ist
auch die Ursache dafür zu suchen, daß viele
von Zeit zu Zeit das Drängen in sich fühlen,
sich für ewig Wirkliches, das nur erlebend
zu erlangen ist, ‒ vorläufig ‒ ein zusam‐
mengedachtes Surrogat zu schaffen, das sie
dann in der Folge am konkreten Empfin‐
den des Wirklichen hindert, zu dem sie
doch vordringen wollen. ‒
75 Hortus Conclusus
NOCHMALS
ÜBER WAHRHEIT
UND WIRKLICHKEIT
Wahrheit” und substantiell-geistige
„Wirklichkeit” sind nicht das Gleiche,
auch wenn alles Wahre im Wirklichen grün‐
det! Wahrheit ist immer ein Bild der Wirk‐
lichkeit, wenn auch ‒ dem Anspruch des
Wortes nach ‒ unter allen Umständen ein
klargeprägt „ähnliches” Bild, bei dem nur
solche, „Retouchen” mit Stichel und Schab‐
eisen in Kauf genommen werden können,
die dazu dienen, eben diese „Ähnlichkeit”
noch zu vertiefen und klarer zutage zu
bringen. Während dieses Bild aber immer
„Bild” bleibt und niemals die ewige sub
stantiellgeistige Wirklichkeit selbst ist,
bleibt diese ewig die Ursache jeglicher
Wahrheitserkenntnis. Ich treibe hier durch‐
aus nicht etwa ein Spiel mit Worten! Die
beiden Begriffe bezeichnen Konkretes, das
genauestens auseinandergehalten werden
muß. In dem Buche: „Der Weg zu Gott”
ist schon vieles Hierhergehörige gesagt.
79 Hortus Conclusus
Wenn ich von ewiger geistsubstantieller
„Wirklichkeit” spreche, so will ich das auf
Erden mit irdischen Sinnen Unwahrnehm
bare, in sich selbst Lebendige und jeder‐
zeit „Ewige” gemeint wissen, das Jesus
„das Reich der Himmel” nennt: ‒ das alle
Dauer in sich allein umschließende Reich
des substantiellen Geistes, der die einzige
unausschöpfbare Fülle aller Kräfte ist ‒
nichts, was mit dem „Denken” zu tun hat
‒ nichts Erdachtes, ‒ sondern ewigkeits‐
gezeugter „Raum”. Weniges steht dem
inneren Auffinden dieser ewigen Wirklich‐
keit hindernder und bösartiger im Wege,
als der schauerlich verhängnisvolle Ge‐
brauch, das Wort „Geist” anzuwenden,
wenn von irgendwelchen Äußerungen des
menschlichen Gehirns: ‒ von Gedanken
und Gedankenverknüpfung, „Gedanken‐
leben” und Denkerarbeit die Rede sein
soll. Wenn man diesen, durch die Tätigkeit
80 Hortus Conclusus
des irdisch-physischen Gehirns emporge‐
wirbelten Gedankenrauch als „Geist” zu
bezeichnen gewohnt ist, dann hält es wahr‐
haftig schwer, sein Bewußtsein aufnahme‐
bereit zu machen für den „creator spiri‐
tus”, den Schöpfergeist der Ewigkeit, der
das aus sich selber souveräne „ewige Le‐
ben” ist und alles in seinem substantiellen
Sein umfaßt, was seines Reiches Zeugung
darstellt, aber nichts in sich aufnimmt, was
nicht in Ewigkeit aus ihm hervorgegangen
war. Nur weil der Erdmensch, in seinem ir
disch unfaßbaren Kern, geistiger Zeugung
„Zeugnis” aus aller Ewigkeit her ist, kann
er, der sich selbst aus dem ewigen „Augen‐
blick” in die trügerische Scheindauer der
kosmischen „Zeit” fallen ließ, dereinst wie‐
der in sein Reich eingehen, mitnehmend aus
seinem irdischen Bewußtsein, was er mit‐
nehmen will, soweit es den inhärenten Ord‐
nungen dieses Reiches nicht widerspricht.
81 Hortus Conclusus
.Dieser ewigen „Wirklichkeit” gegenüber
ist ihr nachgeformtes Bild: ‒ die „Wahr‐
heit”, ‒ im Irdischen erfolgte Prägung, ‒
Ausformung des Siegels der Ewigkeit in
irdischem Siegelwachs! Der Mensch aber,
der nicht das Siegel des ewigen Geistes in
sich trägt, kann nicht die Wahrheit aus dem
ewigen Wirklichen künden, auch wenn er es
mit allen seinen irdischen, und allen Kräf‐
ten seiner ewigen Seele will! ‒ Es handelt
sich ja hier nicht um das biedere mensch‐
liche „Die-Wahrheit-sagen-wollen”, son‐
dern um das Bezeugen des eigenen Ge
prägtseins durch die ewige Wirklichkeit,
und nur wer solchermaßen die Wahrheit
aus der ewigen Wirklichkeit in sich trägt,
kann aus der Wahrheit Kunde geben, weil
sein eigenes Bewußtsein in der ihm ein‐
geprägten Wahrheit leuchtend wurde und
lebendig ist!
82 Hortus Conclusus
VON ZEITLICHEM
UND EWIGEM RAUM
Daß man in der wissenschaftlich betrie‐
benen Geometrie, durchaus ernsthaft und
keineswegs in okkultistische Glaubenssätze
verfangen, mit der Möglichkeit vier-dimen‐
sionaler Raumverhältnisse rechnet, ja viel
dimensionale Räume durchaus nicht als
etwas Unmögliches ansieht, ist allen Unter‐
richteten bekannt. Niemand wird sich un‐
verantwortbarer Phantastik zu beschul‐
digen haben, wenn er als gesichert an‐
nimmt, daß diesen Errechnungen ebenso
bestimmte, im kosmischen All-Raum zu
findende Tatsachenbeweise entsprechen,
wie den astronomischen Errechnungen von
Himmelskörpern die dem gewaltigsten
Fernrohr unsichtbar bleiben, aber durch
Beobachtungen ihrer Umgebung in zwin‐
gender Weise als örtlich dennoch vorhan‐
den erwiesen werden.
.Aber die geometrisch errechenbaren
Räume stecken gewissermaßen alle ver‐
85 Hortus Conclusus
steckt in dem uns erfahrbaren drei-dimen‐
sionalen Raum, auch wenn wir normaler‐
weise als drei-dimensionale Wesen die vier‐
bis „n”-dimensionalen Raumgebilde und
Raumwesen nicht wahrnehmen können.
Wir dürfen uns nur durch diese Unmöglich‐
keit des sinnenfälligen Wahrnehmens kei‐
nesfalls verleiten lassen, zu glauben, es
handle sich bei den durch geometrische
Denkformen in die Vorstellung eingeführ‐
ten mehr als dreidimensionalen Räumen
um etwas Anderes als das uns Unwahrnehm‐
bare der physischen Welt. Mit dem, was
ich den ewigkeitsgezeugten „Raum” im
ewigen Geiste nenne, haben alle diese
geometrisch eruierbaren Räume absolut
nichts zu tun. Das Ewige liegt, allem Er‐
rechenbaren, allem durch Denkmetho‐
den zu Findenden unerreichbar, zwar
am gleichen Ort wie die physische Welt,
aber gänzlich unvorstellbar im Bilde ir
86 Hortus Conclusus
disch zu errechnender Raumvorstellun
gen!
.Wohl aber ist die Geometrie mit ihrer
gedanklichen Erschließung vieldimensio‐
nalen Raumes ganz nahe daran, gewisse
wohlbeobachtete und heute kaum noch
von den ärgsten Ignoranten abzuleugnende
„metapsychische” Vorkommnisse zu fassen,
womit, wenn es gelänge, auch der auffallend
stumpfsinnig alberne Charakter so vieler
„spiritistischer” Manifestationen der Le‐
murenwesen in der dem dreidimensionalen
Auge unsichtbaren physischen Welt, als
eine unentrinnbare Notwendigkeit erwie‐
sen würde, die aus der Raumfremdheit der
gelegentlich dann im drei-dimensionalen
Raum agierenden lemurischen „Masken”
zu erklären wäre.
.Das ganze Weltenall ist „durchsetzt”, mit
Raumwelten, die einander normalerweise
unwahrnehmbar sind, solange nicht eine
87 Hortus Conclusus
Art „Isolationsbeschädigung” vorüberge‐
hend Kontakte, mit der Folgeerscheinung
des Einanderdurchdringens verschieden‐
räumiger „Materie”, schafft. Nur das abso‐
lute „Nichts”, ‒ das als eine sehr reale
Sache dieses ganze Weltenall in ewiger
Starre, als irdisch unvorstellbar „Hartes”,
umgrenzt, ‒ ist ohne Raum und außer
allem als möglich gegebenen Raum: ‒ ab‐
solut distanzlos, gehirnlich auch im Bilde
nicht begreiflich.
.Ewiger „Raum” aber durchdringt alle
verschiedenräumigen Welten, ohne den sie
Wahrnehmenden: ‒ den in ihnen allein
sich erlebenden Wesen, ‒ aus ihrem eigen‐
raumbedingten Vermögen heraus ebenfalls
wahrnehmbar zu sein. Nie könnten Erden‐
menschen ihn erfahren, wären sie nicht in
ihrem ewigen Lebenskern geistig-substan‐
tiell mit ihm identisch! Diese Sachlage wird
durch die Unfähigkeit der Allermeisten,
88 Hortus Conclusus
sich während ihres Erdenlebens in diesem
innersten Kern zu erkennen, absolut nicht
beeinflußt, und diese Unfähigkeit ist nichts
Unentrinnbares, sondern bloß eine ver‐
hängnisvolle Folge bequemer Gemütsträg‐
heit. Mit dem „Verstand” ist da freilich
nichts zu ändern!
.Der Verstand braucht Material, mit dem
er arbeiten kann, und er ergreift jedes Ma‐
terial das man ihm vorlegt, nimmt es in
Arbeit und macht schließlich daraus, was
er daraus machen kann, je nach seiner eige‐
nen Kraftentwicklung und geordneten
Schulung. Um aber den innersten ewigen
Kern in sich zu finden: ‒ den lebendigen
substantiellen Funken des Geistes, der das
menschliche Bewußtsein ins Ewige zu tra‐
gen und darin zu erhalten vermag, ‒ be‐
darf es anderer Kräfte, die aber, ebenso
wie der Verstand, geübt und geschult
werden müssen, wenn sie noch in der
89 Hortus Conclusus
Zeit in der sie hier irdisch eingesetzt wer‐
den können, das ihnen Mögliche leisten
sollen.
90 Hortus Conclusus
VON
ASIATISCHEM RELIGIONSGUT
Meine Kenntnis asiatischen Religionsgu‐
tes stammt wahrhaftig nicht aus Büchern.
Bücher konnten mir immer nur gehirnliche
Wiederbegegnungen mit dem lang schon
geistig Bekannten bringen. Ich weiß aber
von der Neigung vereinzelter Europäer, die
ihr Wissen aus Büchern haben, alte östliche
Religionsurkunden und Gebetbücher ge‐
radezu als psychologische Offenbarungen
zu begrüßen, und sie als Eideshelfer
für eigene Hypothesen heranzuziehen. ‒
Allein ich weiß auch, wieviel Überschätzung
solcher Wertung zu Gewicht verhilft, und
daß es sich dazu noch zumeist um „Ver‐
zeichnungen” irrig oder halbverstandener
religiöser Spekulationen und Imaginatio‐
nen einer kaum noch prüfbaren Vorzeit
handelt, denen man solche Verehrung ent‐
gegenbringt. Es ist auch nicht einzusehen,
weshalb es mehr Weisheit verraten soll,
wenn in einem asiatischen mystischen Text
93 Hortus Conclusus
das Gleiche gesagt wird, was innerhalb des
europäischen Kulturkreises Eckhart, Tau‐
ler und der Frankfurter Deutschordensherr
formulierten, oder was Angelus Silesius
zum Beispiel meinte mit dem bekannten
Vers:
.„Der Himmel ist in dir ‒ und auch der
Hölle Qual: ‒ was du erkiest und willst, ‒
das hast du allzumal!”...
.Gewiß aber ist nicht zu bezweifeln, daß
die gleiche Wahrheit sich mitunter von
ganz neuen Aspekten her offenbart, wenn
plötzlich die Ausprägung vor Augen liegt,
die sie in einem weit entfernten fremden
Kulturkreis gefunden hat. Hierin ist denn
auch die praktische Bedeutung der den Eu‐
ropäern zugänglich werdenden Texte aus
innerasiatischen Religionswelten in erster
Linie beschlossen. Nicht die bereits lange
schon ihrer Tendenz nach bekannt gewor‐
denen Dogmen östlicher Religions-Systeme
94 Hortus Conclusus
stellen den Hauptwert dar, den Überset‐
zung vermitteln kann, sondern die Formen
andersartiger Ausprägung mancher, auch
europäischer alten religiösen Kultur durch‐
aus nicht versagt gewesenen Erkenntnisse
an sich ganz undogmatischer Art. Die aber
können zu recht bedeutsamen Anregungen
führen, und dem jeweils neu erschlossenen
alten östlichen Religionsgut wahrhaftig Ge‐
wicht verleihen.
.Während aber nun in den auf dem Boden
Indiens erwachsenen oder aber von Indien
her überstrahlten Religions-Systemen Asi‐
ens die Innewerdung des Ewigen durch
eine Art seelischen inneren Schauspiels er‐
strebt wird, bei dem der Mensch Schau‐
spieler und Zuschauer zugleich ist, indem
er seine Gottheiten in sich selber darstellt
und sie dabei seiner Natur nach mit allem
Gewicht der eigenen Selbstgewißheit als
lebendig und in Beziehung zu sich emp‐
95 Hortus Conclusus
findet, ‒ wenn nicht sogar völlige subjek
tive Identifikation erreicht wird, ‒ (man
denke z.B. an Râmakrishna!) verfolgte der
europäische Mensch schon von den Zeiten
der Antike her eine genau entgegenge
setzte, naturhaft in seiner Art gründende
Weise religiösen Strebens, indem er im
Göttlichen sich selbst: ‒ den „Men‐
schen” ‒ zu erleben suchte. Sehr bemer‐
kenswert ist, daß auch der uns so „orien‐
talisch” anmutende Islam hierhergehört.
Das Christentum aber vor allem, ist in all
seinen Formen ‒ wo es konsequent erlebt
wird ‒ solches religiöse Erleben des in der
Gottheit durch Gottheit verhüllten primor‐
dialen „Menschen”! Wahrlich: ‒ ein „An‐
thropomorphismus”, wie ihn Fleisch und
Blut aus sich allein dem Erdentierverhaf‐
teten nicht nahelegen konnten!
.Man kann nun auf asiatische wie auf
europäische Art in das Erlebnis des Ewigen
96 Hortus Conclusus
gelangen, aber in beiden Arten bleibt die‐
ses höchste Erleben, das dem Erdenmen‐
schen während seiner Leibeslebensdauer
möglich ist, nur denen vorbehalten, die
sich durch die dornenreiche Wildrosen‐
überwucherung jahrhundertelang weiter‐
gezüchteter Dogmatik durchzuschlagen
wissen, bis sie zum innersten Wahrheits‐
inhalt: ‒ zu der klaren Erkenntnis dessen
gelangen, was die Dogmengestalter eigent‐
lich schützen wollten, aber, in bester Ab‐
sicht, gerade damit der gänzlichen Über‐
wachsung preisgaben. Wohl wird sich je‐
doch ‒ von einzelnen, recht verschieden‐
wertigen Ausnahmen abgesehen ‒ der
Asiate am besten in nüchterner Wahrneh‐
mung seiner Besonderheit an die asiati
sche, der Europäer aber an die europäi
sche Weise halten, wo immer ein Erden‐
mensch zu wirklichem Ewigkeitserleben
gelangen will, denn diese beiden, so grund‐
97 Hortus Conclusus
verschiedenen Weisen sind psychophysisch
begründet und stellen keineswegs etwa der
Willkür entstammende „Methoden” dar.
Es ist weder eine Zusammenfügung beider
Einstellungen möglich, noch kann von einer
in die andere hinübergewechselt werden,
wenn das beiden zuletzt gemeinsame Ziel
wirklich erreicht werden soll.
.Gewiß wird niemand auch nur einen
Augenblick im Unklaren darüber sein, daß
durch mich die europäische Weise, zum
Ewigkeitserlebnis zu kommen, gelehrt
wird. Allerdings bereichert durch alles,
was sich an östlichem Erfahrungsgut euro
päischer Weise „amalgamieren” läßt. Das
ist natürlich kein „Widerspruch” zu der
eben aufgezeigten Unmöglichkeit, beide
Einstellungsweisen zu verbinden oder bald
die eine, bald die andere zu pflegen, und
es wäre ebenso möglich, eine Lehre der
asiatischen Weise durch Bereicherung mit
98 Hortus Conclusus
europäischem Erfahrungsgut fruchtbrin‐
gender zu gestalten. Wenn man aber auch
als Europäer die Erfahrung macht, daß in
den asiatischen Texten zuweilen „das
Echte recht dünn gesät” und tief „ver‐
steckt” ist, während „überall Negatives
unfaßbar starr an der Oberfläche liegt”, so
darf man dennoch aus solcher Erfahrung
heraus keinesfalls auf die Werte schließen,
die einem Europäer unzugänglich blei‐
ben. Auch einem Asiaten, der den heuti‐
gen Spuren wirklichen Ewigkeitserlebens
in Europa nachgehen wollte, würde es mit
europäischem Religionsgut kaum anders
ergehen...
.Was jedoch vielfach als „dämonisch”
empfunden wird, ist der in allem Reli‐
gionsgut Asiens zutagekommende landes‐
entstammte und blutbedingte praktische
Okkultismus, der aber für den Menschen
des Ostens eher einen Bezirk der Physik
99 Hortus Conclusus
darstellt und von den damit Vertrauten
nicht in unserem Sinne als „unheimlich”
empfunden wird. Soweit diese okkultisti‐
sche Praxis sich noch auf religionsbestimm‐
ten Bahnen bewegt, wird sie auch durch
die Religion noch gezügelt, und wird dann
selbst von geistig hoch darüber Erhabenen
für harmlos angesehen. Erst wo der Okkul‐
tismus selbst in Asien zur „Religion” wird,
darf er in bedrohlichem Sinn „dämonisch”
genannt werden! ‒
.Man sollte den religiösen Texten des
Orients unbefangener gegenübertreten
und resoluter die Spreu vom Weizen son‐
dern, um so mehr, als ja doch das Beste,
Kostbarste und Geheimnisreichste, was
Asien verwahrt, niemals Gegenstand von
Aufzeichnungen wurde, und die wenigen
Handschriften aus denen es zu erschließen
wäre, ganz gewiß keinem Nichtasiaten je‐
mals in die Hände fallen.
100 Hortus Conclusus
VOM MYSTERIUM
DES MORGENLANDES
Wo Licht eine Dunkelheit erleuchtet, dort
wird man in der Umgebung des Lichtes
auch Wärme gewahren. Aber nur in des
Lichtes räumlicher Nähe, und nicht etwa
überall dort, wohin seine Strahlen Erhel
lung bringen!
.So ist es auch Folge des auf dieser Erde an
eine bestimmte Stelle fixierten geistig-sub‐
stantiellen „Tempels der Ewigkeit” und
des an dieser, seiner Stätte seit Jahrtausen‐
den vollzogenen geistig-seelischen Ge‐
schehens, daß von solcher Lichtquelle her
eine ganz unbeabsichtigte aber aus der
Natur der Dinge auch unvermeidbare In‐
fluenz geistiger Art auf die geographischen
Umkreise ausstrahlte und ununterbrochen
weiter ausstrahlen muß. Da nun die er‐
wähnte Stätte inmitten der höchsten Berge
der Erde liegt und diese Berge tekto‐
nisch den sehr weiträumigen „geogra‐
phischen Mittelpunkt” Asiens bilden, so
103 Hortus Conclusus
ist es gewiß nicht verwunderlich, wenn aus
dem erdenkörperlich unzugänglichen Ort
der allerintensivsten geistigen Gescheh‐
nisse im Lebensbereich dieses Planeten
her, die Schwingungen in der kompak‐
ten Konsistenz geistiger Substanz die all‐
dorten erregt werden, sich noch über
beträchtliche räumliche Kreise jenes
Erdteiles hin fortpflanzen, bis sie allmäh‐
lich zum Ausschwingen kommen.
.Diesen mächtigen und relativ weithin
wirkenden geistig substantiellen Ausstrah‐
lungskreisen danken die Völker Inner-,
Ost- und Südasiens ihre Neigung zu seeli‐
scher Bereitschaft, Übersinnliches in das
seelische Bewußtsein aufzunehmen, und so
manche Wirklichkeits-Erahnung, die man
anderwärts vergeblich suchen würde. Man
darf jedoch aus dieser Tatsache gewiß nicht
folgern, daß darum jeder Asiate der das
Abendland bereist, ohne weiteres religiö‐
104 Hortus Conclusus
sen Geheimnissen aufgeschlossen gegen‐
überstehe oder gar im Besitz hoher gei‐
stiger Erkenntnisse sei! In allen Gegen‐
den Asiens gibt es, ebenso wie in Europa
und den anderen Weltteilen, verquälte
Skeptiker, frivole Spötter, laue Halbgläu‐
bige, und vor allem ‒ ein Heer von An‐
hängern irgend eines Aberglaubens, wobei
es nichteinmal der Wahrheit entspricht, zu
sagen, daß nur in Asien der Aberglaube
gleich dem Bambus in den Dschungeln
wuchere. Es gibt aber, wie überall in der
Welt, so auch in Asien tief innerliche Na‐
turen, die bei alledem ihr Genüge nicht
finden können, wohl aber den Drang in
sich fühlen, die Isolation in sich zu besei‐
tigen, die sie von der bewußten Wahrneh‐
mung ihrer eigenen Daseins- und Lebens‐
ursache scheidet. Daß Jahrtausende hin‐
durch so geartete Menschen die substan‐
tiellen geistigen Schwingungen zu empfan‐
105 Hortus Conclusus
gen vermochten, die von einem ihnen
räumlich relativ nahen Punkte der Erd‐
oberfläche her ausstrahlten als Begleiter‐
scheinung der von da über alle Welt hin
ausgesandten geistigen Erleuchtungs- und
Hilfebotschaften, wurde Ursache der Ent‐
stehung jener alles Geistige, ‒ aber auch
unzählige pseudogeistige Erscheinungen ‒
bejahenden Atmosphäre, die dem gleich‐
falls das Bleibende in aller Erscheinung
Wandel suchenden Nichtasiaten so geheim‐
nisvoll und unfaßbar erscheint.
In unseren Tagen hat diese Atmosphäre, ‒
die ehedem auch den ihr von Hause aus
fernstehenden Islam in ihre Bereiche zu
ziehen vermochte, sowie er in ihre geistig
gegebene, geographisch bestimmbare Zone
kam, ‒ sehr viel von ihrer lichtenden
Wärmekraft verloren. Nicht, weil die Strah‐
lungen geringer geworden wären, sondern
106 Hortus Conclusus
weil außerasiatische Einflüsse ihre zer‐
setzende Wirkung selbst bis in die Kreise
der hochbegabtesten asiatischen Religiösen
hineintragen und somit die Zahl derer ver‐
mindern, die jene unerschütterbare Ruhe
in sich zu bewahren wissen, die Vorbe‐
dingung des Empfindens der substantiellen
geistigen Ausstrahlungen aus dem Ort des
geistigen Tempels der Ewigkeit auf Er‐
den ist. Nach wie vor aber ist das Auftau‐
chen so vieler, der geistigen Wirklichkeit
entsprechenden Vorstellungen, die man
vergeblich in anderen Erdteilen suchen
würde, auf die räumliche Nähe unerhörten
Offenbarens ewiger Geistesgewalt zurück‐
zuführen, deren Influenzen in den Seelen
der Befähigten sich auswirken. Es verdirbt
im Grunde nur wenig, daß diese Auswir‐
kungen zumeist in Seelengärten bunt
blühenden Aberglaubens stattfinden, denn
der Aberglaube wird so noch zu einem
107 Hortus Conclusus
positiven Träger einer irdischen Bildge‐
staltung der ewigen Wirklichkeit.
.Sehr im Irrtum aber wäre jeder Nicht‐
asiate, der sich einfallen lassen wollte, er
brauche bloß die nächste Schiffsgelegenheit
zu benutzen und dann von einem indischen
Hafenplatz aus nach Simla oder Darjeeling
hinaufzufahren um dort die geschilderten
Ausstrahlungen in reichlicher Fülle zu emp‐
fangen! Ganz abgesehen davon, daß er auch
auf Ceylon, auf den Inseln des malayischen
Archipels, in China und Japan, diesen Aus‐
strahlungen noch keineswegs entrückt
wäre, könnte er sich an allen diesen Orten
zwar in die schönste Selbstsuggestion ver‐
setzen ohne es auch nur zu ahnen, aber nie‐
mals könnte ihm empfindungsnahe kom‐
men, was selbst der durch unzählige Gene‐
rationen im eigenen Blute dafür vorberei‐
tete Asiate erst empfinden lernen muß in
einer über alle westlichen Begriffe harten,
108 Hortus Conclusus
und viele Jahre währenden, erbarmungslos
alle Selbsttäuschung ausrottenden Lehr‐
zeit. ‒ Auch die wenigsten Orientalen
haben sie wirklich durchgemacht!
.So billig, wie sich der Nichtasiate die
Erlangung des Aufschlusses verborgener
Empfindungsorgane vorstellt, nachdem er
kaum von der Möglichkeit solcher Selbst‐
entwicklung hörte, ist sie wahrhaftig nicht.
Nur, wer keinerlei Zugang zu der Art der
hier nötigen Vorbereitung hat, kann auf
den Gedanken kommen, eine Wahrneh‐
mungsfähigkeit für deren Erlangung un‐
zählige Leben im Orient gelebt werden, ‒
für die jede Mühsal ertragen und jede der
zuweilen auferlegten Selbstpeinigungen
ohne Bedingungen und Vorbehalte stolz
und tapfer erduldet wird, ‒ lasse sich auch
für den Unvorbereiteten, durch eine
stimmungsmäßige Aufnahmebereitschaft,
fast mühelos erreichen. ‒ Von dem maß‐
109 Hortus Conclusus
losen Hochmut der ernstlich annimmt, der
Orientale mache sich diese Dinge ganz un‐
nötig schwer, weil er ja nichts ahne von den
Erkenntnissen westlicher moderner Psy‐
chologie, sei hier weiter nicht die Rede.
.Solcher ahnungslose Dünkel steht noch
tief unter jenem Vulgärokkultismus, der
den Seinen unverfroren einzureden sucht,
sie vermöchten alles das, was der orien‐
talische Religiöse erringt und wofür er
den Einsatz seines Lebens wagt, durch
eine tagtäglich wiederholte Reihe aller
Wirklichkeit widersprechender glaubens‐
betonter Behauptungen aus der Tiefe des
Gemüts heraus zu erlangen.
.Wahrhaftig: ‒ es hält sehr schwer, ein
Mensch aus den ältesten Kulturbereichen
der Welt zu sein, und dennoch den phan‐
tastischen, nach jeder Seite dehnbaren
Aberglauben westlicher Zivilisation nicht
zu belächeln!
110 Hortus Conclusus
ÜBER DIE RELIGIONSFORMEN
Der Mensch auf Erden ist Vorbedingnis
für das Werden und Bestehen der irdischen
Religionen, aber diese sind keineswegs Be‐
dingnis der irdischen Existenz des Men‐
schen! Dieser Satz ist nicht nur Folgerung
aus dem bekannten Evangelienworte vom
jüdischen Sabbat, sondern auch, ganz un‐
abhängig davon, eine von keinem Vernünf‐
tigen zu bezweifelnde Selbstverständlich‐
keit. Und doch gibt es religiöse Eiferer in
Menge, die aller Logik zuwider, diesen so
selbstverständlichen Satz am liebsten um‐
kehren möchten. In allen Religionen sind
sie zu finden, wenn auch kaum irgendwo
so zahlreich wie gerade in den Religions‐
bezirken, die sich auf die Lehre des Er‐
habenen berufen, der so eindeutig den Sab‐
bat und damit alle religiöse Konvention
und Satzung als eine rein menschliche An‐
gelegenheit: „um des Menschen willen”,
‒ bezeichnete. Überall aber, wo die An‐
113 Hortus Conclusus
hänger einer Religionsform die unumstöß‐
liche Wahrheit dieses Satzes vergessen, er‐
hebt sich drohend für diese jeweilige Reli‐
gionsform die Gefahr, das, was „Religion”
in ihr ist, zu verlieren, und zur bloßen
Form zu erstarren, die dann kein anderes
Bestreben mehr kennt, als sich um ihrer
selbst willen, zum Vorteil ihrer Diener,
aber auf Kosten von deren Anhängerschaft,
in sterilem Dasein zu erhalten. Statt ein
Bewahrnis der Religion zum Besten des
Menschen und im Dienste des Menschen
zu sein, leert sich die Form, und ihre Leere
saugt wie ein Vakuum den Menschen, der
ihr Herr durch den von ihm geschaffenen
Inhalt sein sollte, erbarmungslos in sich
hinein. ‒ Man braucht auf Erden wahr‐
haftig nicht zu suchen, wo sich solches be‐
gibt, denn es begibt sich allerorten in die‐
ser Zeit!
.Jede Religionsform aber, die nicht zur
114 Hortus Conclusus
leeren Form werden will, muß achten, daß
sie nicht „tolerant” wird, denn sie besteht
nur durch ihre Intoleranz, indem sie alle
andere Religionsform ausschließt. Und
jede Religionsform wird von ihren An‐
hängern für die „allein seligmachende”
gehalten, auch wenn in ihrem Bekenntnis
von dieser Überzeugung nicht ausdrück‐
lich gesprochen wird. Der Anspruch ergibt
sich von selbst, da jeder ehrliche Anhänger
einer Religionsform sein zeitliches Tun
und Lassen gerechtfertigt, und sein ewiges
Heil begründet sehen will, so daß er gewiß
keiner Religionsform den Vorzug gibt, von
der er nicht fest überzeugt ist, daß sie vor
allen anderen den Vorzug verdient, weil
sie allein ihm Führerin zur Seligkeit zu
sein scheint. Je toleranter eine Religions‐
form sich geben will, desto weniger ist sie
imstande, Religion zu verwahren, ‒ desto
mehr in Gefahr, leere Form zu werden,
115 Hortus Conclusus
auch wenn sie, ihrem Namen nach, weiter‐
hin noch als „Religion” erscheint.
.Es ist jedoch die zu ihrem Bestand nötige
Intoleranz jeder Religionsform nur inner
halb ihres eigenen Bereiches ein Gutes! ‒
Jeder Hausvater erfüllt nach Fug und Recht
seine Pflicht, wenn er intolerant gegen alles
ist, was den Bestand des ihm anvertrauten
Hauswesens gefährden könnte. Nicht an‐
ders sind die für das Bestehenbleibenkön‐
nen einer Religionsform Verantwortlichen
vor sich selber berechtigt und verpflichtet,
innerhalb ihres Religionsformbereiches in‐
tolerant gegen alles zu sein, was das Be‐
stehen der ihnen anvertrauten Religions‐
form in Gefahr bringen könnte. Aber außer
halb dieses, ihrer Religionsform ureigenen
Bereiches fehlt ihnen jedes Recht und jede
Pflicht zur Intoleranz! ‒ Nur wenn die
Rechte und Pflichten Anderer in den ihnen
anvertrauten Religionsformbereichen ge‐
116 Hortus Conclusus
wissenhaft geachtet und sorglichst unan‐
getastet bleiben, sind jene allein menschen‐
würdigen gegenseitigen Beziehungen zwi‐
schen den verschiedenen, sich innerhalb
ihrer Bereiche mit berechtigter Intoleranz
ausschließenden Religionsformen möglich,
die für das lebendige Gedeihen jeder ein‐
zelnen bedingungslos erforderlich bleiben!
Jede Ausbreitung der für das eigene Be‐
stehen auf eigenem Gebiet nötigen Intole‐
ranz, über die Grenzen des eigenen Reli‐
gionsformbereiches hinaus, ist Störung an
derer Religionsformen und leistet nur der
Ignoranz und Feindschaft gegenüber allem
Religiösen Helfersdienste in dieser wahr‐
lich religionsmatt und religionsmüde ge‐
nug gewordenen, tausendfach irritierten
Zeit. Diese Zeit ist ohnedies gewohnt, Reli‐
gion mit „Religionsgeschichte” gleichzu‐
setzen, in der ja für jeden, der sie kennt,
eine Kette von Berichten über unberech
117 Hortus Conclusus
tigte Übergriffe intern berechtigter Into‐
leranz in die Religionsformbereiche anders
gläubiger Menschengruppen vorliegt, wie
sie von ärgster Religionsfeindschaft nicht
schauerlicher geschmiedet werden könnte.
.Vor allem aber ist immerdar zu beden‐
ken, daß Religion in allen ihren Formen
ausnahmslos ein erdenmenschlicher Behelf
ist, den die ewige Seele Einzelner jeweils
in Sorge um ihre Mitmenschen liebevoll
ersann, damit auch den nicht zu eigener
Findung Fähigen ein guter Weg „markiert”
sei, der sicher ins Ewige führe! Es ist töricht,
darüber zu streiten, welcher dieser Wege
weniger „Umweg” sei, denn alle sind Um‐
wege, weil sie sonst jenen Seelen zu steil
und gefahrvoll würden, um derentwillen
sie von kundigen Wegebahnern geschaffen
wurden. Ich aber bin nicht gekommen um
einen neuenUmwegzu bauen! Ich zeige
vielmehr den direkten Anstieg in das ewige
118 Hortus Conclusus
Licht, der allerdings nur Seelen ersteigbar
ist, die Kraft genug in sich auszulösen wis‐
sen, um mit Sicherheit die Abgründe über
springen zu können, die man Andere,
‒ auf dem Wege einer Religionsform, ‒
umgehen lehrt... Ich bin nicht dazu da,
irgend einer Religionsform oder vielen zu‐
gleich eine Apologie zu schreiben, obwohl
ich es wahrhaftig gesicherter als die be‐
rufsmäßigen Apologeten der Religionen
vermöchte. Ich muß die Religionsgebun‐
denen auf die Wege ihrer Religionsform
verweisen und jene Verwegenen aufzufin‐
den trachten, die eigene Pfade zum Licht
zu erklimmen suchten, sich aber bei ihrem
Suchen „verstiegen” haben. Auch denen
muß ich helfen, die ehedem auf dem gut‐
markierten Wege einer Religionsform da‐
hinschritten, bis sie aus diesem oder jenem
Grunde das Vertrauen zu ihrem gebahn‐
ten Wege verloren und sich quer durch die
119 Hortus Conclusus
Wildnis der Skepsis einen anderen Pfad zu
treten suchten, ohne voranzukommen. Den
zufrieden und ihrer Sache gewiß auf den
zeichengesicherten Wegen der Religions‐
formen Wandelnden aber werde ich gewiß
nicht „im Wege” stehen, auch wenn ich
ihren Weg zuweilen kreuze. Ich kann ihnen
nur immer wieder an den für sie unver‐
ständlichen aber nötigen Wegkehren sagen,
in welcher Richtung ihres Weges Endziel
liegt, und bringe ihnen geistige Kraft, aus
der sie ihre schwachen seelischen Kräfte
wirksam nähren können, damit sie wenig‐
stens ausdauern auf der betretenen Straße,
bis ihre Seelen endgültig aus ihrem Irdi‐
schen losgelöst werden.
Es liegt mir so fern, „eine neue Reli‐
gion” zu begründen, wie es mir fern‐
liegt, den bestehenden Religionsformen
andere Dienste zu widmen, als die ihnen
nach Maßgabe ihres Schatzes an zeitüber‐
120 Hortus Conclusus
dauernden Werten vom ewigen Geiste her
zubestimmte Hilfe, die, ‒ wo sie von‐
nöten ist, ‒ weder Bitte verlangt, noch
Dank erwartet, und keinem irdischen Wil‐
len erwirkbar wäre.
121 Hortus Conclusus
ÜBER ZUSTIMMUNG UND GLAUBE
Jede zu klarer Selbstdarstellung gelangte
Religionsform verlangt von ihren Anhän‐
gern mit allem Recht die aufrichtige Zu
stimmung zu den in ihrer Selbstdarstel‐
lung ausgesprochenen Lehren, zu bestimm‐
ten Worten ihres Stifters oder ihrer Stifter,
und zu ihrer Auffassung gewisser, von ihr
als gesichert angenommener „historischer”
Geschehnisse. Das gilt von den alten asia‐
tischen bodenständigen Religionen nicht
minder, wie vom Buddhismus in allen sei‐
nen Gestaltungsformen, vom Monotheis‐
mus des Pentateuch, dem Christentum in
seinen verschiedenen Ausdrucksarten, und
dem als jüngste der großen Religionsformen
entstandenen Islam. Die Zustimmung zu
der jeweiligen Formulierung des Vorstel‐
lungsinhaltes, der den Eigenbestand einer
Religionsform ergibt, wird als „Bekennt‐
nis” zu dieser Religionsform bezeichnet,
und da diese Zustimmung auf dem gefühls‐
125 Hortus Conclusus
mäßigen Fürwahrhalten der dargebotenen
Vorstellungsinhalte beruht, das als „Glau‐
be” empfunden wird, so spricht man von
verschiedenen „Glaubensbekenntnissen”.
Die innere Zustimmung: ‒ die selbstge‐
setzte Annahme, es sei alles genau so, wie
es in der Folge von Vorstellungen zum
Ausdruck kommt, die eine Religionsform
als ihr „anvertrautes” eigenes Religionsgut
für sich in Anspruch nimmt, ist stets der
entscheidende Faktor für die Anerkennung
der Zugehörigkeit eines Menschen zu einer
bestimmten Religionsform, was dadurch
nicht anders wird, daß sich die Religions‐
form selbst als „Glaube” bezeichnet.
.In dem an sich gewiß berechtigten Be‐
streben, in den eigenen Bereichen auch nur
das eigene religiöse Vorstellungsgut gelten
zu lassen und alles ihm Fremde oder gar
Widersprechende sorglichst auszuschlie‐
ßen, kam man nun aber im Verlaufe der
126 Hortus Conclusus
Jahrhunderte und Jahrtausende fast überall
zu einer so bedenklichen Überwertung der
„Bekenntnisse”, daß die Formulierung des
Religionsgutes, für die jeweilen Zustim‐
mung verlangt wird, allmählich allenthal‐
ben mehr Bedeutung erlangte, als das Re‐
ligionsgut selbst, ja ‒ daß die Zustimmung:
‒ das Fürwahrhalten ‒ zu fast unlösbaren
Fesselungen des inneren Lebens der ein‐
zelnen Religionsformen auswucherte. Der
„Glaube” als bloßes, gehirnlich umschlung‐
genes, gefühlsmäßiges „Fürwahrhalten”
hat in fast allen Religionen den lebendigen
Glauben, der die höchste Kraft der ewigen
Seele ist, auf weite Strecken hin erstickt,
so daß die vermeintlichen „Gläubigen”
kaum noch von ihm wissen, und man in
Gefahr gerät, gänzlicher Verständnislosig‐
keit zu begegnen, wenn man zu den in ei‐
ner Religionsform Verbundenen von ihm
spricht. Aber das ist nicht notwendiges
127 Hortus Conclusus
„Schicksal”, sondern Folge bequemer Her‐
zensträgheit, die überwunden werden kann,
und überwunden werden muß, wenn die
verschiedenen Religionsformen, die der Er‐
denmensch im Laufe der Jahrhunderte und
Jahrtausende „um des Menschen willen”
geschaffen hat, ‒ damit jede Seele dort
sich finde, wo ihr gemäße Symbole den
Weg zum inneren Lichte bezeichnen, ‒
nicht zu leblosen starren Versteinerungen
werden sollen.
.Solche Erstarrung aber kann wirksam
nur jener tiefe „lebendige” Glaube der
Seele verhüten, der in Herzensinbrunst
nach der Selbstoffenbarung seines eigenen
Lebensgrundes in sich drängt, ‒ einerlei
in welcher Religionsform das geschieht und
wie die Vorstellungsinhalte gestaltet sein
mögen für die von der Seele Zustimmung
verlangt wird. Dieser Glaube ist kein Für‐
wahrhalten irgend eines historischen Be‐
128 Hortus Conclusus
gebnisses oder wundersamen Geschehens,
kein Fürwahrhalten irgendwelcher
überlieferten Lehrworte und Meinungen,
‒ aber ebensowenig steht er zu allediesem,
wie es ihm von seiner Religionsform dar‐
geboten wird, in Widerspruch. Er hat nur
erkannt, daß die ihm zur Zustimmung vor‐
gestellten, bedingt oder unbedingt als
„historisch” angenommenen Geschehnisse
ebensowohl wie die berichteten Lehrworte
für seine Religionsform unumgänglich
nötig sind zur Schaffung der Formen- und
Farbenkombinationen, die der Seele den
Weg in ihr inneres Licht, und zwar einen
für jede der betreffenden Religionsform
zugetane Seele leicht begehbaren Weg, ‒
aufs deutlichste „bezeichnen” sollen. Mit
aller Inbrunst drängt er danach, auf diesem
ihm gewiesenen Wege seinen eigenen Le
bensgrund in sich zu erfassen. Er glaubt
innerstem unwiderlegbaren Erfühlen, daß
129 Hortus Conclusus
er diesem, seinem Lebensgrund dereinst
am Ziele des Weges „von Angesicht zu An‐
gesicht” gegenübertreten wird, aber er
fühlt sich auch schon auf dem Wege dort‐
hin befähigt, das ihn Belebende lebendig
in sich zu erfassen, ‒ frei von aller Zweifel‐
bedrängung. ‒ Erfüllt von solchem inner‐
sten lebendigen Glauben besitzt sich die
Seele in ihrem Mittelpunkt und ist außer
aller Gefahr, fortan sich mit einem gehirn‐
lichen „Fürwahrhalten” des Vorstellun‐
genschatzes ihrer irdischen Religionsform
begnügen zu können.
.Möge der aus sich selbst lebendige in
nere Glaube wieder in jeder Religionsform
der Menschheit von den ihr zugeeinigten
Seelen gesucht und gefunden werden, und
damit jeder religiöse Vorstellungsbereich
von innen heraus sich als in seiner For‐
mung gerechtfertigt erweisen! Es wäre
jedoch eine unverzeihliche Torheit, wenn
130 Hortus Conclusus
man annehmen wollte, daß ich einer oder
der anderen Religionsform meine Sympa‐
thien darböte, wieder andere aber zu miß‐
achten vermöge. Ich weiß vielmehr, wo
das Eine in allen sich finden läßt, das
allein „not tut”, und suche erkennen zu
lehren, wie es praktisch in jeglicher Reli‐
gionsform erlangbar ist, auch wenn jede
aus sich heraus genötigt bleibt, seine Er‐
langung jeder anderen Religionsform ab‐
zusprechen, weil sie sonst ihre eigene Da‐
seinsberechtigung nur wirklich „Wissen‐
den” noch zu beweisen wüßte. Es ist auch
durchaus nicht nötig, den Anspruch auf all‐
gemeine Weltgeltung, den eine Religions‐
form vor anderen vorauszubesitzen glaubt,
mit harten Mitteln zu bekämpfen! ‒ Ganz
von selbst wird dieser töricht vergebliche
irrige Anspruch immer wieder in seine
Grenzen zurückverwiesen werden, zu
jeder, ihn noch antreffenden Zeit.
131 Hortus Conclusus
VON IRRTÜMLICHEN
GOTTESBILDERN
Auf welcher Höhe auch der Mensch sich
selber denken will, ‒ stets wird er sich
wider Willen Bild und Gleichnis, und nicht
anders denkt er Anderes in sich selber zu
Bild und Gleichnis um. Selbst der Moslim
kommt ‒ in seinen Vorstellungsberei
chen ‒ nicht ohne Bild und Gleichnis aus,
wenn auch der Islam, nach strenger, frei‐
lich auch fraglicher Auffassung verstanden,
die äußere Darstellung des Menschenbildes
verbietet, ‒ was glücklicherweise nicht ver‐
hindert hat, daß voreinst in persischen
und indischen moslemitischen Kulturbe‐
reichen die herrlichsten Kleinmalereien
entstanden sind, die den Menschen voll
Glut und sprühender Lebendigkeit wieder‐
zugeben wußten, ohne bei den dortigen
damaligen Gläubigen Anstoß zu erregen. In
anderen Religionsformen, die im sichtbar‐
lich dargestellten Bilde des Menschen
nicht die Gefahr magischer Überwältigung
135 Hortus Conclusus
fürchten zu müssen glaubten, ist ja, wie
jeder Unterrichtete weiß, die Darstellung
des Menschenbildes bis zu den höchsten
Möglichkeiten der Kunst emporgesteigert
worden, weil die Darstellung hier ‒ „Pre‐
digt” sein wollte und stärkste Eindringlich‐
keit erstrebte, der zur Überredung durch
das Auge immer willigen Seele gegenüber.
Aber auch für seine Wiedergabe in der
Sprache konnte das Vorstellungsgut der
Religionsformen Bild und Gleichnis un‐
möglich entbehren. In Bild- und Gleichnis‐
form ging es in die Seele des Hörenden
über, um sein eigen zu werden. Solches
Vor-stellen eines transparenten, plasti‐
schen Bildes vor die seinem Denken anders
unfaßbare geistige Wirklichkeit, kann frei‐
lich auf den höchsten Höhen der Seele
auch zu sublimster Einfühlung und Gottes‐
kenntnis im Lichte ewiger Liebe führen,
aber weit näher liegt es dem Erdenmen‐
136 Hortus Conclusus
schen, das von ihm geschaffene, sich selber
vorgestellte Bild immer kompakter zu ge‐
stalten, wobei er es dann allerdings auch
immer mehr irdischen Vorbildern nach‐
zubilden sucht.
.Wenn es sich, wo immer, um die Vor‐
stellung Gottes handelte, als der Urselbst‐
gestaltung, der alles Gestaltete Leben und
Dasein dankt, dann fand sich tragischer‐
weise der Erdenmensch zu allen Zeiten ge‐
drängt, seine Vorbilder unter Seinesglei
chen zu suchen, soweit ihm Seinesgleichen
an irdischer Macht überlegen waren. So
ist „Gott” im Vorstellungsbilde des Erden‐
menschen zum „König” eines ewigen Rei‐
ches geworden, und die Seele, die doch in
Wahrheit das ewige Wirkliche erfahren will,
bleibt in den großbauschigen Mantelfalten
einer plastisch derben Darstellung erden‐
menschlichen Machtwillens gefangen. ‒ Es
ist schlechterdings unmöglich, ein Vorstel‐
137 Hortus Conclusus
lungsbild zu ersinnen, das noch weniger
Entsprechungen zu der Wirklichkeit Got‐
tes aufzuweisen hätte! Aber nach solcher
irdischen Grundform sind die Gottesvor‐
stellungsbilder der größten Religionen ge‐
staltet, die der Erdenmensch sich zu geben
wußte...
.Wenn auch Millionen diese Vorstellungs‐
bilder mit aller seelischen Liebeskraft zu
verehren trachten, während andere Millio‐
nen nur die Furcht vor des derart vorge‐
stellten Gottes angeglaubter Macht zu sei‐
nem Dienste zwingt, so darf man sich doch
auch nicht wundern, wenn man die Zahl
Derer immer mehr im Wachsen findet, die
ihre dumpfe Furcht schließlich zu über‐
winden wußten oder ihre glühende Liebe
eines Tages in bitterer Erkenntnis verlö‐
schen sahen, und nun alle Gottesvorstel‐
lung für trügliches Menschenwerk halten,
weil sie die ihre als solches erkannten. Nie‐
138 Hortus Conclusus
mand steht sich selbst so sehr im Wege wie
der Enttäuschte: ‒ der eine Täuschung
Losgewordene! ‒ In seinem Grimm dar‐
über, daß er sich täuschen konnte, über‐
sieht er, daß nur sein Vorstellungsbild in
ihm die Täuschung bewirkte, und so wähnt
er die Wirklichkeit als unwirklich über‐
wiesen, während lediglich ein Bild dieser
Wirklichkeit zusammenstürzte.
.Unnütz ist es, den Enttäuschten des „Un‐
glaubens” anzuklagen, aber nötig ist, ihm
zu zeigen, wie er des Wirklichen, dem er
von außen her durch sein nun für ihn
zertrümmertes Vorstellungsbild hindurch
vergeblich zu nahen suchte, innewerden
könne in sich selbst! ‒ Um diese Weise:
‒ das Wirkliche in sich selber als des
eigenen Daseins Urgrund erfahren zu
dürfen, ‒ lehrend aufzuzeigen, wird man
gewiß der Vorstellungsbilder auch nicht
entraten können. Doch diese Vorstellungs‐
139 Hortus Conclusus
bilder werden sorglichst jedes Vorbild aus
dem Irdischen her meiden, das nicht in
hellster Transparenz zu durchschauen
wäre. Und alles, was sich in bildhaften
Worten sagen läßt, wird nur dazu dienen
wollen, in dem Belehrten die Vorstellung
von der Struktur des ewigen Wirklichen
zu erwecken, in dem und aus dem er
selber lebt. Gott ist so Vieles und so Viel
seitiges wie Verschiedenes zu gleicher
Zeit und gleicher Ewigkeit, daß es nie‐
mals möglich wäre zu sagen, was Gott ist,
wenn es nicht möglich wäre, die Struk‐
tur des geistigen Lebens, dessen Selbstbe‐
wußtsein Gott ist, in großen Linien auf‐
zuzeichnen. Die Seins-Aspekte Gottes, die
ich in solcher Weise aufgezeichnet habe,
von der geistigen Zahlwertauswirkung Eins
ausgehend, die dem Menschen nur „zwi‐
schenliegend” denkbaren verschiedenen
Wertauswirkungen bis zur Zahl Zwölf um‐
140 Hortus Conclusus
fassend, sind ausschließlich in solchem
Sinne gemeint, und es ist dabei an keiner
Stelle an ein Nebeneinander oder Überein‐
ander, wie es im Irdischen allein möglich
wäre, zu denken, sondern zu versuchen,
ein lückenloses gleich ewiges Ineinander
zu erfühlen, denn „vorstellen” läßt sich
dieses sich gegenseitig erfüllende Selbst‐
sein in der Struktur des ewigen Geistes
nicht, und es ist auch nicht meine Absicht
eine „Vorstellung” zu vermitteln, wo ich
die Wirklichkeit selbst dem Einfühlungs‐
vermögen meiner Mitmenschen empfin‐
dungsnahe bringen kann. Wie nahe ihnen
die ewige Wirklichkeit in meinen Worten
herbei gekommen ist, werden Einzelne
ahnen, ‒ Andere auch erwachend erfah
ren, solange diese Worte Menschen erlang‐
bar bleiben.
141 Hortus Conclusus
VOM SINN ALLER BELEHRUNG
In allen seinen unendlichfältigen Selbst‐
darstellungen innerhalb der Struktur des
Lebens im ewigen Geiste, ist „Gott” sich
selbst in jeglicher selbstgewollten Eigen‐
form ewige absolute Selbstempfindung.
.So ist auch das wirkliche Endziel für
alles zeitliche Wollen und Tun, Daseinwol‐
len und Gestaltbegehren des irdischen
Menschen: ‒ Selbstbestätigung seiner
gottbedingten ewigen Seelenkräfte in ei‐
gener Selbstempfindung, denn nur in sol‐
cher Selbstempfindung kann die Seele
wieder in Gott eingehen und Gottes „inne”
werden. Nur aus Selbstbestätigung durch
Selbstempfinden in der Selbstempfindung
Gottes ist Liebesvereinigung mit Gott in
Gott möglich. Vorher steht die Seele nur
in Liebes-„Bereitschaft”, und ihre ver‐
meintliche „Liebe” zu Gott ist Liebes‐
Verlangen”, indem sie ihre Liebeskraft
einem „Über-ihr” darbietet, an das sie
145 Hortus Conclusus
zwar zu „glauben” verhalten wird, ‒ das
sie aber keinesfalls kennt. Und nur in der
sie alle jeweils zu ewigem Vereinigtbleiben
einenden Einzelseele können die ewigen
Seelenkräfte ihr Selbstempfinden im Ewi‐
gen wiedererlangen, von dem sie ausge‐
strahlt sind, um selbstgeformt wieder in
ihren Ursprung eingesogen zu werden, ‒
kristallisiert an einen ewigen Bewußtseins‐
kern, der sie alle durchleuchtet und allen
seine ewige Eigenfarbe verleiht, die zu
ihm gehören.
.Es ist aber hier nicht die Rede von
einem nur gedachten Vorgang, sondern
von einem wirklichen Geschehen, und alle
Belehrung dient nur dazu, dieses Ge
schehen in der Seele herbeizuführen, in‐
dem alle irrigen Vorstellungen, die dem
Eintreten des Geschehens Hindernisse be‐
reiten, nach Möglichkeit hinweggeräumt
werden, um solchen Vorstellungen Raum
146 Hortus Conclusus
zu schaffen, die das Eintreten des Ge‐
schehens wirksam vorbereiten.
.So ist alles, was ich notgedrungen von
dem Einen und Unendlichfältigen sagen
mußte, was „Gott” ist, nicht dazu gegeben,
um in gedanklicher Spekulation zerdacht
zu werden, sondern um in der Seele jene
Vorstellungen wieder zu erwecken, die sie
unbewußt aus dem ewigen Ursprung der
Seelenkräfte her in sich verwahrt. Was ich
sage, erwartet keine Glaubensbereitschaft
und will ebensowenig etwa „verstanden”
werden, sondern sucht in den ewigen Kräf‐
ten der Seele die ihm entsprechenden
Erinnerungen wieder bewußt zu machen,
was um so eher gelingt, je mehr der Auf‐
nehmende seinem spekulierenden Denken
zu wehren weiß, dem meine Worte gerade
gut genug sind, um sie als Material für
seine Verstandes-Spiele zu verwerten. Es
handelt sich um eine wirkliche Verände
147 Hortus Conclusus
rung des Bewußtseinszustandes der Seele,
und nicht nur um eine andere Art zu
denken”. Nur diese sehr erhebliche Ver‐
änderung des normalerweise im Irdischen
für unveränderlich gehaltenen Bewußt‐
seinszustandes bringt der Seele die unum‐
stößliche Gewißheit, nach der sie stets
vergeblich durch Gehirnarbeit strebt. Die
ewige Wirklichkeit ist Gedankenschlüssen
unerreichbar. Sie kann nur im Bewußtsein
empfunden werden und bringt nur in der
Empfindung Bestätigung, ‒ allerdings
eine Bestätigung, die so vollkommen ist,
daß auch nicht mehr der leiseste Wunsch
nach gedanklicher Erfassung des Erlangten
bestehen bleibt.
.Um solche Empfindung möglich zu
machen, habe ich jeweils die sie tragenden
Worte gewählt. Man soll sie nicht mit
anderem mengen, was ähnlich klingt! Man
soll aber auch keinen Kult mit ihnen
148 Hortus Conclusus
treiben und nicht tüftelnd nach geheimen
Bedeutungen in ihnen suchen. Man soll
sie vielmehr in aller Einfachheit aufneh‐
men und sie in der Seele so zu empfinden
suchen, wie sie gegeben sind. Niemals
aber darf man sie zum Anlaß und Aus‐
gangspunkt für eigene gedankliche Speku‐
lationen machen! Ich lege auch keinerlei
Wert auf gedankliche „Zustimmung”, und
nichts liegt mir ferner, als durch Über‐
reden „überzeugen” zu wollen. Ich rufe
zum praktischen Erproben meiner Worte
auf. Um aber praktisch erprobt werden
zu können, müssen sie empfunden werden,
bis sie als Empfindungsgut Eigenbesitz des
Aufnehmenden sind. Meine Worte sind
vor allem: ‒ Empfindungs-Träger, Emp‐
findungs-Vermittler und Empfindungs‐
Erwecker. Was sie daneben noch dem
„Sinn” nach besagen, ist sekundärer
Natur, auch wenn es gewiß dazu mithelfen
149 Hortus Conclusus
will, der Seele die Aufnahme des ihr dar‐
gebotenen Empfindungsgutes anzuraten.
Auch dem „Sinne” nach sollen meine
Worte in erster Hinsicht als Empfindungs
erwecker aufgenommen werden!
150 Hortus Conclusus
WO ICH NUR
ÜBERBRINGER BIN
Es ist weder meine geistgegebene irdi‐
sche Aufgabe, noch meine erdenmensch‐
liche, wunschbestimmte Absicht, noch gar
mein Wille, Geschehnisse, die in Zukunft
sich ereignen können oder ereignen müs‐
sen und werden, vorauszusagen.
.Ich habe niemals, auch nur nachfühlend
und bei Anderen, den Wunsch verstanden,
voraus wissen zu wollen, was die Zukunft
bringt, und ich würde es als unerträgliche
Belastung empfinden, müßte ich Kenntnis
kommender äußerer Geschehnisse in mir
verwahren oder wäre gar gezwungen, sie
vorauszuverkünden.
.Wenn sich dennoch Stellen in meinen
Schriften finden: ‒ im „Buch vom leben
digen Gott”, im „Buch vom Menschen”,
in der sozialethischen Lehrschrift „Das
Gespenst der Freiheit”, und vor allem im
Buch der Liebe”, ‒ die auf Zukünftiges
im Bereiche der irdischen Möglichkeiten
153 Hortus Conclusus
des Menschen verweisen, so liegt da wesent‐
lich Bedeutsameres zutage, als es eine Vor‐
hersage zukünftiger äußerer irdischer Er‐
eignisse jemals darzustellen vermöchte.
.An allen solchen Stellen ‒ ohne jede
Ausnahme ‒ fand ich mich nicht durch
irgendwelches Vorauswissen bestimmter
irdischer Ereignisse zur Niederschrift des‐
sen bewogen, was ich geschrieben habe,
sondern stand in geistiger Pflicht, dem mir
aus meinem ewigen geistigen Urgrund her
Mitgegebenen in Worten meiner Sprache
Ausdruck zu schaffen.
.Mit solcher geistigen Verpflichtung ist
aber keineswegs eine irdisch-gehirnliche
Verständigung darüber verbunden, auf
welche bestimmte Daten, Personen und
äußeren Schauplätze sich der Inhalt des
geistig Gezeigten bezieht, oder durch
welche Umstände das Geschehen herbei‐
geführt wird, von dem das mir zur Ver‐
154 Hortus Conclusus
kündung Übergebene handelt. Mit anderen
Worten: ‒ ich bin an allen Stellen meiner
Schriften, an denen auf zukünftiges irdi‐
sches Geschehen hingewiesen wird, ledig‐
lich Überbringer rein geistiger, mir aufge‐
tragener Botschaft, und außerstande, Kom‐
mentare zu dem Gesagten zu geben. Möge
sich jeder Leser das von mir in Worten
Wiedergegebene jeweils selbst nach seiner
Weise deuten, wenn er dazu das Bedürfnis
fühlt! Ich bin da in keiner Weise vor ihm
bevorzugt, habe aber auch kein Recht, eine
private eigene Deutung solcher Stellen der
Öffentlichkeit darzubieten, ja auch nur den
mir im Irdischen am nächsten stehenden
Menschen dergleichen mitzuteilen.
.Wo ich als geistig Beauftragter dem Emp‐
fangenen die sprachliche Mitteilungsform
zu geben habe, dort weiß ich nur, daß, und
warum der Inhalt unumstößliche absolute
Gewißheit ist, und ich müßte ihn wieder‐
155 Hortus Conclusus
geben, wenn mir auch jegliche, mir selbst
allein nur zubestimmte Deutungsmöglich‐
keit fehlen würde. Wo ich aber aus meinem
Eigenen im ewigen Geiste nehme, was ich
zu künden vermag und zu geben habe,
dort wird man gewiß niemals gewahren,
daß ich von zukünftigen Dingen als Vor‐
aussager spreche, es sei denn, man rechne
hierzu das „jenseitige” Leben, das aller‐
dings meinen Lesern noch etwas Zukünf‐
tiges ist, ‒ mir aber stete Gegenwart neben
dem gleichzeitigen äußeren physischen Er‐
denleben.
.Ich leugne jedoch wahrhaftig nicht, daß
aus meinem Eigenen im ewigen Geiste,
auch Zukünftiges mir bewußt ist, wie
längst Vergangenes und erdenzeitlich Ge
genwärtiges. Solches Bewußt-sein aber
ist ein Nach-Erleben dessen, was voreinst
in Menschenseelen durch ihr Erleben emp‐
funden wurde, ‒ ein Mit-Erlebenmüssen
156 Hortus Conclusus
dessen, was in erdenzeitlicher Gegenwart
infolge erdenmenschlichen Erlebens im
Seelischen empfunden wird, ‒ und ein
Vor-Erleben dessen, was erst zukünftiges
Geschehen zu seelischem Empfinden
bringt. An keinem Punkte solcher Er‐
lebens- und Empfindungsverbundenheit
sind mir etwa die äußeren Umstände
zugleich bewußt oder auch nur im Bilde
gegenwärtig, die das von mir seelisch Mit‐
empfundene äußerlich ausgelöst haben,
gegenwärtig auslösen, oder in Zukunft
auslösen werden! Ich selbst ziehe meinem
Miterleben in dieser Hinsicht die genaue‐
sten Grenzen, von denen ich alles fernhal‐
te, was nicht von mir mitempfunden wer‐
den muß und sich dennoch in mein
Bewußtsein eindrängen möchte. Was aber
in meinem rein geistig bestimmten Mit‐
empfindenmüssen von mir aufgenommen,
empfunden und erfahren wird, ist auch
157 Hortus Conclusus
nur meiner eigenen seelischen Ein-Sicht
zubestimmt, und soll niemals Gegenstand
einer Vorhersage werden, auch wenn es
Zukünftiges in sich umschließt.
.Weshalb mir jedoch zu verschiedenen
Zeiten aus dem Bewußtsein und Willen
Dessen, in dem ich ewig geistgeboren bin,
zubestimmt wurde, Hinweise auf Zukünf
tiges zu übermitteln, wird erst zukünfti
gen Menschen offenbar sein. Ehe Bestäti
gung fand, was meine Worte einer mir
selbst nicht vorher nach irdischem Zeitmaß
ausmeßbaren Zukunft zusagen mußten,
kann niemand erkennen, was erst spätere
Geschlechter aus der ihnen dargebotenen
Bestätigung erkennen werden.
158 Hortus Conclusus
WEM ICH
NICHTS ZU SAGEN HABE
Alles, was ich zu sagen kam, ist nur gesagt
worden, um die, denen es gilt, zu ihrem
bewußten Erwachen im ewigen Lichte des
Geistes zu rufen, der ihr substantieller
Lebensurgrund ist und daher einzige Ge‐
währ des Lebens in der Dauer. Ich will
jedoch nicht jene wecken, denen der
Schlaf noch nötig ist. Ihnen habe ich nichts
zu sagen, und was sie dennoch hören,
wenn ich zu den Meinen spreche, das bleibt
ihnen nur wie Klang und Sang, den das
Ohr eines Schlafenden aufnimmt ohne des
Gehörten Sinn zu fassen. Noch träumen
sie mit offenen Augen, und ihrer Träume
Welt ist ihre einzige bewußte „Wirklich‐
keit”. Man muß die Traumbetörten wei‐
terschlafen lassen bis sie selbst einmal des
Schlafens müde werden, ‒ sei es noch in
dieser Erdenzeit oder erst nachdem die
Hilfe, die der Erdenkörper ihnen darbot,
unerreichbar für sie wurde. „Die Nacht,
161 Hortus Conclusus
da niemand wirken kann” ist „Nacht”
nur dem, der seines Erdenkörpers Geistes‐
hilfe nicht zu nützen strebte, und nur von
Seinesgleichen ist gesagt, daß „niemand”
in dunkler Nacht zu „wirken” wisse. Es
ist nicht gerade leicht, seine Träume am
hellichten Tage zu durchschauen und zu
gewahren, daß die geträumte Wirklichkeit
nur „Wirklichkeit” ist für den Traum, der
in ihr spielt. Es ist aber unsagbar viel
leichter, zu dieser Einsicht zu kommen,
solange der Erdenkörper noch der Emp‐
findung des Ewigen irdische Resonanz dar‐
zubieten vermag, als nach dem körper‐
lichen Tode, der solche Möglichkeit
definitiv entzieht.
.Die man weiterträumen lassen muß, da
sie noch lange nicht des Schlafens müde
wurden, ahnen natürlich nichts von diesen
Dingen, und wollen nichts erahnen, was
sie erwecken könnte. Sie fühlen sich zu
162 Hortus Conclusus
wohl in ihrem Träumen, das sie ihr
„waches Denken” nennen, als daß sie auch
nur den leisesten Drang in sich zu fühlen
fähig wären, ihren Zustand mit einem an‐
deren zu vertauschen. Im Glauben, ihrem
gehirnlichen Denken müsse sich jedes
Dunkel auflichten, vermuten sie überall
Irrtum und Täuschung, wo ihrem erträum‐
ten Erkennen die Aufhellung unmöglich
ist, weil nur die erwachte Empfindungs
fähigkeit der Seele das substantielle Licht
des ewigen Geistes zu erfassen vermag.
Und keiner der in ihren Träumen so
Selbstgewissen wird gewahr, wie wertvoll
ihm sein Erdenkörper werden könnte,
wenn er ihn zu nützen wüßte als zeitlich
gegebenen Empfindungs-Verstärker, durch
den es der Seele unsagbar erleichtert
wird, das hauchzart im Geiste Emp‐
fundene an das Gehirnbewußtsein her‐
anzubringen.
163 Hortus Conclusus
.Allen diesen, ihrer Sache so Sicheren
habe ich nichts zu sagen, und was ich sage,
ist nicht für sie gesagt. Erst wenn ihre
große Sicherheit eines Tages ihnen selbst
verdächtig wurde, werden sie zu mir fin‐
den können, und dann erst werde ich auch
ihnen „etwas zu sagen” haben.
.Niemals aber habe ich denen etwas
zu sagen, die ‒ wie Wühlmäuse die
Wurzeln ‒ alle Geheimnisse annagen,
deren Innewerden ihnen nicht zubestimmt
ist. Sie sind nicht minder bei offenen
Augen im Traum, wie die anderen, aber
ihr Träumen ist Auskosten unsauberer
Gier und verstohlener Sucht nach Macht
über Mächte, die ihnen wohlweislich un‐
erreichbar überordnet sind. Mögen solche
Freibeutergehirne auch alles was ich
anderen zu sagen habe, in ahnungsloser
Überheblichkeit auf sich beziehen, so kann
es ihnen doch niemals zu eigen werden,
164 Hortus Conclusus
denn was ich zu sagen habe, will empfun
den werden, ‒ die beflissen nach verbor‐
gener Macht Begierigen aber wollen
hinterlistig hinter die Dinge kommen,
von denen ich anderen zu sagen habe, daß
man ihrer nur innezuwerden vermag.
.Wer wirklich zu denen gehören will,
denen ich etwas zu sagen habe, der muß
weit den Wahn von sich werfen, als ob ich
ihm ein „Wissen” bringen wolle, das er
zu seinem vorhandenen irdischen Wissen
hinzutun könne und somit für sich ge‐
wonnen habe. Erst dann faßt er das, was
ich zu sagen habe, wenn er in jedem Wort
nur meinen Willen erfühlt, die Empfin
dungsfähigkeit seiner Seele zu wecken,
und dann erst werden ihm meine Worte
auch wirklich „etwas zu sagen haben”!
Alles, was ich sage, will empfunden
werden und ist nicht in der Absicht gege‐
ben, dem Scharfsinn des Empfangenden
165 Hortus Conclusus
eine Aufgabe darzubieten zur Übung
seiner gedanklichen Zergliederungskunst.
So habe ich denn auch allen denen nichts
zu sagen, die eifrig das bei mir Gehörte
anderem irgendwo Vernommenen anzu‐
bequemen suchen, denn was ich gebe,
wird sofort verfälscht, wenn man meine
Worte derart deutet, als wollten sie
irgendeinem philosophischen oder be‐
kenntnishaften Denksystem Eideshelfer‐
dienste leisten. Was ich sage, ist
Bezeugung ewiger Geisteswirklichkeit
und nur aus ihrer Selbstempfindung zu
Wort geworden! Was ich gebe, gleicht gut
aufgenommenen Landkarten, die den
Reisenden vor dem Verirren schützen.
Wer aber das Land selbst wahrnehmen
will, dem nützt es nichts, um die Wege zu
wissen”. Nur, wenn er sie selbst
beschreitet, wird ihm empfindungsnahe
kommen, was vorher ihm verborgen war!
166 Hortus Conclusus
VOM EWIGEN SEELENHEIL
Wenn immer wieder gesagt wird, daß der
Weg zum ewigen Lichte, ja, das ewige
Lichtreich selbst, aus dem der unzerstör‐
bare Kern geistigen Menschentums: ‒ der
substantielle ewige „Geistesfunke” ‒ ent‐
stammt und in das er mit oder ohne das
Individualbewußtsein des Erdenmenschen
wieder zurückkehren muß, ‒ nur „im
Innern” zu finden ist, so wird damit frei‐
lich nicht gemeint, daß die erdgezeugte
Menschnatur das ewige geistige Licht‐
reich und den Weg zu ihm in sich um‐
schließe, wie ein Gefäß seinen Inhalt um‐
schließt. Der Mensch dieser Erde ist viel‐
mehr die Zusammenfassung einer Gruppe
von sehr verschiedenen Regionen der
Empfindungsfähigkeit, und der Weg zum
Lichte führt von einer dieser Regionen
zur anderen, immer näher zu der aller‐
innersten. Seit den ältesten Zeiten haben
alle, die von diesem Wege wußten, ihn
169 Hortus Conclusus
zwar im Bilde einer Stufenfolge und eines
Aufstieges dargestellt, aber es ist hier nicht
an einen Weg in die Ferne zu denken,
sondern immer festzuhalten, daß jede
„Stufe” auf dem „Wege” zum Lichte,
eine Stufe nach innen darstellt, und nur
„höher” als die vorherige liegt, weil sie in
nerlicher gelagert ist. Der „Weg” ist aus
konzentrisch geordneten Regionen immer
lichterer Empfindungsfähigkeit gebildet.
Man könnte ihn an einem technischen Ver‐
ständigungsmodell darzustellen suchen,
indem man vor eine Lichtquelle eine nicht
zu geringe Anzahl gleichgroßer kreisrun‐
der Glastafeln von verschiedener Färbung
befestigen würde, so, daß eine dieser Ta‐
feln nach der anderen zu entfernen wäre.
Zuerst würde kaum ein Schein des Lichtes
die farbigen Gläser durchdringen, aber je
mehrere man von den äußeren, die zu‐
gleich die dunkelfarbigsten sein müßten,
170 Hortus Conclusus
hinwegnähme, desto deutlicher käme die
Form des innen brennenden Lichtes dem
Auge zu Bewußtsein, wenn auch noch im‐
mer durch mancherlei Färbung gesehen,
bis zuletzt die gänzlich farbenfreie in‐
nerste Kreistafel auch die wirkliche Eigen
farbe des Lichtes freilegen würde.
.Seiner Tiernatur nach eingeboren der
allen bekannten äußeren physischen Welt,
sieht es der Mensch als seine nächstliegen‐
de, zumeist sogar als seine einzige Aufgabe
an, nur die alleräußerste Region der
Empfindungsfähigkeit, die gerade noch
seine Tierseele umschließt, sich zu Bewußt‐
sein zu bringen und auszukunden. Immer
wieder aber wurden Menschen, trotz der
fast undurchlässigen Dichte der ihnen allein
vertrauten äußeren Empfindungsregion,
doch das innere Licht fühlend in sich ge‐
wahr, wenn es ihnen auch nur in der Art
einer Ahnung aufschimmern konnte. So
171 Hortus Conclusus
entdeckte der Mensch, daß auch noch an‐
dere Regionen der Empfindungsfähigkeit
ihm gegeben seien, durch die er dem ge‐
ahnten Lichte näherkommen könne, und
wenn er auch zumeist nicht weiter gelangte
als in die Region der Bilder, wie sie in
den Offenbarungen seiner Religionen zum
Ausdruck kommt, so war damit doch schon
Entscheidendes erreicht. Bis hierher konn‐
te jeder geführt werden, um seines Inner‐
sten wenigstens im Bilde bewußt zu
werden.
.Es ist aber vielen auch mehr zu erlangen
möglich, wenn auch unter diesen wieder
nicht alle die Kraft der Zuversicht auf‐
bringen, die unbedingt und viele Jahre
oder selbst Jahrzehnte hindurch nötig ist,
um in jene Regionen der Empfindungs‐
fähigkeit zu gelangen, in denen die Kräfte
der ewigen Seele unvermittelt empfunden
werden können, oder gar in die aller
172 Hortus Conclusus
innerste Region hinzufinden, in der al‐
lein der ewige Geistesfunke um den die
ewigen Seelenkräfte „kristallisieren”, sich
dem Empfinden des irdischen Menschen
zu eigen gibt. Aber so, wie im äußeren
irdischen Leben gar viele lebensbedeut‐
same und richtungweisende Dinge keines‐
wegs allen Menschen erlebbar und versteh‐
bar werden können, obwohl die Auswir‐
kung dieser Dinge aller Menschheit fühl‐
bar wird und keinen ausnimmt, der sich
nicht selber ausschließt, so genügt es auch
vollauf, von den im Geistigen nicht allen
erfahrbaren und durchdringbaren Dingen
durch die Verkündigung der Leuchtenden
des Urlichtes zu wissen, ‒ die in den hier
in Betracht kommenden Regionen allein
erfahrungsfähig sind und im Verlaufe der
Jahrtausende immer wieder ihren Ver‐
künder finden, ‒ will man die Gefahr ver‐
meiden, daß man sich selber ausschließe
173 Hortus Conclusus
durch verkehrte Willensrichtung. Das
Heil der Seele” wird durch den Willen
bestimmt, nicht durch ein Fürwahrhalten
irgendwelcher Berichte und Glaubens‐
lehren! Wenn sich der Wille des irdischen
Menschen weigert, seine Direktiven wei‐
terhin nur von seiner Tierseele allein ent‐
gegenzunehmen, so stellt sich der Mensch
schon damit in die Leitung des sich in
ihm erlebenden ewigen Geistesfunkens,
wodurch seine ewige Seele allmählich die
Form empfängt, die sie braucht um sein
sonst zeitlich vergängliches Individualbe‐
wußtsein in ihre Unvergänglichkeit auf‐
nehmen zu können. Diese „Transfusion”
erfolgt gänzlich unvermerkt, und unab‐
hängig davon, welche inneren Empfin‐
dungsregionen dem irdischen Menschen
schon zugänglich wurden. Nur der eigene
Wille des Menschen kann wieder scheiden,
was in solcher Art Verschmelzung fand.
174 Hortus Conclusus
VON DER VERZÖGERNDEN
FRAGELUST
Wenn die empfangene Antwort wieder
eine neue Frage veranlaßt, so hat man den
deutlichsten Beweis dafür in Händen, daß
die Antwort nicht aufgenommen undzu
eigengemacht worden war. Wie oft soll
ich auch noch sagen, daß es wahrhaftig
meine Aufgabe nicht ist, der unbändig
wuchernden Fragelust des Gehirnverstan‐
des unnötigerweise Anregung zu immer
neuen Fragen zu bringen! Viel mehr als
mir jemals oblag, bin ich der menschlichen
Schwäche des nimmermüden Fragenstel‐
lens verstehend entgegengekommen, aber
man wird gewiß nicht behaupten wollen,
daß ich dabei unterlassen hätte, immer
wieder darauf hinzuweisen, wie wertlos
alles in Fragen sich verzettelnde Wissen‐
wollen ist, und wie nutzlos jede Antwort,
die nicht zu eigener Beantwortung einer
Frage führte. Wenn man auch alles wüßte,
was jemals von den Weisesten aller Zeiten
177 Hortus Conclusus
in den Landessprachen ihrer Völker ver‐
kündet und niedergeschrieben wurde
über den Urgrund menschlichen geistigen
Lebens, so wäre man diesem, seinem ei‐
genen geistigen Lebensurgrund damit
noch nicht um Haaresbreite näher gekom‐
men. Wohl aber kann man empfindend
seiner innewerden, ohne auch nur ein
Wort jener Weisen zu kennen, ‒ ohne
auch nur das Geringste von dem zu wis‐
sen, was über diesen ewigen geistigen Ur‐
grund erdenmenschlichen geistigen Le‐
bens ausgesagt zu werden vermag.
.Das Nachgeben gegenüber dem Drang
zur Frage verursacht jedesmal eine erheb‐
liche Schwächung des Empfindungsver‐
mögens und stellt die Einwilligung dar zu
einem Versuch mit untauglichem Mittel,
vielleicht eher verstandesmäßig zu einer
Erkenntnis zu kommen, die nur in emp
findungsmäßigem Innewerden erreich‐
178 Hortus Conclusus
bar, aber nur zu erlangen ist nach Ablauf
zubestimmter Zeit. Das Verlangen nach
einer Antwort von außenher ist Bereit‐
schaft, sich abzufinden mit gedanklich
faßbarer Darstellung dessen, was in seiner
vollen Wirklichkeit zu eigen werden soll,
aber als solche allein der Empfindung
wahrnehmbar wird. Wer da glaubt, seine
hohe Intelligenz vor sich und anderen ins
rechte Licht gestellt zu sehen durch im‐
mer erneute Fragenstellung, der narrt sich
nur selbst, da er nach einer Entscheidung
strebt, die niemals dort fallen kann, wo er
sie so selbstgewiß sucht. Er gleicht einem
Menschen, der etwa mit einem Flugzeug
aufsteigen wollte um Fische zu fangen ‒
in den Wolken! Die Fragen, die beim
Suchen nach Licht und Erleuchtung wirk‐
lich berechtigt sind, können nicht in Worte
gefaßt werden, sondern formen sich nur
der Empfindung, in der allein sie auch
179 Hortus Conclusus
ihre Beantwortung finden. Jedes Fragen
in Worten ist hingegen nur ein Hinaus‐
schieben der erlangbaren Antwort in der
Seele selbst. Es handelt sich ja doch nicht
um etwas, das in Worten zufriedenstellend
ausgesprochen werden könnte, auch wenn
die wundersamsten Worte sich dazu dar‐
bieten wollten. Es ist das zu Erlangende
auch nichts, das so, aber auch anders sein
könnte, auch wenn es in tausendfältig ver‐
schiedener Umschreibung benannt zu
werden vermag. Es handelt sich vielmehr
allein um den verborgenen substantiellen
Urgrund des eigenen zeitlichen Daseins
wie des eigenen Seins im ewigen substan‐
tiellen Geiste!
.Hat aber der Erdenmensch auch nur ein‐
mal diesen durch alle Geschlechterfolgen
weiter sich auswirkenden und in jedem
Einzelnen erneut sich individualisieren‐
den Urgrund seines eigenen Lebens leib‐
180 Hortus Conclusus
haftig empfindend in sich erfahren, dann
sieht er erst erschauernd, welcher Torheit
er voreinst verfallen war, als er noch
wähnte, dieses Erste und Letzte, ‒ Ein‐
malige und Unendlichfältige, ‒ lasse in
Worten sich erfragen und könne Frage‐
worten Antwort werden... Aller Auf‐
schluß über innere Zusammenhänge
ewigen, substantiellen geistigen Lebens
kann ja niemals das Bewußtwerden im
eigenen Innern ersetzen, und keine ge‐
dankliche Darlegung vermag jemals die
Gewißheit zu schaffen, die allein das Inne
werden dieses Einen, das alle Zahl in sich
darlebt, in der leibhaften Empfindung er‐
zeugt. Hier endet jeder Bereich der Frage
und alle gedanklich genährte Fragelust ist
erloschen. Wird aber auch solches Ein‐
gehen in die allerinnerste Region der
Empfindungsfähigkeit wahrhaftig nur
Wenigen gewährt, da nur die Wenigsten
181 Hortus Conclusus
darauf zu warten wissen, so bleibt doch
Allen wache Einsicht offen, wo auch
immer sich ihr Empfinden Ewigem einzu‐
beziehen strebt: ‒ fraglos allem gehirn‐
bedingten Fragedrang sich selbst ver
sagend und dem Wirklichen zugekehrt,
das nur dem Empfindungsbewußtsein sich
offenbaren kann.
182 Hortus Conclusus
VON ZEITLICHER
UND EWIGER SEELE
Daß Menschen dem Tiere die Seele ab‐
sprechen konnten, erscheint unbegreiflich
töricht, wird aber auch scheinbar unver‐
ständlich, angesichts der Gewißheit, daß
die übergroße Mehrzahl der Erdenmen‐
schen nur ebendiese Tierseele als eigene
„Seele” kennt und die aus ewigen Seelen‐
kräften gestaltete, ihrer Substanz nach in
der Dauer verharrende Seele kaum oder
garnicht im Innern wahrzunehmen fähig
ist. Und doch liegt hier nur ein wohlbe‐
greifliches Irren vor, insoferne, als der
Mensch alles Überphysische, was in ihm,
gleich der Seele des Tieres, nur Funktions‐
ergebnis des Lebens der Zellen seines sicht‐
baren tiergemäßen Körpers ist, schon zu
seiner ewigen Seele zählte, über deren Da‐
sein er durch Solche seiner Art unterrich‐
tet worden war, die sich in ihr zu erleben
vermochten. Daß die Beobachtung aber
den Erdenmenschen dennoch dahin führte,
185 Hortus Conclusus
auch im Tiere Gleiches zu entdecken, wie
das, was ihm in ihm selber der ewigen
Seele zuzugehören schien, zeigt deutlich
genug das oft wiederkehrende Märchen‐
motiv, in dem Tiere erscheinen, die eigent‐
lich tierhaft verhüllte Menschen, oder
durch boshafter Zauberer Kraft verzau
berte Menschen sind. Es war dem Men‐
schen unheimlich, daß er am Tiere, das
doch nach den meisten Glaubenslehren
„keine Seele” haben konnte, gleichwohl
Seelisches wahrnehmen mußte, und wo
der religiöse Glaube die Seelenwande‐
rung zuließ, dort fand die Vorstellung,
daß sich Menschenseelen in Tieren ein‐
gefesselt fänden, gewiß keinen ausschlie‐
ßenden Widerstand, ‒ war doch der Glau‐
be an Metempsychose selbst nur eine
Folge der Wahrnehmung gleicher Eigen‐
schaften und gleichen Verhaltens bei
Mensch und Tier.
186 Hortus Conclusus
.Wie ich in der knappen Abhandlung
„En sôph” im „Buch vom lebendigen
Gott” kurz aufgezeigt habe, stößt die in
ewiger Starre sich selbst erschütternde
Nacht des Urseins ohne Unterbruch dunkle
Kräfte aus: ‒ gleichsam Splitter ihrer eige‐
nen, ewigen unerschöpflichen Substanz, ‒
ewiges Ursein, wie sie selbst, und nach der
Auswirkung in einem jeweils bestimmten
schöpferischen Zyklus wieder in sie zu‐
rückkehrend. Ich habe dort dargelegt, wie
diese Urseinskräfte Ursache aller Gestal‐
tung im Weltenall sind. Ich zeigte aber auch,
wie sie in sehr verschiedenen Formen wir‐
ken. Eine der subtilsten dieser Formen
zeigte ich in den im „Urlicht” zu absolu‐
ter Klarheit aufleuchtenden Kräften, aus
denen die Individualform der ewigen Seele
des Menschen sich gestaltet. Diese Gestal‐
tung kann jedoch nur erfolgen, wenn der
ewige „Geistesfunke”, ‒ der als dauernde
187 Hortus Conclusus
Individualisierung im ewigen Geiste, An‐
laß aller Individualisation im Zeitlichen
wird, ‒ diese „Seelenkräfte” an sich zur
Kristallisation bringt, dadurch, daß der
Wille des Erdenmenschen sie ihm zur Eini‐
gung überläßt. Wie alles Gestaltete, ist
auch das Tiergemäße des Erdenmenschen,
und mit ihm, dessen Wille, nur Folge-Er‐
scheinung der Auswirkung jener Urseins‐
kräfte, die wieder in die Nacht des Urseins
zurückkehren, nachdem sie jeweils den
Zyklus ihres zeitlichen Wirkens vollbracht
haben. Im Tiere ist dieses Vollbringen mit
der Gestaltung der Tierseele geschehen,
die ebenso im Erdenmenschen ‒ soweit
er des Tieres ist ‒ sich darstellt als bloßes
zeitliches Funktionsergebnis seines tierge‐
mäßen Organismus, und aufhört zu beste‐
hen, sowie dieser Organismus seine Lebens‐
bedingungen nicht mehr erfüllen kann.
Der entscheidende Unterschied zwischen
188 Hortus Conclusus
Tier und Erdenmensch besteht darin, daß
der Mensch auch noch in der Tiergebun‐
denheit, in die er auf Erden gefesselt ist,
fähig bleibt, seiner selbst als des ewigen
„Geistesfunken” aus dem Urlicht bewußt
zu werden, ‒ und das wieder ist innerhalb
des Irdischen nur möglich, weil der Erden‐
mensch nicht nur die Folge-Erscheinung
der Auswirkung bloß im Physischen gestal‐
tungsfähiger Urseinskräfte darstellt, son‐
dern jene hohen, durchlichtungsfähigen
Urseinskräfte, ‒ die ihm schon allein aus
ihrer eigenen ewigen Dauer und Ewig‐
keitskonsistenz heraus seiner Seele „Un‐
sterblichkeit” verbürgen, ‒ in direkter
Beziehung als sein Eigen in sich selber
findet. Es ist des Erdenmenschen not‐
wendige, durch sein Dasein selbstge‐
setzte Aufgabe, die hohe Form der Ur‐
seinskräfte, ‒ die als „Ursein” im „Ur‐
licht” aufleuchtend, seine Seelenkräfte
189 Hortus Conclusus
bilden, um endlich im „Urwort” blei‐
bender Gestaltung der Seelenform zu
dienen, ‒ im Kristallisationspunkt sei‐
nes Ewigen zu einen! Das aber erfolgt
durch einen konstanten Akt des erden‐
menschlichen Willens, der ja nur Folge‐
Erscheinung des Wirkens jener primiti
ven Form der ewigen Urseinskräfte ist,
deren dem Erdenmenschen zugängliche
höchste Form seine eigenen ewigen See‐
lenkräfte sind.
.Alle Ewigkeitsempfindung ist dem ins
Irdische „gefallenen” Menschen nur mög‐
lich durch die ewigen Seelenkräfte, ‒ aber
nur dann, wenn sie ihren Herrn und Mei‐
ster in dem ewigen „Geistesfunken” des
Menschen fanden, und in ihm die Eini
gung. Ein wie geheimnisvoll Erhabenes
auch jede einzelne ewige Seelenkraft dar‐
stellt, so ist doch jede ein Eigenwilliges,
das ‒ ohne Bündelung in einer individuell
190 Hortus Conclusus
bestimmten Seelenform ‒ nur sich selber
und seine Eigenstrebung auswirkt. So
kann der Erdenmensch trotz allen seinen
Seelenkräften dennoch seinem Ewigen
verloren gehen, wenn er nicht seinen, nur
die Folge-Erscheinung geistiger Urseins‐
kräfte bildenden irdischen sekundären
Willen nach aller, wenn auch erdbehin‐
derten Möglichkeit konstant dem primä
ren Willen des ewigen Geistesfunken in
sich anzugleichen bestrebt ist. Denn nur
in diesem rein ewigkeitsbestimmten Wil‐
len lassen sich die ewigen Seelenkräfte
nach bestimmter, geistig dargebotener
Formung in der bleibenden ewigen Men‐
schenseele einen. So aber nur erfolgt auch
jene „festliche Einung”, in der des Men‐
schen nurirdisches Bewußtsein die Be‐
fruchtung aus ewigem Geistesmenschen
tum durch Erfassung des eigenen ewigen
Geistesfunkens in sich empfängt, wonach
191 Hortus Conclusus
dem nun geistig Überlichteten „sein le‐
bendiger Gott” in der eigenen, indivi‐
duell geformten Seele „geboren” wird.
192 Hortus Conclusus
WAS NACH DEM TODE BLEIBT
Gewiß wäre die Annahme richtig, daß
nach dem Tode des menschlichen Kör‐
pers die Tierseele des Menschen mit allem
was jemals in ihr erlebt wurde, als bloßes
Funktionsergebnis seiner nunmehr zu je‐
der Funktion unfähig gewordenen Leib‐
lichkeit, ausgelöscht sein müsse wie bei
jeglichem Tier, dem der Tod auch die
Seele endet, ‒ wenn nicht beim Erden‐
menschen während seines leiblichen Le‐
bens die Tierseele mit der bleibenden
Seele derart intensive Empfindungsge‐
meinschaft eingegangen wäre, daß sich
das in der Tierseele Erlebte in vielfältig‐
ster Verwobenheit mit den Kräften der
ewigen Seele findet. So ist nun zwar auch
nach dem Tode des Menschen kein weite
res Bestehen der Tierseele möglich, aber
das, was in der menschlichen Tierseele bis
zu ihrem Erlöschen erlebt worden war,
ist in den ewigen Seelenkräften neben
195 Hortus Conclusus
und unter deren eigenem Erlebensinhalt
vorerst noch mitverwahrt, und es braucht,
‒ nach irdischer Zeitvorstellung bemes‐
sen, ‒ je nach der Art des Erlebten und
der Stärke seiner Einprägung, Jahrzehnte,
Jahrhunderte, Jahrtausende und mehr, bis
die endgültige Siebung nach dem Willen
der ewigen Seele jeweils durchgeführt
werden kann, wonach sich dann bestimmt,
welche Erinnerungsgegenwart dem ewi‐
gen Bewußtsein erhalten bleibt und wel‐
che die Seele für immer erloschen sein
läßt. Die ewigen Seelenkräfte, die in my‐
riadenhafter Anzahl die während des Er‐
denlebens vom Menschen durch Wille und
Tat gestaltete Form seiner Seele bilden,
haben mitempfunden, haben miterlebt,
was in der Tierseele ehedem empfunden
und erlebt worden war, und verwahren es
im Bewußtsein der bleibenden Seele bis
diese durch eigenen Willensakt entschei‐
196 Hortus Conclusus
det, was ihr erhalten sein, und was ihr
entschwinden soll.
.Diese Entscheidung sogleich nach dem
Tode des irdischen Körpers zu treffen, ist
unmöglich, weil die einzelnen, der Tier‐
seele entstammenden Erlebenseindrücke
den ewigen Seelenkräften in ganz ver‐
schiedener Intensität eingeprägt sind, je
nach den Impulsen, die das Empfinden in
der Tierseele gleichzeitig in den ewigen
Seelenkräften zum Mitschwingen gebracht
hatten. Nicht eher steht es der bleiben‐
den Seele frei, zu entscheiden, was sie
in ihrem dauernden Bewußtsein behalten
und was sie ausstoßen will, als bis alle Im‐
pulskraft aufgebraucht ist, durch die ehe‐
dem ein Empfinden der Tierseele sich
den ewigen Seelenkräften einzuprägen
vermochte. Alles Identitätsbewußtsein ist
aber nur in den Empfindungskomplexen
enthalten, die sich die ewige Seele der‐
197 Hortus Conclusus
einst für die Dauer einbezogen sehen
will. Was sie hingegen ausstößt, ist damit
für die Dauer ausgelöscht, wie alles beim
Tode des Tieres erloschen ist, was jemals
für das Tier in seiner Seele bewußtes Er‐
leben geworden war. Von allem Tiereser‐
leben kann ja nur in die Dauer eingehen,
was die ewigen Seelenkräfte eines Men
schen, der an dem Erleben eines Tieres
Anteil nahm, als menschliche Empfindung
berührte und Eindrücke hinterließ als
Erinnerungsgegenwart. Die dunklen Ur‐
seinskräfte ohne Eigenbewußtsein, die
Ursache für des Tieres Leben, Gestaltung
und Tierseele gewesen waren, sind hin‐
gegen nur indirekt durch das Erleben des
Tieres berührt worden, insofern als ein‐
drucksames und lange hindurch wieder‐
holt empfundenes Erleben in der Tier‐
seele die einzelnen Urseinskräfte gleich‐
sam zu imprägnieren vermag, so daß in
198 Hortus Conclusus
ihrer nächsten zur Gestaltung drängenden
Verbindung Ausdruck finden kann, was
sie in der vorhergehenden empfingen.
Nicht anders verhält es sich beim Men
schen dieser Erde, soweit er Tierleben,
Tiergestaltung und Tierseele ist!
.Wenn man davon spricht, daß die Seele
„Schaden leiden” könne, und dabei etwa
die bleibende, ewige Seele meint, so will
und soll solches Wort nur in übertragenem
Sinne verstanden sein, denn in Wirklich‐
keit kann die ewige Seele weder durch
Irdisches geschädigt, noch gar getötet wer‐
den. Wohl aber kann sie dem Erdenmen
schen verlorengehen, ‒ wie der Erden‐
mensch ihr, ‒ so daß in ihm abstirbt, was
ehedem aus den Kräften seiner Seele gei
stiges Leben in der Zeit empfangen hatte.
Was hingegen des Erdenmenschen Tier
seele anlangt, so kann diese allerdings sei‐
ner ewigen, bleibenden Seele Erinne‐
199 Hortus Conclusus
rungsgegenwärtiges darbieten, das die
ewige Seele auch dann sich erhalten
wissen will, wenn längst die Impulse,
die es ihr einprägten, aufgebraucht sind.
So wird in Ewigkeit die Bewußtseins
einheit zwischen dem vormals im Irdi‐
schen lebenden Menschen und seiner blei
benden Seele erhalten. Aber mit nicht
geringerer Wirksamkeit kann die ewige
Seele auch aus der Tierseele her nur
mit ihr Ungemäßem belastet werden, das
auf unermeßbare Zeiträume hin jede
Einung des vormaligen irdischen mit
dem ewigen Bewußtsein ausschließt,
oder ‒ auch für alle Ewigkeit unmög
lich macht...
.Um das, was seine ewige Seele ihm zu
geben hat, braucht sich der Erdenmensch
wahrhaftig nicht zu sorgen. Wohl aber
vermag er während seines physischen Le‐
bens kaum sorgsam genug darauf zu ach‐
200 Hortus Conclusus
ten, daß seine Tierseele darbietet, was
seine bleibende Seele in die Dauer auf‐
nehmen kann!
201 Hortus Conclusus
VON EINEM NAMEN
UND EINEM NOTBEHELF
Wenn sowohl ein bloß zeitlich erfolgen‐
des und nur zeitlich wahrnehmbares
Funktionsergebnis des irdischen, tierhaft
organischen Körperlebens mit dem Wort
„Seele” bezeichnet wird, indem man von
der „Tierseele” spricht, ‒ als auch jenes
im Physischen unfaßbare Ewige, das blei‐
bende Äußerungswelt des individualisier‐
ten ewigen Geistesfunkens ist, so hat hier
eine gleiche Namensgebung volle Berech‐
tigung. Zwar ist die Tierseele nur ein in
direktes Ergebnis des Wirkens ewiger Ur‐
seinskräfte dunkelster drang- und trieb
mäßiger Auswirkungs-Stufe ohne Eigen
bewußtsein der am Leben eines Organis‐
mus beteiligten Myriaden solcher Kräfte
für sich selbst, während die bleibende
Seele sich ihre Form bilden läßt aus Myri‐
aden vollbewußter, im Urlicht aufleuch
tender Urseinskräfte der menschlich emp‐
findbaren höchsten Stufe, und somit eine
205 Hortus Conclusus
direkte Manifestation dieser hohen Ur‐
seinskräfte darstellt, ‒ aber dennoch han‐
delt es sich bei Beidem um überaus Ähn‐
liches, soweit die Empfindungsform für
Beides in Frage kommt. So ist denn in
beiden Fällen der gleiche Name nichts
anderes als eine Charakterisierung dieser,
beiden gemeinsamen Empfindungsform.
Schon aus der Tatsache, daß beide Er‐
lebens- und Empfindungsbezirke ihre
Gleichnamigkeit in jeder Sprache durch
ein anderes Wort bezeichnen lassen müs‐
sen, ergibt es sich, daß der Name „Seele”
nicht eine an bestimmte Buchstabenfolge
geknüpfte lautgemäße Darstellung bildet,
sondern als benennender Name für wirk
lich Vorhandenes, physischen Augen Un‐
sichtbares, gemeint ist.
.Hingegen ist die Definition des Erden‐
menschen als eines sichtbaren vergäng‐
lichen Körpers und einer unsterblichen
206 Hortus Conclusus
Seele nur ein Notbehelf, zu dem der im
Irdischen Gebundene seine Zuflucht nahm,
nachdem ihm bewußt geworden war, daß
noch anderes als das körperhaft Sichtbare
in seiner Existenz sich auswirke. Solcher
Notbehelf war genügend in Zeiten naiver
Hinnahme primitiver Erklärungen alles
Wahrgenommenen, ‒ er genügt aber
nicht mehr, nachdem es dem Erdenmen‐
schen Bedürfnis wurde, seine Beobach‐
tungen kritisch zu vergleichen. So mußte
denn das Beibehalten dieses Notbehelfes
immer mehr und mehr die Empfindungs‐
fähigkeit für die bleibende Seele abschwä‐
chen, nachdem kritische Beobachtung
mehr und mehr der Tierseele habhaft
wurde, und entdecken mußte, daß hier
nichts anderes vorliegt, als ein zeitliches
Funktionsergebnis des vergänglichen irdi‐
schen, aus tierhaften Kräften, ‒ wenn
auch dem Tiere weit überlegen, ‒ geleb‐
207 Hortus Conclusus
ten Lebens. Je mehr sich alles Empfin‐
dungsvermögen nun auf die ja als Wirk‐
lichkeit zeitweilig bestehende, dann aber
der Auflösung verfallende Tierseele kon‐
zentrierte, desto weniger konnte es im‐
stande bleiben, auch die bleibende Seele
zu empfinden, einerlei, ob man das Emp‐
fundene ‒ nicht ganz zu Unrecht ‒ als
Beweis dafür ansah, daß alle beobachtete
„seelische” Äußerung dem physischen
Körper allein zuzurechnen sei, oder ob
man ‒ gegensätzlicherweise ‒ nun alles,
was wirklich nur die Tierseele zur Ur‐
sache hat, schon als Manifestation der
ewigen Seele auslegte. Beide Irrtümer
können nur überwunden werden, wenn
man weiß, daß es sich bei allem „Seeli‐
schen” im Erdenmenschen um zwei di‐
stinkt voneinander zu unterscheidende
Lebensbereiche, aber ihre der Empfin‐
dung nach ähnlichen Äußerungen handelt.
208 Hortus Conclusus
.Es ist nun freilich dem nicht gänzlich
im Geistigen Bewußten praktisch uner‐
reichbar, etwa in jedem Einzelfall fest‐
stellen zu können, was an seelischen Äuße‐
rungen noch der Tierseele entstammt, und
was mit Bestimmtheit die Existenz der
bleibenden: ‒ der ewigen, unsterblichen
Seele voraussetzt. Zu sehr ist Beides in‐
einander verflochten, wenn auch insoferne
bedeutsame Unterscheidung besteht, als
zwar alles, was in der Tierseele empfun‐
den und erlebt wird, auch der ewigen
Seele zu Bewußtsein kommt, ja, in ihr
verwahrt wird, ‒ während es einer sorg‐
fältigen Erziehung der Tierseele und
jahrelanger ausdauernder Hingabe bedarf,
wenn sie auch nur die Gewißheit der Exi
stenz der bleibenden Seele erlangen will.
Das hindert jedoch nicht, daß die mensch‐
liche Tierseele in einemfort Einflüsse aus
der bleibenden Seele empfängt, ohne der
209 Hortus Conclusus
Herkunft und Natur dieser Influenzen be‐
wußt zu werden. Ihnen dankt es der Er‐
denmensch, daß seine Tierseele sich zu
unermeßlicher Höhe über die Seele der
bloßen Erdentiere emporzuheben ver‐
mag, ‒ wie das zum Beispiel in den Be‐
reichen der freien Künste geschehen
kann, ‒ obgleich es freilich dennoch
möglich bleibt, daß Menschen kaum jene
Höhe der Entwicklung ihrer Tierseele er‐
reichen, die schon in höheren Tieren
vielfach vorgefunden wird.
210 Hortus Conclusus
WAS MAN
SELBER FOLGERN SOLLTE
Wo heute noch, nach allem, was ich über
diese Dinge aus dem Ewigen mitgeteilt
habe, ernsthaft gefragt werden kann, was
denn in den Abgeschiedenen erlebens‐
fähig sei nach dem Tode des Erdenkör‐
pers, so daß dieses Überdauernde sowohl
die Hände hoher Helfer ergreifen, diese
aber auch abweisen und sich unermeß‐
liche Zeit lang in die selbst miterzeugten
„Strandreiche” bannen könne, ‒ dort
muß ich entgegenfragen, ob der trotz
allem was er in meinen Lehrschriften ge‐
lesen hat, doch noch so wenig Erfüh‐
lende nicht etwa nur eine mechanische
Lesemaschine sei, da er offenbar ebenso‐
wenig beim Lesen meiner Worte empfun‐
den hat, wie ein Grammophonapparat
vom Inhalt der Platten empfindet, deren
Gravuren seine Nadel nachzieht. Ich weiß
gewiß, daß ich gezwungen bin, Vielem
Ausdruck zu schaffen, was sich kaum aus
213 Hortus Conclusus
der Wirklichkeit in Worte übersetzen läßt,
und ich bin wahrhaftig nicht vermessen
genug um etwa anzunehmen, daß ich für
alles die vollkommenste Darstellungsweise
gefunden hätte, ‒ aber außer jeder Dis‐
kussion steht mir die in der Praxis un‐
zähligemale bewiesene Möglichkeit, aus
meinen Worten durch einfache logische
Schlußfolgerung zu der richtigen Ant‐
wort auf jede Frage zu gelangen, die
allenfalls noch sich aufdrängen könnte
ohne von mir bereits ausdrücklich spezia‐
lisiert beantwortet zu sein. Auch die hier
nun bezeichnete Frage erfordert wahrhaf‐
tig keinen besonderen Scharfsinn zu ihrer
Beantwortung und ist überdies von mir
oft genug beantwortet durch alles, was ich
jemals im Hinblick auf das Bestehen eines
Bewußtseins und Willens nach dem Tode
des Körpers zu sagen hatte.
.Daß es nicht die erdenmenschliche
214 Hortus Conclusus
Tierseele ist, die den körperlichen Tod
überlebt, ergibt sich wohl deutlich genug
aus meiner Bekundung, daß diese Tier‐
seele lediglich Funktionsergebnis der Le‐
benserscheinungen des physischen Kör
pers ist, also mit dem Tode des Körpers
aufhört, zu bestehen. Es können nur Ge‐
bilde, die man als „Doppelgänger” oder
als „Astralleib” bezeichnet hat, eine ge‐
wisse Zeit weitererhalten bleiben. Diese
Gebilde sind Schemen, die der Impuls zu
eigener Bildgestaltung aus den Kräften
der Tierseele hervorgehen ließ, als diese
noch bestand und in Wirksamkeit war,
und die als Resultat dieser Wirksamkeit
die Auflösung der Tierseele ebensolange
überdauern können, wie die sonstigen
irdischen Auswirkungen der durch die
tierische Seele ausgelösten Impulse, deren
ja eine große Anzahl als Nachwirkung je‐
des beendeten Erdenlebens im Irdischen
215 Hortus Conclusus
zurückbleiben. Aber diese Schemen kön‐
nen zwar ‒ solange sie noch existieren ‒
als aktiv sich auswirkende Erinnerungs‐
bilder Spuk und Unfug verursachen, ha‐
ben aber nicht das allermindeste mehr
mit ihren Erzeugern gemeinsam. Das ein‐
zige, was nach dem Tode des Körpers
Träger des ehemals in der Tierseele sei‐
ner selbst bewußt gewesenen mensch‐
lichen Individualbewußtseins des Erden‐
menschen zu sein vermag, ist nur die
bleibende, ewige Seele, die ja in sich
noch alle Empfindungserinnerung ver‐
wahrt, die sie aus der ihr während des kör‐
perlichen Lebens verbundenen mensch‐
lichen Tierseele empfing. In ihr allein
lebt auch der Wille und die irdisch be‐
stimmte Empfindungsfähigkeit weiter,
die voreinst der Erdenmensch in seiner
Tierseele fand.
.Gewiß bedeutet dieser Zustand für die
216 Hortus Conclusus
ewige Seele eine Bindung, der sie sich je
eher desto lieber entzogen sehen will.
Aber anderseits gehört dieses „Leben
nach dem Tode”, wie es bis zur endgül‐
tigen Befreiung der bleibenden Seele
durchlebt werden muß, noch vollständig
zum Erdenleben! Es stellt nur den Teil
des irdischen Menschenlebens dar, der
ohne tierhaften, sichtbaren Körper und
somit ohne Tierseele zu erleben ist. Erst
wenn auch diese Form irdischen Erlebens,
durch Aufbrauchung der im physischen
Leibesleben mit Hilfe der Tierseele ge‐
schaffenen, impulsgetriebenen Kräfte,
endgültig ausgelebt ist, wird die indivi‐
duelle und während des erdenkörper‐
lichen Daseins unter Beihilfe der Empfin‐
dungs-Resonanz des Tierkörpers durch
die ewigen Seelenkräfte geformte blei
bende Seele gänzlich frei, aus irdischer
Erinnerung zu verwahren, was sie ver‐
217 Hortus Conclusus
wahrt wissen will, und aufzulösen, was sie
als nicht der ewigen Erhaltung würdig
empfindet.
.Was hierher gehört habe ich noch zu
allem Überfluß auch auf den letzten
Seiten des kleinen Bandes rhythmischer
Wortfügungen: „Leben im Licht” auf ein‐
fachste Form gebracht, und wenn ich an
gleicher Stelle vordem in zwei verschie‐
denen Bildern von der „Seele” spreche,
so wird man doch wohl jetzt begreifen,
daß von dem die Rede ist, was die Tier‐
seele der bleibenden Seele als Erinne‐
rungsgegenwart mitzuteilen vermag. Die
ewige Seele kann wahrhaftig nicht zu
einem „Stall”, oder einem faulichten
„Tümpel” werden, um als solcher in sich
selber zu verwesen. Durch ihre, während
eines Erdenlebens erfolgte Verbindung
mit einer tierischen Seele findet sie sich
jedoch gezwungen, aus der Tierseele auch
218 Hortus Conclusus
Empfindungseindrücke in sich aufnehmen
zu müssen, die leider mitunter nach weit
drastischeren Vergleichen rufen, als den
von mir zur Erläuterung gewählten...
.Es gibt „Tierschutzvereine”, die zu
verhindern suchen, daß Tiere unnötig zu
leiden haben, und solches Bestreben
ist gewiß aller Förderung wert. Nicht
weniger aber sollte der Mensch sein
Augenmerk auf den Schutz seiner eige‐
nen bleibenden Seele richten, die er vor
unsagbarer Last zu behüten vermag, von
der er erst selbst bedrückt sein wird, nach‐
dem sein Leibesleben ihm erloschen ist. ‒
219 Hortus Conclusus
VON ARGER UNTERSCHÄTZUNG
Mögen auch Anhänger ehrwürdig alter
Religions-Systeme, denen der Erden‐
mensch nur aus dem sterblichen Leibe
und einer unsterblichen Seele zu „be‐
stehen” scheint, zur Not etwa zuzugeben
geneigt sein, daß sich ein Seelisches, dem
der Tiere gleich, in ihren Selbstbekun‐
dungen während des Erdenlebens zur
Auswirkung bringe, so darf man doch
sicher damit rechnen, daß die allenfalls
Zustimmungsbereiten diesen Auswirkun‐
gen eine obere Äußerungsgrenze anwei‐
sen, die ‒ in der Wirklichkeit ‒ kaum
deren niederste Auswirkungszone gänz‐
lich umfaßt. Alles Höhere rechnen sie
bereits ihrer ewigen Seele zu, in der
sicheren Meinung, es könne nur unbe‐
deutend Niederes Ausdruck eines zeitlich
bedingten Lebenskomplexes sein, der
selbst nur in Wahrheit ein Funktionser‐
gebnis vergänglichen irdischen Körper‐
223 Hortus Conclusus
lebens darstellt. Bis zu gewissem Grade
wird solche Auffassung allerdings dadurch
unterstützt, daß die Tierseele, wie schon
erörtert ist, im Erdenmenschen überaus
bedeutsame und sie in mancher Hinsicht
unvergleichlich Höherem als dem ihr Ge‐
mäßen zuführende Influenzen aus der
ewigen Seele empfängt. Einflüsse, die
dem Tiere niemals zuteil werden könn‐
ten! Es ist darum schwer geworden, mit
Gewissheit zu bestimmen, was noch der
erdenmenschlichen Tierseele zugeschrie‐
ben werden muß, und was ohne Frage
Auswirkung der bleibenden Seele ist.
Aber trotz allem darf man jederzeit sicher
sein, daß man die obere Grenze für das,
was aus der vergänglichen, irdisch-tier‐
haften Seele des der Erde verhafteten
Menschen stammt, garnicht hoch genug
ziehen kann! ‒ Die Einsiedlermönche
des Athos beweisen auf ihre Art unstrei‐
224 Hortus Conclusus
tig eine tiefe Erkenntnis, wenn sie alle
Arten der Gelehrsamkeit für unverein
bar mit echter Frömmigkeit, und für ein
Hindernis der Gottesschau erklären. Um
das aber recht zu verstehen, muß man
wissen, daß es sich bei diesen asketischen
Anachoreten keineswegs etwa um die all‐
bekannten Divergenzen zwischen Glau‐
ben und Wissen handelt, sondern um Ge
lehrsamkeit schlechthin, mag sie auch
„rechtgläubige” Theologie und vor allem
religiösen Zweifel gesicherte Schrift‐
kunde umfassen. Ihre Erkenntnis läßt
sie ‒ in freilich übersteigerter Folge‐
rung, ‒ einen ganz seiner ewigen Seele
lebenden Analphabeten weit höher ein‐
schätzen als einen mit allen verstandes‐
mäßig zu lösenden Fragen orthodoxer
Theologie Vertrauten, denn sie wissen
sehr wohl, daß zwar auch dessen Verstand
sehr vieles den Influenzen der ewigen
225 Hortus Conclusus
Seele verdankt, daß aber sein gelehrtes
Erforschen die ewige Seele kaum be
nötigt....
.Vielleicht wird es manchen Leser die‐
ser Worte erschrecken, wenn er gewahr
wird, daß er, von allen Zweifeln unbe‐
rührt, vieles aus bestem Glauben seiner
bleibenden Seele zuzuschreiben gewohnt
war, was er nun ‒ wenn er der Wahrheit
die Ehre geben will ‒ hinfort seiner ver‐
gänglichen irdischen Tierseele dankbar
anrechnen muß. Es ist aber besser, ein‐
mal durch solches Erschrecken hindurch‐
zugehen, als sich dauernd in Träumen zu
gefallen, die der Wirklichkeit keineswegs
entsprechen und darum auch nichts
Wirkliches in dem Traumgefesselten zu
fördern vermögen. Nun ist es gewiß
nicht nötig, wie die strengsten Einsiedler
unter den Athosmönchen, sich nur dem
Empfinden der ewigen Seele hinzugeben
226 Hortus Conclusus
und in allem, was durch die Kräfte der
vergänglichen tiergemäßen Seele dem
Bewußtsein nahegebracht werden kann,
gleichsam „Schlingen der Hölle” zu ver‐
muten. Es ist sogar angebracht, der
Tierseele in sich mit aller Ehrfurcht zu
begegnen, und keineswegs gering zu
schätzen, was sie dem Erdenmenschen zu
vermitteln hat. Es ist jedoch anzustreben,
daß die tierhafte Seele gänzlich dem
Dienste der ewigen Seele unterstellt
wird, denn sie kann in solchem Dienste
der ewigen Seele Werk in kaum vorstell‐
barer Weise fördern. Ist auch die Tier‐
seele nicht, gleich der bleibenden Seele,
seiner selbst bewußter Erlebensraum
eines individualisierten ewigen Geistes‐
funkens, ‒ offenbart sie sich auch nicht
in einer empfindbaren Form aus höchsten
lichtempfänglichen Urseinskräften, ‒ so
ist sie dennoch sekundäre Auswirkung
227 Hortus Conclusus
des Urseins, wenn auch in seiner licht
fernsten, nur blind schöpfungsträchtigen
Selbstdarstellung aus der alles Gestaltete
im Weltall seine Gestaltung fand und fin‐
det. Ehrfurcht ist hier wahrhaftig wohl‐
angebracht, und jede Unterschätzung muß
unerwünschte Folgen schaffen!
.Gewiß ist es dem eine ewige Seele
Glaubenden oder vermeintlich schon Er‐
fühlenden wenig erwünscht, zu hören,
daß auch die höchsten Resultate mensch‐
lichen Denkens ‒ mag sich dieses Denken
auf das beziehen, was man „Philoso‐
phie” zu nennen pflegt, auf Religion,
Mathematik oder irgendwelche Gebiete
der höchstentwickelten Technik mit Ein‐
schluß der Chemie und aller ärztlichen
Forschung ‒ durchaus zustandekommen
können ohne die geringste Mitwirkung
der ewigen Seele. Noch schwerer aber
wird es ihm zu verstehen sein, daß auch
228 Hortus Conclusus
technisch hochbedeutsame Werke jeg‐
licher Kunst nur das Werk der im Men‐
schen zu höchster Entwicklung gelangten
Tierseele sind, auch wenn sie freilich auf
jeder technisch zu wertenden Höhe Aus
drucksgestaltungen der bleibenden Seele
werden können.... Es wird kaum mit
einem anderen Wort soviel Mißbrauch ge‐
trieben, wie mit dem Wort „Seele”, das
auch jeder als Bezeichnung für etwas dem
Tierhaften Überordnetes aufgenommen
wissen will, der sich aufs heftigste wehren
würde, wollte man von ihm erwarten, daß
er die bleibende Seele als Wirklichkeit
seinem erdachten Weltbild überzuordnen
wisse. ‒
229 Hortus Conclusus
ÜBER DIE ZWANGSLAGE
DER SEELSORGERSCHAFT
Von Zeit zu Zeit erreichen mich immer
wieder Briefe recht beachtlicher Kenner
meiner Bücher, die ihrer Empörung oder
Entrüstung Ausdruck geben zu müssen
meinen über irgendwelche geringschätzi‐
ge, dumme, oder auch kategorisch ableh‐
nende Äußerung eines ihnen bekannten
berufsmäßigen Religionsvertreters gegen‐
über meinen Schriften. Man läßt mir sol‐
che Mitteilungen zukommen in der Mei‐
nung, es sei mir sehr erwünscht, darum
zu wissen, damit ich mich derartiger Ab‐
schätzungen privatim oder öffentlich er‐
wehren könne. Solche Auffassung ent‐
stammt aber einem Optimismus, den ich
nicht teilen kann. Man macht sich nicht
klar, daß der Gemeindeleiter einer Reli‐
gionsgenossenschaft, mag ihm was immer
für ein historisch entstandener Titel ge‐
bühren und mag sich die Genossenschaft
auch lieber „Kirche” nennen und sich
233 Hortus Conclusus
mit gottverliehener geistiger Macht begabt
glauben, auf alle Fälle ein Beamter der
Glaubensgenossenschaft ist und als solcher
deren Interessen zu wahren hat. Es ist
aber keinem Kirchenbeamten und kei‐
nem, den Interessen einer Glaubensgenos‐
senschaft dienstbereiten Gelehrten zur
Pflicht gemacht, meine Schriften zu sei‐
nem eigenen Heil bedachtsam zu lesen.
Kommen sie ihm durch irgendeinen unvor‐
hergesehenen Umstand dennoch vielleicht
vor Augen, so ist es ihm gewiß nicht zu ver‐
übeln, wenn er sie mit vorgefaßtem Arg‐
wohn betrachtet. Je befangener, befürch‐
tender und darum oberflächlicher er ihren
Inhalt ansieht, desto gewisser wird er
glauben, dieser Inhalt bedrohe die Inter‐
essen der Genossenschaft, die ihm Amt,
Würde, Titel und Versorgung gibt, und
die schließlich doch auch eine Glaubens‐
lehre vertritt, die seiner Überzeugung
234 Hortus Conclusus
nach den ihr zugetanen Gläubigen das
ewige Seelenheil bringt. Kein Wunder,
wenn er die ihm anvertrauten Gläubigen
vor Mitteilungen behütet sehen will, die
da und dort anders klingen als der Wort
laut der Lehren, die er ihnen zu geben
hat. Ein solcher Gemeindeleiter, oder ein
solcher konfessionell gebundener Theo‐
loge müßte schon ein ganz außerordent‐
lich weitsichtiger und überaus urteilsreifer
Vertreter seines Berufes sein, wenn er
nach dem Lesen einiger meiner Schriften
erkennen sollte, um was es sich handelt,
und daß der Verbreitung und Bestätigung
des von ihm Geglaubten und seiner reli‐
giösen Überzeugung nach Richtigen keine
gewaltigere Hilfe zuteil werden könnte,
als sie ihr in dem Inhalt dieser Schriften
dargeboten wird. Fast alle diese von mir
durchaus nicht unterschätzten Seelsorger
sind aber innerlich unlösbar gebunden an
235 Hortus Conclusus
den ihnen vertrauten Wortlaut der ge‐
glaubten Lehren und nicht minder an die
Ausdeutung der Worte, die nun einmal
als klassische theologische Lehrmeinung
gilt. Wie sollte ich angesichts derart ab‐
weisender Meinungsgewißheit annehmen,
es bedürfe nur einer Aufklärung oder viel‐
leicht einer unwiderleglichen Zurechtwei‐
sung um die Befreiung eines derart Gefes‐
selten herbeizuführen? Kaum einer der
hier in Frage Kommenden ahnt ja, daß
er neben aller unanfechtbaren Wahrheit
auch recht bedenklichen Irrtum unter die
Leute bringt. Auf der anderen Seite aber
könnte es mir auf keinen Fall in den Sinn
kommen, „recht behalten” zu wollen,
denn was ich mitteile, ist keiner irdischen
Beurteilung ausgesetzt. Ich gebe Kunde
aus dem Ewigen, die nur einer geben
kann, der seinem geistigen Sein nach ur
gründig im Ewigen heimisch ist.
236 Hortus Conclusus
.Was aber die geschmähten „Geistlichen”
angeht, von denen man in reichlich naiver
Weise erwartet, sie müßten frohlockend
erkennen, was ihnen in meinen Schriften
dargeboten ist, so vergißt man, daß es sich
um Erdenmenschen handelt und daß der
„Geist”, dem sie sich übergeben haben,
Gehirngeist ist, auch wenn er sich mit
religiösen Problemen beschäftigt. Wie soll
man von Dienern des Gehirngeistes er‐
warten, daß sie zu erkennen vermöchten,
was aus ewigem Geiste stammt?! Aber es
liegt mir wahrhaftig ferne, den „Geist‐
lichen” der offiziellen Konfessionen auch
nur den leisesten Vorwurf zu machen. Die
ganze geistige Erziehung dieser Männer
war so geartet, daß ihnen unmöglich auch
nur der geringste Zweifel kommen konnte
an ihrer Geistverbundenheit. Wie sollten
sie jetzt, nach der Lektüre der Schriften
eines „Laien”, sich etwa überzeugt finden,
237 Hortus Conclusus
daß sie bisher einer Selbsttäuschung erle‐
gen waren?!
.Unmöglich kann ich mich auch dazu
verstehen, das Angestelltenverhältnis der
Seelsorger einer Glaubensgenossenschaft
für die intransigente Haltung gegenüber
meinem Verkündungswerk verantwortlich
zu machen. Bei aller Bestimmtheit der
Lehrverpflichtung besteht doch in der
Praxis keineswegs die enge, harte Kne‐
belung eigener Meinung, die der allem
Kirchlichen Fremde voraussetzt. Aller‐
dings gibt es auch unter den kirchlichen
Lehrbeamten genau die gleiche Aufgebla‐
senheit und engstirnige Überheblichkeit,
wie man sie innerhalb eines jeden anderen
Beamtenkörpers gelegentlich finden kann.
Trotzdem ich aber im Laufe meines Le‐
bens mit recht vielen ‒ nun einmal so
benannten ‒ „Geistlichen” der in Europa
zu findenden Religionsgenossenschaften in
238 Hortus Conclusus
menschlich nahe Berührung kam, bin ich
solcher pharisäischen Selbstgerechtigkeit
doch nur sehr selten begegnet. Hingegen
fand ich fast immer aufrichtigste Hingabe
an die übernommene Verantwortung für
das Heil der anvertrauten Seelen und eine
beträchtliche soziale Hilfsbereitschaft, so
daß ich das Lebenswerk der hier in Be‐
tracht kommenden Männer gewiß um
nichts weniger zu schätzen weiß, ob sie
sich nun meinen Bekundungen aus dem
Ewigen sympathisierend zugetan fühlen,
oder mißverstehend, aus ihrer Verantwor‐
tungsbedrängnis heraus, davor warnen zu
müssen meinen.
.Man irrt auch sehr, wenn man meint,
der Emanation des Ewigen, die in meinem
bloßen Dasein und zugleich in den durch
mich erdenmenschlich in Form gefaßten
Lehrworten vorliegt, schon verstehend zu
begegnen, solange man noch nicht einmal
239 Hortus Conclusus
versteht, daß ich keiner echten Religions‐
form die ich auf Erden vorfinde, ihr
Existenzrecht absprechen könnte. Auf der
anderen Seite sollte man freilich der Tat‐
sache bewußt sein, daß sich die ewigen
geistigen Mächte niemals der offiziel‐
len Leiter bestehender Religionsgenossen‐
schaften bedienten, sobald den einzelnen
Bereichen der Erdenmenschheit neue Ein‐
sicht in Ewiges aus dem Ewigen erwachsen
mußte. Die heute eine millionenreiche
Zahl von Gläubigen umfassenden Weltreli‐
gionen hatten ohne Ausnahme die erste An‐
regung zu ihrem Entstehen durch „Außen‐
seiter”, erhalten. Aus den Kreisen der
offiziell organisierten Priester, Prediger
und Seelenleiter gingen immer nur besten‐
falls „Reformatoren” des Bestehenden her‐
vor. ‒ Was ich in meinem irdischen Lehr‐
werk aus dem Ewigen gegeben habe und
den nach mir Kommenden hinterlasse, soll
240 Hortus Conclusus
aber weder religiöse Reformen bewirken,
noch zu neuen Religionsbildungen führen!
Ist es einmal dort, wo es nötig ist, seelisch
erfaßt, dann wird es vielmehr erst die
verborgene innerste Wahrheit aller aus
dem Ewigen her angeregten Religionen
ebenso erweisen, wie die Notwendigkeit
ihrer vom Ewigen her gewollten verschie‐
denen Formen, denen die irdischen Stifter
oder Begründer den erdenmenschlichen
Ausdruck geschaffen haben.
241 Hortus Conclusus
WIE EWIGES
SICH SELBST „NATÜRLICH” IST
Aus nicht wenigen der unerbetenen Zu‐
schriften, seit dem ersten Wort, das ich in
die Welt gab, mußte ich bis zum Über‐
druß entnehmen, daß man sich einen
zeitlichen Interpreten des Ewigen auf
dieser Erde, ahnungslos, unheimlich an‐
ders vorstellt, als er hier in Wirklichkeit
geistig möglich ist. Zu viel Vorstellungen
alter religiöser Romantik spuken in den
Köpfen und zu viel Flittergold umglitzert
seit Jahrtausenden oder doch manchen
Jahrhunderten die menschlichen Gestal‐
ten, die ihren zeitlichen irdischen Mit‐
menschen Führer in das Reich des
ewigen substantiellen Geistes zu sein
vermochten, als daß man, ‒ selbst noch
in heutigen Tagen, ‒ leicht auf das Lieb‐
gewordene zu verzichten bereit wäre um
des Wirklichen willen, das zu allen
Zeiten viel einfacher und erdfarbener
war, als es Phantastik und erregtes Be‐
245 Hortus Conclusus
dürfnis nach fabulierender Ausschmük‐
kung wahrhaben wollten. So wird es
denn auch selbst denen, für die meine
Schriften doch allein geschrieben sind, so
daß sie aus meinen Worten Leben und
Licht zu erlangen wußten, in Beglückung
und Dankbarkeit oft recht schwer, mich
schlecht und recht Mensch sein zu lassen
unter Menschen, und sie bedenken nicht,
daß wahrhaft Ewiges nur im wahrhaft
Natürlichen sich offenbaren kann, weil
es sich selbst als Ewiges „natürlich” ist.
Noch zu allen Zeiten war die große Geste
und das Bedürfnis nach Nimbus aller‐
sicherstes Kennzeichen für das, was am
Menschen nicht „echt” ist in sich selbst,
denn das Echte lebt nicht aus dem Ein‐
druck, den es auf Andere macht, sondern
aus seiner eigenen Echtheit.
.Die romantische Legendengestaltung,
die sich immer und überall dort einzu‐
246 Hortus Conclusus
wurzeln und emporzuranken wußte, wo
ein Mensch im Erdenleben war, der
seinen Mitmenschen Gewißheit zu brin‐
gen hatte über das, was in ihnen wirklich
„ewig” ist, weist wahrhaftig allenthalben
unzählige Verwachsungen und Narben tö‐
richter Verschneidungen auf, aber den‐
noch hat sie ihren hohen Wert, denn sie
bot Schutz für so manches Zeugnis aus
dem Ewigen, von dem ohne solche Über‐
wucherung heute keine Spur mehr im
Allbekannten der Menschheit erhalten
wäre. Weniger dankbar aber darf man
den pathetischen oder lyrisch ausschwei‐
fenden Biographen der aus ihrem eige‐
nen Ewigen sprechenden, oder auf irgend
einem geistigen Wege aus dem Ewigen
her inspirierten Verkünder sein, deren
Lehrgut unter so mancher Legendenüber‐
wachsung noch leidlich erhalten ist, denn
diesen Biographen hat man in Wahrheit
247 Hortus Conclusus
die Bilder zuzurechnen, die einfache und
natürliche Männer, denen das Ewige ihr
Eigenbewußtsein erhellte, zu phanta‐
stisch unnatürlichen, unwahren Gestalten
verzeichneten, weil die Darsteller ihre
üppige Phantasie nicht zu beherrschen
verstanden, und weder um das ihnen fer‐
ne Geheimnis des natürlich einfachen
Menschlichen, noch um die irdische Nähe
des Göttlichen wußten. ‒ Für jeden ein‐
zelnen Gläubigen, den vormals Übereifer
durch antinatürliche Übersteigerungen
und phantastische Zufügungen aus einer
naiv unkritischen Masse heraus zu ge‐
winnen verstand, müssen heute Tausende
ihren Glauben opfern, bis man unter‐
scheiden lernt, was einst lebendige Wirk‐
lichkeit war, und was exaltierter Be‐
kehrungsfanatismus danach gestalten zu
müssen meinte.
.Ich bin wahrhaftig aus meinem ir‐
248 Hortus Conclusus
dischen Blutserbe her nicht blasphemisch
genug veranlagt, um mit einer der hier
charakterisierten, in widernatürliches
Maß verzogenen Gestalten auch nur aus
fernster Ferne „verglichen” werden zu
wollen, und man ahnt gewiß nicht, wie
wenig ich Ausdrücke der Ehrerbietung
schätze, die in holder Verstiegenheit auf
mich umgemünzt werden, aber nur zu
deutlich ihre Herkunft aus Prägestätten
verraten, deren „Gold” von Grünspan
strotzt! Wo aber wirkliches Gold in Be‐
tracht kommt, dort zeigt mir die Prägung
‒ in jedem Einzelfall ‒ immer das Bild‐
nis eines Gott verbundenen, eines Gott
vereinten, oder eines Gott inbrünstig in
sich erfühlenden Menschen, das ich je‐
weils viel zu sehr verehre, als daß ich
zulassen könnte, wie man an seine natür‐
lichen Züge rührt, um eine „Ähnlich‐
keit” hineinzubringen, die weder durch
249 Hortus Conclusus
mich, noch durch den ehemals Darge‐
stellten Bestätigung findet. Im Ewigen
gibt es überdies keine Gleichförmigkeit
und keine Wiederholung! Stets ist es in
einmaliger Gestalt im Menschen dieser
Erde erschienen, und niemals würde es
sich selbst kopieren. Außerdem ist Ewi‐
ges in sich aller Ehrung entrückt, und wo
immer Menschen die Manifestation des
Göttlichen in einem ihrer Mitmenschen
zu „ehren” glaubten, dort haben sie
allein in Wahrheit ‒ sich selbst geehrt
und ihr eigenes Menschentum, das in
Einzelnen zu Zeiten Ewiges in sich zu tra‐
gen und seiner bewußt zu sein vermag.
.Ein humorloser Mensch zum Beispiel
ist gewiß niemals in Gottesnähe, wenn
er auch seiner Umgebung als reinster
Offenbarer des Göttlichen erscheinen
kann. Allzusehr ist der glückhafte Hu‐
mor wesentliche Eigenbestimmtheit des
250 Hortus Conclusus
Ewigen, als daß es sich in einem Erden‐
menschen offenbaren könnte, der ein
„Mißglückter” ist von Anbeginn, da er
aus Neigung zum Tristen und Trüben des
göttlichen Lachens nicht innezuwerden
vermag. ‒ (Allerdings hat diese Kompo‐
nente des Ewigen nichts mit Witz und
Spott zu tun, so sehr Witz und Spott auch
die körperliche Lachlust reizen können!)
Wenn man also glaubt, wer Gott zu kün‐
den wisse, müsse in ewigem Ernst er‐
schauern, dann ist man einfach im Irrtum.
Es lohnt sich sehr, diesen Irrtum als sol‐
chen in sich erkennen zu lernen! Wil‐
helm Busch war noch trotz aller Neigung
zu schadenfroher Boshaftigkeit wahrhaftig
dem Ewigen näher als der von ihm ver‐
spottete versuchungsbedrängte Einsiedler
der Thebais... *)
.*) Über Buschs Verwechslung des Eremiten mit dem Heil‐ OO
igen von Padua siehe: „Briefe an Einen und Viele”!
251 Hortus Conclusus
.Außerdem ist jeder echte Gotteskünder
ein Kind seiner Zeit gewesen, ‒ sprach
in ihrer Sprache, trug ihre Sorgen, klei‐
dete sich in der Kleidungsweise seines
Landes, aß und trank mit Allen, was lan‐
desüblich war, ohne sich einer Sünde zu
fürchten, wenn er in seinem irdischen
Körper Körperliches kraftvoll empfin‐
dend erlebte. Alles, was an alten Kunden
anders klingt, ist Zutat schwärmerischer
Zugetaner, die auf solche Weise dem
ihrem Erfassen entrückten Gegenstand
ihrer Verehrung den Nimbus des Über
Natürlichen zu schaffen suchten, da sie
von der Natürlichkeit des Göttlichen
nichts wußten. Sie ahnten nicht, daß ihr
vermeintliches „Übernatürliches” nur die
Erfindung und Ausflucht ihrer eigenen
Unnatürlichkeit war, da auch das Über‐
Irdische nur der Natürlichkeit erfaßbar
werden kann!
252 Hortus Conclusus
.So möge man denn verstehen lernen,
daß ich zwar Außer-Gewöhnliches voraus‐
setzen muß und von Über-Erdenhaftem
zu sprechen habe, daß mir aber das
Ewige aus dem ich durch mein Irdisches
Kunde gebe, mein Aller-Natürlichstes
ist! Und schließlich meinen ja auch
meine Mitmenschen, wenn sie ‒ so an‐
gelernt ‒ von „Übernatürlichem” reden,
in Wahrheit das Über-Irdische, das mir
natürlicher Lebensraum, ebenso wie das
von mir nach keiner Weise hin verneinte,
vom Ewigen her geliebte Irdische ist.
Ich weiß gewiß, daß die mir aus dem
Urewigen erwachsene Bewußtseins-Situ‐
ation: ‒ im ewigen Urlicht, im ewigen
Geistesmenschen, wie im zeitlich ver
gänglichen tierverbundenen Erdenmen
schentum, ‒ meinen Mitmenschen hier
auf der Erde als etwas Befremdliches er‐
scheint, da ihnen solche Situation im
253 Hortus Conclusus
eigenen Bewußtsein unbekannt ist, und
sie im guten Glauben einander seit Jahr‐
tausenden sich gegenseitig zu überzeugen
suchten, daß nur ein „Übernatürliches”
imstande sein könne, zugleich im Ir‐
dischen und im Ewigen bewußterweise
zu leben. Mir selbst wurde es von mei‐
nem Irdischen her durchaus nicht leicht
gemacht, meine urgegebene Bewußtseins‐
Situation auch im irdischen Gehirnver‐
stande verstehen zu lernen, und es ver‐
geht heute noch kein Tag, an dem ich
nicht aus dem Ewigen in meinem Irdi‐
schen dazu zu erfahren hätte. Als harte,
aber nötige Erschwerung hatte ich von
Jugend auf eine mir irdisch angeborene
bis zum Äußersten aktive Selbstkritik
und eine mich schon in meinem aner‐
zogenen Kinderglauben schwer bedrän‐
gende Neigung zu unerbittlicher Skepsis
zu überwinden. Dazu kam dann, ‒ aller‐
254 Hortus Conclusus
dings wie Befreiung, ‒ späterhin der Ein‐
blick in alle irdisch begründeten, im
allgemeinen wissenschaftlichen Gebrauch
„psychisch” genannten Vorgänge, die zu
irrigen Deutungen im gehirnlichen Be‐
wußtsein Anlaß werden können und
selbst jene noch in Bann zu ziehen ver‐
mögen, die Verdienste darum haben, das
versteckte Geschehen aufzuzeigen. Ich
bin also wahrhaftig aus eigener Erfahrung
imstande, für jedes Verhalten meiner
Verkündung gegenüber wie für jede ir‐
rige Beurteilung meiner selbst, alles er‐
denkliche Verständnis aufzubringen. Aber
gerade darum bin ich auch dem Abwei‐
sendsten unter meinen irdischen Mit‐
menschen ‒ im Ewigenkein Fremder!
Vielleicht ‒ bin ich ihm viel näher, als sein
irdisches Bewußtsein ahnt? ‒
.Doch die „Natürlichkeit” des Ewigen
ist keineswegs gleichbedeutend mit Form
255 Hortus Conclusus
losigkeit, und jeder, dem es gleich gilt,
ob er die Form ‒ wo immer es sei ‒ er‐
füllt oder verletzt, muß sich klar darüber
werden, daß er sich damit selbst allem
wirklichen Ewigen gegenüber isoliert,
das Form auf allen Wegen will, und nur
denen sich in ihrem Innersten offenbart,
die sich im Innersten wie im Äußeren
zum Gefäß des Göttlichen zu formen
trachten.
256 Hortus Conclusus
ZUM
ABSCHLUSS UND ABSCHIED
Mit diesem Buche ist mein zeitliches
Lehrwerk beendet! Bald nach dem Beginn
des zwanzigsten Jahrhunderts in der Zeit‐
rechnung des Christentums habe ich die
ersten, meinem Gehirnverstande damals
zu eigen gewordenen Einsichten aus mei‐
nem Ewigen in Wortform zu fassen unter‐
nommen. Was ich so niedergelegt hatte,
blieb lange liegen, da ich vorerst nicht
entfernt daran dachte, es in meinen irdisch
mir zugemessenen Tagen selbst in die
Öffentlichkeit zu geben. Erst in den Jahren
1912 und 1913 entstanden an verschiede‐
nen Orten Griechenlands, bedingt durch
äußeres und inneres Erleben besonderer
Art, von dem ich innerhalb meines Lehr‐
werkes verschiedentlich berichte, die er‐
sten der nun vorliegenden Niederschriften,
nachdem ich mich allerdings im Jahre
1910 schon von der Notwendigkeit der
Selbstherausgabe zu irdischen Lebzeiten
259 Hortus Conclusus
überzeugt, und von da an die Gestaltung
einzelner Teilstücke vorbereitet hatte.
1913 ging dann von Athen aus ein solches,
dort von mir noch mehrfach redigiertes
Fragment in Druck. Heute, in den be‐
wegten Tagen des Jahres 1936, be‐
ende ich mein schriftliches Verkündungs‐
werk, das alles, aber auch nicht mehr
umfaßt, als was nach den letzten Wor‐
ten dieses Buches, ‒ das den Abschluß
der Schriftenreihe bildet, die „Das Buch
der Königlichen Kunst” an ihrem An‐
fang nennt, ‒ endgültig aufgezählt
werden wird.
.Nur die Abhandlungen über bildende
Kunst, die ich in dem Buche: „Das Reich
der Kunst” zusammengefaßt habe, sowie
die biographisch gemeinte kleine Schrift:
„In eigener Sache”, und das Bändchen:
„Aus meiner Malerwerkstatt”, das eben‐
falls in erster Linie biographisch ist, gehö‐
260 Hortus Conclusus
ren selbstverständlich nicht zu meinem
geistigen Lehrwerk, auch wenn sie seine
Spuren aufweisen. Das Gleiche gilt auch
von der Sammlung: „Okkulte Rätsel”.
Auch einzeln erschienene Abhandlungen,
soweit ich sie nicht bis heute in eines
meiner Bücher selbst aufgenommen habe,
sind ebensowenig meinem nun abge‐
schlossenen geistigen Lehrwerk beizu‐
zählen, obwohl sie durch diese Ausschei‐
dung keineswegs von mir nachträglich
entwertet werden sollen. Unter keinen
Umständen aber darf irgend eine Stelle
privater Briefe, die nicht von mir
selbst einem Buche der nun von mir
endgültig abgeschlossenen Lehrschriften‐
reihe eingefügt worden ist, jemals als
zu meinem Lehrwerk gehörig betrach‐
tet oder zur Ausdeutung einer Stelle
dieses Lehrwerkes herangezogen werden!
Ich kann für nichts Anderes ewige
261 Hortus Conclusus
Verantwortung übernehmen, als für
den heute vorliegenden Inhalt meiner
nachbenannten, öffentlich erschienenen
Schriften! Nicht von mir selbst veröffent
lichten Briefen gegenüber trage ich auch
dort, wo sie geistige Dinge berühren,
keine andere als die rein zeitlich bedingte,
allgemein menschliche Verantwortung, die
von keiner Äußerung etwa mehr verlangt,
als daß sie Ausdruck dessen sei, was ein
Mensch innerhalb seines Alltags, im Au‐
genblick und nur für den Augenblick
sagen zu müssen meint. Ich habe niemals
Briefe „für die Nachwelt” geschrieben,
sondern mich immer nur von meiner
Hilfsbereitschaft gegenüber dem jewei‐
ligen Adressaten leiten lassen, auch wenn
ich durchaus nicht wußte, ob er dieser
Hingabe wert war. An schwer zu ertragen‐
den Enttäuschungen hat es mir wahrhaftig
nicht gefehlt!
262 Hortus Conclusus
.Ich verpflichte mich übrigens durchaus
nicht, fortan kein Buch mehr erscheinen
zu lassen, einerlei, was etwa sein Inhalt
sein möge. Aber ich muß im voraus mich
dagegen verwahren, daß noch irgend eine
Schrift, zu der ich mich veranlaßt fühlen
sollte, meinem zum Abschluß gelangten
geistigen Lehrwerk zugezählt werde! Die‐
ser Abschluß entstammt keiner Willkür,
sondern der Forderung dessen, was hier
abgeschlossen wird.
.Die Schriftenreihe, in der dieses Lehr‐
werk nun endgültig vorliegt, wird aller‐
dings für jeden meiner Mitmenschen der
Anderes, als sein Ewiges finden will, ein
Hortus conclusus”: ‒ ein ihm verschlos‐
sener, streng umhüteter Garten bleiben,
auch wenn die schmale Pforte, die des
Gartens Zugang bildet, weit vor ihm geöff‐
net ist. Es liegt mir nichts ferner, als dem
Unerbetenen Einlaß zu erwirken, und
263 Hortus Conclusus
einzuführen, was draußen bleiben muß!
Um so lieber aber sende ich allen meine
Segenswünsche zu, die ihr Irdisches unbe‐
sorgt dort lassen, wo es hingehört, und in
meinem Lehrwerk nur ihr Ewiges suchen!
Ich gebe keine systematisierte Anweisung,
sondern lebendige Lehre! In den zwei‐
unddreißig Einzelschriften, die ebenso‐
viele Abschnitte meines geistigen Lehr‐
werkes bilden, ist alles enthalten, was der
Erdenmensch vom Ewigen und von den
Beziehungen wissen muß, die ihn selbst
mit dem Ewigen verbinden, wenn er Wert
darauf legt, in sich den Zugang zum Ewi‐
gen zu finden und dereinst zum Erleben
des Ewigen fähig zu werden. Die Gefahr
ist groß, derart im Erleben des vergäng
lichen Irdischen hängen zu bleiben, daß
die Fähigkeit, Ewiges zu erleben, niemals
erreicht werden kann. Nicht das Ewige
wird dadurch geschädigt, sondern der
264 Hortus Conclusus
irdische Mensch, der das, was in ihm
ewiger Natur ist, endgültig und unwie‐
derbringlich in aller Ahnungslosigkeit ver‐
liert. Unzählige solche Trennungen erden‐
menschlichen Bewußtseins vom latent ihm
zustehenden Ewigen ereignen sich Tag
um Tag, Stunde um Stunde. Damit mehr
gerettet werde als die Religionen heute
noch zu retten vermögen, ist mein schrift‐
liches Lehrwerk entstanden! Mein „Nach‐
folger”, ‒ ein Mensch in gleicher seelisch‐
geistiger Situation wie ich, und gleich mir
zu irdisch vernehmbarer Stimme des ewi‐
gen Urwortes bestimmt, ‒ wird sehr zahl
reiche Generationenreihen auf sich warten
sehen, und nicht eher auf Erden zu wei‐
terer Weisung des von mir gewiesenen
Weges erscheinen, als bis das, was in mei‐
nem nun abgeschlossenen Lehrwerk durch
mich ausgesprochen wurde, seelisches und
gehirnbewußtes Allgemeingut aller dem
265 Hortus Conclusus
Ewigen zustrebenden Menschen dieser
Erde geworden ist!
.Man empfängt aber das in meinen Wor‐
ten dargebotene geistige Leben nicht etwa
durch ein grübelndes oder mit sich selbst
und Anderen diskutierendes Überdenken
des verstandesmäßig wahrzunehmenden
Inhaltes der einzelnen zweiunddreißig
Lehrstücke! Man muß sie vielmehr, ‒
frei von aller Grübelsucht, ‒ aufnahme‐
willig so auf sich einwirken lassen, wie sie
nun einmal von mir geformt sind, damit
man das in ihnen dargebotene, im Ewigen
gründende Leben überhaupt gewahrwer
den und empfinden lernt. Wer dieses,
mein eigenes geistiges Leben einmal in
meinen Worten wahrgenommen, dann in
sich empfunden und aufgenommen hat,
der ist von allem Zweifel erlöst, den die
Furcht vor Fehlschlüssen über jeden ver‐
hängt, der sein irdisches Denkvermögen
266 Hortus Conclusus
dazu mißbraucht, um sich Wege aus Ge
dankenschotter zu konstruieren, im Wahn,
auf ihnen zur ewigen Wirklichkeit ge‐
langen zu können.
267 Hortus Conclusus
ENDE

Das geistige Lehrwerk von Bô Yin Râ,
besteht aus folgenden 32 Büchern:
DAS BUCH DER KÖNIGLICHEN
KUNST
DAS BUCH
VOM LEBENDIGEN GOTT
DAS BUCH
VOM JENSEITS
DAS BUCH
VOM MENSCHEN
DAS BUCH
VOM GLÜCK
DER WEG ZU GOTT
DAS BUCH DER LIEBE
DAS BUCH DES TROSTES
DAS BUCH DER GESPRÄCHE
DAS GEHEIMNIS
DIE WEISHEIT DES JOHANNES
WEGWEISER
DAS GESPENST DER FREIHEIT
DER WEG MEINER SCHÜLER
DAS MYSTERIUM VON GOLGATHA
KULTMAGIE UND MYTHOS
DER SINN DES DASEINS
MEHR LICHT
DAS HOHE ZIEL
AUFERSTEHUNG
WELTEN
PSALMEN
DIE EHE
DAS GEBET / SO SOLLT IHR BETEN
GEIST UND FORM
FUNKEN / MANTRA PRAXIS
WORTE DES LEBENS
ÜBER DEM ALLTAG
EWIGE WIRKLICHKEIT
LEBEN IM LICHT
BRIEFE AN EINEN UND VIELE
HORTUS CONCLUSUS
Nicht zu dem geistigen Lehrwerk gehörig, wenn auch
aufs engste daran anschliessend:
IN EIGENER SACHE
DAS REICH DER KUNST
OKKULTE RÄTSEL
AUS MEINER MALERWERKSTATT
KODIZILL ZU MEINEM GEISTIGEN LEHRWERK
MARGINALIEN
ÜBER DIE GOTTLOSIGKEIT
GEISTIGE RELATIONEN
MANCHERLEI
sowie die beiden Flugschriften:
ÜBER MEINE SCHRIFTEN
WARUM ICH MEINEN NAMEN FÜHRE
Postum herausgegeben:
NACHLESE
Gesammelte Prosa und Gedichte aus Zeitschriften
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG AG.
ZÜRICH 48
Übersetzungen im Verlag
Ed. «La Balance», Paris
Holländische Übersetzungen im Verlag
Servire, Den Haag
Schwedische Übersetzungen im Verlag
Widiugs Förlags A. B., Stockholm
In der Kober'schen Verlagsbuchhandlung AG. Zürich
erschien 1954
BÔ YIN RÂ
LEBEN UND WERK
von Prof. Rudolf Schott
In Vorbereitung:
DER MALER BÔ YIN RÂ
von Prof. Rudolf Schott
Zweite, mit Text und Bildern erweiterte Auflage
DIE KOBER'SCHE
VERLAGSBUCHHANDLUNG AG.
ZÜRICH
ist Verlegerin und Besitzerin sämtlicher Schriften und
Verlagsrechte des Autors Bô Yin Râ. Seine Bücher sind durch
jede gute Buchhandlung zu beziehen. Wo die Bücher nicht auf
Lager sind, werden durch den Verlag bereitwilligst Buch‐
handlungen nachgewiesen, die in ihrem Sortiment diese Bücher
führen.
DAS BUCH
VOM
JENSEITS
Verlagslogo
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASEL-LEIPZIG 1929
COPYRIGHT BY
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASLE 1929
(Anm.: Erstausgabe 1921)
BUCHDRUCKEREI WERNER RIEHM IN BASEL
INHALT Seite
Einleitung 5
Die Kunst zu sterben 13
Vom „Tempel der Ewigkeit”
und der Welt des Geistes
71
Das einzig Wirkliche 111
Was ist zu tun? 149
Originalscan
EINLEITUNG
.Diese drei Abhandlungen sollen dir,
‒ soweit es durch Vermittlung in Worten
möglich wird, ‒ eine Vorstellung davon
geben, was deiner wartet, wenn das Erlö‐
schen deines erdenkörperlichen Lebens dich
aus dieser physisch-sinnlichen Erschei‐
nungswelt löst.
.Wie ein Reisehandbuch dir von Gegen‐
den der Erde spricht, die du nie gesehen
hast, so soll dir allhier nun das Nötigste
gesagt werden über das dir noch unbekannte
„Land”, in dem du dich nach dem Tode
dereinst erlebensfähig finden wirst, ‒ einer‐
lei, ob du jetzt an die Möglichkeit solchen
Erlebens glauben kannst, oder nicht.
.Gleichzeitig soll dich dieses Buch von so
manchen Irrtümern befreien, die dich vor‐
7 Das Buch vom Jenseits
erst noch in Banden halten, wenn du an
jene Gestorbenen denkst, die du auf Erden
liebtest.
.Ängstlicher Glaube wie verstiegener
Aberglaube alter und neuerer Zeit haben
so zahlreiche Phantasiegebilde in Bezug auf
das „Jenseits” aufgeschichtet, daß es notwen‐
dig ist, diesen Wust zu sichten, damit er
deine Vorstellung nicht weiterhin verwirre.
.Die einzigen, die über das Leben nach
dem Tode des sichtbaren Erdenkörpers wirk‐
lich Authentisches zu sagen haben, sind
einige wenige Erdenmenschen die jenes
Leben, das des Erdenleibes nicht bedarf,
aus eigener, gesicherter Erfahrung her
kennen, obwohl sie zugleich auch noch, in
irdischer Erscheinung, dieser Erde Leid und
Freude kosten, gleich dir.
.Als einer dieser wenigen Jenseitsbewuß‐
ten, gebe ich hier, was sich durch Worte
8 Das Buch vom Jenseits
als mitteilbar erweist, da wir die Sehnsucht
der Zeit erfühlen, die zu Recht erwartet, daß
nicht länger als „geheimes Wissen” gehütet
werde, was an geistigem Erleben irgendwo
und -wann, auch nur weniger Menschen
Bewußtsein erreichte.
.Möge dir das, was ich dir sagen kann,
zum Besten dienen!
.Möge es meinen Worten gelingen, dein
innerstes Selbstempfinden zu wecken, damit
dir aus dir selbst heraus jene Gewiß
heit wird, die allein dich wahrhaft sichern
kann vor sterilem Skeptizismus sowohl, wie
vor kritikloser Hingabe an allerlei Traum‐
gebilde betörter, oder allzu erregter mensch‐
licher Gehirne!
.In dir selbst sollst du den Maßstab fin‐
den, an dem du fortan nachprüfen kannst,
wieviel Wahres und wieviel Wahn in den
Vorstellungen enthalten ist, die sich der
Erdenmensch von den ältesten Zeiten her
9 Das Buch vom Jenseits
schuf, um das Dunkel abgründiger Rätsel
ertragen zu können, das sich jedesmal vor
ihm auftat, sobald er vor einem Leichnam
stand.
.Nicht auf dein Für-wahr-halten kommt
es hier an, denn die Dinge von denen ich rede,
sind unabhängig von deiner Zustimmung
oder Ablehnung, und ich gebe dir hier keine
Glaubenslehre, sondern zeige dir eine Er‐
scheinungsform der Wirklichkeit, die du vor‐
erst noch nicht anders kennen lernen kannst,
als in der Vermittlung des Vorstellungsbil‐
des durch das Wort der Menschensprache.
.Frühe genug wirst du den dir entsprechen‐
den Bezirk in diesem Darstellungsbereich der
Wirklichkeit auch selbsterlebend kennen
lernen...
.Zu allen Zeiten haben Jenseitsbewußte
die Wirklichkeit bezeugt, aber ihr Zeugnis
wurde Freibeute Unberufener und verant‐
10 Das Buch vom Jenseits
wortungsloser Wortverfälscher, so daß dir
heute Hilfe nötig ist, willst du entwirren
lernen, was entwirrt werden muß, soll nicht
zugleich mit den Ausgeburten wirrer Phan‐
tasten, auch die Kunde wahrhaft Wissender
der Mißachtung aller reinlich und redlich
Empfindenden verfallen.
.Willst du erkennen, was dir hier gegeben
wird, so entschlage dich allen Vor-Urteils,
aber höre zuweilen in dein Innerstes hin‐
ein, denn allda wird dir, so du nur willig
aufmerken magst, alle Antwort werden auf
die Fragen, die meine Worte noch offen
lassen, weil du sie selbst allein dir beant‐
worten lernen mußt. ‒ ‒
.Es handelt sich ja hier wahrlich nicht
um Werbung von Anhängern für eine reli‐
gionsphilosophische Hypothese, oder gar um
den Versuch, eine neue Religionsform ins
Leben zu rufen, ‒ sondern um ein Zeugnis
für das geistige (nicht „gehirnliche”!) Ur
11 Das Buch vom Jenseits
erlebnis, das an der Wiege aller großen
alten, aus dem Geiste Gottes geborenen
Religionen stand...
.Somit setzt auch das lebendige Erfühlen
des hier Dargebotenen keineswegs eine Ab
kehr von angestammter und heiliggehalte‐
ner Religion voraus, sondern wird vielmehr
dort, wo altehrwürdige religiöse Formen
und Glaubenssätze wirklich noch Lebens‐
bedürfnis sind, nur Vertiefung, Befesti
gung des Glaubens und Erleichterung des
Glauben-könnens bringen.
.Denen aber, die längst aller konfessio‐
nellen Bindung entwachsen sind, werden
meine Worte erneut den Zugang zu geistigen
Bezirken freilegen, die zu erreichen höchste
Sehnsucht des Erdenmenschen bleibt,
auch wenn die Glaubensweise seiner Vor‐
fahren ihn nicht zu der, seiner Fassungs‐
form gemäßen, heiß verlangten Erfüllung
führte.
12 Das Buch vom Jenseits
DIE KUNST ZU STERBEN
.Du wirst gewiß glauben, es sei keine
Kunst”, zu sterben, ‒ es sei vielmehr
ein böses Müssen, und es lerne sich von
selbst. ‒ ‒
.Gleich dir denken Unzählige, und tag‐
täglich verlassen Unzählige durch ihr Ster‐
ben den irdischen Körper, ohne daß sie
jemals die Kunst des Sterbens gelernt
hätten.
.Vielen kommt der Tod unerwartet „wie
ein Dieb in der Nacht”, ‒ anderen kommt
er wie ein gefürchtetes Gespenst, ‒ an‐
deren als endlich erscheinender Erlöser von
ihren Leiden, ‒ und wieder andere rufen
ihn selbst herbei, weil sie durch ihn Be‐
freiung von Sorge und Not, des Leibes und der
Seele, erwarten.
15 Das Buch vom Jenseits
.Selten aber trifft der Tod einen, der die
Kunst zu sterben versteht. ‒ ‒
.Um diese Kunst zu verstehen, mußt du
zu lebensfrischer Zeit gelernt haben, was
der „Tod” ist, was „Sterben” bedeutet!
.Du mußt gleichsam in der Fülle deiner
Kräfte „auf Probe” sterben, damit du zu
sterben verstehst, wenn der Tod dich
überrascht. ‒ ‒
.Sterben ist nicht ganz so leicht, wie
viele meinen, aber es ist auch nicht allzu
schwer, wenn man es vorher in krafter‐
füllter Zeit gelernt hat...
.Jede Kunst will geübt sein, und ohne
Übung lernt man auch nicht das Sterben.
.Gleichwohl hat man es eines Tages durch‐
zumachen, ob man es nun versteht, oder
nicht. ‒
16 Das Buch vom Jenseits
.Die meisten Menschen fürchten sich
vor dem Sterben, weil sie nicht recht wis‐
sen, was dabei vorgeht.
.Jene aber, die sagen, sie fürchteten sich
nicht, gleichen Kindern die in einem Boot
aufs hohe Meer hinausfahren, ohne die Ge‐
fahren des Meeres zu kennen. ‒ ‒
.Du aber sollst wie ein Steuermann sein,
der Winde und Strömungen kennt, und der
da weiß, welche Länder ihn auf der anderen
Seite des Meeres erwarten.
.Du sollst lernen, den Kurs deiner wohl‐
ausgerüsteten Barke zu bestimmen. ‒ ‒
.Sterben” nennt man das Aufgeben‐
müssen des irdischen Leibes und seiner
Sinnesorgane, wenn dieses Aufgeben für
immer und ohne Widerruf erfolgen muß,
weil der Leib aus physischen Gründen nicht
mehr imstande ist, sich zu erhalten.
17 Das Buch vom Jenseits
.Ein sehr ähnlicher Vorgang erfüllt sich
jedesmal wenn du dich zur Ruhe nieder‐
legst und dem Schlafe überantwortest, ‒
nur verlierst du dabei bloß zum Teil die
Herrschaft über Leib und Sinne, während
sie dir im Tode vollständig und unwieder
bringlich verlorengeht.
.Du siehst, wie Natur dich gleichsam auf
solche Weise selbst das Sterben lehrt!
.Du kannst das Sterben auch ähnlich vor‐
aus erfahren bei einer Ohnmacht, oder bei
künstlicher Verdrängung des Bewußtseins
aus deinem Körper.
.Allein du erfährst bei alledem immer
nur den allerersten Teil des Vorganges,
‒ es sei denn, deine inneren, geistigen
„Sinne” wären bereits soweit in dir erwacht,
daß du „auf der anderen Seite” des Daseins
zu dir selber kommen kannst, und dich
dann, zu deinem Erstaunen, auch ohne den
Körper der Erde im Leben findest...
18 Das Buch vom Jenseits
.Besitzest du diese Erfahrung aber noch
nicht, dann können dir deine Träume im
nächtlichen Schlafe dazu dienen, dir wenig‐
stens ein Verstehen des bewußten Lebens
ohne physischen Körper zu vermitteln, ob‐
wohl das „jenseitige” Leben wahrlich An
deres ist als nur ein „Traum”. ‒
.Ich muß hier nur an das Leben im
Traume erinnern um deinem Verstehen
zuhilfe zu kommen.
.So, wie du im Traume dich bewußt,
empfindungsfähig, denkend und han
delnd findest, ‒ so, wie du auch im Traume
in einem „Körper” lebst und ihn frei ge‐
brauchst, obwohl dein physischer Leib ruhig
auf seinem Lager im tiefen Schlafe liegt,
‒ so findest du dich auch körperlich ge‐
staltet, bewußt, empfindend, denkend
und handelnd, wenn du auf der anderen
Seite des Daseins deine geistigen „Sinne”
gebrauchen kannst und dadurch dort zu
dir selbst kommst, sei es nun bloß vor‐
19 Das Buch vom Jenseits
übergehend, oder ‒ wie im Tode des Er‐
denleibes ‒ für die Dauer.
.Ein wesentlicher Unterschied besteht nur
darin, daß du im Traume lediglich die stets
wieder zerfließenden Gebilde deiner plasti‐
schen Phantasie erblickst, die durch tausend
physische und psychische Anreize schein‐
bares Eigenleben gewinnen, während du,
um wach zu werden in der objektiv ge‐
gebenen geistigen Welt, ‒ gleichviel in
welchem ihrer Bereiche dein Erwachen er‐
folgen kann, ‒ das Reich der Träume eben‐
so verlassen mußt, wie du es verläßt um
wach zu werden in der physisch-sinnlichen
Erscheinungswelt. ‒
.Hast du das Reich der Träume „über
stiegen”, dann erst betrittst du das Reich
des Geistes, das unschwer auch von deinen
lebhaftesten und „natürlichsten” Träumen
zu unterscheiden ist, denn du bist dort ver‐
möge deiner geistigen Sinne in einem Zu‐
20 Das Buch vom Jenseits
stand des Bewußtseins, dem gegenüber selbst
das wacheste Tagesleben auf dieser Erde nur
wie ein Schlafwandeln erscheint. ‒
.Du siehst, hörst und fühlst die gleiche
ursächliche „Welt”, die du im tagwachen
Bewußtsein deines physischen Daseins als
physische Erscheinungswelt wahrnimmst,
‒ nur empfindest du sie „von der an
deren Seite”. ‒ ‒
.Die dir im physischen Erdenkörper un
wahrnehmbare Gestaltung der ursäch
lichen, wesenhaften Welt ist dir plötzlich
wahrnehmbar geworden, und die nur phy
sisch-sinnlich wahrnehmbaren Dinge, die
du bisher die „reale” Welt nanntest, wer‐
den dir: ‒ „leere Luft”. ‒
.Wenn es auch relativ wenig Menschen
sein mögen, die diesen Zustand, noch im
Erdenleibe lebend, in sich erfahren haben
und auch in der gegenwärtigen Zeit erfahren,
so sind es doch viel mehr als man ahnt,
21 Das Buch vom Jenseits
denn die meisten Menschen denen solches
Erleben wurde, verbergen es instinktiv vor
Anderen, sei es aus Furcht vor dem Un
glauben ihrer Mitmenschen und dem von
ihnen zu erwartenden „Fluch der Lächer
lichkeit”, oder aber aus Besorgnis, das
geistige Erleben, das als besondere Begna‐
dung empfunden wird, könne entzogen
werden, wenn man nicht zu schweigen ver‐
stünde.
.Es sind zuerst noch keineswegs hohe
geistige Bereiche, die von solchen innerlich
bewußt Erlebenden betreten werden können,
allein es ist stets doch bereits „das andere
Ufer” erreicht, auch wenn die dort zum
Bewußtsein Erwachten noch lange nicht
fähig sind, ins „Innere” des entdeckten
„Landes” vorzudringen, oder gar seine ragen‐
den „Gebirge” zu ersteigen. ‒
.Dahin gelangen während des Erden‐
lebens nur die überaus Wenigen, denen
22 Das Buch vom Jenseits
hier auf dieser physischen Seite der ur‐
sächlichen Welt das uralte „Erbgut” ver‐
borgener geistiger Erfahrung anvertraut
wurde: ‒ die geborenen „Hohenpriester”,
die „Meister” des verhüllten geistigen
Wirkens und ihre als solche geborenen,
legitimen Nachfolger.
.Was uns in bewußtem Erleben des
„Jenseits” zu gesichertem Erfahrungswissen
wurde, wird dir hier gegeben!
.Wir sehen täglich und stündlich Tau‐
sende von Menschen „das andere Ufer” für
die Dauer betreten, ohne daß wir ihnen
helfen könnten, denn sie verstanden in
ihrem Erdenleben nicht die Kunst des Ster‐
bens, und so kommen sie unbereitet am
„anderen Ufer” an, wie Schiffbrüchige, die
der Sturm ans Land wirft...
.Ratlos irren sie in der ihnen neuen Da‐
seinsform umher und sind nicht imstande,
23 Das Buch vom Jenseits
die helfenden Hände zu ergreifen, die sich
ihnen entgegenstrecken.
.Noch fehlt ihnen jegliches Urteil, ob das,
was ihnen begegnet, Gefahr oder Hilfe bringt,
und angstvoll schrecken sie zurück, will
einer, der sie leiten könnte, ihnen nahen...
.So irren sie allein weiter, stets nahe
dem „Strande” des Meeres, das sie, ‒ wenig‐
stens für ihr Gefühl, ‒ noch mit der ver‐
lassenen physischen Seite des Daseins ver‐
bindet, bis sie, gleichsam „magnetisch” an‐
gezogen, eines jener kleinen „Strandreiche”:
‒ jener niedersten Gebiete der irdischen
Sinnen unerfaßbaren geistigen Seite des Kos‐
mos entdecken, das ihren Vorstellungen,
ihrem im physischen Erdenleben gehegten
Sehnen und Hoffen entspricht.
.Dann wähnen sie, ihren „Himmel” ge‐
funden zu haben, umsomehr, als dies von
allen anderen die sie alldort antreffen, ja
ebenfalls geglaubt wird...
24 Das Buch vom Jenseits
.Die einmal da anlangten, sind ihrem
Schicksal für unendlich lange Zeit ver‐
fallen.
.Nur äußerst selten, und dann nur unter
größten Schwierigkeiten, gelingt es uns,
einen so Verirrten empor- und herauszu‐
ziehen aus seiner selbsterwählten trüge‐
rischen „Seligkeit”. ‒
.Da wir aber Umwege vermeiden lehren
wollen, und da uns die ewige Liebe also
handeln heißt, lehren wir euch die Kunst
des rechten Sterbens.
.Das Wesentliche dieser Kunst besteht
darin, daß man jederzeit, ‒ inmitten
von Zukunftsplänen und regester Tätigkeit,
bei blühender Gesundheit und frischester
Kraft, ‒ in fröhlicher Heiterkeit und siche‐
rer Zuversicht bereit ist, das „andere Ufer”
für die Dauer zu betreten, ‒ ohne die Mög‐
lichkeit einer Rückkehr.
25 Das Buch vom Jenseits
.Es ist ein Zustand des Gemüts, der da
gefordert wird.
.Mag er auch nicht jedem Menschen leicht
erreichbar erscheinen, so darf doch keiner
vergessen, daß dieser Zustand allein das
rechte Sterbenkönnen bedingt. ‒
.Wen die Dinge des physischen Erden‐
lebens so festzuhalten vermögen, daß er
ihrer nicht entraten zu können meint, ‒
wer sich keinen Zustand vorstellen kann,
in dem alle Ziele erdenhaften Begehrens
belanglos werden, ‒ der wird schwerlich
die Kunst des rechten Sterbens erlernen. ‒
.Richtig und froh auf der Erde zu leben,
versteht aber erst der Mensch, der den Zu‐
stand der Bereitschaft zu sterben, täglich
und stündlich willkürlich in sich zu er‐
zeugen vermag, ‒ frei von jeglicher Furcht
und von jeder Traurigkeit. ‒ ‒
26 Das Buch vom Jenseits
.Er weiß, daß nichts von dem, was er
hier zurücklassen müßte, ‒ und seien es
auch die liebsten Menschen, die sorgebedürf‐
tigsten Wesen, ‒ jemals von ihm getrennt
werden kann, wenn er nicht selbst die wirk‐
liche Trennung will und durch seinen Wil‐
len schafft. ‒
.Er weiß, daß er „hier” bleibt, am glei‐
chen kosmischen „Ort”, ‒ noch näher den
Menschen die er liebt, als er ihnen je im
Erdenkörper nahekommen konnte. ‒
.Er weiß, daß er nach dem Sterben gewiß
nicht göttergleich verwandelt, und keines‐
wegs irdisch „allmächtig” sein wird, daß er
aber denen, die seiner Hilfe bedürfen, weit‐
aus mehr zu helfen imstande sein wird, als
dies jemals im physischen Leben möglich
werden konnte. ‒ ‒
.Wer die Kunst des Sterbens auf solche
Weise übt, der weiß fortan, daß es für ihn
leicht werden wird, wirklich und un
27 Das Buch vom Jenseits
widerruflich zu sterben, auch wenn der
Tod ihn gänzlich unerwartet treffen sollte...
.Daß der physische Vorgang des Ster‐
bens nur für den Zuschauer unter Um‐
ständen qualvoll ist, daß aber der Sterbende
selbst nicht darunter leidet, sondern die
Schmerzen seines etwaigen Leidens nur so‐
lange noch fühlt, solange er noch nicht
gestorben ist, hat die prüfende Beobachtung
ärztlicher Forscher längst bezeugt.
.Wir aber haben hier nur darzustellen,
auf welche Weise das Bewußtsein des
Sterbenden den Akt des Sterbens über
dauert.
.Ist der Sterbende auch bis zum letzten
Augenblick vollbewußt, so tritt dennoch im
Moment der beginnenden Loslösung des
geistigen Organismus von dem bis dahin
ihm vereinten, tierhaften Erdenleib, eine
28 Das Buch vom Jenseits
Art des „Schlummers” ein, aus dem das Be‐
wußtsein erst wieder zu sich selbst erwacht,
wenn das „Sterben” bereits vollzogen ist.
.Im Augenblick dieses Erwachens, das
einige Sekunden oder Minuten nach dem
äußerlich konstatierbaren „Tode” erfolgt,
findet sich der Mensch bereits in seinem,
ihm nun allein noch Erfahrung vermitteln‐
den geistigen Organismus auf der nur
geistig wahrnehmbaren „anderen Seite”
der ursächlichen Welt: ‒ der ewigen
„Wirklichkeit”, die alle geistige, wie alle
physische Daseinsform aus sich ausstrahlt,
je nach der sie erregenden Anschauungs‐
weise.
.Die bisher durch seine physischen
Sinne bedingte Wahrnehmungsfähigkeit des
nun Gestorbenen wurde vertauscht mit einer
neuen, ihm vorher normalerweise noch nicht
bekannten Art des Wahrnehmens, wäh‐
rend seine formzeugende Anschauungs
weise vorerst noch unverändert bleibt.
29 Das Buch vom Jenseits
.Er ist weit davon entfernt, sich etwa
für gestorben zu halten, denn er findet sich
ja seiner selbst bewußt, wollend, und
wahrnehmungsfähig, wenn er auch noch
nicht erkennt, daß es geistige Organe sind,
die allein ihm jetzt dienen.
.Er empfindet sich keineswegs als „gestalt‐
los”, denn sein bisheriger physischer Kör‐
per war ja nur ein mehr oder weniger voll‐
endetes Abbild des durch eigenen ewigen
Willen, ‒ wenn auch dem Gehirnwissen
„unbewußt” ‒ gestalteten geistigen Or‐
ganismus, den jetzt das Bewußtsein wahr
zunehmen fähig wurde, obwohl es ihn
noch nicht als ein vom physischen Körper
Verschiedenes erkennt.
.So aber, wie der physische Schmerz so‐
fort aufhört, sobald durch entsprechende
Mittel ein schmerzendes Glied des irdischen
Leibes unempfindlich gemacht wird, ‒ so
sind auch die physischen Schmerzen, die
etwa ein Sterbender noch kurz vor seinem
30 Das Buch vom Jenseits
Tode erlitt, im Augenblick des „jenseitigen”
Erwachens völlig verschwunden, da ja der
physische Körper, in dem die Ursache der
Schmerzempfindung liegt, nun dauernd von
dem nunmehr nur sich allein empfindenden
geistigen Organismus getrennt bleibt. ‒
.Noch aber ist eine gewisse „fluidische
Bindung durch unsichtbare, subtile und auch
dem geistigen Organismus fühlbare, fein‐
materielle Ausstrahlungen des bisher ge‐
brauchten physischen Körpers vorhanden,
und diese Bindung ist Ursache, daß der
jenseitig Erwachte noch mancherlei Vorgänge
in der Nähe des Leichnams auf geistige
Weise wahrnimmt, obwohl sie in der phy
sischen Welt geschehen.
.So empfindet der nun „Jenseitige” die
„fluidischen” Influenzen aus der Gegenstrah‐
lung der Menschen die seinen verlassenen
Erdenkörper umgeben, empfindet den „Ge
fühlswert” ihrer Berührungen, wie ihrer
31 Das Buch vom Jenseits
Worte, und hat, ähnlich wie ein Blinder,
noch ein ziemlich genaues Vorstellungsbild
des verlassenen äußeren Raumes, ‒ wenn
auch die Täuschung besteht, als werde der
Raum noch mit den physischen Sinnen
wahrgenommen.
.Diese letzten Beziehungen zur physisch
sinnlichen Seite der ursächlichen Welt blei‐
ben noch einige Zeit erhalten, wenn auch
die Leiche längst erkaltet ist, aber was
solcherart noch empfunden werden kann,
verliert von Stunde zu Stunde an Kraft,
und die Wahrnehmungsfähigkeit dafür hört
vollständig auf, sobald die ersten Zersetzungs‐
erscheinungen beginnen.
.Denen, die an dem Akt der Leichen‐
verbrennung Anstoß nehmen, oder die gar
glauben, der Gestorbene könne dadurch in
seinem jenseitigen Leben „geschädigt” wer‐
den, sei hier gesagt, daß nach der Zeit, die
in den Kulturländern eingehalten wird, be‐
vor man einen Leichnam bestattet, längst
32 Das Buch vom Jenseits
jegliche Wahrnehmungsbeziehung zwischen
dem geistigen Organismus des Gestorbenen
und seinem ehemaligen Erdenleibe auf‐
gehört hat.
.Wo aber Feuer als Ursache des Todes
wirkt, dort wird, wie bei jeder anderen
Todesursache, Schmerz nur bis zum Ver‐
lust des physisch gebundenen Bewußt‐
seins empfunden, während nach dem jen‐
seitigen „Erwachen” jede Beziehung zum
früheren Erdenkörper erloschen ist, durch
die Zersetzung, die das Feuer bewirkte.
.Was nicht erlischt, ist das nun durch
den geistigen Organismus empfundene Be‐
wußtsein der eigenen Gegenwart, und das
klare Sehen und Erkennen aller physisch
gegenwärtigen Menschen in ihren geistigen
Formen, die ja ‒ abgesehen von den phy‐
sischen Behinderungen ihrer Darstellung
auf Erden ‒ durchaus den irdischen
Formen entsprechen.
33 Das Buch vom Jenseits
.Gestorbene, deren Bewußtsein während
ihrer Erdentage nur wenig über den Be‐
reich des physisch-tierhaften Daseins hinaus‐
wuchs, täuscht der neue Zustand oft so sehr,
daß sie auch noch längere Zeit nach ihrem
Erdentode nicht bemerken, daß sie nicht
mehr im physischen Leibe sind.
.Sie wähnen sich nur „genesen”, da ja
die frühere Ursache ihrer Leiden nicht mehr
besteht.
.Vorerst noch in eine Art traumhaften Vor‐
stellens irdischen Erlebens gebannt, mischt
sich ihnen die Wahrnehmung der geistigen
Form ihrer Angehörigen mit den selbster‐
zeugten Gestalten des eigenen Traumlebens,
und die Gestorbenen begreifen nicht, wes‐
halb man um sie trauert.
.Sie versuchen dann oft mit allen Kräften,
die wirklich im physischen Dasein Trauern‐
den zu überzeugen, daß kein Grund zum
Trauern bestehe, ‒ allein dieses Bemühen
34 Das Buch vom Jenseits
wird in der Erregung des Schmerzes von
den im Physischen Zurückgebliebenen nicht
empfunden.
.Erst in der Machtlosigkeit über solche
vermeintliche Torheit seiner Angehörigen
und Freunde entdeckt dann plötzlich der Ge‐
storbene, daß er nicht mehr mit einem phy
sischen Körper behaftet ist, und erwacht
so aus seinem selbstgeschaffenen Traum.
.Dann erst beginnt er wirklich „sehen zu
lernen”, und seine geistigen Augen öffnen
sich für die neue geistige Seite der ursäch‐
lichen Welt, deren physisch-sinnlichen An‐
schauungskreis er verlassen hat, ohne den
kosmischen „Ort” zu wechseln.
.Hier fängt dann für jene, die nicht „die
Kunst des Sterbens” während ihrer Er‐
dentage übten, das geistige Irren an, denn
der geistige Organismus eines Menschen wird
durch den Tod keineswegs etwa über die
35 Das Buch vom Jenseits
bis dahin erlangte Sicherheit im Erkennen
hinaufgesteigert.
.Zwar sind sogleich hilfreiche Helfer nahe,
aber sie werden nicht als solche erkannt.
.Statt dessen werden sie von dem in seine
physisch-irdischen Meinungen noch verrann‐
ten Gestorbenen sehr entschieden und selbst‐
bewußt abgelehnt, so daß sie an aller Hilfe‐
leistung verhindert sind.
.Die Gewißheit, das „jenseitige” Leben
tatsächlich erlangt zu haben, erweckt auch
nicht selten einen grenzenlosen Hochmut,
der die von ihm Befallenen erst recht in
ihren Torheiten bestärkt.
.Wer ganz ans Irdische verhaftet war, oder
zu sehr mit seinen Sorgen an Dingen und
Menschen hing, zu denen er nun nicht mehr,
physisch wirkend, zurückkehren kann,
wird bei der Einsicht in die Unmöglichkeit
des Zurückkehrens von einer qualvollen Ver‐
36 Das Buch vom Jenseits
zweiflung erfaßt, die erst durchgekämpft sein
will, bevor er fähig wird, seine neuen Wir‐
kungsmöglichkeiten gegenüber der irdischen
Welt, die nun rein geistiger Art sind, zu
erkennen. ‒
.Solche aber, die im physischen Leben
ganz mit dem Streben nach irdischer Ver‐
wirklichung einer „Idee”, und mit den in
solchem Streben erzeugten Vorstellungen
verwachsen waren, verlieren ziemlich bald
fast alles Interesse an der verlassenen phy‐
sischen Welt.
.Sie suchen nur nach einer Gelegenheit,
ihre „Idee” nun innerhalb ihres neuen
Lebensbereiches verwirklichen zu können
und sind blind gegenüber allen neuen Er‐
lebnismöglichkeiten.
.Andere wieder suchen nach der ihnen
verheißenen und von ihnen gläubig erwar‐
teten „Seligkeit”, und sind nicht wenig
erstaunt, sie nicht sofort, und in der Form,
37 Das Buch vom Jenseits
die sie sich auf Erden doch so schön er
träumten, im „Jenseits” gefunden zu haben.
.Allen diesen, mit sich selbst und dem
eigenen mitgebrachten Vorstellungsleben Be‐
schäftigten wird schließlich eine Art Erfül‐
lung ihrer Wünsche, indem sie in eines jener
niederen geistigen Reiche gelangen, deren
unbewußte Mitschöpfer sie schon auf Erden
waren...
.Auch dieser Übergang ist keine „Orts‐
veränderung”, denn alle geistigen Welten,
‒ und es gibt deren unzählige, bis hin‐
auf zu der höchsten und reinsten Welt gott
gebärenden Geistes, ‒ sind, einander durch‐
dringend, am gleichen kosmischen „Ort”. ‒
.Das bewußte Erleben geistiger Welten,
sowie der Übergang aus einer in die an‐
dere, ist jeweils von einer gewissen Wahr‐
nehmungswandlung abhängig, die das gei‐
stige Bewußtsein für bestimmte Erscheinun‐
38 Das Buch vom Jenseits
gen gleichsam „blind”, für andere dagegen
„sehend” macht.
.Aber gerade diese Wahrnehmungswand‐
lung läßt sich nicht willkürlich hervor‐
rufen, außer von den Meistern der ewigen
Darstellung des Menschen im höchsten
geistigen Reiche, oder ihren Beauftragten:
ihren erwählten Schülern, soweit deren ei‐
gene psychophysische Veranlagung dazu ge‐
eignet ist.
.Jeder Mensch aber, auch wenn er nicht
zu den hier bezeichneten Wenigen gehört,
kann sich doch immerhin in der Vorstel
lung mit den Gefühlen, Empfindungen und
Bewußtseinszuständen vertraut zu machen
suchen, die ihn, entsprechend den hier von
uns gegebenen Aufschlüssen, nach dem Tode
des Erdenleibes erwarten.
.Ich lasse unbesorgt den Einwand gelten,
daß ein solches gewolltes Erregen des Vor‐
stellungsvermögens doch immer nur bloße
39 Das Buch vom Jenseits
Bilder” hervorbringen könne, aber keines‐
falls zu einem Erleben des wirklichen
nachirdischen Seins zu führen vermöge.
.Eben darum verlange ich ja, daß man
sich bei der Gestaltung der hier nötigen
Vorstellungsbilder strengstens an die Dar‐
stellungen halte, die ich in diesem Buche
gebe, denn nur sehr wenigen Menschen
ist es möglich, schon während ihres Er
dendaseins den Bereich nachirdischen Seins
bewußt kennenzulernen, während es allen
Menschen möglich ist, durch das Erwecken
wirklichkeitsentsprechender Vorstel‐
lungsbilder die Gefühle, Empfindungen
und Bewußtseinszustände, die nach dem
irdischen Tode zu erwarten sind, gleichsam
im voraus zu durchleben.
.Ein solches, öfteres Vorauserleben aber
ist nötig, will man sicher sein, daß man
nach dem erfolgten Abscheiden des Bewußt‐
seins aus der erdensinnlichen Erfahrungs‐
weise sogleich sich zurechtzufinden wisse,
40 Das Buch vom Jenseits
und vor allem erkenne, was zu suchen,
was zu meiden sei!
.Nur wer solche Sicherheit bereits wäh
rend seines Erdendaseins erlangte, wird
nach dem Übergang in die neue, rein gei
stessinnliche Wahrnehmungsart auch so‐
gleich die helfenden Hände entdecken, die
sich ihm dort entgegenstrecken, und wird
vertrauend sie zu ergreifen wissen...
.Ihm können wir helfen!
.Er wußte die Kunst des Sterbens wäh‐
rend seiner Erdentage schon zu „erlernen”,
und sein Vertrauen auf unsere Belehrung
ließ alle Erkenntnisfähigkeit in ihm reifen,
deren er nun bedarf.
.Vor jeglicher Täuschung und Enttäu‐
schung wird er nunmehr gesichert sein!
.Ihn führen wir ‒ vorbei an den man‐
cherlei „Strandreichen”, die irdisches Er‐
41 Das Buch vom Jenseits
träumen und Wähnen sich durch die Kräfte
des mißleiteten Willens schuf ‒ sogleich in
das „Innere” des nun betretenen „Landes”,
allwo liebevolle Leitung ihn dann näher und
näher seiner Vollendung bringt.
.Er ist ja durch das Aufgeben seines ir‐
dischen Leibes durchaus keinAnderer
geworden!
.Es kann ihm nicht plötzlich gegeben
werden, was ihm noch fehlt. ‒
.Nur was er auf Erden bereits zu er‐
langen wußte, bringt er mit, als Besitz.
.Was er auf Erden zu binden verstand,
bleibt auch im geistessinnlichen Leben für
ihn „gebunden”, und was er im Erden‐
leben zur Lösung brachte, bleibt auch jetzt
für ihn „gelöst”...
.Allmählich nur kann man ihn immer
höher führen, bis er dereinst fähig wird,
42 Das Buch vom Jenseits
das erhabenste aller geistigen Reiche zu be‐
treten: ‒ die reine Lichtwelt seligster und
absoluter Erfüllung. ‒ ‒
.Die „Zeiten”, die zu diesem Aufstieg
nötig sind, werden bestimmt durch den auf
Erden bereits erreichten Grad relativer gei‐
stiger Vollendung und durch die aus solcher
Vollendung heraus erfolgte Abgeklärtheit des
ewigen Willens, innerhalb seiner Bewußt‐
seinsempfindung.
.Das „Sterben” aus der irdischen Er‐
fahrungsweise in die geistig-sinnliche Wahr‐
nehmungsart vollzieht sich zwar auch ohne
deine Absicht, und was dich „jenseitig” er‐
wartet, wird da sein, auch wenn du an kein
„Jenseits” glaubst.
.Es ist deinem ewigen Willen aber eine
große Macht eingeräumt, da du fähig bist,
durch Vorarbeit hier auf der physisch
wahrnehmbaren Seite der Welt, all dein
43 Das Buch vom Jenseits
weiteres Schicksal sehr wesentlich zu be‐
stimmen.
.Voraussetzung ist allerdings ein verant‐
wortungsbewußter Lebenswandel, stets
orientiert nach dem hohen geistigen Ziel,
das nur in der uneigennützigen Liebe zu
allem Lebendigen erreichbar wird.
.Auf der „anderen Seite” der Welt, ‒
dort, wo nur mit geistigen Sinnen wahr‐
genommen wird, ‒ herrscht nicht nur die
„Wonne der Seligen”. ‒
.Es gibt dort wahrlich auch Reiche der
Qual und Verzweiflung, der zehrenden
Reue, und des Wunsches nach Selbst
vernichtung, obgleich diesem Wunsche
niemals entsprochen werden kann...
.Durch diese Reiche aber müssen un‐
fehlbar alle hindurch, die hier auf Erden
das Gesetz nicht erfüllen, das Liebe zu sich
selbst und allen Mitgeschöpfen von jedem
Erdenmenschen verlangt.
44 Das Buch vom Jenseits
.Solche „Liebe” ist sehr weit entfernt
von jeglicher Art sentimentaler Schwärmerei
und allem Gefühlsüberschwang!
.Die hier gemeinte, durch geistiges Gesetz
geforderte Liebe ist vielmehr die höchste
und stärkste Selbst- und Allbejahung so
daß der von ihr durchdrungene Mensch so‐
wohl in sich selbst wie in allem Mit-Dasein
nur das Positive, das Geistgewollte er‐
fühlt, auch dann, wenn er sich genötigt sieht,
sich aufs schärfste der gleichzeitig wirksamen
negativen Kräfte der gleichen Erscheinung
zu erwehren. ‒ ‒
.Schwersten Verstoß gegen das geistige
Gesetz von dem hier die Rede ist, begehen
alle, die auf Erden Hand an ihr Leibesleben
legen, um aus irgend einem Grunde dem
irdischen Dasein und seinen Forderungen
feige zu entfliehen.
.Solches Tun ist überdies sinnlos und
zweckwidrig, denn statt der gesuchten
45 Das Buch vom Jenseits
Befreiung findet der durch eigene Hand ir‐
disch Entleibte tausendfach qualvollere Fes‐
selung in wahrlich nicht gewünschte Be‐
wußtseinszustände, denen er nun Aeonen
hindurch nicht mehr entfliehen kann.
.Es liegt ein gewisser Trost für die Zu‐
rückbleibenden in der Tatsache, daß die
allermeisten Morde am eigenen Leben von
Menschen begangen werden, deren Bewußt‐
sein im entscheidenden Moment krankhaft
umdüstert ist, so daß die furchtbare Ver‐
neinungstat in einem Zustand erfolgt, den
man wohl als spontan einbrechenden
Wahnsinn bezeichnen darf, auch wenn die‐
ser Zustand seit langem vorbereitet wurde,
durch ein verantwortungsloses „Spielen
mit dem Gedanken an die Möglichkeit
der Leibeszerstörung.
.Mörder und Gemordeter sind zwar in
solchem Falle in einer Person „in Er
scheinung” gewesen, aber der Mord ist
das Werk eines übermächtig gewordenen
46 Das Buch vom Jenseits
Gedankens, den das Opfer solange mit
seinen eigenen Kräften belebte, bis er es zu‐
letzt verschlang. ‒
.In solchem Falle trägt dann der Zer‐
störer seines Erdenleibes nicht die Verant‐
wortung für den Akt des Mordes, sondern
das geistige Gesetz erheischt von ihm Aus
gleich für alles verkehrte Denken und
Handeln, aus dem zuletzt die Tat im Wahn
erwuchs. ‒
.Dieser Ausgleich ist zumeist nur erreich‐
bar durch das Ertragen einer zweiten Ein‐
verleibung in den tiermenschlichen Körper
auf der Erde.
.Es handelt sich hier um einen jener
Ausnahmefälle, in denen allein die soge‐
nannte „Reinkarnation” als Möglichkeit
in Betracht kommt, während sie bei gesetzes
gemäßem Ablauf des irdischen mensch‐
lichen Lebens, eben durch den vollzogenen
Ablauf, ein für allemal unmöglich wird.
47 Das Buch vom Jenseits
.Obwohl aber die Nützung des Erden‐
lebens zur Vorbereitung auf nachirdische
Bewußtseinszustände von größter Wichtig‐
keit ist, sollst du doch keineswegs glauben,
du müßtest nun auf dieser Erde das ängst‐
liche, stets um gesichertes „Seelenheil” be‐
sorgte Leben eines kleingläubigen „Heiligen”
führen, ‒ eines jener Selbstsüchtigen des Her‐
zens, die sich gar sehr jeder „Sünde” fürchten,
aber innerlich frohlockend der „Verdamm‐
nis der bösen Welt” gewiß zu sein glauben.
.Solche Lebenshaltung würde dich nur
dereinst mit aller Sicherheit in eines jener
täuschenden „Strandreiche” des Geistes ge‐
langen lassen, die menschlicher Wahn ge‐
staltet hat, ohne um seine eigene Urheber‐
schaft zu wissen.
.Ein Leben treuer Pflichterfüllung,
voll Liebe zu allem Lebenden, voll Stre‐
ben nach Herzensgüte und Wahrhaftigkeit,
nach Ordnung in deinem Willenshaus
halt und nach Veredelung deiner Freu
48 Das Buch vom Jenseits
den, ‒ ein Leben voll fröhlichen Glaubens
an die endgültige Erfüllung deiner höchsten
und geläutertsten Sehnsucht, ‒ wird jederzeit
hier auf Erden für dich das beste Leben
sein, besonders, wenn du gleichzeitig bestrebt
bist, das zu lernen, was ich in dieser Abhand‐
lung „Die Kunst zu sterben” nenne.
.Es gibt dann freilich auch noch einen
besonderen geistigen Höhenweg, von dem
ich schon an anderer Stelle sprach, aber
bevor du dein Leben so gestaltet hast, wie
mein Rat es dich hier gestalten lehrt, wirst
du auf solchem Pfade kaum vorankommen
können...
.Wer diesen Weg betreten will, der muß
frei sein von allem, was etwa seinen sicheren
Schritt behindern könnte.
.Das kopfhängerische „Muckertum” ist
ebenso verwerflich, wie die hohle Geste der
„Weltverneinung”!
49 Das Buch vom Jenseits
.Nicht allen wird der Weg schon gangbar
erscheinen, auf dem der Mensch dahin ge‐
langen kann, daß sein „Gott” in ihm ge‐
boren wird, aber jeder sollte dennoch von
diesem Wege wenigstens wissen, ‒ jeder
sollte sich vorbereiten, um ihn hier auf
Erden schon, wenn irgend möglich, auch
zu beschreiten.
.Vielen mag zwar noch die Kraft und
Ausdauer fehlen, die dort nötig ist, aber
auch alle geistigen Kräfte wachsen durch
die Anwendung, und Ausdauer ist auch
hier nur denen verliehen, die einem Tun
ihre ganze Liebe widmen. ‒ ‒
.Alles, was auf dieser physisch wahr‐
nehmbaren Seite der Welt gedacht, emp‐
funden und gewirkt wird, übt eine stete
Wirkung aus in die „jenseitige” Welt.
.Die Früchte aller Werke der Tat, die
der Mensch hier im Irdischen erstehen
50 Das Buch vom Jenseits
läßt, bleiben ihm erhalten, weit über den
Tod hinaus, auch wenn seine Werke auf
Erden nur physischen Zwecken dienen.
.Die moralische Verantwortungsmög
lichkeit vorausgesetzt, kommt es bei all
deinem Tun hier im Irdischen nicht darauf
an, was du tust, sondern wie du es tust. ‒ ‒
.Niedrigste Arbeit hier auf Erden kann
dir ungeahnte Kräfte für dein späteres
Leben auf der geistigen Seite der Welt
zuströmen lassen, wenn du das dir Über‐
tragene nur in treuester Pflichterfül
lung, freudig und nach besten Kräften also
ausführst, als sei der Bestand des ganzen
Weltalls allein von der Güte deiner Arbeits‐
leistung abhängig...
.r dich selbst bist einzig und allein
nur du selbst verantwortlich!
.Bei allem was du denken oder tun magst,
‒ bei allem, was du auf dieser physisch
sinnlich erfahrbaren Seite der Welt treibst,
51 Das Buch vom Jenseits
‒ bist du stets der unbewußte Schöpfer
deines späteren Schicksals in der geistig
sinnlichen Wahrnehmungswelt. ‒
.Was du hier auf Erden dein „Schick
sal” nennst, ist nur ein lächerlich kleiner
Ausschnitt eines unermeßlichen Ganzen,
und wenn du hier etwa mit deinem Schick‐
sal haderst, so mag dein Mißmut mensch‐
lich ja sehr verständlich und gewiß auch
entschuldbar sein, aber dennoch gleichst
du dann nur dem Kinde, das törichterweise
Dinge verlangt, die ihm heute noch nicht
gegeben werden können, weil sie ihm
schaden würden, während ihm später das
Verlangte in reichster Fülle zu Gebote
stehen wird...
.Erst auf hoher Stufe der geistigen Welt
angelangt, wirst du dereinst dein Schicksal
verstehen können, und dann wirst du lä‐
cheln, gedenkst du noch deines früheren
Urteils. ‒ ‒
52 Das Buch vom Jenseits
.Dann wirst du sehen, daß deine besten
Verstandesgründe, die dich ehedem zu dei‐
nem Urteil verführten, ebensoviele Tor
heiten waren, weil du die Schönheit der
Blüte und die süße Köstlichkeit der Frucht
aus dem Wurzelgefaser erschließen wolltest,
das deine Hände aus der dunklen Erde
wühlten.
.Nur wer sich selbst zu lösen weiß aus
den beengenden Vorstellungsbildern, die ihm
aus seiner physisch-sinnlichen Anschau‐
ungsform notgedrungen erwachsen sind, der
wird allmählich auch ein Weniges ahnen
von dem großen Ganzen in dem er wurzelt,
und dem er niemals mit den Mitteln phy
sisch-sinnlicher Erkenntnis näherkommen
kann...
.Es war keine leere Phrase, wenn vor‐
maleinst ein Wissender, vom Glanze des
Erschauten fast überwältigt, die Worte fand:
.Kein Auge hat es gesehen, kein
53 Das Buch vom Jenseits
Ohr gehört, was Gott denen bereitet
hat, die ihn lieben!”
.Gott lieben” aber heißt: ‒ alle Müh
sal und allen Schmerz der Erde so „lie‐
ben”, so willig hinnehmen, als habe man
das alles gerade so gewollt und erstrebt,
wie es in unser Leben tritt! ‒
.Gott lieben” heißt: ‒ die Erde lieben
und alles was auf ihr lebt, ‒ so, wie
es ist, ‒ mag es unseren Wünschen auch
zuwider sein! ‒
.Gott lieben” heißt: ‒ sich selbst
lieben und sich zuliebe alle Beschwernis
freudig auf sich nehmen, die uns zu tragen
gegeben wird auf dem langen und beschwer‐
lichen Wege, der aus Irrung und Verwirrung
zuletzt zu uns selber führt, so, wie wir
ewig sind in Gott! ‒ ‒
.Nach alledem wirst du nun auch wissen,
wie du am besten deine „Verstorbenen
54 Das Buch vom Jenseits
ehrst: ‒ jene, die dir vordem hier im Er‐
denleben nahestanden und die auch heute
noch, nach wie vor, im Dasein sind, nur
deiner physisch-sinnlichen Wahrnehmungs
fähigkeit nunmehr entrückt...
.Du wirst nun wissen, wie du ihnen auch
weiterhin helfen kannst, und wie du, etwa
selbst der Hilfe bedürftig, solche von ihnen
erlangst.
.Es ist wahrlich verkehrtes Beginnen,
spiritistische Zirkel” zu errichten, um
mit den der Erde Gestorbenen in Verbin‐
dung zu kommen!
.Die Ehrlichkeit aller Teilnehmer und
die Sicherung gegen jeden, auch unbe
wußten Betrug vorausgesetzt, habt ihr
doch zu wenig Wissen von den Kräften,
die sich in solchen „Sitzungen” manifestie‐
ren, und seid nicht imstande, die wirk
lichen Urheber der Phaenomene festzu‐
stellen.
55 Das Buch vom Jenseits
.Auch dann nicht, wenn ihr jeden vor‐
gefaßten Glauben ablehnt, um erst zu er‐
forschen, was etwa Wahres an der Sache sei!
.Die Kräfte, um die es sich bei echten
spiritistischen Manifestationen handelt, sind
voll Lüge, Laune und Trug, ‒ stets be‐
reit, sich mit Hilfe eurer eigenen Kraft be
merkbar zu machen, ‒ aber gar weit davon
entfernt, sich zu willigen Untersuchungs‐
objekten zu wandeln... (Die mannigfachen
Betrugsmöglichkeiten durch „Medien
und Sitzungsgenossen lasse ich natürlich
hier außer Betracht.)
.Die Manifestationen, in denen ihr Kräfte
des „Jenseits” am Werke glaubt, sind, wenn
irdische Täuschung ausgeschaltet ist, nichts
anderes als das Spiel unsichtbarer Wesen einer
noch fast unbekannten Region der phy
sischen Welt. ‒
.Für wirklich im Geiste „Erwachte”,
‒ die als Jenseitsbewußte schon zu den
56 Das Buch vom Jenseits
Jenseitigen” gezählt werden dürfen, auch
wenn sie noch im Erdenleibe auf der phy
sisch wahrnehmbaren Seite der Welt leben,
ist es zwar möglich, sich in vereinzelten
Fällen der hier genannten Wesen zu be
dienen, wie man sich auch sonst irgend
einer erreichbaren Hilfskraft bedient, allein
es wird gewiß keiner dieser wirklich im
Geiste Erwachten auf den Einfall kommen,
zur Unterhaltung der Teilnehmer einer
spiritistischen Sitzung beizutragen, oder die
Versuche eines Experimentators „interessant”
gestalten zu wollen...
.Auch wo man unter dem Eindruck steht,
es „zweifellos” mit der Entelechie eines frü‐
heren Erdenmenschen zu tun zu haben, über‐
steigt die Gefahr der Täuschung durch Le‐
murenwesen so sehr alle Wahrscheinlichkeit
einer echten Kommunikation, daß nicht ein‐
dringlich genug gewarnt werden kann vor
dem Betreten jedes Weges, der zu irgendwel
chen „spiritistischen” Erscheinungen führt.
57 Das Buch vom Jenseits
.Der euch hier warnt, kennt alle auf
„spiritistischem” Gebiet möglichen Mani‐
festationen aus eigener, gesicherter und reich‐
haltigster Erfahrung.
.Ebenso aber kennt er auch jene unsicht‐
bare physische Zwischenwelt, die das urei‐
gene Lebenselement der „spiritistischen”
vermeintlichen „Geister” bildet, und er weiß
sich dieser Wesen und ihrer Kräfte gege‐
benenfalls zu bedienen, wie man sich eines
Reitpferdes oder eines Spürhundes bedient,
wo es die Umstände erfordern.
.Dem geistig dazu Ermächtigten dienen
diese Wesen mit ihren Kräften, wenn er
es verlangt, ohne daß er erst nötig hätte,
ein „Medium” zu gebrauchen und „spiri‐
tistische Sitzungen” abzuhalten.
.Er betritt die Bereiche dieser Zwischen‐
wesen mit der gleichen Sicherheit, wie er
bewußt sich in die rein geistigen Welten
begibt.
58 Das Buch vom Jenseits
.Angenehm ist es freilich nicht, diesen
Wesen nahezukommen, und keiner der
es vermag, sich ihrer nach seinem Willen
zu bedienen, wird das jemals ohne Not
tun, und immer wird er dabei ein Gefühl
des Ekels zu überwinden haben.
.Mit diesen, etwa den Quallen südlicher
Meere irdisch vergleichbaren, aber normaler‐
weise nicht wie diese, physisch wahr‐
nehmbaren Geschöpfen, sowie mit ihren
dennoch rein physischen Kräften, kommt
ihr zumeist in Verbindung, während ihr mit
euren „verstorbenen Lieben” im Verkehr
zu sein wähnt, ‒ es sei denn, daß eure
eigenen, euch unbewußten Kräfte aus der
gleichen Region, der diese unsichtbaren
physischen Geschöpfe angehören, alle Mani‐
festationen allein bewirken, und ihr euch
auf solche Weise unwissentlich selbst ein
Geistertheater vorspielt...
.Für euer seelisches und leibliches Wohl
ist solcher nichterkannte Selbstbetrug aber
59 Das Buch vom Jenseits
immer noch weniger verhängnisvoll, als
der echte Konnex mit den hier geschilderten
Lemurenwesen, die eure Kräfte aussaugen
wie Blutegel, und nur mit Hilfe der euch
entzogenen Energien die vermeintlichen
„Wunder” eurer „spiritistischen Seancen”
hervorzubringen vermögen.
.Auch der vorurteilsfreieste Forscher, der
diesen Erscheinungen nur als Beobachter
gegenübertritt, ist keineswegs gefeit gegen die
Kraft der Polypenfangarme, die ihn vom
Unsichtbaren her umschlingen.
.So sehr er auch „über der Situation” zu
stehen meint, muß er sich doch seine ge‐
heimsten Eigenkräfte entziehen lassen, ohne
den Mißbrauch auch nur zu ahnen, den die,
sein Interesse fesselnden, unsichtbaren Para‐
siten seines „Mediums” mit ihm treiben. ‒ ‒
.Der wirkliche „Verkehr”, ‒ der ein‐
zige sichere Verkehr mit den ins „Jenseits”
60 Das Buch vom Jenseits
Vorangegangenen, ‒ spielt sich allein im
Innern, in der „Seele” ab, und ist rein
geistiger Art.
.Euer eigener geistigerLeib” ist das
Organ des Vernehmens der „Abgeschie‐
denen” für euch! ‒
.Jeder „durchgefühlte” Gedanke, jedes
euch ganz durchdringende Gefühl, wird
„auf der anderen Seite” vernommen wie hier
in der physisch-sinnlichen Welt das gespro‐
chene Wort.
.Ebenso aber vernehmt auch ihr, ‒
wenn ihr „in der Stille” und feinfühlig
genug dazu seid, ‒ die Äußerungen derer,
die bereits auf der geistigen Seite der
Welt sich erleben, als leise Gedanken und
wie von außen in euch eindringende Ge
fühle, die bei einiger Übung des Unter‐
scheidungsvermögens ganz sicher von „eige
nen” Gedanken und Gefühlen zu sondern
sind. ‒
61 Das Buch vom Jenseits
.Aber auch abgesehen von dem was euch
bewußt werden mag, besteht eine dauernde,
unterbewußte Influenzwirkung, und ihr
seid in solcher Weise oft in einem viel
richtigeren Sinne das „Medium” eines Vor‐
angegangenen, als jemals ein sogenanntes
„spiritistisches Medium” dies sein könnte,
auch wenn die „Jenseitigen” sich seiner be‐
dienen wollten...
.Wäret ihr gewohnt, die alltäglichen Ge‐
schehnisse eures Lebens nüchternen Sinnes,
aber doch auf das Geheimnisvolle aufmer‐
kend, zu beobachten, so würdet ihr euch
gar oft im Sinne eines geliebten „Verstor‐
benen” handeln sehen, auch wenn nicht
die leiseste bewußte Absicht in euch be‐
stand, so zu handeln, wie es der Abge‐
schiedene gewünscht haben würde, lebte er
noch in physisch wahrnehmbarer Erschei‐
nung. ‒
.Andererseits würde es euch gewiß auch
zu denken geben, daß recht oft von seiten
62 Das Buch vom Jenseits
völlig Fremder irgend etwas geschieht, was
man geradezu als endliche Erfüllung eines
Wunsches ansprechen darf, den ein Ge‐
storbener zur Zeit seines Erdenlebens heiß
hegte, der ihm aber dazumal unerfüllt ge‐
blieben war. ‒ ‒
.Freilich ist das alles viel weniger effekt‐
voll als ein tanzender oder schwebender
Tisch, dessen Beine „Botschaften” klopfen,
oder gar als die „materialisierte” Gestalt,
in der man, hypnotisch gebannt ohne sich
dessen bewußt zu sein, einen Gestorbenen
„mit aller Sicherheit” erkennt und sprechen
hört, obwohl das, was da vor einem steht,
nichts weiter ist als eine Art „astraler”
Panoptikumsfigur.
.Wohl sind die äußeren Züge der ehe‐
maligen erdenhaften Erscheinung des Ge‐
storbenen entliehen, und sogar das Kleid,
der Anzug, feiert seine scheinbare Aufer‐
stehung, ‒ aber aus solchem Popanz spricht
63 Das Buch vom Jenseits
ein Lebewesen, das euch mit Entsetzen
erfüllen würde, könntet ihr es in seiner
wahren, von aller Maskierung befreiten
Gestalt einmal plötzlich neben euch stehen
sehen. ‒ ‒
.Menschen, die niemals echte und wirk‐
lich bemerkenswerte spiritistische Phäno‐
mene erlebten, werden zwar kaum begreifen
können, daß solche Dinge ernst zu nehmen
sind, ‒ aber das hindert leider nicht, daß
der sogenannte „Spiritismus” Millionen heim‐
licher und offener Anhänger zählt und stets
neue „Bekehrte” in seinen Bannkreis zieht.
.Eine ungeheure, teils phantastische, teils
pseudowissenschaftliche Literatur über spiri‐
tistische Theorie und Praxis findet noch
immerfort fiebernde Leser, und was die
Gläubigen angeht, so schützt hier auch alle
wissenschaftliche Bedeutung die auf anderen
Gebieten erworben wurde, keinesfalls vor
gröblichster Täuschung, ‒ besonders dann
nicht, wenn ein Todesfall den heißen Wunsch
64 Das Buch vom Jenseits
erweckt, mit dem geliebten Verstorbenen
auf irgend eine Weise wieder in Kontakt
zu kommen...
.Der Doktorhut bildet keine zureichende
Isolation gegenüber den hypnotischen Beein‐
flussungen aus dem Unsichtbaren, und die
Talare akademischer Würden sind leider
durchläßig wie Spinngewebe für die Saug‐
rüssel unsichtbarer physischer Mollusken.
.Aus allen diesen Gründen dürfte meine
Warnung wohl kaum überflüssig sein.
.Der ganze physische und geistige Kos‐
mos ist ein einheitliches Ganzes, auch
wenn dieses Ganze sich in sehr unter
schiedlichen Aspekten darstellt.
.Die eigentliche Wirklichkeit die hin‐
ter den Aspekten steht, war und ist immer
nur sehr wenigen Erdenmenschen aufge‐
schlossen.
65 Das Buch vom Jenseits
.Sie entzieht sich sowohl dem Experiment
wie dem spekulierenden Denken.
.Auf der physisch-sinnlichen, wie auf
der geistigen Seite des Alls gibt es jeweils
wieder die verschiedensten Abwandlungen
der Anschauungsform, und alles solcher‐
art ins Bewußtsein gelangende tritt mit dem
gleichen Anspruch auf, ‒ „das Wirkliche
zu sein.
.Die Wesen, die sich im All erleben,
sehen fast alle nur Teile des Wirklichen,
und selbst diese Teile nur in unbewußter
eigenschöpferischer Umgestaltung.
.So ist auch das Leben nach dem „Tode”
des physischen Körpers bestimmt durch einen
Wechsel der Anschauungsform.
.Es wird das gleiche Wirkliche empfun‐
den und erlebt, ‒ nur in geistiger An‐
schauungsform, ‒ da die physischen Sinne
mit dem Erlöschen der einheitlichen Lebens‐
funktionen des irdischen Körpers aufhören,
66 Das Buch vom Jenseits
brauchbare Vermittlungsorgane für das Er‐
leben zu sein.
.Sinnlich wahrnehmbar aber ist das
Leben in allen seinen Regionen, auch wenn
die Art der Sinnesorgane sehr verschieden
ist. ‒
.„Sterben” ist für den Erdenmenschen
nur ein Vorgang, der zwangsweise dazu
führt, bisher im Unterbewußten verbor‐
gene Sinne bewußt gebrauchen zu lernen...
.Auch während des Erdenlebens sind diese
geistigen Sinne schon vorhanden, ‒ ja,
sie allein sind die Ursache, daß der Mensch
aus seiner tierleiblichen Sinneswahrnehmung
Eindrücke empfangen kann, die dem Tiere,
auch auf höchster Stufe, unerlebbar bleiben,
so sehr auch seine physische Sinnesschärfe
die des Menschen übertreffen mag. ‒ ‒
.Nur in relativ seltenen Sonderfällen
wird es möglich, daß die Sinne des geistigen
„Leibes” im Menschen schon während die
67 Das Buch vom Jenseits
ses Erdenlebens sich eröffnen, und es ge‐
schieht dies niemals in der Form einer
plötzlich sich einstellenden Fähigkeit, die
geistigen Sinnesorgane gebrauchen zu können,
sondern immer nur in der Art eines sukzes‐
siven „Wachwerdens”, das zwar sanft ge
fördert, aber keinesfalls durch willkürliche
Mittel erzwungen werden kann.
.Wer nun schon im physisch-sinnlichen
Leben auch zum Gebrauch seiner geistigen
Sinne erwachte, der sieht die verschiedenen,
ihm schon erfahrbaren, niederen „Welten”
der einen und einzigen ursächlichen Welt
der Wirklichkeit wie ineinander „ver‐
schachtelt”, so daß es ihm oft schwer werden
kann, augenblicklich zu unterscheiden, was
den Regionen der physischen, und was den
Reichen der geistigen Sinnenwelten ange‐
hört.
.Nur die ganz wenigen Menschen, denen
sich auch die Welt der Ursache: ‒ das
68 Das Buch vom Jenseits
„Ding an sich”, von innen her aufgeschlos‐
sen hat, empfinden zugleich die eine, letzt‐
gründige Wirklichkeit, durch die sowohl
jede geistige, wie jede physisch-sinnlich
wahrnehmbare Welt „gewirkt” wird.
.Diese Urwirklichkeit ist Urgrund allen
Lebens, mag es nun auf geistige oder auf
physische Art zum sinnlichen Erfahren
und Selbsterleben kommen! ‒
.Der „Mensch” aber, ‒ ob er sich nun
in geistiger Erscheinungsform oder im Er
dentierkörper erlebt, ist, in ewiger Wirk‐
lichkeit gesehen:
.Ewiges Leben in der Form individu
eller, bewußter Erlebnisfähigkeit.
.Durch die physisch-sinnliche Anschau‐
ungsweise hier auf Erden bestimmt, fällt es
freilich dem auf eine tierhafte Gestalt allein
verwiesenen ewigen Leben recht schwer,
sich individuell geformt, und doch dabei als
69 Das Buch vom Jenseits
Konzentrationspunkt eines unermeßlichen
Ganzen zu empfinden: ‒ eines Ganzen, das
in sich keine Lücke und keine Trennung
kennt, obwohl es sich in unendlichfältigen
Aspekten erfaßt. ‒
.Allzusehr hängt erdgebundene Vorstel‐
lung von dem Augen-Schein ab, der Indi
viduelles nur als ein von anderem Ge
trenntes kennt.
.In geistiger Anschauungsweise aber ist
Individualität ewige Darstellungsfunk
tion innerhalb des untrennbaren Ganzen: ‒
nicht etwa Spaltung in sich selbst, sondern
Darstellung eigener Viel-Einheit.
.Immer ist es das ganze, unteilbare
Leben, das sich in jeder seiner unendlich
vielen individuellen Selbstformungen in ei‐
nem bestimmten, einmaligen Aspekt erlebt...
70 Das Buch vom Jenseits
VOM „TEMPEL DER EWIGKEIT”
UND DER WELT DES GEISTES
.Wir, die wir hier auf Erden mit euch
dieser Erde Leben teilen und doch zugleich
vom Geiste euch zu künden kommen, ‒
wir leben wahrlich in einer anderen Welt
als ihr, obwohl auch wir mit unseren Füßen
fest auf dieser Erde stehen.
.Es mag euch scheinen, als seien wir euch
allzuferne, und doch könnte keiner euch
näher sein als wir.
.Wohl leben wir nicht allein in eurer,
sondern auch in der ewigen Welt des rei‐
nen, wesenhaften Geistes, aber auch eure
Welt wird von der ewigen Welt des Geistes
durchdrungen, ‒ wie ein Schwamm, der
im Meere wächst, vom Wasser des Meeres
durchdrungen wird...
73 Das Buch vom Jenseits
.Gewiß könnt ihr die reine, wesenhafte
Geisteswelt in der wir geistig leben, nicht
mit Erdensinnen fassen.
.Ihr müßt erst geistig zur Wahrnehmung
fähig werden, wollt ihr Geistiges erfahren!
.Und selbst dann noch werdet ihr erst
alle niederen geistigen Welten überstei
gen müssen, bevor ihr in das innere Reich
gelangt, aus dem die Kunde zu euch dringt,
die euch allhier erreicht...
.Viele von euch suchen nach uns und
glauben, sie könnten sogleich geistig mit
uns vereinigt sein, wenn sie nur unsere
menschlichen Wohnstätten auf der Erde auf‐
suchen würden... Aber auch wenn sie uns
hier dann wirklich finden, sind sie uns
keinesfalls etwa „näher” gekommen. ‒
.Sie sehen nur unseren irdischen Leib,
hören unsere irdische Stimme, und gewah‐
ren allenfalls das Alleräußerlichste unseres
äußeren Erdenlebens.
74 Das Buch vom Jenseits
.Unseren „Tempel” aber können sie
gleichwohl nicht betreten, denn der liegt
auf der geistigen Seite der ursächlichen
Welt, und nicht etwa „an den Abhängen
des Himalaja”.
.Dort, in den verborgenen Einöden des
höchsten irdischen Gebirges, leben nur seit
Urzeittagen stets einige unserer Brüder aus
der jeweiligen Generation: ‒ Männer, die
jede auf Erden mögliche Größe überstiegen
haben und nun in unzugänglicher Abge‐
schiedenheit verharren, um den Pfad stets
von Verschüttung freizuhalten, der uns an‐
deren, im Weltleben Wirkenden gangbar
bleiben muß, wenn wir der Aufgabe ob‐
liegen sollen, die uns aufgetragen ist...
.Jahrtausendelang haben wir an unserem
geistigen Tempel gebaut, und stets bauen
wir weiter, ohne den Tempel jemals ganz
zu Ende zu bauen.
75 Das Buch vom Jenseits
.Jedes Jahrhundert läßt uns neue Kapel‐
len und Altäre, neue Säulen und Pfeiler
einfügen, ‒ nach geistig bestimmtem Rhyth‐
mus und dem vorordnenden, weisen Plan,
der in den Fundamenten des Tempels ruht.
.All eure Tempel und Altäre auf der
Erde sind nur dieses geistgestalteten Tem‐
pels Spiegelbilder.
.Mehr oder weniger klar, ‒ mehr oder
weniger verzerrt, ‒ ist an allen seinen irdi‐
schen Widerspiegelungen zu erkennen, was
die alten Baumeister ahnend erfühlten, und
sofern sie wahre Künstler waren, in hoher
Intuition erschauten, von der Maßgerechtig‐
keit und Zierde unseres hehren Tempels der
Ewigkeit. ‒
.Dieser Tempel aber ist nicht etwa ein
Werk des Gedankens, und ich rede hier
keineswegs nur in symbolischer Weise!
.Er besteht vielmehr als ein geistsinnlich
immerdar wahrnehmbares Bauwerk aus gei‐
76 Das Buch vom Jenseits
stiger Substanz, und wird von geistig wahr‐
nehmenden Wesenheiten ebenso als ein festes
Gefüge erkannt, wie von euch die Tempel
der Erde und die irdischen, himmelragen‐
den Dome...
.In der geistigen Welt wird alles als eben‐
so „greifbar” und „real” empfunden, wie in
eurer Welt der physischen Sinne, und ihr
unterliegt einer großen Täuschung, wenn
ihr etwa glaubt, hier seien nur vage Traum‐
gebilde zu finden! ‒
.Es handelt sich hier nicht um Visionen,
Halluzinationen oder sonstwie selbstgeschaf‐
fene Vorstellungsbilder, noch um das Auf‐
tauchen bildgeformten Erfahrungsbesitzes
aus unterbewußten Regionen! ‒
.Was durch die geistigen Sinne wahrge‐
nommen wird, ist in gleichem Grade „ob
jektiv” gegenwärtig, wie das, was die phy
sischen Sinne des Erdenkörpers wahr‐
77 Das Buch vom Jenseits
zunehmen vermögen, und aus diesem Grunde
entspricht das geistig-sinnlich Wahrgenom‐
mene auch bis zu den höchsten Stufen
geistiger Selbstdarstellung „objektiv” durch‐
aus den Formen der physisch-sinnlichen An‐
schauungswelt, wenn auch in geistbedingter
Abwandlung.
.Auch in der geistigen Welt gibt es
„Länder und Meere”, tiefe Schluchten und
hohe Berge, Firnen mit ewigem Schnee be‐
deckt, und weite, stille Täler voll von An‐
mut und Frieden...
.Wem das „allzuirdisch” zu klingen
scheint, der werde sich darüber klar, daß
ja auch seine physisch-sinnlichen Wahr‐
nehmungen hier auf der Erde nur aus
bestimmten Eindrücken entstehen, die
durch äußere Mittel hervorgebracht werden.
Dann aber möge er beachten, daß dabei im‐
mer nur physisch-sinnlich wahrnehmbare
Wirkungen gewisser Energien in Betracht
kommen, so daß wir mit allen Bezeich
78 Das Buch vom Jenseits
nungen, die wir den Dingen geben, streng
genommen, stets nur gewisse Komplexe
stereotyp wahrzunehmender Einzelein
drücke fixieren. ‒ So empfängt z.B. das
Auge den Eindruck: Weiß, die Hand fühlt
Kälte und eine gewisse Konsistenz der
berührten Masse, das Ohr empfängt den Ein‐
druck eines knirschenden Geräusches
sobald die gleiche Masse betreten wird, wo‐
nach wir den Komplex dieser Wahrnehmun‐
gen (zu denen noch manche andere hinzu‐
kommen können, wie z. B. die Wahrnehmung
der leichten Schmelzbarkeit oder der Kristall‐
form der einzelnen „Flocken”) als „Schnee”
bezeichnen.
.Um die physisch-sinnliche Wahrneh‐
mung dieses Eindruckskomplexes zu bewir‐
ken, sind gewiß physikalische Eindrucks‐
erzeuger notwendig, hingegen wird der gleiche
Eindruckskomplex für geistige Sinne nur
dann wahrnehmbar, wenn geistige Ener‐
gien sich zu der nämlichen Eindruckserzeu‐
gung vereinen. ‒ ‒
79 Das Buch vom Jenseits
.Auch auf der geistigen Seite der
ursächlichen Welt gibt es „Raum und
Zeit”, „Ursache und Wirkung”, wenn
wir auch zu alledem in wesentlich an‐
derer Beziehung stehen, als wir es auf
der Erde und im physisch-sinnlichen Leben
gewohnt sind. ‒
.Alles was hier in der geistigen Welt
erlebt wird, ist von gleicher Realität wie
die Dinge der mit physischen Sinnen
wahrnehmbaren Welt, kann aber nur auf
geistige Weise zu Bewußtsein gelangen.
.Was solcherart wahrgenommen wird, ist
auch keineswegs örtlich ferne der physi‐
schen Welt, aber es untersteht nicht mehr
den in der physischen Erscheinungswelt wirk‐
samen Gesetzen. ‒
.Wirkender Wille läßt im Geistigen er‐
wachsen, was uns im geistigen Leibe dienen
soll, und der gleiche Wille läßt die reife
Frucht ohne Mühe geerntet sein.
80 Das Buch vom Jenseits
.Wir kennen nur keine Tiere in dem
Bereiche der geistigen Welt, von dem hier
die Rede ist, obwohl die reine Formen
welt tierhafter Erscheinung auch hier kei‐
neswegs fehlt.
.Alles aber, was am Menschen auf Erden
des Tieres” ist, hat hier seine Macht
über uns in gleicher Weise verloren, wie
alles Feindliche, das uns auf Erden in
der Erscheinungsform des Tieres gegen‐
übertritt.
.Was im Geistigen sich uns offenbart in
Formen, die denen der Tiere auf der Erde
in höchster Schönheit entsprechen, hat
nicht das mindeste zu tun mit tierhaf
ter Natur, wie sie sich uns auf Erden in
tierischen Formen zeigt...
.Auf Erden mögen Menschen, um sich
irdisch zu nähren, das Fleisch der Tiere
genießen, andere es meiden, ‒ hier im
geistig-sinnlichen Erleben aber gibt es keine
81 Das Buch vom Jenseits
andere „Speise”, als die geistigen Aequiva‐
lente irdischer Pflanzenfrüchte, sowie der
irdischen Erscheinung von Wein und Brot.
.(Es wird kaum nötig sein, zu sagen, daß
es sich hier um „Brot” handelt, das ohne
Backofen wurde, und um „Wein” der wahr‐
lich nicht „berauscht”...)
.Aber „Speise” und „Trank” ist auch auf
der geistigen Seite der ursächlichen Welt
die geistsinnliche Form der Krafterneue
rung, gleichwie es einen Zustand der Er‐
quickung gibt im geistigen Erleben, der sich
vergleichen läßt mit dem gesunden Schlafe
der irdisch Ermüdeten.
.Da „Speise” und „Trank” im Geistigen
jedoch Erzeugnisse der Kraft des Willens
sind, so ist auch ihre Wirkung nur Ver‐
wandlung der gleichen Kraft in geistleib‐
liche Elemente und es entfällt somit für
den Leib des Geistes alle auf Erden tier‐
bedingte Ausscheidung.
82 Das Buch vom Jenseits
.Das alles aber erscheint vielen aus euch
freilich gar zu „sinnlich”, gar zu sehr dem
Leben auf Erden ähnlich, als daß es euer
williges Verstehen finden könnte.
.Ihr vergeßt dabei, daß ja auch auf der
Erde alles sinnlich faßbare Geschehen immer
„Symbol” eines Vorganges ist, der den Sin‐
nen unerfaßlich bleibt. ‒
.Alles Leben im physisch-sinnlichen,
wie im geistigen Kosmos äußert sich als
Bewegung.
.Alle Bewegung aber zeugt Form.
.Da alles Leben immer das gleiche
eine Leben ist, so ist auch alle Form: der
gleichen Bewegung entsprechendes Symbol
in allen Anschauungsregionen des Alls. ‒
.Ein Reich des Geistes wie ihr es euch
erträumt und wie man seit Jahrtausenden
es immer wieder euch erträumen lehrte:
83 Das Buch vom Jenseits
ohne Formen, ohne Symbole ‒ gibt es
nirgends, es sei denn, man nähme vorlieb
mit den verblasenen Nebelreichen, die in
manchen Köpfen als „Wirklichkeit” gelten.
.Das „gestaltlose Meer der ungeformten
Gottheit”, von dem die Mystiker reden, ist
über allem Dasein, aber einmal verloren
in diesem Meere, würdet ihr euch nie mehr
wiederfinden.
.Aus ihm seid ihr hervorgegangen um
Gestalt und Ausdruck eures Willens zu
werden, aber was euch nun einmal indivi
dueller Formung übergab, müßte ewig einen
jeden abstoßen und stets wieder ins All hin‐
ausschleudern, falls einer in die unbegrenzte
Urflut zurückkehren könnte. ‒ ‒
.Gar weit von dieser Urflut sind die armen
Träumer entfernt, die in ihrem Unterbe‐
wußtsein das verborgene Erfahrungsgut fern‐
ster Vorahnen fanden und deren Unfähig
keit zu individuellem Selbsterleben in
84 Das Buch vom Jenseits
sich erneut durchkosteten, als vermeintliches
„Gottheitserleben”...
.Die innerste Lichtwelt geistiger Anschau‐
ung aus der wir euch Kunde bringen, ist
zwar der Formung nach das Werk aller,
die diese Geisteswelt zu erleben vermögen,
und dennoch bleibt jeder Einzelne der Ge‐
stalter seines eigenen Erlebens.
.In der Gemeinsamkeit der Willenswir‐
kung erstrebt jeder Einzelwille hier die
gleiche Formung.
.Für sich selbst aber schafft der Einzel‐
wille innerhalb unserer Gemeinsamkeit
dennoch sein eigenes Erleben, das hin‐
wieder keinen anderen Einzelwillen stört,
wie es ja auch niemals anderem Einzel‐
willen erlebbar werden könnte, es sei denn,
infolge gegenseitiger Durchdringung.
.Wenn aber nun auch die ganze geistig
sinnliche Weltgestaltung in gleicher Weise
85 Das Buch vom Jenseits
als „reale” Welt empfunden wird wie die
Welt der physisch-sinnlichen Wahrneh‐
mung, so stellen sich doch unserem Willen
innerhalb der geistigen Welt keine der
Widerstände entgegen, die ihn auf Erden
hemmen und beschränken.
.Wollen wir, daß etwas sei, so genügt
unser Wille, damit es werde...
.Es wird, ‒ je nach der Kraft unseres
Willens, früher oder später, ‒ aber es wird
so, wie wir es wollen.
.Die schöpferischen Kräfte des Willens
allein lassen in der geistigen Welt ins Dasein
treten was gewollt wird, und andererseits
entschwindet das bisher Gewollte ohne
jede Spur, sobald der Wille es verneint,
so daß hier dann in Wahrheit die Macht
des Willens nahe an den Begriff der „All‐
macht” grenzt...
.Nur die von allen, die des hier beschrie‐
benen Erlebens innewerden, gemeinsam
86 Das Buch vom Jenseits
gewollte geistige Welt, ‒ als Ergebnis ge‐
meinsamer geistig-sinnlicher Anschauungs‐
form, ‒ läßt sich ebensowenig verändern
oder vernichten wie die physische Sinnen‐
welt.
.Es gibt aber auch noch andere Welten
geistig-sinnlicher Anschauung: ‒ Welten
getrübter Erkenntnis und mißleiteten
Willens.
.Das sind die Welten derer, die ins Gei‐
stige gerieten ohne sich lösen zu können
aus den engen Fesseln irdischer Hirnge‐
spinste und Gedankenketten.
.Unfähig, sich vollbewußt zu den er
kenntnisklaren Höhen schöpferischen
Geistes zu erheben, schafft jeder, der auf
solche Art Gefesselten sich eine niedere
geistsinnliche Scheinwelt, die den Vor‐
stellungen gleicht an die er auf der Erde
schon gebunden war, ‒ aber das Erzeugnis
seines Willens hat keinen dauernden Bestand.
87 Das Buch vom Jenseits
.Da jeder Anderes will als der andere,
so zerstört immer einer des anderen Werk.
.Dennoch bleiben auch solche Trugwelten
viele Jahrtausende hindurch erhalten,
sofern sie ihr Dasein gemeinsamen Vor
stellungen danken, die auf Erden lange
Zeit mit großer Glaubenskraft gehegt und
genährt wurden. ‒
.Die unbewußten Schöpfer dieser Welten
stehen jedoch immerfort im Kampfe gegen
ihre Widersacher: ‒ gegen alle Willens‐
kräfte die ein anderes Ziel erstreben.
.Ihr wißt nicht, wieviel religiöse Un‐
duldsamkeit, wieviel nationaler Hader und
wieviel andere Zwistigkeiten auf Erden
nur Rückwirkungen sind, hervorgerufen
durch wuterfüllte Verteidigungskämpfe in
den Trugreichen, die sich der Mensch in
den niederen Regionen geistig-sinnlicher
Anschauungsform seit Urzeiten schuf. ‒ ‒
88 Das Buch vom Jenseits
.Alles, was auf der Erde ernstlich ge
glaubt oder gewollt wird, erzeugt in den
niederen Bereichen geistig sinnlicher Wahr‐
nehmung eine dem gleichen Glauben und
Wollen entsprechende „Welt”, die so lange
bestehen bleibt, wie dieser Glaube oder Wille
auf Erden besteht und Glaubende oder Wol‐
lende hinübersendet in jene Bereiche.
.Alles, was sich auf Erden bekämpft,
ist sich auch Feind in der Welt scheinbarer
Erfüllung, die es sich unwissenderweise in
diesen geistig-sinnlichen Bezirken schafft,
und was da geistig gegeneinander wütet,
wirkt mit seinen feindlichen Kräften zurück
auf die Erdenmenschheit. ‒
.Durch Wechselwirkung wird Feindschaft
und Haß auf beiden Seiten genährt.
.Aber alle diese Sonderwelten, ‒ diese
geistigen „Strandreiche”, ‒ gehen dereinst
zugrunde, mag auch ihr Bestand gesichert
erscheinen für Aeonen!
89 Das Buch vom Jenseits
.Ewigen Bestand hat im Geistigen nur
jene Geistesweltgestaltung, die einem er‐
kenntnisdurchlichteten, ewig geeinten Kol
lektivwillen entstammt, der durch nichts
verändert werden kann, da in ihm der Selbst‐
bejahungswille aller Einzelnen identisch
ist mit der ewigen Liebe, als dem Urgrund
unvergänglichen Seins...
.Wir, die wir im Ewigen leben, unserer
Ewigkeit gewiß, ‒ wir befeinden keine
Willensrichtung und keinen Glauben, mö‐
gen sie uns auch noch so absurd oder ver‐
werflich erscheinen.
.Wir haben unsere geistige Welt vor kei‐
nerlei Feinden zu schützen, denn die uns
feind sein könnten, sind nicht imstande
die Welt in der wir geistig leben, zu er‐
reichen.
.Was immer sie auch von uns gehört
haben, ‒ wie immer auch ihr Wähnen und
90 Das Buch vom Jenseits
Meinen uns beurteilen mag, ‒ so wissen
sie ja doch nicht, wovon wir Zeugnis geben,
und werden es auch nicht erfahren können,
solange ihre geistige Blindheit nicht behoben
ist...
.So würde denn auch ihr uns feindlicher
Wille nur gegen ein Bild sich richten, das
sie sich selbst geschaffen haben, ‒ nie‐
mals gegen uns selbst und unsere geistige
Welt. ‒
.Wir aber sehen, unermeßlich tief unter
den Firnenhöhen die uns im Geiste Heim‐
statt sind, jene vergänglichen geistigen Wel‐
ten, die sich erdversklavter Wille schuf,
und wir sind immerdar bereit, aus ihnen
zu befreien, was sich befreien lassen will.
.Keinen können wir erlösen, der nicht
reinen Willens, im Innersten wahr vor
sich selbst, das Höchste und Lichteste
von sich verlangt, und unerschütterlich an
die Hilfe ewiger Liebe glaubt!
91 Das Buch vom Jenseits
.Selten genug ist der Wille, der sich in
solcher Weise äußert, ‒ selten genug die
Einsicht, daß nur die Erschöpfung eigener
Kraft ein Anrecht auf Hilfe begründet...
.Dennoch gibt es solchen Willen und
solche Einsicht.
.Wenn uns auch so mancher Ruf erreicht,
der sich verrät als feiges Selbstbejammern
bei der Flucht vor eigener Verpflichtung, so
hören wir doch auch andere Rufer, die
wahrlich alles schon erfüllten, was Erfül‐
lung heischt aus eigener Kraft.
.Sie allein können wir befreien aus den
Bereichen zeitbedingten Wahns!
.Vor allem anderen was wir geistig zu
wirken vermögen ist uns heilig solches Be‐
freiungswerk!
.Wir kennen keine größere Freude, als
einem derer, die sich selbst zu übersteigen
streben, aus der Dunkelheit empor zum
Licht zu helfen...
92 Das Buch vom Jenseits
.Die anderen müssen einen Weg beschrei‐
ten, von dem hier nicht gesprochen werden
soll.
.Auch sie erkennen früher oder später,
daß ihre geistige, selbstgeschaffene Trugwelt
nicht die Welt der dauernden Erfüllung ist.
.Bitter und hart ist dann solche Erkennt‐
nis, und dornenreich der Pfad, der nur allein
noch Verheißung gibt, dereinst das Licht zu
erlangen.
.Aeonen können auf Aeonen folgen be‐
vor der Suchende dann doch die erste der
Stufen wieder erreicht, die ihn empor zum
ewigen Lichte leiten, ‒ zu dauernder Er‐
füllung seines Sehnens, ‒ zum Urgrund
seines Seins. ‒ ‒ ‒
.Alles was ich hier bekunde, könnte man
wohl für seltsame Wachträume eines von
seinen Phantasien bedrängten „Mystikers”
halten, und ich verarge es keinem Men‐
93 Das Buch vom Jenseits
schen dieses Jahrhunderts, wenn er sich
meiner Worte auf solche Art zu erwehren
sucht.
.Doch, ich rate euch in eurem Interesse,
diese Mitteilungen lieber wie den Bericht
eines Mannes aufzufassen, der euch von fernen
Ländern manches zu sagen hat, die ihr selbst
noch nicht kennenlernen konntet.
.Einige aus euch mögen auch vielleicht
Anstoß daran nehmen, daß sie hier Anderes
hören, als was sie bis jetzt von solchen hörten,
die täuschungsbetört von sich behaupteten,
die Bereiche geistiger Welten wachen inneren
Sinnes betreten zu haben.
.Hier ist zu bedenken, daß es bei be‐
sonderer Veranlagung und nach gewisser
Schulung zwar manchen Menschen möglich
werden kann, die niedersten und äußer
sten Bezirke des unermeßlichen Reiches
geistig-sinnlicher Wahrnehmung zu betreten,
daß aber keiner in das lichtklare innerste
94 Das Buch vom Jenseits
Reich wesenhaften Geistes gelangt, der
nicht zu den berufenen Hütern des gehei‐
men geistigen „Erbgutes” der Erdenmensch‐
heit gehört.
.Auch die Wenigen, denen dieses Erbgut
anvertraut ist und die mit solcher Berufung
schon geboren wurden, mußten zu jeder Zeit
erst unter hoher Leitung beträchtliches gei‐
stiges Wissen und praktisches Können er‐
werben, bevor sie nach jahrelanger Prüfung
endlich als wirklich „erprobt” befunden
wurden...
.Die „Seher” aber, die mit kühner Stirne
euch „Forschungsergebnisse auf höheren Ebe‐
nen” vortragen zu dürfen glauben, so als
ob es sich da um offene Gebiete zu wissen‐
schaftlicher Durchprüfung handle, sind ‒
ausnahmslos ‒ Menschen, denen im be
sten Falle einer oder der andere jener nie
deren Bezirke zugänglich wurde, die ich
als die „Strandreiche” der geistig-sinnlichen
Anschauungsweise bezeichnet habe.
95 Das Buch vom Jenseits
.Mancher dieser Betörten mag gewiß guten
Glaubens von Dingen berichten, die er in
einem solchen „Strandreich” wirklich ge‐
wahrte, oder die ihm gar ein Jenseitiger,
der ihm als „Meister” erschien, im unge‐
hemmten Wahn täuschungsberauschter „Si‐
cherheit” zu zeigen unternahm. ‒
.Seltener als ihr ahnt, ist wirklich au
thentische Kunde aus unserer Welt im
geistigen Universum!
.Die, denen solche Kunde zuweilen zu‐
kam, hielten sie meistens sehr geheim, und
fürchteten, Heiliges zu profanieren, wenn
sie das, was sie erfahren durften, der Menge
preisgeben würden.
.Immer war authentische Kunde nur
von uns Wenigen gekommen, als den ein
zigen, die sie geben konnten.
.Man gab jedoch die Aufschlüsse nur im
Geheimen, und gab sie nur Einzelnen,
96 Das Buch vom Jenseits
die sich Tag und Nacht darum mühten, Er‐
leuchtung zu erlangen.
.Allzukärglich aber blieb bei dieser Art
der Austeilung des Saatgutes die geerntete
Frucht, so daß nun aller Welt gegeben wer‐
den soll, was sich in Menschenworten mit‐
teilen läßt von unserem Erfahrungswissen.
.Ich trete nicht etwa vor euch als Lehrer
hin um Anspruch darauf zu erheben, daß
man mir ein größeres Maß an Vertrauen
schenke, als es unter redlichen Menschen
allgemein üblich ist.
.Die Kunde, die ich euch hier durch mein
Wort vermittle, gebe ich aus meiner ewigen
Geistnatur, und ich bezeuge hier eine gei‐
stige Welt, in der ich mit meinen Brüdern
im Geiste lebe, während ich, zu gleicher
Zeit, auch noch das Leben auf dieser Erde
mit euch teile, allem Irdischen verpflichtet,
und weit davon entfernt, mich ihm ent‐
ziehen zu wollen.
97 Das Buch vom Jenseits
.Ich gebe auch nicht nur allein Bezeugung
eigenen Erkennens sondern schreibe jedes
meiner Worte zugleich in stetem geistigen
Einklang mit dem Erkennen derer, die mir
Brüder sind im Geiste, als mir vereinte
Priester im Tempel der Ewigkeit.
.Möge jeder, der diese Worte liest, von
der äußeren Persönlichkeit ihres Schreibers
gänzlich absehen, und nur im eigenen
Herzen sich fragen, ob dort Übereinstim‐
mung zu finden ist mit dem allhier Ge‐
gebenen!
.Die Zustimmung des Herzens wird
anfangs erst nur leise vernommen werden,
wenn der Leser noch in Gedanken und Vor‐
stellungen lebt, die von den niederen Grenz‐
reichen geist-sinnlicher Anschauungsart be‐
einflußt werden.
.Je höher er sich bereits über diese Ein‐
fluß-Zone erhoben hat, desto deutlicher wird
98 Das Buch vom Jenseits
er im eigenen Innersten die Wahrheit meiner
Worte empfinden.
.Wer allerdings, wenn auch dessen nicht
bewußt, Mitschöpfer niederer Welten im
geistsinnlichen Grenzgebiet ist, und daher
im Banne der Rückwirkung seiner selbst‐
geschaffenen Vorstellungsgebilde steht, der
wird schwerlich den Drang empfinden, sich
aus seiner Selbstbindung zu befreien.
.Ebenso werden alle, die das Reich des
abstrakten Denkens für das Reich des
Geistes halten, nur ein Lächeln dafür übrig
haben, daß es eine Welt ewiger Erfüllung
im Geistigen geben solle, die so viele Ele‐
mente der physischen Erscheinungswelt
aufweist.
.Die Erkenntnis, daß alle physisch-sinn‐
liche Erscheinungswelt, im Größten wie im
Kleinsten, Nachformung geistig-sinnlicher
Erscheinungswelten ist, scheint allzuschwer
erreichbar...
99 Das Buch vom Jenseits
.So wird man sich denn auch berechtigt
glauben, alles, was ich über diese Dinge
sage, ohne Prüfung in das Reich der Fabeln
und der menschlichen Hoffnungsträume zu
verweisen.
.Und doch wird durch solches Fehlurteil
nicht das geringste an der gegebenen Struk‐
tur der Wirklichkeit geändert. ‒
.Wenn es nicht ein jahrtausendealter
Aberglaube wäre, daß geistige Wirklich‐
keit sich durch den Mechanismus logisch
richtigen Denkens erschließen lassen müsse,
dann wäre die hier durch mich bezeugte
Wirklichkeit längst erschlossen und jedem
weiteren Zweifel entrückt!
.Weit näher der Wahrheit kommen die
Glaubenslehren der alten Religions
systeme, denn in ihrem Bilderschatz hat
sich vieles bis auf den heutigen Tag er‐
halten, was deutlich das Zeichen wirklicher
Jenseitsbewußter trägt.
100 Das Buch vom Jenseits
.Wer heute noch die Sprache dieser Bild‐
lehren zu deuten weiß, dem sage ich gewiß
nichts Fremdes, wenn ich lehre, daß es keine
andere, wahrhaft ewige „Seligkeit” für den
bleibenden Menschengeist gibt, als in der
innersten lichtgezeugten Welt des Geistes
mit ihrem unendlichen Reichtum an Form
und Ursymbol, ‒ mit ihren unendlich‐
fältigen Möglichkeiten der Erfüllung höch‐
sten und reinsten Wollens...
.Die aber, nach deren Anschauung des
Menschen Selbstempfinden mit dem Tode
seines Erdenkörpers endet, mögen erst
nach diesem Tode ihren folgenschweren
Irrtum durch Erfahrung korrigieren
lassen!
.Sie werden kaum viel halten von der
Zustimmung des Herzens”, und trotz
allem Scharfsinn werden sie nicht gewahren,
wie sie sich selbst den einzigen Weg ver‐
bauen, der sie schon jetzt, und hier in
101 Das Buch vom Jenseits
ihrem Erdenleben, zu klarer Einsicht führen
könnte.
.Es sind gewiß nicht die Schlechtesten,
die, aus vermeintlichen guten Gründen, den
Tod des physischen Erdenkörpers für iden‐
tisch halten mit endgültiger Bewußt
seinsvernichtung, ‒ aber schwer sind sie
aus ihrem Irrtum zu reißen, da der Augen
schein sie engumfesselt hält, so daß sie
die unbestreitbare Erkenntnis irdischer
Vergänglichkeit auch in einer Sphäre, die
ganz anderen Gesetzen folgt, noch als be‐
weiskräftig erachten...
.Gewiß ist der erdensinnlich faßbare
Mensch mit dem Tode seines irdischen Kör‐
pers auf immer vernichtet!
.Was weiterbesteht, ist der aus sich ge‐
formte ewige Wille, so wie er sich bis zum
Tode des Körpers in diesem und durch
dessen Kräfte Ausdruck schuf, und das in
dieser Willensform sich selbst erkennende
102 Das Buch vom Jenseits
Bewußtsein, so, wie es noch in den letzten
Momenten klaren Empfindens im Körper
sich auch sinnenhaft empfand.
.Beides aber genügt wahrlich, um den
nachfolgenden Zustand ein „Weiterleben
zu nennen, denn auch das irdische Leben
ist ja nur sinnenfällige „Äußerung” des
durch seine Eigenformung bestimmten, und
damit sein Selbstbewußtsein bestimmen‐
den ewigen Willens.
.Mit Recht wehrt sich vernünftiges Den‐
ken aber gegen die Annahme, es werde
dieser Wille, oder das durch die erlangte
Willensformung bestimmte Selbstbewußt‐
sein sogleich nach dem Tode des Erden‐
körpers etwa in einen Zustand „ewiger
Wonne” erhoben oder hinabgestürzt in
„ewige Qual”.
.Das Unvergängliche, das sich vordem im
Erdenkörper Ausdruck schuf, „entflieht”
103 Das Buch vom Jenseits
auch keineswegs in irgendwelche Wolken‐
höhen, oder „zu den Sternen”.
.Es tritt nur ein Anschauungswechsel
ein, und das von der irdischen Wahrneh‐
mungsart gelöste Bewußtsein des ewigen Wil‐
lens wird wahrnehmungsfähig mit den Sinnes‐
organen seines geistigen Körpers, durch den
allein es ja auch schon während des Erden‐
lebens zu geistiger Erfahrung kam, mag sol‐
che Erfahrung reich oder gering gewesen sein.
.Was aber vorerst wahrgenommen wird,
nachdem die physischen Sinnesorgane dem
Bewußtsein entzogen wurden, habe ich be‐
reits in der ersten Abhandlung dieses Bu‐
ches eingehend beschrieben.
.Die Anschauungsart ist trotz aller
Sonderformen, die sie umfaßt, die gleiche
in den niedersten der nur geistig-sinn‐
lich erfahrbaren Welten, wie in der höch
sten, innersten Welt des Geistes.
104 Das Buch vom Jenseits
.Verschieden sind nur die Gestaltungen,
die wahrgenommen werden, ‒ verschieden
ist die Klarheit individueller Erkenntnis
innerhalb des Wahrnehmungsbereiches.
.Je höher diese Erkenntnis, desto reiner
empfindet sich der dann bereits kristall‐
scharf geformte ewige Wille im Selbst‐
bewußtsein als Schöpfer der Erscheinungs‐
formen aus geistiger Substanz, ‒ desto
lichtklarer offenbart sich dem Bewußtsein
die ewige, alle Seinsform tragende Wirk
lichkeit.
.Zum „Gestaltlosen” strebt nur un
klar geformter, seiner selbst noch nicht
sicherer Wille. ‒
.Geklärter, formstraff in sich selbst
gefestigter ewiger Wille aber, der Ord
nung nach Maß und Zahl in sich begreift,
muß auf jeder Stufe seiner Auswirkung
zur Gestaltung in Erscheinungsformen
führen, und höchstes Glück ist ihm die
105 Das Buch vom Jenseits
Ausgestaltung seiner Eigenschöpfung zu der
in ihr begründeten Vollkommenheit...
.Wohl kennt jeder wirklich schöpferische
Künstler und auch mancher andere „Schaf
fende” auf der Erde einen fernen Abglanz
solchen Glückes, aber erst auf der geistigen
Seite des Universums findet Erfüllung,
was auf Erden Vorahnung war.
.Darum ist die Erziehung des Willens,
durch Nützung seiner eigenen Formungs‐
triebe, die erste und nötigste geistige
Schulung und der erste Schritt auf dem
Wege, der zur ewigen Welt im Innersten
des Geistes führt.
.Wir sind euch wahrhaftig näher als ihr
glaubt, ‒ ja wir sind bei euch, wo immer
ihr auch seid, denn was in euch des Geistes
ist, hat sein ewiges Sein in der uns er‐
schlossenen geistigen Welt, obwohl ihr noch
106 Das Buch vom Jenseits
nicht imstande seid, eure Identität mit die‐
sem eurem ewigen Geistigen zu empfinden.
.Zu dieser Identitätsempfindung könnt
ihr nicht eher kommen, als bis euer ewiger
Wille sich rein und formklar in Ordnung
und Gesetzlichkeit vollendet hat.
.Nur wer ohne Unterlaß daran arbeitet,
sich dem Nebel trüber Dämmerdünste zu
entreißen, in dem ihn verschwommene Be‐
griffe vom Geistigen umherirren lassen, der
kann dereinst zu der Klarheit geistigen Lich‐
tes kommen, die uns Lebensodem ist. ‒
.Dann wird der Suchende erfahren, daß
die tausend „Fragen” die er vergeblich
sich schon am ersten Anfang seines Weges
stellte, erst am Ziele dieses Weges ihre
absolut befriedigende Antwort erhalten
können. ‒
.Das ist der Grund, weshalb alle Führer
zum geistigen Lichte zuerst die Forderung
107 Das Buch vom Jenseits
nach dem „Glauben” stellen müssen, der
als lebendige Kraft den Impuls zum Vor
anschreiten auslöst.
.Am Beginn des Weges zum Tempel
der Ewigkeit muß der „Glaube” stehen,
denn „Wissen” kann dem nur werden, der
das Endziel des Weges in sich erreichte.
.Wer nicht „glauben” kann, dieses Ziel
dereinst zu erreichen, der wird gewiß die
Mühe nicht auf sich nehmen, die der Weg
von ihm verlangt, und wer diese Mühe
scheut, der kann auf keinen Fall hier auf
Erden schon zu gewissem „Wissen” in gei‐
stigen Dingen kommen!
.Solches „Wissen” aber kann euch wer
den, auch wenn ihr nicht schon während
eures Erdenlebens imstande seid, euch frei
in den höchsten Reichen des Geistes zu
erleben.
108 Das Buch vom Jenseits
.Wer aber zum „Wissenden” in den Din‐
gen des Geistes wurde, der hat wahrlich
mehr erreicht, als wenn ihm alle Wissen‐
schaft der Erde eigen wäre...
.Er wird sich selbst in uns erkennen,
und mit uns vereint wird ihm das Reich
des Lichtes ewige Heimstatt werden!
.Doch soll man wahrlich nicht glauben,
daß geistiges Wissen etwa nur denen er‐
langbar sei, die hochmütig sich aller welt‐
lichen „Schulweisheit” überhoben wähnen!
.Zwar kann geistiges Wissen nicht durch
verstandesmäßiges Erschließen gewonnen
werden, wohl aber kann es dem Verstande
gar manches Neue erschließen helfen...
.Wissen im Geiste ist nicht auf gleiche
Weise zu erlangen, wie weltliche Wissen‐
schaft, aber ebensowenig läßt sich verstan
desmäßige Erkenntnis irdischer Zusam‐
menhänge anders, als durch Verstandes
arbeit erreichen.
109 Das Buch vom Jenseits
.Was irdischer Verstand erkennt aus
erdensinnlicher Erkundung her, kann
niemals Gegenstand der geistes-sinnlichen
Erkundungsweise sein, und niemals kann
ein Widerspruch bestehen bleiben zwi‐
schen beiden Arten des Erkennens, es sei
denn, daß er nur durch mangelnde Er‐
kenntnis-Fähigkeit verschuldet worden
wäre.
.Erst dort, wo alles „Erdenkbare” endet,
wird Erkenntnis aus geistigem Anschauen
möglich: ‒ jenseits aller erdenmensch‐
lichen Wissenschaft!
110 Das Buch vom Jenseits
DAS EINZIG WIRKLICHE
.Du hast nun hoffentlich bereits be‐
gonnen, ein Weniges zu erahnen von dem
Geheimnis der ewig zeugenden, ewig ge‐
bärenden Ursachenwelt, die sich in allen
Anschauungsreichen offenbart, in unendlich‐
fältiger Erscheinungsfülle...
.Oder ist dein inneres Fühlen doch noch
zu stumpf, weil du nicht gewohnt warst, es
zu schärfen?
.Dann erfühlst du vielleicht noch kaum
etwas von dem Mysterium, das dir durch
meine Worte enthüllt werden soll, oder du
deutest meine Worte, wie sie nicht gedeutet
werden wollen? ‒
.Ich will aber, daß du „sehend” wirst,
damit du nicht dereinst als ein „Verblen
113 Das Buch vom Jenseits
deter” das Reich des Geistes betreten wirst,
wenn der Tag kommt, an dem du es be‐
treten mußt. ‒
.Avidyâ”, d.i.: Nichtwissen, nennt
östliche Weisheit mit Recht eine „Schuld”,
denn dein eigener Wille nur vermag es,
dir die Pforte zur Erkenntnis zu versper‐
ren. ‒ ‒
.Du hast jetzt mehrfach bereits gehört,
daß zwischen deiner Welt der physisch
sinnlichen Wahrnehmung und der Welt des
Geistes nur eine Schranke liegt, die zwei
verschiedene Arten der Wahrnehmungs
fähigkeit voneinander trennt.
.Ich habe mich absichtlich des öfteren
wiederholt und werde mich auch weiterhin
noch wiederholen müssen, damit diese Grund‐
wahrheit dir so tief wie möglich zu Bewußt‐
sein kommt.
114 Das Buch vom Jenseits
.So muß ich auch hier dir in die Erin‐
nerung rufen, daß das Wirkliche immer
das gleiche Eine und Ursächliche bleibt,
auch wenn es auf die verschiedenste Art
zur Wahrnehmung gelangt in den physi
schen oder geistigen Erscheinungswelten.
.Philosophisches Denken erspürte von fer‐
ne dieses eine „Wirkliche” und nannte es:
„Das Ding an sich”.
.Bis zu ihm aber vorzudringen, ist
auch der feinsten und scharfsinnigsten phi‐
losophischen Spekulation absolut unmög
lich.
.Nur in praktischer Erfahrung wird
es erfaßt, und nur erprobte Meister uralter
verborgener Erkenntnisweise sind dieser
praktischen Erfahrung wirklich fähig.
.Sie allein vermögen es auch, ihre schon
dazu geborenen, ausgewählten Nachfolger zu
dieser praktischen Erfahrung zu führen.
115 Das Buch vom Jenseits
.So habe auch ich voreinst erlangt, was
hier zu erlangen war.
.Wer anders als wir, sollte dir also das
einzig Wirkliche, das aller und jeder
Erscheinung letzte Ursache ist, wenigstens
durch den Hinweis, den Worte einer Men‐
schensprache zu geben vermögen, hier auf
Erden aufweisen können?!
.Ich will versuchen, ob es mir gelingt,
‒ allein, ich muß dein eigenes innerstes
Fühlen bei diesem Beginnen dringend zu
Hilfe bitten, denn nur, wenn das, was in
dir des Geistes ist, meinem Lehrwort sich
vereinen kann, wirst du der Wahrheit
innewerden.
.Deine Augen sind bis jetzt noch geblen
det von dem Glanze eines vergänglichen
Lichtes, das gewiß die Augen blenden kann!
.Du mußt erst „sehen” lernen! ‒
116 Das Buch vom Jenseits
.Dein Auge muß frei werden, so daß es
sehen kann, was es sehen will, und nicht
mehr gezwungen ist, nur das sehen zu
müssen, was die allermeisten Menschen
allein zu sehen vermögen. ‒ ‒
.Dein Auge muß nach innen sehen lernen,
so, wie es bis jetzt nur nach außen sieht!
.Aber es handelt sich hinwieder auch
nicht nur allein um ein anderes „Sehen”,
sondern dein ganzes Fühlen muß Erneue‐
rung erfahren.
.Dein eigenes „Daseinsgefühl” muß sich
aus den Fesseln lösen, die es bislang noch
umstricken, willst du das einzig „Wirk
liche”, das Ursache aller Erscheinung ist,
mit unbeirrbarer Sicherheit erfühlen.
.Magische Fäden durchziehen auch diese
äußere, physische Sinnenwelt, und wenn
du mit Ausdauer dich bestrebst, nach in
nen sehen zu lernen, so wirst du bald die
117 Das Buch vom Jenseits
Erscheinungsform dieser Außenwelt von
dem Ursächlichen, das sich in ihr offen‐
bart, zu unterscheiden wissen.
.Du wirst die überraschende Entdeckung
machen, daß das einzig Wirkliche aller
Erscheinungswelt auch in der physisch
sinnlichen Erscheinungsart erfaßbar ist, in
Gestalt der verborgenen geistigen Ur
seinskräfte, die zwar oft genug von Men‐
schen erfahren wurden, aber dennoch von
vielen geleugnet werden, weil ihre Er‐
fahrung nichts davon weiß...
.Wer erfahren durfte, was hier gemeint
ist, den kann kein Zweifel Anderer mehr
beirren, und sein eigenes Erleben wird ihn
davor behüten, diese Kräfte etwa jenen
gleichzusetzen, die dem unsichtbaren
Bereich der physischen Natur entstam‐
men, obwohl man gemeinhin in beiden
Fällen von „mystischen”, „übernatürlichen”
oder auch „okkulten” Kräften zu sprechen
pflegt.
118 Das Buch vom Jenseits
.Die ganze physische Erscheinungswelt,
die dich umgibt, ‒ dein eigener Körper
miteingeschlossen, ‒ ist aufgebaut auf der
Auswirkung der den Erdensinnen verbor
genen geistigen Kräfte aus dem Ursein,
und alle geistigen Welten sind gleicher‐
weise dieser ursächlichen Kräfte Erschei‐
nungsform.
.Es ist die andere Anschauungsart,
die das Wirken dieser Kräfte als physi
sche, oder als geistige „Welt” empfin‐
den läßt.
.Du wirst nun begreifen, daß das „Jen
seits” keine ursächlich andere Welt ist,
sondern nur das Ergebnis einer neuen, dir
noch unbekannten, anderen Wahrneh
mungsart der Auswirkung dieser gleichen
verborgenen Urseinskräfte, deren Auswir‐
kungsfolge du hier auf Erden als „Dies‐
seits” anschauen lerntest. ‒
119 Das Buch vom Jenseits
.Dein Bewußtsein ist zwar nicht Schöpfer
der Wirklichkeit, denn es ist selbst ein
„Teil” dieser Wirklichkeit, ‒ ist selbst
eine der verborgenen geistigen Urseinskräfte,
‒ aber es ist im „Diesseits” wie im „Jen‐
seits”: Schöpfer der Erscheinungsform,
die sich hier wie dort aufbaut auf der Aus‐
wirkung der gleichen Kräfte.
.Zu der „diesseitigen” Anschauungs‐
form gehört eine Auswirkungsfolge dieser
Kräfte, die dir sehr vertraut ist als die
Funktion deiner physischen Sinne.
.Durch diese, dir hier gegebenen Sinne
wird all dein Anschauen und Anerkennen
der Wirklichkeit auf Erden genau bestimmt,
und so nimmst du nichts anderes wahr,
als was sie dich wahrnehmen lassen.
.Da du aber selbst ein „Teil” der ewigen
Wirklichkeit bist, gleichwie ein Wasser‐
tropfen im Meere ein Teil des Meeres ist,
so trägst du auch in dir potentiell alle
120 Das Buch vom Jenseits
Möglichkeiten die der ewigen Wirklich‐
keit innewohnen, wie der Tropfen im
Meere alle Eigenschaften des Meerwassers
aufweist.
.So bist du nicht nur fähig, durch die
Sinnesorgane deines physischen Organis‐
mus wahrzunehmen, denn du selbst bist
ja geistiger Natur und deines geistigen
Organismus ewiger Eigner.
.In deinem geistigen Organismus besitzest
du andere Sinnesorgane, die du bis jetzt
noch nicht kennst, und sie entsprechen auf
geistiger Seite durchaus deinen physi
schen Sinnesorganen hier im irdischen
Leib.
.Durch deine geistigen Sinne wirst du
im „Jenseits” ebenso zum Schöpfer deiner
geistigen Erscheinungswelt, wie du hier
auf Erden Schöpfer der dir wahrnehmbar
werdenden physischen Erscheinungswelt
bist, ohne darum zu wissen...
121 Das Buch vom Jenseits
.Betrachte, um deinem Verstehen zuhilfe
zu kommen, beispielsweise einen Menschen
in der Hypnose!
.Er sieht, hört und fühlt alles, was du
ihn durch deine Suggestion sehen, hören
oder fühlen lassen willst, und es gilt ihm
als wahrhaft vorhanden.
.Du glaubst mit aller Bestimmtheit, er
unterliege einer von dir gewollten Täuschung,
‒ allein du bist es, der sich in dieser
Annahme täuscht!
.Du hast den Hypnotisierten nur für
kurze Zeit von dem Zwang befreit, seinen
physischen Sinnen allein glauben zu müs‐
sen, und nun sieht, hört und fühlt er vor‐
übergehend, und dort, wo du es ihm be‐
fiehlst, auch mit seinen geistigen Sinnen,
und wird durch sie zum Schöpfer dessen,
was ihm wahrzunehmen aufgetragen ist.
.Nicht du zeigst ihm, was er sieht, und
er sieht auch gewiß noch nichts von dem,
122 Das Buch vom Jenseits
was in geistigen Erscheinungswelten allen
dort Wahrnehmenden gemeinsam sichtbar
ist.
.Du leitest nur seine plastische Phantasie,
und da er, bei gehemmter Funktion der
physischen Sinne, zugleich auch mit sei‐
nen geistigen Sinnen wahrzunehmen ver‐
mag, so gestaltet sein Wille vorübergehend
in geistiger Substanz die Aequivalente der
Vorstellungsbilder, zu deren Erzeugung du
ihn veranlaßt hast.
.Nicht der Holzstab mit dem du seine
Hand berührst, ‒ während du suggerierst, es
handle sich um ein glühendes Eisen, ‒
schafft die Brandblase, die alsbald auf der
Hand zu sehen ist, ‒ sondern die geist
sinnliche Erscheinungsform eines glü
henden Eisenstabes hat sie bewirkt, und
sie konnte derartiges nur bewirken, weil
sie auf der Auswirkung der verborgenen
Kräfte aufgebaut war, die in aller Er‐
scheinung das einzig Wirkliche sind. ‒
123 Das Buch vom Jenseits
.Keinen Augenblick wird der Hypnoti‐
sierte an der Objektivität seiner Eigen‐
schöpfung zweifeln, und wenn du ihm be‐
fohlen hast, sich seiner Erlebnisse auch
nach dem Erwachen noch zu erinnern,
so wird er dann im Wachzustand kaum zu
begreifen vermögen, daß seine Wahrneh‐
mungen nicht in der physischen Sinnen‐
welt erfolgten.
.So intensiv aber konnte er nur erleben,
weil sein Erleben auf der Auswirkung der
gleichen Wirklichkeit beruhte, wie die
ihm vertraute physische Erscheinungs‐
welt. ‒ ‒
.Wenn nun die Hypnose hier auch nur
der Verständigung wegen erwähnt wurde,
und wenn auch gewiß die Einblicke in
geistig-sinnliche Bezirke, die sie gewährt,
sehr beengt und oberflächlich bleiben, so
kann dir dieses Beispiel doch immerhin
zeigen, daß deine gegenwärtige physisch
124 Das Buch vom Jenseits
sinnliche Anschauungsmöglichkeit nicht
etwa die einzig vorhandene ist.
.Wir Menschen hier auf der Erde sind
alle gleichsam in einer Kollektivhypnose,
so daß wir hier nicht auf andere Weise
wahrnehmen können, als wie unser „Hyp‐
notiseur”, der hier unser eigener „ein-ge‐
borener” Wille ist, uns wahrnehmen lassen
mag, und er wäre nicht in irdischem Be‐
reiche, ginge sein Streben nicht nach dem
Selbsterleben in physisch-sinnlicher Er‐
scheinung.
.Sobald wir unseren zeitlich ins Physische
gerichteten ewigen Willen umzukehren
verstehen, werden wir andere Wahrneh‐
mungsarten und ihre Gesetze kennenler‐
nen. ‒
.Das ist zwar während des physischen
Daseins auf der Erde nur sehr wenigen
Menschen möglich, ‒ es wird aber allen
zur Notwendigkeit, sobald der Tod des
125 Das Buch vom Jenseits
Erdenkörpers dem Willensbewußtsein die
bisherigen Sinnesorgane entzieht.
.Alle „Furcht vor dem Tode” erwächst
aus dem Widerstreben des ins Physische
gerichteten Willens gegen eine Umkehr
seiner, im Akt des „Falles” aus dem Ur‐
licht eingeschlagenen Richtung. ‒ ‒
.Du wirst nun begreifen können, daß
jeder, der hier auf Erden noch nicht zum
geistigen „Erwachen” kam, im „Jenseits
zuerst nur eine „Grenzwelt” ertastet, die
seinen Vorstellungen und denen Gleich
gesinnter, entspricht, ‒ daß er aber erst
vollständig Herr seiner selbst im eigenen
Willen geworden sein muß, bevor er in
die ewige geistige Lichtwelt absoluter
Erfüllung emporgeführt werden kann. ‒
.Wir können auch keinen brauchen, der
nicht alle seine selbstsüchtigen Wünsche
aufgegeben hat, denn sein bloßes Dasein
126 Das Buch vom Jenseits
in der uns umschließenden geistigen Region
wäre schon gleichbedeutend mit ihrem Ver‐
sinken in Unordnung und Chaos, ‒ gesetzt,
es wäre möglich, daß ein solcher die höchste
Licht-Welt im Geiste ersteigen könnte.
.Vielleicht verstehst du nun, weshalb ich
betonte, daß wir hier alle eines Willens
sind, der sich in seiner Zielrichtung nicht
verändern kann...
.Wir sind im geistigen Reiche souve‐
räne Beherrscher des einzig Wirklichen ge‐
worden, ‒ durch die mit ihm verschmol‐
zene Einheit unseres Willens, in dem je‐
der Einzelwille nur noch als Allwille sich
wiederfindet...
.So wurden wir wissende Bildner der
höchsten und reinsten Erscheinungswelt im
Geistigen.
.Soweit in einem Zustand, der weder An‐
fang noch Ende kennt, da er immerdar zu
127 Das Buch vom Jenseits
gleich Beides selber ist, dennoch von „Voll‐
endung” gesprochen werden kann, wissen
wir, daß unsere Vollendung bedingt ist,
durch stetes bewußtes Gestalten und Erhalten
der höchsten und lichtklarsten Erscheinungs‐
welt im Geiste, die uns Stätte des Wirkens
wie Tempel der Anbetung wurde...
.Wir „sind” nichts anderes, als nur das,
was unser geeinter ewiger Wille will!
.Was man auf Erden und in der Rede
des Alltags „Wille” nennt, ist nur ein
Wünschen, ein Begehren, oder irgend
einer Neigung Ausdruck, bedingt durch
eine Gehirnfunktion.
.Würde der wirkliche ewige Wille des
Menschen auf der Erde den Wünschen
folgen, dann müßte sich jeder Wunsch und
jedes Begehren erfüllen.
.Dem ist aber nicht so, wie jeder weiß,
und wir können wahrlich dem Himmel
128 Das Buch vom Jenseits
danken, daß allhier nicht hinter jedem
Wunsch ein Wille steht...
.Auf der Erde „will” unser ewiger Wille
nur in der Beschränkung, die ihm die ge
wollte physische Anschauungsweise
auferlegt, auch wenn die Wünsche diese
Schranken nur zu oft und zu gerne über
fliegen möchten.
.Erst im Geistigen, ‒ in der anderen
Anschauungsform, ‒ kann unser Wille auch
anders wollen.
.Dort ist der Bann „diesseitiger” Hypnose
gebrochen und die anderen, in uns vor‐
handenen Möglichkeiten der Anschauungs‐
weise können sich offenbaren.
.Du wirst nun auch hier wieder sehen,
weshalb es so unsinnig ist, zu glauben, daß
dieser Erdenwelt Gestorbene sich „materiali‐
sieren” könnten, um mit den Irdischen in
Verkehr zu treten.
129 Das Buch vom Jenseits
.Das würde heißen, daß die der Hypnose
physischen Anschauungszwanges endlich Ent
rückten, aufs neue ihr verfallen könn‐
ten. ‒
.Selbst wenn es „naturgesetzlich” mög‐
lich wäre, würden sie solche Rückkehr
nicht mehr wollen können, da der Wille
längst nun sich selbst aus seinem hypno‐
tischen Bann befreite, ganz abgesehen da‐
von, daß die physisch-sinnliche Anschauungs‐
weise durch die Funktion der physischen
Sinnesorgane bedingt ist.
.Wie ich schon vordem sagte, ist alles,
was jemals in spiritistischen Seancen für
die „Materialisation” eines Gestorbenen
angesehen wurde, wie auch jede dort wahr‐
genommene physikalische Manifestation,
nur das Werk von Wesen, die zwar den
menschlichen physischen Sinnen für
gewöhnlich unwahrnehmbar bleiben,
aber dennoch zur physischen Natur ge‐
hören.
130 Das Buch vom Jenseits
.Ihr unsichtbarer Organismus ist keines‐
wegs „geistiger” Natur und sie können
nichts Geistiges wahrnehmen.
.Dagegen verfügen sie über hochent‐
wickelte Sinnesorgane in ihren, dem Er‐
denmenschen normalerweise unsichtbaren
physischen Körpern, ‒ Sinnesorgane die
zwar physischer Art sind und nur „dies‐
seitige” Anschauungsweise bewirken, aber
doch alle physischen Sinnesfunktionen des
Erdenmenschen außerordentlich übertreffen.
.Dazu kommt noch, daß diese Wesen auch
mit Sinnen begabt sind, die der Mensch der
Erde nicht besitzt, und nur ‒ so gut es
geht ‒ durch die Funktionen mechanischer
Apparate zu ersetzen sucht. ‒
.Die, irdischen Menschenaugen Unsicht‐
baren, um die es sich hier handelt, ‒ die
aber von manchen Tieren der Erde sehr
scharf wahrgenommen werden, ‒ sind im‐
131 Das Buch vom Jenseits
stande, für kurze Zeit und unter Benutzung
menschlicher Kräfte, Formen anzunehmen,
die auch den menschlichen physischen
Sinnen wahrnehmbar werden müssen.
.Die zeitweilige Erzeugung und Benutzung
solcher Formen wird bewirkt durch eine Art
Amalgamierung mit dem Willen gewisser
Menschen (der sogenannten „Medien”) bei
gleichzeitiger Benützung ihrer „Tierseele”.
.Die Bewohner des den Menschensinnen
nicht bewußt wahrnehmbaren Teiles der
physischen Erscheinungswelt sind in ge‐
wissem Sinne dem Menschen recht „ähnlich”,
aber es handelt sich weder um ehemalige
Menschen, noch können aus diesen Wesen
jemals Menschen werden.
.Es handelt sich vielmehr um Geschöpfe,
die dem menschlichen unsichtbaren phy‐
sischen Organismus ebenso nahestehen, wie
die irdische Tierwelt dem äußeren phy‐
sischen Menschen.
132 Das Buch vom Jenseits
.Das naturgewollte Wirkungsgebiet dieser
Wesen liegt in den inneren Bereichen des
organischen Aufbaues der physischen Welt.
.Die „Gnomen”, „Kobolde”, Erd-, Luft‐
und Wassergeister der alten Märchen und
Sagen sind, ‒ von sichtlichen Zugaben der
Volksphantasie abgesehen, ‒ zumeist ganz
so dargestellt, daß die Vermutung recht
nahe liegt, man habe es hier nicht mit
Erdichtungen zu tun, sondern mit Zeug‐
nissen realer erdenmenschlicher Erfahrung.
.Die Bezeichnung als „Naturgeister
darf jedoch nicht vergessen lassen, daß es
sich um physisch-sinnliche Wesen handelt,
denen die geistige Seite der ursächlichen
Welt nicht nur unzugänglich, sondern
nicht einmal für ihr Bewußtsein vorhan
den ist...
.Nur die Unkenntnis dieser naturge‐
gebenen Zusammenhänge läßt es als ent‐
schuldbar erscheinen, wenn Menschen ver‐
133 Das Buch vom Jenseits
muten oder gar glauben, in spiritistischen
Sitzungen mit Wesenheiten aus der gei
stigen Welt zu verkehren.
.Wohl ist es möglich, daß rein geistige
Wesenheiten, und mithin auch Gestorbene,
sich unter gewissen Umständen sichtbar
und vernehmbar machen können, ‒ allein,
du siehst und hörst sie dann durch deine
geistigen Sinne, auch wenn du mit phy‐
sischen Augen zu sehen, mit dem physischen
Gehör zu hören meinst.
.Niemals aber werden wirkliche Geist‐
wesenheiten irgendwelche physikalische
Kraftäußerung hervorbringen! ‒
.Damit du eine wirkliche geistige Wesen‐
heit durch deine geistigen Sinne wahr‐
nehmen kannst, ist es nötig, daß man dich
von geistiger Seite her vorübergehend aus
der „Hypnose” physisch-sinnlicher An‐
schauungsart befreit.
134 Das Buch vom Jenseits
.Deine unbeeinflußte Umgebung wird
dann weder die Gestalt sehen, die du er‐
blickst, noch eines der Worte hören, die
du vernimmst, und doch braucht es sich
bei deinem Erleben keineswegs um eine
„Halluzination” zu handeln, die ja nur ein
Erzeugnis deiner eigenen plastischen Phan‐
tasie wäre...
.Empfängst du ein echtes geistiges Er‐
lebnis, ohne es gesucht zu haben, so nimm
es ehrfürchtig hin und verwahre in deinem
Herzen, was du empfinden durftest!
.Töricht aber wäre es, dir solche Erleb‐
nisse etwa zu wünschen, denn es gehört
schon sehr hoch entwickelte Kritikfähig‐
keit dazu, echte Wahrnehmungen der gei‐
stigen Sinne sicher von lebhaften Hallu
zinationen zu unterscheiden, und du wirst
doch kaum erstreben, einen „Geist” zu
sehen, von dem du nicht wissen kannst,
ob er nicht gar dein eigenes, in einer Maske
agierendes Projektionsbild ist.
135 Das Buch vom Jenseits
.Die Fälle echter geistigsinnlicher Wahr‐
nehmung sind so überaus selten, daß man
gut tut, erst dann an eine tatsächliche Ein‐
wirkung aus geistigen Regionen zu glauben,
wenn schärfste Kritik die Möglichkeit
einer Halluzination unter allen Umstän
den ausschließt.
.Das zu beurteilen, lehrt aber nur reiche
Erfahrung, und ein sicheres Urteil steht
hier nur Menschen zu, deren geistige Sinne
schon dauernd erschlossen sind.
.Das sogenannte „Hellsehen” ist jedoch
nicht die Fähigkeit, geistige Gestaltungen
wahrzunehmen.
.Der „Hellseher” ist nur imstande, ihm
räumlich oder zeitlich ferne Dinge der phy
sischen Welt wahrzunehmen, ‒ zuweilen
auch mit Einschluß ihres unsichtbaren Be‐
reiches und der in ihm lebenden Lemuren‐
wesen, die ihm alsdann als „Geister” gelten.
136 Das Buch vom Jenseits
.Mag ein „Hellseher” auch die verblüf‐
fendsten Beweise seiner Wahrnehmungs‐
fähigkeit in der Fernschau, Rückschau,
oder Vorherschau erbringen, so handelt
es sich doch immer nur um ein Erschauen
innerhalb der physisch-sinnlich erkenn‐
baren Erscheinungswelt.
.Dort, wo er glaubt, Geistiges zu erblik‐
ken, berichtet er entweder von dem unsicht‐
baren Teil der physischen Welt, oder
aber von Dingen, die seine eigene plasti
sche Phantasie ihm vorspielt, wobei er,
guten Glaubens, alles Gesehene für objektive
Bezeugung der Geisterwelt hält.
.Seine Schauungen werden dann immer
deutlich die Färbung der Vorurteile und
Meinungen aufweisen, die ihn im Alltags‐
leben hier auf Erden beherrschen.
.Ist er Christ, so wird er von den hei‐
ligen Gestalten der Evangelien, oder von
kanonisierten „Heiligen” zu berichten
137 Das Buch vom Jenseits
haben, ‒ ist er in den Vorstellungen in
discher Religionssysteme aufgewachsen, so
wird er die Gottheiten des Brahmanismus,
in Tibet aber: die der Mahâyânaschule,
zu schauen glauben.
.Unzählige Wahnvorstellungen vom „Jen‐
seits” sind unter willigen Gläubigen durch
„Hellseher” verbreitet worden und finden
immer noch Anhänger, weil man naiver‐
weise aus der Bestätigung irgend einer Fern
oder Vorherschau schließt, daß dem „Hell‐
seher” auch geistige Gebiete erschlossen
seien.
.Das Organ des „Hellsehens” ist aber
nichts anderes als ein rudimentäres phy
sisches Sinnesorgan aus den Urzeittagen
der Menschheit auf dieser Erde.
.Als Beispiel von „Atavismus” findet sich
zuweilen dieses Sinnesorgan auch in Men‐
schen der heutigen Tage leidlich funktions‐
fähig ausgebildet vor.
138 Das Buch vom Jenseits
.Alles „Hell-sehen”, „Hell-fühlen
„Hell-hören” beruht auf der Möglichkeit,
dieses Sinnesorgan gebrauchen zu können.
.Hieher gehört auch die sogenannte „Psy‐
chometrie”, oder das Schauen der früheren
Schicksale eines Gegenstandes bei der bloßen
Berührung, sowie manche Spielart der Fähig‐
keit zum „Wahrsagen”, auch wenn dabei
ein Modus befolgt wird, der den eigent‐
lichen Vorgang, absichtlich oder ungewußt,
verschleiert.
.Damit du verstehen lernst, was das
„Jenseits” ist, wirst du drei Reiche im Kos‐
mos unterscheiden lernen müssen.
.Einmal das Reich der physisch-sinn‐
lichen Anschauungsart, oder die physische
Welt.
.Dann das Reich geistig-sinnlicher An‐
schauung, oder die Welt des Geistes.
139 Das Buch vom Jenseits
.Drittens aber das Reich der verborge
nen, ursacheschaffenden Kräfte des Ur
seins: ‒ das einzig Wirkliche, auf des‐
sen Auswirkung alle Anschauungsformen
und ihre Erscheinungswelten, sowohl auf
der geistigen wie auf der physischen Seite
des Kosmos, beruhen.
.Diese verborgenen, ursacheschaffenden
Kräfte des Seins wirken im Erdenmenschen
als seine „Seelenkräfte”.
.Einmal in einem Menschenleben zu zeit‐
weiliger Kollektivform kristallisiert, nehmen
sie gleichsam die individuelle „Färbung” des
Menschen an und werden durch den in ihm
sich manifestierenden ewigen Willen, für
alle weitere Zeit bestimmt, so daß sie dem
einmal empfangenen Impuls fortan folgen
müssen, bis er Erfüllung fand.
.Ist diese Erfüllung im Erdenleben des
Menschen, der den Impuls gab, nicht zu
finden, dann äußern sich die einmal nun
140 Das Buch vom Jenseits
nach bestimmter Richtung strebenden „See‐
lenkräfte” immer wieder in neuen Men
schenleben, bis sie zuletzt Erfüllung er‐
reichen, indem sie sich dem Willen, der sich
in einem Menschen manifestiert, verschmel
zen und mit ihm zur Einheit werden.
.Unrichtige Deutung dessen, was sie von
diesem Geschehen wahrzunehmen vermoch‐
ten, verführte die Völker des Ostens zu dem
Glauben an eine oftmalige „Wiedereinver‐
leibung” des Menschen durch Geburt auf
der Erde.
.Der Wahrheit nach ist aber solche Wieder‐
einverleibung, ‒ also ein Zurückfallen in
die Selbsthypnose physisch-sinnlicher An‐
schauungsart, ‒ nur möglich bei Menschen,
die bewußt und absichtlich selbst ihren Kör‐
per zerstören (was keinesfalls ein Werk des
ewigen Willens, sondern immer nur ein
Ausbruchsversuch des Wunsches ist! ‒ ‒)
ferner: bei Kindern, die starben, bevor der
ewige Wille Erfüllung seines Dranges zu
141 Das Buch vom Jenseits
physisch-sinnlicher Erfahrung fand, und drit‐
tens: bei Menschen in denen der Drang zu
solcher Erfahrung gleichsam in Hypertrophie
ausartete, so daß selbst der Tod des Erden‐
körpers nur für kurze Zeit die Selbsthyp‐
nose zu unterbrechen vermochte.
.Die Lehre von der Re-inkarnation ent‐
spricht also ebensowenig dem normalen
Geschehen, wie die Selbstentleibung, oder
der Tod im frühen Kindesalter als die allen
Menschen gesetzte Abschlußform des irdi‐
schen Lebens anzusehen sind...
.Wenn in dir „Erinnerungen” oder auch
nur leise Ahnungen auftauchen, die dir den
Glauben nahelegen, du könntest schon frü‐
her einmal ein Erdenleben durchlebt haben,
so ist es zwar möglich, daß dich solcher
Glaube nicht täuscht, und daß du selbst
ein Beispiel bildest zu einem der drei Son
derfälle, die allein eine Wiederverkörpe‐
rung zulassen, ‒ aber du wirst besser tun,
wenn du die Frage ruhen läßt, bis dir nach
142 Das Buch vom Jenseits
diesem Erdendasein dereinst im Geistigen
die einzig sichere Antwort wird.
.Das Gefühl, ehedem als eine von dir
verschiedene Individualität auf Erden
gelebt zu haben, ist immer und mit aller
Sicherheit eine Täuschung, denn in den
genannten drei Sonderfällen, die allein mehr‐
malige Verkörperung auf Erden erlauben,
bleibt auch in der neuen Einverleibung im‐
mer die gleiche Individualität in Erlebnis‐
bereitschaft ihrer selbst im Erdendasein.
.Dagegen ist fast von jedem innerlich
nicht ganz empfindungsträgen Menschen mit
Gewißheit anzunehmen, daß er in sich zu‐
weilen „Seelenkräfte” am Werke gewahrt,
die ihren Impuls von Menschen früherer
Zeiten empfingen und ihn nun zur Erfüllung
zu bringen suchen.
.Dann kann es sein, daß sich dem Men‐
schen der solches in sich erfährt, sehr leb‐
haft geformte Erinnerungsbilder zeigen,
143 Das Buch vom Jenseits
die dem Leben jener Menschen entstammen,
die voreinst den nun in einem neuen Men‐
schenleben tätigen „Seelenkräften” ihren Im‐
puls gegeben haben.
.Der Irrtum, dann zu glauben, man sei
selbst voreinst der gewesen, von dem diese
Erinnerungsbilder an Selbsterlebtes stam‐
men, ist zwar sehr leicht erklärlich, aber
doch nur durch allzu oberflächliche Erfahrung
zur Not zu stützen.
.Jeder einzelne Mensch ist eine ein
malige und einzigartige Emanation des
Urwillens, ‒ ist hervorgegangen aus dem
ewigen „ungeformten Meere der Gottheit”
um seine, von allen anderen Mitemana‐
tionen verschiedene, individuelle Formvol
lendung zu erlangen.
.Wer auf dieser Erde geboren wurde und
nun die Mühen, Bedrängnisse und Schmer‐
zen zu erdulden hat, die mit dem Dasein
im tierhaften Leibe untrennbar verbunden
144 Das Buch vom Jenseits
sind, der hat sich dieses Schicksal selbst
geschaffen, denn um des Daseins in dieser
physisch-sinnlichen Erscheinung willen, hat
er den Weg zu seiner Formvollendung im
Geiste selber unterbrochen.
.Zwangsläufig muß er früher oder später
zur Rückkehr kommen, um dann aufs neue
seiner geistigen Formvollendung zuzustreben.
.Je eher er schon in seinem Erdendasein
diese einzige Art, seine „Not” zu „wenden”
erkennt, desto mehr Förderung kann er
aus seinem Erdenleben für den weiteren
Verlauf des Vollendungsweges ziehen, ‒
desto leichter wird es, hier auf Erden schon
die Hindernisse zu beseitigen, die sonst zu
argen Hemmungen auf diesem geistigen Wege
werden können. ‒
.Wenn aber auch der Mensch in diesem
Erdendasein noch nicht zu eigenem be‐
wußtem Erleben mit seinen geistigen Sinnen
gelangt, so ist doch schon Bedeutsames er‐
145 Das Buch vom Jenseits
reicht, sobald er durch jene seiner Mitmen‐
schen, die bereits in solchem Erleben stehen,
mitteilungsweise über die wirkliche Ge‐
staltung des „Jenseits” orientiert wird, das
ihn nach seinem Erdentode erwartet.
.So, wie in der physisch-sinnlich wahr‐
nehmbaren Welt zwar die gleiche An
schauungsart erscheinungschaffend am
Werke ist, aber doch die Welt der Ameise,
oder die des Vogels, sich sehr wesentlich
von der deinen unterscheidet, so gibt es
auch gar mannigfache Unterschiede zwischen
den Welten der geistig-sinnlich wahrneh‐
menden Wesen.
.Es gibt unzählige geistige Welten, so
wie es unzählige Welten physisch-sinnlicher
Erscheinungsform gibt!
.chste Formvollendung aber findet
der individualisierte ewige Wille erst dann,
wenn er sein individuelles Wollen, ohne
jeglichen Rest einer Sonderstrebung, dem
146 Das Buch vom Jenseits
Allwillen zu einen vermag, im innersten
Reich des Geistes: ‒ dem Reiche der ur‐
sachesetzenden ewigen Wirkungskräfte des
Seins: ‒ in der Lichtwelt des einzig Wirk
lichen...
.Darüber hinaus gibt es für den Men‐
schengeist nichts, denn diese erhabenste
aller Welten ist zeitlich, räumlich, und ihren
Erfüllungsmöglichkeiten nach unendlich.
.Soweit das „unbegrenzte” Sein, das
„uferlose, unergründliche Meer der Gott‐
heit”, dem durch die Formung des Wil
lens bestimmten und darum begrenzten,
‒ obgleich „unendlichen”, ‒ Bewußtsein
zugänglich ist, wird es in dieser höch
sten Lichtwelt allein, in jedem der all‐
hier geeinten ewigen Willen, seiner selbst
bewußt. ‒ ‒
.Was ich dir in diesen drei Abhand‐
lungen zu erklären suchte, schließt alles in
147 Das Buch vom Jenseits
sich ein, was der Mensch auf Erden und
während dieses Erdenlebens erfassen kann
vom innersten Mysterium seines Daseins,
hier wie in der anderen Welt, die nach
dem Erdentode ihn erwartet.
.Alles übrige, was man dir über das
Jenseits” erzählt, ‒ mag es phantastische
Erfindung überhitzten Glaubens sein, oder
gedankliche Spekulation, ‒ ist: graue
Theorie und wesenloses Hirngespinst!
.Du sollst aber nicht an irgend ein „Welt‐
bild” glauben, nur weil es auch andere Gläu‐
bige fand, denn nicht eher wird deine Seele
im Frieden sein, als bis sie sich wiederer‐
kannte: ‒ als Selbstbezeugung des ein
zig Wirklichen.
148 Das Buch vom Jenseits
WAS IST ZU TUN?
.In den drei Büchern: „vom lebendigen
Gott”, „vom Jenseits”, und „vom Men
schen”, gab ich die erste ausführliche Be‐
schreibung des innerlichen Weges, den jeder
einschlagen muß, dem es im Herzen ernst
ist, seine Geistnatur in sich selber finden
zu wollen.
.Ich habe gezeigt, was der Mensch, der
diesen Weg beschreitet, zu tun, und was
er zu unterlassen hat.
.Trotzdem wurde ich immer wieder ge‐
fragt: „Was sollen wir nun tun? ‒ Wie
sollen wir anfangen?”
.Aus der Fassung und Motivierung aller
dieser Fragen ist klar zu ersehen, daß man
präzise Vorschriften erwartet um danach
151 Das Buch vom Jenseits
eine alltäglich zu wiederholende, möglichst
mysteriöse „Übung” auszuführen, die zum
Ziel führen soll, wenn man sie mehr oder
weniger „mechanisch” befolgt.
.Es geht mir hier aber, den also Fra‐
genden gegenüber, wie manchem Arzte, der
nur die einfachsten natürlichen Heilmittel
verordnet, und seine Patienten unbefriedigt
läßt, weil er kein „Rezept” verschreibt...
.Die meisten dieser Fragenden und Frag‐
seligen waren vorher auf den von ihnen ein‐
geschlagenen Wegen in das Labyrinth mo‐
derner „theosophischer” oder „okkultisti‐
scher” Literatur geraten und hatten sich nur,
dank ihren gesunden Instinkten, aber doch
ziemlich mühevoll, wieder herausgefunden.
.Dennoch hatte solches Irren die Suchen‐
den in gewisser Weise gefördert, denn es
gibt keinen Irrtum, der nicht auf Umwegen
doch zur Wahrheit führen könnte.
152 Das Buch vom Jenseits
.Darum soll keiner die Zeit seines Irrens
verfluchen”, denn er ahnt vielleicht nicht,
was er ihr zu danken hat. ‒
.So ist auch das Durchtasten des Laby‐
rinths „theosophischer”, „anthroposophi‐
scher”, oder „okkultistischer” Glaubens‐
lehren für keinen der endlich Befreiten
ganz nutzlos gewesen.
.In vielen wurde durch ihr tastendes
Suchen die Überzeugung begründet, daß
hinter all dem Irrtum der vernommenen
Lehren doch irgend eine Wahrheit ver‐
borgen sein müsse.
.In anderen wurde die Ahnung erweckt,
daß die Sage von den sogenannten „Mahât‐
mas”, ‒ den mysteriösen, angeblichen Be‐
gründern der neueren „Theosophie” ‒ nur
entstehen konnte, weil der Orient von der
Existenz geistvereinter Männer weiß, die
zwar nicht Zaubereien aller Art verüben,
wie man sie den erwähnten phantasiege‐
153 Das Buch vom Jenseits
borenen Fakiren zuschrieb, aber dafür wirk
lich im Geistigen bewußt und heimisch
sind, schon während ihres Erdenlebens.
.Allerdings nahmen aber auch die mei‐
sten Suchenden aus den genannten laby‐
rinthischen Irrgärten den törichten Glauben
mit, daß es nur der Kenntnis einer geheim‐
gehaltenen, sicher sehr mysteriösen „Tech‐
nik” bedürfe, um durch deren Ausübung
dann aus einem Alltagsmenschen alsbald zu
einem „Seher höherer Ordnung”, einem
„Eingeweihten”, ja gar einem „Meister”
geistigen Wirkens zu werden.
.So richtig die beiden erstgenannten
Annahmen sind, so falsch ist natürlich
dieser hier zuletzt erwähnte Glaube!
.Gewissenlose Charlatane und geschickte
Seelenfänger aber benützen ihn, und gaben
ihren Schülern allerlei mehr oder weniger
bedenkliche Anweisungen aus alten mysti‐
154 Das Buch vom Jenseits
schen Schriften, wobei die „Geheimlehrer”
zumeist selber nicht ahnten, welche Wir
kungen die getreue Befolgung dieser Vor‐
schriften auszulösen vermag.
.Der Schüler aber glaubt sich auf rechtem
Wege, denn er sieht ja, daß durch Befol‐
gung der ihm gewordenen Anweisungen tat‐
sächlich gewisse Resultate zu erlangen sind,
von denen sich landläufige Seelenkunde
nichts träumen läßt, ‒ trotz allem psycho‐
logischen Forschen und allem Aushorchen
des „Unterbewußten” im Menschen.
.Mancher der „Geheimlehrer” mag nur
seiner Eitelkeit fröhnen, wenn er An‐
weisungen zu vermeintlicher „Eröffnung
innerer Sinne” weitergibt, die er aus irgend
einem alten Pergamentband ergrub, und die
nichts anderes eröffnen, als die trüben Mo‐
dergrüfte, in denen eine aktive Form
spiritistischer Medialität gedeiht, deren
Züchtung man mit Fug und Recht gewissen
asiatischen Gauklern überlassen sollte. ‒
155 Das Buch vom Jenseits
.Der Herr „Geheimlehrer” braucht kei‐
neswegs selbst an die Wirksamkeit seiner
Anweisungen zu glauben.
.Wie ein „Bazillenträger” selbst gesund
sein kann, und doch die furchtbarsten
Krankheitskeime verbreitet, so ist es auch
keineswegs nötig, daß der Verbreiter von
Methoden zur vermeintlichen „Eröffnung
innerer Sinne”, darüber unterrichtet ist,
daß er nur die Entwicklung aktiver spiri
tistischer Medialität in seinen armen
Opfern fördert. ‒
.Den Schülern solcher Schädlinge ver‐
schiedenen Grades aber wird es leicht ge‐
macht, moderner wissenschaftlicher Kritik
zu begegnen, denn sie können jedem Wort
der gelehrten Kritiker entnehmen, wie ah
nungslos diese höchst achtbaren Forscher
auf einem Gebiet experimentieren, das eine
Fata Morgana hinter der anderen aufweist,
um den seiner selbst so gewissen Experi‐
mentator immer tiefer in die Wüste zu
156 Das Buch vom Jenseits
locken, je sicherer sein Glaube wird, nun
der endgültigen Antwort auf seine Fragen
ganz nahe” zu sein. ‒ ‒
.Man würde den Versuch neuerer Psy‐
chologie, gewisse recht fragwürdige, soge‐
nannte „übersinnliche” Erscheinungen end‐
gültig entwerten zu wollen, gewiß nur
begrüßen können, wenn dieser Versuch sich
nicht selbst entwerten würde, durch die
jedem Kundigen sofort auffallenden fal
schen Folgerungen, die aus zweifellos
richtig beobachteten Vorgängen seitens der
Forscher gezogen werden. ‒
.Auch unantastbar reiner Drang nach
Wahrheitserkenntnis wird im Irrtum enden,
wenn Vor-Urteile den Sucher der Wahrheit
gebunden halten!
.Die Folge ist, daß die kritikunfähige,
im Nebel krauser Vorstellungen tastende
Gemeinde schlauer Seelenfänger längst ver‐
157 Das Buch vom Jenseits
lernt hat, Wahrheit in Erkenntnissen der
Wissenschaft zu suchen, ‒ statt dessen
aber sich von jedem Eulenspiegel gerne
imponieren läßt, wenn er nur versteht,
seinen bunten Plunder als angebliche „Ge
heimwissenschaft” zu vermarkten...
.Ist dann noch gar nach seiner „Methode”
die erwähnte mediale Entwicklung zu
erzielen, dann hat er gewonnenes Spiel, und
man glaubt ihm aufs Wort, wenn er in ge‐
heimnisvollen Andeutungen zu verbreiten
weiß, daß er die Wiederinkarnation irgend
eines erhabenen Menschengeistes der Vor‐
zeit sei.
.Für jeden, der meine Warnungen mit
einiger Einsicht liest, dürfte es längst klar
sein, daß ich die dabei charakterisierten
alten und neuen „Methoden” alle genaue‐
stens kenne, ‒ daß es mir aber auch ein
leichtes wäre, darüber hinaus noch so manche
Wege zu sogenannter „Übersinnlicher Ent‐
158 Das Buch vom Jenseits
wicklung” anzugeben, von denen keiner
der sonderbaren Heiligen etwas wußte, die
in der neueren Zeit ihren Anhängern als
Eingeweihte” und „Geheimwissen
schaftler” galten.
.Es gibt da Möglichkeiten, Resultate zu
erzielen, die nicht nur den besten Schülern
solcher „Geheimlehrer” als unerreichbar
erscheinen müßten, sondern auch der scharf‐
sinnigsten psychologischen Kritik einiges
zu raten aufgeben würden.
.Wäre es nicht unsühnbares Verbrechen,
die hier in Rede stehenden gefährlichen
Wege auch nur andeutungsweise zu zei‐
gen, dann könnte ein Hinweis vielleicht dazu
führen, manches aufzuklären, was sich vor‐
läufig noch durch kein psychologisches Expe‐
riment und keine metapsychische Forschung
entschleiern läßt.
.So herzlich gerne ich aber auch der
Wissenschaft diesen Dienst leisten würde,
159 Das Buch vom Jenseits
bin ich doch dazu außerstande, und das
nicht nur aus dem schon angegebenen
Grunde, wie um der Verpflichtung willen,
die mich, gleich allen meinen geistigen
„Brüdern” für Zeit und Ewigkeit bindet,
sondern auch deshalb, weil es sich hier um
ein Gebiet handelt, dessen berechtigtes Be‐
treten vom Menschen mehr verlangt als
nur „wissenschaftlichen Forschungseifer”...
.Es ist wohl kaum nötig, zu betonen, daß
hier anderes in Frage steht, als die längst
hinlänglich bekannten „Hata-Yoga-Übun‐
gen” und die aus ihnen abgeleiteten „Metho‐
den”, gewisse Fakirwunder zu vollbringen!
.Aber wenn ich auch in keiner Weise
verpflichtet wäre, würde ich dennoch
mich niemals dazu verstehen können, das
aus so triftigen Gründen Verborgengehaltene
zu enthüllen, denn ich weiß zu gut, welches
Unheil dann unvermeidbar durch die Hände
Machthungriger angerichtet würde.
160 Das Buch vom Jenseits
.Mich gelüstet aber keineswegs nach einem
„Prometheusschicksal”, wie ich ihm un‐
weigerlich verfallen müßte, wollte ich zum
verantwortlichen Urheber solchen Unheils
werden.
.Zur Erlangung der geistigen Vereini
gung mit dem Urlicht, ‒ zum Erwachen
der geistigen Natur des Menschen aus
ihrem Schlafe, ‒ zu dem, was erhabene
Erkenntnis die „Wiedergeburt” nannte,
‒ sind die hier gemeinten Kenntnisse
weder nötig noch nützlich.
.Wie alle Künste, die auf einer Möglich‐
keit der Anwendung hoch gespannter, gemein‐
hin unbekannter psycho-physischer Kräfte
beruhen, haben auch die, von denen hier
gesprochen wird, nicht das mindeste zu
tun mit der Erweckung und Entfaltung des
ewigen Geistmenschen.
.Was zu dieser Erweckung und Entfal‐
tung gefordert wird, ist in erster Linie eine
161 Das Buch vom Jenseits
kontinuierlich beibehaltene Einstellung des
ganzen Denkens, Fühlens und irdischen
Wollens auf das zu erstrebende Ziel.
.Der ganze irdische Mensch muß sich
aus eigener Kraft erst selbst allmählich
umgestalten, bevor ihm geistige Hilfe zu‐
teil werden kann.
.Es nutzt wenig oder nichts, diese Ein‐
stellung nur hin und wieder vorzunehmen,
so wie der Fromme einer Gemeinde alle
sieben Tage einen Tag gewohnheitsmäßig
seinem Gotte weiht...
.Jede Minute des weiteren Lebens,
jede alltägliche Handlung, jeder auf
tauchende Gedanke, jeder Wunsch und
jeder Impuls des irdischen, gehirnbe
dingten Willens muß hinfort unter dem
formenden Einfluß der geforderten Ein‐
stellung stehen, wenn der Mensch, der diesen
Weg einmal betreten hat, zu wirklichen
162 Das Buch vom Jenseits
und nicht nur eingebildeten Erfolgen
kommen soll.
.Periodisch auszuführende „Übungen”
könnten im besten Falle nur in einem wie‐
derholten Aufraffen zu vertiefter Empfin
dung solcher Einstellung bestehen.
.Alles, was in dieser Hinsicht empfohlen
werden mag, hat nur den einen Zweck, die
neue Einstellung allen Sinnens und Trach‐
tens im Bewußtsein wachzuerhalten, so daß
sie keinen Moment mehr vergessen werden
kann.
.Wird aber diese Einstellung wirklich
dauernd festgehalten, so daß sie das ganze
Leben des Alltags wirksam bestimmt, ‒
einerlei durch welche, der individuellen Ei‐
genart angepaßten Hilfsmittel man das er‐
reicht, dann erfolgt bald alles weitere ‒
„von selbst”, d.h. ohne unser bewußtes
Zutun.
163 Das Buch vom Jenseits
.Es bildet sich dann in einem solcher‐
art gefestigten Menschen ein Kräftezen
trum, das zu immer größerer Wirkung
kommt und zuletzt die geistige Verbindung
mit den schon vollendeten ähnlichen
Kräftezentren hier auf Erden herstellt, ohne
daß es dazu eines besonderen Willensaktes
bedürfte.
.Sobald diese Verbindung möglich ist,
erhält der Suchende die geistige Hilfe derer,
die bereits gefunden haben, und die nun
keine höhere Pflicht kennen, als überall dort
zu helfen, wo man ihre geistige Hilfe auf
zunehmen vermag, einerlei ob sie im Be‐
wußtsein schon empfunden werden kann,
oder noch nicht.
.Der Suchende ist dann gleichsam zu einem
„Empfangsapparat” geworden für eine ge‐
wisse Art von geistigen Einstrahlungen die
allerdings nur innerlich wahrzunehmen,
aber nicht durch wissenschaftliches Ex
periment zu erfassen sind.
164 Das Buch vom Jenseits
.Die Wirkungen aus dem Reiche substan‐
tiellen Geistes sind nur durch Innewerden
zu erfahren und können niemals fremder ge‐
lehrter Untersuchung Material zu gedankli‐
cher Definition bieten, denn es handelt sich
hier um Lebendiges, das sich sofort zurück‐
zieht, wo auch nur der leiseste Versuch ge‐
macht wird, es zu betasten. ‒
.Man glaube aber ja nicht, daß man im
Handumdrehen ein solcher „Empfangsap‐
parat” werden könne!
.Wer bei den Ewigen zur Lehre angenom‐
men werden will, der muß sich selber in
den Werkschurz der Geduld zu kleiden
wissen...
.Auch der intensivste, irdisch erzeugte
Wille, ‒ der als bloße Äußerung von Ge
hirnfunktionen sehr genau von dem im
Menschengeiste sich manifestierenden sub
stantiellen ewigen Willen zu unterschei
165 Das Buch vom Jenseits
den ist, ‒ vermag die Entfaltung der gei‐
stigen Aufnahmeorgane nicht zu beschleu‐
nigen.
.Ein verbissenes, „eigensinniges”, hirn‐
gezeugtes „Wollen” stört nur den Kristal‐
lisationsprozeß der hier in Betracht kom‐
menden Kräfte, die zu einem neuen Kräfte‐
zentrum zusammenschießen sollen, das den
Gehirnfunktionen dann nicht unterworfen
ist. ‒
.Je konsequenter aber die hier immer
wieder bezeichnete innere „Einstellung
des ganzen Menschen festgehalten wird, ‒
wie ein Fernrohr eingestellt bleiben muß
auf das Beobachtungsobjekt, ‒ desto eher
kann der Zeitpunkt erreicht werden, der
den Suchenden auch in fühlbaren Kontakt
bringt mit seinen geistigen Helfern.
.Das praktische Verhalten des Suchen‐
den in seinem täglichen Leben ist allein
maßgebend, ‒ nicht etwa das Befolgen oder
166 Das Buch vom Jenseits
Nichtbefolgen von „Übungen” irgendwelcher
Art.
.Es soll jedoch damit nicht gesagt sein,
daß man sich nicht etwa einer beson
deren Form geistiger Versenkung in
periodisch wiederkehrender Folge hingeben
dürfe, wenn man bemerkt hat, daß dadurch
auch das Verhalten im Alltagsleben die er‐
wünschte Sicherung der Einstellung aufs
Geistige erfährt.
.Ist der Suchende in hinreichenden Kon‐
takt mit seinen geistigen Helfern gekommen,
dann erfolgt zuerst eine Art Prüfung seiner
Kräfte, und je nach deren Ausfall wird die
weitere geistige Einwirkung auf ihn „abge‐
stimmt”.
.Die Skala möglicher geistiger Einstrah‐
lungen beginnt mit der bloßen Verstär
kung der Eigenkräfte des Suchenden und
reicht hinauf bis zu persönlicher geistiger
Führung.
167 Das Buch vom Jenseits
.Bei den Wenigen, die schon vor ihrer
irdischen Geburt unter solcher Führung
stehen, da sie sich zu „Meistern” geistigen
Wirkens auf der Erde vollenden sollen,
kommt es zuletzt zu völliger geistiger Ver‐
schmelzung mit dem Führer, obwohl dieser
vielleicht in einem fernen Weltteil lebt, so
daß der Schüler nicht mehr begriffliche
Lehre empfängt, sondern alles miterlebt,
was im Geiste (nicht etwa dem „Gehirn
bewußtsein”!) seines Lehrers vorgeht.
.Die Absicht des „Meisters” gewisse in
ihm lebendige geistige Vorgänge auch sei
nem Schüler empfindbar zu machen, ge‐
nügt, damit der Schüler diese Vorgänge so
wahrnimmt, als erfolgten sie in ihm selbst,
obwohl er zweifelsfrei weiß, auf welche
Weise er zu solchem Miterleben kommt.
.Da der „Meister” für seine Individua‐
lität, die Vereinung mit dem „Urlicht”
längst erreicht hat, so erlebt der Schüler
diese Vereinung zuerst in der Verschmel
168 Das Buch vom Jenseits
zung mit der durchlichteten Seele seines
Lehrers.
.Allmählich wird dann der Schüler reif
dazu, die Vereinung mit dem Urlicht selbst
ständig zu erreichen.
.An diesem Ziele angelangt, steht er
nicht nur im Bewußtsein seiner eigenen
geistigen und ewig unzerstörbaren In‐
dividualität, sondern empfindet in sich auch
gleichzeitig das Bewußtsein aller Indivi‐
dualitäten im Geiste, die jemals zur Offen‐
barung in einem Menschenbewußtsein ka‐
men...
.Der so Vollendete gewahrt sich mit allen
in gleicher Weise zur Vollendung Gelangten
verschmolzen zu einem ihm neuen Ge
meinschaftsbewußtsein, dem nichts auf
Erden Bekanntes vergleichbar ist.
.Sein eigenes individuelles Bewußtsein
ruht in diesem gemeinsamen Bewußtsein
eingebettet.
169 Das Buch vom Jenseits
.Niemals jedoch kann das individu‐
elle Bewußtsein des Vollendeten etwa in
dem Gemeinschaftsbewußtsein „aufgelöst”
werden.
.Das einzelne Individuum lebt in die‐
ser Verschmelzung für alle Ewigkeit das
Leben des Ganzen, alle anderen Indivi‐
dualitäten dieses Ganzen durchdringend
und selbst von ihnen durchdrungen,
ohne daß eine der so geeinten Individu‐
alitäten des Geistes jemals ihr durch sich
selbst bestimmtes Eigendasein verlieren
könnte.
.Absolute Gewißheit in Bezug auf das
Fortbestehen des menschlichen Bewußtseins,
das über den Tod des irdischen Leibes hin‐
aus, ewig in geistiger Anschauungsform
sich erlebt, gibt es naturgemäß nur für
die Wenigen, die das hier aufgezeigte
Ziel in ihrem Erdendasein schon erreicht
haben.
170 Das Buch vom Jenseits
.Alle anderen Menschen sind nur auf
Mutmaßungen oder die Beruhigung
durch eine Glaubenslehre angewiesen, ‒
wenn sie nicht vorziehen, doch lieber den
Mitteilungen der wenigen unter ihren Mit‐
menschen zu vertrauen, die bereits zu Leb‐
zeiten auf Erden auch „das Leben nach dem
Tode” aus eigener Erfahrung kennen.
.Die echten Zeugnisse solcher, die wirk
lich, und nicht nur im Rausch der Ekstase,
oder gebannt durch irgend eine Form der
Hypnose, dieses Ziel erreichten, sind einer
unbefangenen, durch kein Vor-Urteil ge‐
bundenen Kritik sehr wohl unterscheid
bar von den phantastischen Konstruktionen
irrer Schwärmer oder dichterisch begabter
Phantasten.
.Unter allen Völkern kann man die
echten Bekundungen Jenseitsbewußter fin‐
den, und zu allen Zeiten lebten einzelne
Menschen, die vom Leben im Geiste wahren
Bericht zu geben hatten.
171 Das Buch vom Jenseits
.Das Kleid, in dem ein solcher Bericht
sich verhüllt, mag nach der Mode der Zeit
zugeschnitten sein und die Farbe des in ihr
allein anerkannten Glaubens zeigen, ‒
aber wer sich hier nicht mit dem Anblick
allein zufriedengibt, der faßt in allen die‐
sen Gewändern immer wieder den Men
schen und des Menschen allertiefstes Er‐
leben: ‒ das Einsgewordensein mit
dem Quellgrund allen Seins der Ewig
keit und allen Daseins in allen Be
reichen von Raum und Zeit.
.Wer einmal begriffen hat, was der Hö‐
henweg von ihm will, den meine Schriften
ihm zeigen, und zu welchem Ziel auch der
Wenigtaugliche auf diesem Wege schon
gelangen kann in diesen Erdentagen, der
wird fürderhin nicht mehr die Frage an
mich richten, was er denn „tun” solle, und
als Antwort die Bekanntgabe einer seltsamen
„Übung” erwarten.
172 Das Buch vom Jenseits
.Er dürfte erkannt haben, daß es sich hier
um unermeßlich Höheres handelt als um
wundersame „Fakirkräfte”, ‒ um unermeß
lich Höheres als die bestaunenswertesten
„Wunder des Okkultismus”, ‒ und um
unermeßlich Höheres als die mit natur‐
wissenschaftlichen Erkenntnisfetzen skurril
verbrämten „Geheimlehren” hirngefesselter
Konventikel...
.Wenn ich auch genötigt bin, ‒ um
wenigstens von denen verstanden zu wer‐
den, die am meisten in Gefahr sind, ‒ an
schon Bekanntes, und zuweilen auch an
die Terminologie des Orients anzuknüpfen,
so wie sie durch „theosophische” Schriften
alltagsbekannt geworden ist, so wird doch
der Tieferschürfende bald herausfinden,
daß ich von Dingen rede, von denen bis‐
her nur recht verzerrte Bilder Kunde
gaben.
.Auch der gelehrte Orientalist, der alle
bis heute zugänglichen Texte des Ostens
173 Das Buch vom Jenseits
kennt, wird darin nur verschleierten
Hinweisen auf das Verborgene begegnen,
denn die alten, heilig gehaltenen Schriften
waren ausnahmslos für Menschen geschrie‐
ben, die bereits „von Mund zu Ohr” ge
heime Belehrung erhalten hatten.
.Die Gestalter der alten religiösen Bücher
mengten mit Absicht nüchterne Berichte,
Chroniken oder Erzählungen, die nicht
das Mindeste an verborgener Lehre ent‐
halten, unter die Niederschriften, die nur
dem dafür Vorbereiteten verstehbar sein
sollten, während der bloße wörtliche Sinn
oft das Gegenteil von dem besagt, was die
Kundigen dem gleichen Schriftteil entneh‐
men konnten.
.Die Lehren, denen ich hier zum Sprecher
werde, sind überdies auch, selbst in ver
hüllender Form, nur äußerst selten, und
dann immer nur bruchstückweise auf‐
gezeichnet worden.
174 Das Buch vom Jenseits
.Die Handschriften aber, in denen diese
Bruchstücke vereint zu finden sind, wer‐
den auch heute und in künftiger Zeit nie
mals Unberufenen zugänglich sein, und
„unberufen” ist hier jeder, der noch nicht
auf geistige Weise in sich erfahren hat,
was lapidar, als „Kanon” gedacht, in diesen
Handschriften als erfahrungsmöglich dar‐
gestellt erscheint.
.Bis vor kurzem wurden seitens der
wenigen Menschen, die diese Lehren leben
und sie darum auch „lehren” können, ur‐
alte Vorschriften streng respektiert, die eine
öffentliche Weitergabe auch nur so weniger
Andeutungen, wie ich sie zu geben nun
verpflichtet bin, unter allen Umständen
untersagten.
.Erst eine Milderung der rigorosen Auf‐
fassung jener Vorschriften konnte die öffent‐
liche Darlegung dieser Lehren im hier ge‐
175 Das Buch vom Jenseits
gebenen Zusammenhang möglich machen,
nachdem die erhabenen Lenker der gei‐
stigen Hierarchie, deren niederste Stufe
ihre wenigen Glieder auf unserem Planeten
bilden, diese mildere Auslegung, als dem
Wohl der Zeit entsprechend, angeordnet
hatten.
.Wer das, was ich nun öffentlich lehre,
erfassen will, der wird die Meinung auf‐
geben müssen, als handle es sich hier um
eine neue Abart irgendwelcher Glaubens‐
lehren, oder gar um Werbung für eines der
Systeme östlicher Philosophie.
.Wer Spuren des Erkennens, dem ich
diene, in der Menschheitsgeschichte zu fin‐
den sucht, der wird sie gewiß zu finden
wissen.
.Am reinsten war dieses Erkennen in
Menschen lebendig, zur Frühzeit antiker
Mysterienkulte.
176 Das Buch vom Jenseits
.Geübten Ohren sprechen allerdings die
Stimmen aller Jahrhunderte eine deut‐
liche Sprache, und es kostet nicht allzuviel
Mühe, um festzustellen, daß der Ausgangs
ort dieser hier vorliegenden Erkenntnis‐
bezeugung bis in die neueste Zeit weithin
wirksam war auf der Erde, als inspirato‐
rische Quelle für jede Menschenvereinung,
deren erhabenstes Ziel die Erreichung höch
ster Menschenwürde bildete, oder auch
heute noch bildet. ‒
.Vieles wäre hier zu sagen, was zurzeit
nicht besprochen werden kann, weil es Dinge
betrifft, die von denen selbst gefunden wer‐
den müssen, die das hier Verschwiegene
angeht.
.Wer immer aber die Früchte ernten
will, die im Garten der hier vorgetragenen
Lehren wachsen, der muß sein ganzes
Leben zu einer immerwährenden „Übung”
machen!
177 Das Buch vom Jenseits
.Das neue Leben, das er finden will,
ist bereits in seinem Alltagsleben enthalten,
‒ nur vermag er das ihm Neue nocht nicht
zu erkennen. ‒
.Er hat nicht nötig, sich von „Geheim‐
lehrern” übelwirkende „Übungen” auftragen
zu lassen, denn sein alltägliches Leben ist
selbst die wirksamste, wirklich geistige
„Übung”, die ihm das ewige Urlicht täg‐
lich neu zur Bearbeitung gibt. ‒
.Im alltäglichen Leben, ‒ in aller
einfachster Form und ohne jede my
steriöse Geste, ‒ wird er im Laufe der
Zeit seine ihm erreichbare Vollendung hier
auf Erden finden, ‒ niemals aber in „esote‐
rischen Schulen” und überheblichen Zirkeln
angeblicher Eingeweihter die ihre Unver‐
frorenheit die Rolle geistiger „Lehrer” spielen
läßt, und denen man nur Vergebung er‐
bitten kann, weil sie nicht wissen, was
sie tun...
178 Das Buch vom Jenseits
.Die geistige Vollendung verlangt den
ganzen Menschen!
.Körper” und „Seele” sind bei der
Erstrebung dieser Vollendung niemals ge
trennt zu empfinden!
.Es gibt kein „Körperliches”, das nicht
zugleich ein „Seelisches” wäre, und es
handelt sich nicht um „Vergeistigung” des
Körpers, sondern um die irdisch mögliche
und irdisch faßbare Verkörperung des
ewigen Geistes durch die Kräfte der
Seele. ‒ ‒
.Die den Körper verachten und den
noch in das Reich des wesenhaften ewigen
Geistes zu gelangen hoffen, finden statt
dessen nur ein neues Reich der Illusion!
.Vom Körper aber wird verlangt, daß er
glauben” lerne an das in ihm verborgene
ewige, überpersönliche „Ich”, dem er Dar
stellung werden soll.
179 Das Buch vom Jenseits
.Das ewige, geistgezeugte „Ich” ist die
reine Quelle der geistigen Kräfte im Men‐
schen der Erde, aber der Körper ist der
Schöpfeimer, um diese Kräfte aufzuneh‐
men und heraufzuholen ins irdische Leben.
.In diesem ewigen „Ich” finden wir uns
selbst, so wie wir ewig sind im Ewigen!
.Nur in diesem innersten „Ich” finden
wir den allumfassenden ewigen, substan
tiellen Geist!
.In deinem, dich selber erzeugenden „Ich
allein findest du deinenlebendigen
Gott! ‒
.Nicht durch Verstand und reiche Schrift‐
gelahrtheit” wird das Höchste erlangt, was
Menschen zu erlangen vermögen!
.Die geistige Vollendung ist eine Aus‐
wirkung des Lebens, ‒ nicht etwa Er‐
arbeitung des messerscharfen Denkens!
180 Das Buch vom Jenseits
.Es gibt wahrlich etwas, das nur mit dem
Verstande erlangt werden kann.
.Dieses soll man zu erdenken suchen
um es zu „wissen”!
.Alsdann aber erhebt sich der Weise
über das Wissen, bis er denken lernt, wie
Kinder denken! ‒
.Nicht „kindisch” sollst du denken ler‐
nen, sondern erneut zur Einheit des Den
kenden und des Gedachten kommen.
.In solcher Einheit hast du voreinst, als
du ein Kind warst, deine ersten Gedanken
gefaßt, und in gleicher Einheit nur lassen
sich die letzten und höchsten Gedanken
denken.
.So, wie dein frühestes Denken sein Ma‐
terial nicht „erdachte”, sondern in erster
irdischer Erfahrung fand, so muß dir zuletzt
deine geistige Erfahrung die Bausteine
181 Das Buch vom Jenseits
liefern, mit denen du deiner Erkenntnis
hohen Dom überwölben sollst...
.Dann hast du dein Erdenleben nicht
umsonst durchlebt und nicht fruchtlos sein
Leid durchlitten!
.Sicher in deinem „Diesseits” geborgen,
wirst du dein „Jenseits” getrost erwarten
können, ‒ schon heute gewiß deines
ewigen Lebens im göttlichen Licht!
182 Das Buch vom Jenseits
ENDE
DIE
WEISHEIT
DES JOHANNES
Verlagslogo
KOBERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASEL
Um den Forderungen des Urheberrechts zu entsprechen,
sei hier vermerkt, daß ich im zeitbedingten Leben den
Namen Joseph Anton Schneiderfranken führe, wie ich
in meinem ewigen geistigen Sein urbedingt bin in den
drei Silben:
BÔ YIN RÂ
Copyright by
Kober'sche Verlagsbuchhandlung Basle 1952
Druck: Conzett & Huber, Zürich
INHALT Seite
Einführung 7
Das Bild des Meisters 25
Des Leuchtenden Erdenweg 41
Der Ausklang 69
Die Sendschrift 87
Die reine Lehre 103
Der Paraklet 139
Schlußwort 153
Originalscan
EINFÜHRUNG
AUS ALLEM DIESEM FOLGET, OO
DASS ICH EUCH DAS TESTA‐ OO
MENT JOHANNIS ABER UND OO
ABERMAL EMPFEHLE, DESSEN OO
INHALT MOSEN UND DIE OO
PROPHETEN, EVANGELISTEN OO
UND APOSTEL BEGREIFT...
GOETHE AN HERDER
20. FEBRUAR 1786
I
VERBORGENER Ströme glocken‐
tiefes Rauschen tönt stetig fort
durch die Jahrtausende, und aller
Lärm des lauten Tages kann dieses tiefe
Rauschen nicht vor denen bergen, die es
hören wollen.
Zwar sind die Ohren derer, die den Lärm
erzeugen helfen, fast taub geworden, so
daß sie nur noch hören können, was mit
schrillen Lauten sie zuallernächst umtost;
allein, zu jeder Zeit gab es denn doch
auch Menschen, die sich den lauten Märk‐
ten fernehielten und in stiller Mitter‐
nacht den heilig ernsten, fernen Klängen
lauschten, die aus Urseinstiefen sich ver‐
nehmen lassen.
Zu Zeiten aber werden diese Wenigen zu
Vielen, und ihre Ohren werden so ge‐
schärft, daß sie die urgrundfernen Klänge
selbst im wildesten Getöse ihrer lärm‐
11 Die Weisheit des Johannes
berauschten Umwelt deutlicher emp‐
finden als den grellen Lärm, der sie daran
zu hindern sucht.
Wir leben im Anbruch einer solchen
Zeit!
Tagtäglich mehrt sich die Zahl der Hören‐
den!
Sie stört nicht mehr das heisere Schreien
der Jahrmarktsrufer, nicht das Brüllen
wilder Tiere noch das Kastagnettenklap‐
pern toller Tänzer, und lächelnd über‐
hören sie das Schellenklingeln bunter
Narrenkappen.
Sie hören nur den einen, heilighehren
Glockenton ‒ hören allein auf das stete
klangtiefe Rauschen der Ströme der
Ewigkeit ‒ und suchen räumlich wie
zeitlich in Nähe und Ferne ihresgleichen:
suchen Menschen, die bekunden können,
12 Die Weisheit des Johannes
daß auch sie das gleiche tiefe Rauschen
allerorten hören.
Müde sind heute die Besten aller bloßen
Weisheit der Gehirne.
Längst lockt die Akrobatik des Gedan‐
kens nur noch junge Greise oder alte
Kinder.
Die geistreichen Schlüsse pfauenstolzer
Klügler gelten kaum noch als billige
Scheidemünze unter der ewig kindischen
Menge, und man erhandelt nur zu‐
weilen noch damit ihre Gunst, so wie der
Seefahrer die Gunst der Wilden gewinnt
durch bunte Gläser und glitzernde Per‐
lenschnüre.
Wer aber, dem Erwachen nahe, des
Erdenlebens Wert in Tat und Wirken
sucht, der verlangt nach anderer Er‐
kenntnis: verlangt nach einem Inne
13 Die Weisheit des Johannes
werden sicherster Gewißheit, die
nicht schon morgen wieder Ungewiß
heit wird ‒ der nicht die Resultate
fremder Forschung früher oder später
ihre Fundamente unterwühlen können.
Zu allen Zeiten gab es Menschen, denen
solche Gewißheit wurde.
Sie wird nicht erschlossen und nicht
erklügelt, und keines Menschen Hirn
kann sie erdenken!
Nicht Reichtum äußeren Wissens ist
vonnöten, um sie zu erhalten!
Wer du auch sein magst und wie hoch
man auch dein Wissen werte ‒ Ge
wißheit wirst du eher nicht erlangen,
als bis du lernst, der schillernden Viel‐
fältigkeit deines Denkens zu entsagen!
Du hast aus «Gedankengängen» ein
14 Die Weisheit des Johannes
Labyrinth dir geschaffen, in dem du
dich selbst verloren hast.
Du kannst dich nur wiederfinden, wenn
du zurück zum Eingang dieses Laby‐
rinthes findest ‒ dorthin zurück, wo
einst dein Denken einfach war wie
eines Kindes Denken!
Auch die Menschen ferner Vorzeit kamen
anders nicht zu Weisheit und Erkenntnis.
Es leuchtet heute noch das gleiche
Licht, davon man staunend Kunde bei
den alten Sehern findet; allein, wenn du
im Dunkel der Gedankengänge dich
ergehst, wirst du es leichthin leugnen
können, da sich seine Strahlen dorthin
nicht ergießen.
Die Alten waren zu Zeiten wahrlich weit
mehr «Herren der Erde» als diese neue‐
ren Geschlechter, die sich durch ihr Er‐
15 Die Weisheit des Johannes
klügeln und Ersinnen stolzerfüllt die
Kerkermauern selber aufeinandertürm‐
ten, die ihnen dann den Blick in die Un‐
endlichkeit verbauten...
Mit sicheren Instinkten wußten sie zu
sichten und zu sondern und nahmen
voller Ehrfurcht jeweils in Besitz, was
ihre Ahnen ihnen darzubieten hatten als
unvergängliches, gewisses Weisheitsgut.
So konnte aus der alten Tempel Trüm‐
merstätten stets das Heilige gerettet wer‐
den, und mochte auch in jedem neuen
Sanktuarium ein neues Kultbild sich er‐
heben, so blieb es letzten Endes doch
der gleichen Gottheit hüllendes
Symbol und war den Eingeweihten sol‐
cherart vertraut.
Die Menschen des nun schwindenden
Geschlechts jedoch ‒ die selbst weit
16 Die Weisheit des Johannes
tiefer, als sie ahnten, durch gar mannig‐
fachen Aberglauben wateten, und die ihr
Wähnen, Meinen und Vermuten
anmaßlich als Wissen proklamierten ‒
sahen in jedem Gottesbilde alter Zeiten
nur den «Götzen», sahen in seinem Kulte
nur der Alten «Aberglauben» und be‐
merkten nicht, daß neben jedem Gottes‐
kulte tiefgeheime Weisheit schreitet,
die freilich nur den Mündigen allein
sich offenbart. ‒ ‒
So ist denn auch die alte Sendschrift, die
man das «Evangelium Johannis»
nennt, gar Vielen in den jüngstvergange‐
nen Tagen und wohl auch noch in dieser
heutigen Zeit zu nicht viel mehr als
einem Märchenbuch geworden, an‐
gefüllt mit poesiegetränkten Zeugnissen
längst überlebten Aberglaubens...
17 Die Weisheit des Johannes
Allmählich frei nun von der Furcht, das
«Wort der Schrift», das früher als
ein Werk des Geistes Gottes galt,
auf seine zeitliche und erdgebo
rene Gestaltung hin zu prüfen, hatte
man der alten Heidenlehren Spur darin
gefunden, und da man weiterhin ent‐
deckte, daß auch das wundersame Gottes‐
menschenbild des alten Buches mancher
alter Götterbilder Züge in sich eint, so
ward den Neueren ‒ soweit sie sich nicht
«Christen» nennen ‒ des ganzen Buches
Inhalt: frommes Hirngespinst.
Viel mochte dazu beigetragen haben, daß
man die alte Kunde nur in einer Form
besitzt, die allzudeutlich zeigt, daß vieler
Überformer törichtfrohe Arbeit ihr erst
die Gestaltung gab, die sie nun trägt.
Verderblich war es auch, daß man in
alter Zeit schon darauf ausgegangen war,
18 Die Weisheit des Johannes
diese «Sendschrift» als ein Werk des
Jüngers, den der Meister «liebte»,
darzustellen, und somit alles tat, um sie
den älteren Berichten anzugleichen,
die von des hohen Meisters Erdenleben
‒ Wahrheit und Dichtung nach Gefal‐
len ineinandermengend ‒ legendenhafte
Kunde bringen.
Man konnte so nicht mehr erkennen, daß
dieses alte Buch ‒ einst über ein Men‐
schenalter nach des Meisters Tod ent‐
standen ‒ wohl jene Sagenkunden von
des hohen Meisters Erdenwallen nutzte,
daß aber sein ursprünglicher Verfasser
wahrlich anderes erstrebte, als der
alten Wunderbücher Zahl zu mehren.
Hier ist nun darzulegen, daß die alte
Sendschrift, die einst frühe Überformer
dem «Johannes», den der Meister
19 Die Weisheit des Johannes
«liebte», zugeschrieben haben, die
Schrift eines «Wissenden» ist, der für
seine Getreuen schrieb, die längst «von
Mund zu Ohr» von einer Lehre
wußten, die wahrlich «frohe Bot
schaft» allen war, die sie dereinst er‐
reichte.
Aus gleichem gesicherten Wissen ist hier
auszusprechen, daß jener, der die Send‐
schrift erstmals niederschrieb, noch im
Besitz von alten Schriften war, die in
getreulicher Abschrift Worte aus des
hohen Meisters eigenen Send
schreiben gaben, wie sie der Jünger
Johannes nach des Meisters Tode in
Verwahrung nahm und seine eigenen
Schüler davon Abschrift nehmen ließ.
Des weiteren ist hier zu sagen, daß der
Jünger, den der Meister «liebte», als ein
ziger unter den «Aposteln» um die tief‐
20 Die Weisheit des Johannes
sten Dinge wußte, die zu seines Meisters
Sendung in Beziehung standen.
Nach des Meisters Tode aber sammelte
er um sich die Wenigen, die da von
Anfang an die Lehre geistig faßten.
Als er dann selbst gestorben war, erhielt
sich dennoch die Vereinigung dieser we‐
nigen Getreuen, verwahrend tiefes, ge‐
heimes Wissen, das sich dem äußerlichen
Kultkreis nie bequemen konnte, der sich
alsbald gerundet fand als Frucht der Pre‐
digt jener anderen Jünger, von denen
sich der Auserwählte schon gar bald nach
seines Meisters Tod in wachsender Ent‐
fernung stets gehalten hatte, so sehr auch
die Legende, die der äußere Kult
sich schuf, bemüht ist, ihn den Ihren
eng verbunden zu erweisen.
Den Nachfolgern dieser Schüler des
Apostels ‒ die aber sehr zu unter
21 Die Weisheit des Johannes
scheiden sind von des Täufers Jün‐
gern, der den gleichen Namen trug:
Jehochanan ‒ galt die Sorge dessen,
der die Schrift geschrieben hat, von der
ich hier zu reden haben werde.
Ihnen war wahrlich nicht zu kommen mit
jenen Wundersagen, die heute sich
in dem der Nachwelt dargebotenen und
überaus verdorbenen Buche finden, auch
wenn aus diesen Wundersagen manches
spricht, das Nachgeborenen das Bild des
Meisters hellen kann.
Sie wußten von einem Geisteswun
der, das alle Wundersagen der Berichte
weit in Schatten stellte, und dieses
Geisteswunder kannten sie aus eigenem
Erleben. ‒ ‒ ‒
So sehr sie aber auch des hohen Meisters
Lehre, wie sie durch Johannes einst
verstanden worden war, als heiligstes Ver‐
22 Die Weisheit des Johannes
mächtnis hüteten, so trugen sie doch
keineswegs Bedenken, wo immer sie in
Lehren ihrer Zeit verborgener Wahr
heit Fäden fanden, solche Wahrheit
auch dem Tempelvorhang einzuweben,
der in ihren Sanktuarien das Geheimnis
wahrte vor profanen Blicken.
Nur wenn man dieses alles wohlbeachtet,
ist auch heute noch ‒ trotz aller frem‐
den Hände, die des ersten Schreibers Nie‐
derschrift verdarben ‒ das bruchstück‐
haft Erhaltene dem inneren Werte nach
zu fassen, soweit es töricht enger Kor‐
rektur schon in der ersten Zeit entging.
So aber auch ist zu verstehen, daß der
Dichter diese Sendschrift über alle an‐
deren alten Glaubenskunden stellt, wäh‐
rend neuere Forschung allen Scharf‐
sinn aufzubieten sucht, um durch den
wild überwachsenen Garten der Erkennt‐
23 Die Weisheit des Johannes
nis, den sie lichten soll, auch nur einen
leidlich gangbaren Weg zu bahnen. ‒ ‒
Und fragt man mich nun, aus welchem
Wissen ich mir selbst Gewißheit holte,
das in diesem Buche Darzulegende vor
aller Mit- und Nachwelt zu vertreten, so
muß ich als Erstes den Irrtum im Keime
zerstören, als gäbe ich hier etwa Früchte
eigenen «Erforschens».
Die Wege, die hier zur Gewißheit
führen, sind so eng und steil, daß jedes
eigene Gepäck, und sei es auch ein Schatz
des Erdenwissens höchster und sublimster
Art, zurückgelassen werden muß, soll
nicht der Fuß auf diesen Höhenpfaden
straucheln. ‒
Es gibt ein «Wissen», das allein von
diesen Dingen mit Gewißheit wissen
kann!
24 Die Weisheit des Johannes
Hier sind «Beweise» denen nur erlang‐
bar, die seit der Urzeit solche Art zu
«wissen» pflegen und den Bestä
tigten in jedem Menschenalter weiter‐
geben, was sie selbst auf gleiche Art er‐
langten: ‒ die Fähigkeit des Wis
sens aus der Selbstverwandlung,
wobei der Wissende zum Wissen aus
dem Gegenstand des Wissens wird. ‒
Aus solchem Wissen aber rede ich.
Ich will Gewißheit geben und weiß,
daß anders Gewißheit nicht erlangbar ist.
Es liegt mir ferne, zum Glauben an meine
Worte überreden zu wollen.
Wer da ergründen will, ob ich der Wahr
heit Wort und Stimme leihe, suche in
sich selbst ‒ in seinem Allerinner‐
sten ‒ Bestätigung.
Er wird nicht vergeblich seine Zeit dar‐
auf verwenden, das, was ich ihm zu zei‐
25 Die Weisheit des Johannes
gen habe, so zu sehen, wie ich es ihm
zeigen muß...
Zuweilen mag es also scheinen, als ob
ich von dem Gegenstande dieses Buches
mich zu weit entferne, und auch Wieder‐
holung wird sich kaum vermeiden lassen.
Es ist nicht meine Absicht, nach System
und Regel zu verfahren.
Die alte Sendschrift, die den Namen
des «Johannes» trägt, soll hier nicht
etwa einen Kommentar erhalten.
Es gilt hier nur, die reine Lehre auf‐
zuzeigen, deren Kenntnis der Schreiber
bereits voraussetzen durfte bei sei‐
nen Getreuen.
Und weiter will ich hier dem Irrtum
steuern, daß die alte Sendschrift glei
cher Glaubensmeinung Zeugnis sei wie
die drei älteren Berichte über des
26 Die Weisheit des Johannes
«Gesalbten» Leben, denen man in alter
Zeit sie schon zur Seite stellte, nachdem
sie dafür zubereitet worden war.
Es wird auch nötig werden, hier so man‐
ches Textwort nun in helleres Licht zu
stellen, als wenn es nur des Beispiels
halber oder als ein Mittel der Verstän
digung beiläufige Erwähnung finden
sollte, wo es denn füglich auch in her
kömmlicher Lesart und Bedeutung
seinem Zweck entsprochen hätte.
So möge nun die hohe Weisheit, die
trotz aller späteren Verdunkelung noch
aus dem alten Texte strahlt, den man das
«Evangelium Johannis» nennt, ein
Leitstern werden allen Suchenden, ‒
ein Leitstern, der ihnen den Weg
zum Geiste erhellt! ‒
*
27 Die Weisheit des Johannes
DAS BILD DES MEISTERS
BEKENNERN seines Namens einst
zum Gotte geworden, und denen,
die das Tiefste seiner Lehre nie er‐
faßten, eine Beute erdenferner Phanta‐
sie, ward späterer Zeit der hohe Meister,
der die «frohe Botschaft» brachte, in
einem Bilde überliefert, das nur in dürf‐
tigster Kontur noch schwache Spuren
seiner erdenhaften Züge zeigt.
Und doch muß jedem, der des hohen
Meisters wahre Liebe fassen will, zu‐
erst die irdische Erscheinung des
«Gesalbten» deutlich werden, will er
nicht Phantasiegebilden sich er‐
geben und in weichlich frommen Träu
men sich berauschen.
Er, von dem man das Wort berichten
konnte:
«WAS NENNST DU MICH GUT?
NIEMAND IST GUT, AUSSER GOTT!»
31 Die Weisheit des Johannes
‒ wie wäre er im Innersten er
grimmt, hätte jemals einer derer, die
ihm nahe waren, es gewagt, ihm göttliche
Ehren zu erzeigen und ihn einen Gott
zu nennen...
Und wie er die Wechsler und Verkäufer
aus den Tempelhöfen ihres Gottes trieb,
so hätte er jeden «mit einer Geißel aus
Stricken» davongejagt, der ihm gesagt
haben würde: «Meister, auch dir wird
man einst Tempel bauen!» ‒ ‒ ‒
Er war sich wahrlich seiner geistigen
Würde wohlbewußt, so sehr er dann zu
Zeiten auch sich klein und zaghaft fühlen
mochte.
Wo wäre auch der Mensch zu finden, der
stets nur im Bewußtsein seiner ganzen
Kraft und seines höchsten Wertes
sich bekundet hätte?! ‒
32 Die Weisheit des Johannes
Ist sein Bewußtsein überlichtet in der
hohen Geisteseinung mit dem «Vater»,
den das Urwort aus dem Urlicht
offenbart ‒ dem großen «Alten», der im
«Anfang» ist: dem Menschen der
Ewigkeit in seiner urgegebenen Zeu‐
gung ‒, dann wird sein Wort «gewal
tig», und er fühlt sich über alles Irdische
emporgehoben. ‒ Der Leuchtende
des Urlichts zeigt sich dann in seiner
höchsten Geistesmacht. ‒
In Stunden erdenhafter Bindung aber
scheut er keineswegs davor zurück, auch
seine tiefste Seelenangst zu offen‐
baren, und seine hohe Einsicht droht ihn
scheinbar zu verlassen.
«MEINE SEELE IST JETZT IN BE‐
DRÄNGNIS. WAS SOLL ICH SAGEN?
VATER, RETTE MICH AUS DIESER
STUNDE!»
33 Die Weisheit des Johannes
Er entzieht sich keineswegs dem Um
gang mit anderen Menschen, auch
wenn sie durchaus nicht seine Anhänger
sind: ist fröhlich mit den Freudigen
und trauert mit den Betrübten.
Sein Mitgefühl macht ihn zum Schützer
der Armen und Unterdrückten, zu
denen er selbst gehört; aber gleichzeitig
wird er manches Reichen und Vor
nehmen Freund.
Gern nimmt er Gastfreundschaft
an, selbst dort, wo er weiß, daß man
kaum an seine Sendung glaubt und ihn
nur geladen hat, um einen so seltsamen
Gast zu sehen.
Wo immer er Güte des Herzens fin‐
det, ist er voll des liebendsten Verstehens;
nur Heuchelei und Herzenshärte
läßt ihn böse Worte finden.
Er drängt seine Lehre keinem auf; doch
34 Die Weisheit des Johannes
wo er fühlt, daß man nach ihr ver
langt, auch wenn man sie bewußter‐
weise noch nicht kennt, dort gibt er,
was die Hörer ‒ seiner Meinung nach ‒
wohl fassen sollten.
Er geht nicht auf Ehrungen aus; aber
wenn man ihn ehrt, so fühlt er sich
aller Ehrung wert, und wenn ein
enger Geist unter seinen Begleitern über
Verschwendung zetert, weil kostbare Salbe
dazu dienen muß, des Meisters Füße zu
erfrischen, statt daß man sie verkaufte,
um der Armen Not zu lindern, so
spricht er in Gelassenheit das Wort:
«ARME HABT IHR ALLEZEIT
BEI EUCH, MICH ABER HABT IHR
NICHT ALLEZEIT.»
Wobei er keineswegs ‒ wie die
spätere Auslegung will ‒ den baldigen
Tod vor Augen sieht, sondern lediglich
35 Die Weisheit des Johannes
daran denkt, daß er nicht oft an dem
gleichen Orte weilt.
Nichts Menschliches war ihm fremd, und
er wußte gar wohl um den Kampf der
Geistnatur im Menschen mit des
Menschentieres schwer besiegbaren
Gelüsten.
«IHR VERURTEILT NACH DEM
SCHEINE, ICH ABER VERUR
TEILE NIEMANDEN; DENN AUCH
DER VATER VERURTEILT KEI
NEN
Von seiner Sendung durchdrungen, er‐
klärt er: man möge den «Tempel» ‒ die
herrschende Priesterlehre ‒ stürzen, und
«in drei Tagen» wolle er sich erkühnen,
ihn wieder «aufzubauen».
Die ihn so sprechen hörten, wußten sehr
36 Die Weisheit des Johannes
genau, wovon er sprach, auch wenn sie
diese Worte wohlverwahrten, um ihn der
Tempellästerung dann schuldig zu
befinden.
Doch läßt er sich gerne auch mißver
stehen, wo er weiß, daß alle Erklärung
ihm doch nicht das Verstehen bringen
würde, das er sucht. ‒
Im vollen Bewußtsein seiner geistigen
Sonderstellung unter den Menschen sei‐
ner Zeit kann er selbstherrlich sagen:
«IHR SEID VON UNTEN, ICH
BIN VON OBEN.
IHR SEID AUS DIESER WELT,
ICH ABER BIN NICHT AUS
DIESER WELT
Aber er wußte auch wie keiner derer,
die ihm nahe waren, woher ihm seine
hohe Würde kam ‒ wußte um seine jahre‐
37 Die Weisheit des Johannes
lange geistige Schulung, ‒ wußte um
das harte Ringen in sich selbst,
dem er endlich die Gewißheit dankte,
aus der er nun zu sprechen und zu
lehren hatte, «anders als die Schrift‐
gelehrten». ‒
Das hohe Mysterium seiner Sendung war
nur wenigen bekannt, und selbst die
Wenigen erfaßten es nicht, bis auf den
Einen, den er «liebte».
Nur dieser Eine wußte auch um seines
Meisters geistigen Werdegang und um
die tiefste Begründung seines Rech‐
tes, zu lehren.
Als nach des Meisters Tode dann «die
Herde sich zerstreute», sammelte dieser
Jünger um sich, was seiner Artung war,
und gab sein Wissen denen weiter, die
in seiner Schulung sich bewährten.
38 Die Weisheit des Johannes
Erst eine spätere Zeit, die längst den
äußeren Kult im steten Wachsen sah,
der aus vorhandenen alten Riten sich ge‐
staltet hatte und aus dem Bilde des hohen
Meisters sich den Kultgott schuf,
sprengte den kleinen Kreis der Geisti
gen, die von Johannnes einstens aus‐
gegangen waren.
Als «Ketzer» gebrandmarkt, gingen sie
in der Verborgenheit unter, und mit ihnen
das Bild des Meisters, der nie in
seinem Leben sich als «Messias» aus‐
gegeben hatte und es als Schändung sei‐
ner selbst betrachtet hätte, sich auf die
gänzlich anders zu verstehenden Pro‐
phetenworte zu beziehen, in denen
Spätere, nach seinem Tode, ihn
«vorherverkündet»
wähnten. ‒
*
39 Die Weisheit des Johannes
DES LEUCHTENDEN
ERDENWEG
HIER wird mir Auftrag nun und
Pflicht, des hohen Meisters
Werden aufzuzeigen, der ‒
so verborgen auch sein Dasein der Ge
schichte blieb ‒ durch jene sagenhaf‐
ten Kunden seines Lebens und den Kult,
der alter Götterlehren dunkle Mystik
unter seinem Namen neu erblühen ließ,
zu einem Zeichen des Widerspruchs
wurde bis auf den heutigen Tag.
Ich werde hier berichten, was dem Schau‐
enden sich zeigt, der aus Gewißheit
künden kann, was äußerem Erfassen
längst entzogen ist.
Geboren zu Nazareth in Galiläa ‒
nicht etwa «Nazoräer» nur genannt nach
einer mystischen Sekte ‒, wurde er von
seinem Vater schon im zartesten Kindes‐
alter samt der Mutter mit nach Ägypten
43 Die Weisheit des Johannes
genommen, allwo zu jener Zeit gerade das
Handwerk des Vaters gut gelohnte Arbeit
fand. Aus dem, was so tatsächlich einst
geschehen war, wurde später die sagen‐
hafte «Flucht nach Ägypten». ‒
Nach wenigen Jahren dann: zurückge‐
kehrt zu seinem Heimatort, half er, so‐
bald er halbwegs herangewachsen war,
seinem Vater bei der Arbeit und lernte
so, fast noch im Spiel, die ersten Hand‐
reichungen tun, soweit sie seinen Kräften
angepaßt erscheinen mochten.
So wurde er schon in früher Jünglings‐
zeit des Vaters Gehilfe, wurde ein Zim
mermann, was in jenen Zeiten heißen
wollte, daß er nicht nur bauen lernte,
was aus Holz zu bauen ist, sondern auch
alles gröbere Haus- und Ackergerät aus
Holz zu fertigen wissen mußte. Zum Er‐
werben auch nur der geringsten äußeren
44 Die Weisheit des Johannes
Gelehrsamkeit war weder Zeit vorhan‐
den, noch entsprach es Sitte und Ge
wohnheit, daß ein armer junger Hand‐
werksmann nach derlei Dingen strebe.
Erst als sein geistiger Entwicklungs‐
gang ‒ von dem ich nun zu künden
haben werde ‒ längst vollendet war,
erlernte er durch Anleitung gelehrter
Freunde, die er dann gewonnen hatte, die
Kunst des Schreibens in den Zeichen
seiner Muttersprache.
Mit seiner geistigen Entfaltung aber
ging es also zu:
Vom Vater hatte er nur die Gebete ge‐
hört, die jeder fromme Jude zu beten
pflegte.
An jedem Sabbat hörte er die übliche
Erklärung des Gesetzes, das von
den Alten überkommen war.
45 Die Weisheit des Johannes
Auch hier war ihm, der selbst nicht in
den Schriften lesen konnte, nur sehr
weniges erschlossen.
Wohl aber ward ihm schon seit früher
Jugend, wenn er müde von der Arbeit,
aber nicht im Geist ermüdet, wachend
noch auf seinem armen Lager ruhte, ge‐
heimnisvolle geistige Belehrung, die er
selbst den Eltern streng verborgen hielt,
durch die er aber mehr und mehr die
Weisheit des Gesetzes zu erkennen
glaubte, die ‒ wie er meinte ‒ jene
Anderen erkannten, die in den Schriften
selbst zu lesen wußten.
Wohl verriet er sich dann und wann,
wenn er die Älteren in der Gemeinde, am
Sabbat oder an den hohen Festen, über
Fragen des Gesetzes reden hörte und aus
der inneren Belehrung her die rechte
46 Die Weisheit des Johannes
Antwort fand, so daß die spätere Legende,
die den Knaben zu Jerusalem im
Tempel unter Schriftgelehrten
lehrend zeigt, im Grunde doch auf wirk‐
lichem Geschehen baut, wenn auch die
Tempelpriester zu Jerusalem gewiß nicht
diese ersten Hörer seiner Weisheit waren.
Die erste Begegnung mit einem der
«Leuchtenden des Urlichts», de‐
ren hoher Bruder er später werden sollte,
da er der Artung nach zu ihrem Kreis
gehörte, längst bevor er durch das
irdische Auge das Licht der Erdensonne
sah, wird ihm in seinen späteren Jüng‐
lingsjahren schon zu Capernaum, wo
er zu jener Zeit in wochenlanger Arbeit
bei Verwandten seines Vaters lebte und
einen Auftrag seines Vaters auszuführen
hatte.
47 Die Weisheit des Johannes
Noch wußte er vorerst nicht, wer jener
war, der da in abendlicher Feierstunde
ihm am See begegnet war, den er dann
oftmals wieder an der gleichen Stelle traf
und der ihm mehr und mehr das Herz
zu öffnen und den Blick ins Innerste des
Seins zu hellen wußte.
Bald aber mehrten sich Begegnungen
von gleicher Art, so daß es ihm kaum
noch absonderlich erschien, von diesen
offenbar dem gleichen Kreise Zugehören‐
den so aufschlußreiche Lehre zu emp‐
fangen; nur hielt er alles sehr geheim, da
es ihm also aufgetragen worden war. So
hatte er mehrere Jahre zugebracht im
steten Wachsen seiner inneren Erkennt‐
nis, als einer der Männer, die er nun wie
alte Freunde kannte, wenn er auch in
Ehrfurcht sich vor ihnen neigte, ihm einst
die Eröffnung machte: es sei nun für ihn
48 Die Weisheit des Johannes
an der Zeit, eine geregelte Schulung
zu beginnen, obwohl er dadurch keines‐
wegs von seiner Hände Arbeit abgehalten
werde.
Als Zweck der Schulung wurde ihm be‐
zeichnet, daß er durch sie befähigt wer‐
den solle, nicht nur selbst die Weisheit
des Gesetzes bis ins Letzte zu erkennen,
sondern daß er Anderen auch alsdann
die gleiche Weisheit zeigen könne, damit
die Vielen, die nach einer Seelenspeise
in den Schriften suchten, nicht nur der
Schriftgelehrten dürre Auslegung
erhielten, die ähnlich sei, als wenn ein
Hungernder nach Brot verlange und
man reiche ihm einen Stein.
Von da an stand er nun bewußt unter
kontinuierlicher geistiger Leitung derer,
zu denen er dem Wesen nach gehörte.
Sein Tagwerk konnte ihn nicht hindern,
49 Die Weisheit des Johannes
diese Schulung durchzuführen und jede
Prüfung zu bestehen, die sie von ihm
forderte.
Sobald er zu straucheln begann oder
angstvolle Zweifel ihn bedrohten, trat
einer seiner Lehrer unvermerkt stets
wieder ihm zur Seite, stärkte seinen Glau‐
ben und verscheuchte die Dämonenwelt,
die vordem ihn in Schrecken setzen
wollte.
In jahrelanger Geistesschulung war er
endlich so herangereift, daß ihm die
letzten Schuppen von den Augen fielen
und er selbst sich nun in seiner hohen
Sendung sah.
In klarer Sternennacht, auf einer Felsen‐
höhe nahe seinem Wohnort, erhielt er
seine Weihe als ein Meister der Licht
erkenntnis, als ein Liebender im
50 Die Weisheit des Johannes
Lichte, als ein Leuchtender unter
Leuchtenden...
Nun wußte er sich selbst als «Weg»,
‒ nun wußte er sich selbst als
«Wahrheit», ‒ nun wußte er sich
selbst als «Leben» aus der Sonne
aller Sonnen, aus dem Lichte, das die
Ewigkeit erhellt. ‒
Von diesem Tage an begann er nun von
dem, was ihm geworden war, auch Ande‐
ren aufs deutlichste mitzuteilen.
Nun sprach er im Bewußtsein seiner
inneren Berechtigung und suchte an
der Hand der alten Schriften, die ihm
geistig jetzt erschlossen waren, den tief‐
sten Sinn der alten Seherworte aufzu‐
zeigen, obwohl er noch sein Handwerk
weiter trieb wie ehedem.
Seine Zuhörer aber staunten sehr über
51 Die Weisheit des Johannes
seine Rede und wußten sich nicht zu er‐
klären, woher denn ihm, dem Ungelehr‐
ten, solches Wissen komme.
So unerhört erschien den Freunden und
den Anverwandten die Verwandlung sei‐
nes Wesens, daß sie ihn, trotz aller Tiefe
seiner Worte, «von Sinnen» wähnten
und er sich schließlich nicht mehr in der
Heimat halten konnte.
So zog er denn von dannen, um sich an
anderem Orte, wo man ihn nicht kannte,
durch seiner Hände Arbeit zu ernähren
und durch sein Wort die Seelen zu er‐
wecken. Aber wohin er auch kam, konnte
nicht seines Bleibens sein; denn man hörte
ihn Dinge sagen, die nie gesagt worden
waren, und die Schriftkundigen waren
voll des Neides darüber, daß viele ihm
mehr zu glauben schienen als ihnen.
Nun irrte er geraume Zeit umher, bis er
52 Die Weisheit des Johannes
sich wieder nach Capernaum wandte,
das ihm lieb geworden war. Es hatte
sich ja dort die erste Begegnung einst
ereignet mit einem seiner hohen Brüder,
die ihm auch jetzt Verheißung gaben,
daß er allda die gesuchte Ruhe finden
werde.
Dort in Capernaum sollte ihm nun die
Freundschaft eines begüterten Mannes
werden, der ihn mit Freuden aufnahm
und begeistert seinen Reden lauschte.
Im Hause dieses Mannes fand er dann
auch andere, gelehrte Freunde, und in
diesem Zufluchtsorte lernte er durch sie
seiner Sprache Schriftzeichen lesen und
schreiben.
Das Ansehen, das er hier bei den
Wohlgeachteten genoß, hatte allmählich
ringsum seinen Ruf verbreitet.
53 Die Weisheit des Johannes
Da nun in jener Zeit das Volk des Glau‐
bens war, daß ein solcher Weiser auch
über geheime Künste verfüge, durch die
er alle Krankheit heilen könne, so
kam bald dieser und bald jener in des
vornehmen Mannes Haus und bat, daß
der weise Rabbi ihn heile.
Anfänglich widersetzte sich der Meister
solchem Begehren und schickte die Kran‐
ken zu den Ärzten.
Dann aber mehrte sich der Ansturm, und
von Erbarmen erfaßt, ging er zu den
Kranken hinaus, um sie zu trösten. Aber
es geschah, daß viele von denen, die er
berührt hatte, schon bald darauf sich
geheilt fühlten, so daß der Meister zu‐
erst selbst nicht wußte, was er von sol‐
chen Dingen halten sollte.
Es war ihm aber fernerhin nicht mehr
möglich, sich den Bitten der Kranken zu
54 Die Weisheit des Johannes
entziehen, die nichts von ihm verlangten,
als daß er sie nur berühren möge.
Selbst von weit her wurden Kranke zu
ihm gebracht, und der Glaube an seine
«Wunderkraft» erstarkte mehr und mehr.
Bekannte sich nachher einer als geheilt,
so betonte stets der Meister selbst, daß
nur sein eigener Glaube ihm geholfen
habe.
Auch verbot er jedem strenge, von seiner
Heilung weiterzuerzählen, da er dem An‐
drang kaum mehr sich gewachsen fühlte.
Im Laufe der Zeit jedoch erkannte er,
daß ihm eine Kraft des Heilens inne‐
wohne und daß nicht der Glaube der
Geheilten nur allein ihrer Heilung Ur‐
sache war.
Zwar konnte er nicht alle Krankheit
heilen; aber der Geheilten Zahl ward
trotzdem täglich größer.
55 Die Weisheit des Johannes
Geraume Zeit des Tages brauchte er, um
allen die Hände aufzulegen, die er heilen
sollte.
Bis spät in die Nacht aber fand er Zu‐
hörer um sich versammelt, die seiner
neuen Gesetzesauslegung lauschten, und
unter diesen fand er auch die Ersten, die
ihm geeignet schienen, seine besonderen
Schüler zu werden.
Ihnen allein aber suchte er zu offen‐
baren, woher ihm selbst seine Weis‐
heit geworden war.
Lange schon hatte er erkannt, daß er
nun kaum mehr sein Handwerk weiter
betreiben könne.
Doch da er wußte, daß er stets das Nötige
im Überflusse finden würde, wenn er ‒
getreu dem geistigen Gesetze ‒ es
seinem «Vater» überließe, ihn zu näh‐
56 Die Weisheit des Johannes
ren und zu kleiden, so kam keine Sorge
in ihm auf, und schließlich bat er
seinen Gastwirt, ihn nun ziehen zu las‐
sen, damit er auch an anderen Orten leh‐
ren könne.
Die Gegnerschaft der ersten Tage schien
ihm nun längst nicht mehr bedenklich.
Die ersten Schüler aber, die zu Caper
naum von ihm gefunden worden waren,
wollten ihn nicht lassen und folgten ihm.
Jeder von ihnen nahm auf seine Weise
in sich auf, was der Meister ihnen zu
geben hatte.
An manchen Orten, seines Rufes als
Heiler wegen, mit seinen Schülern
freudig aufgenommen, mußte er
doch auch an anderen Orten schroffste
Zurückweisung erfahren, und für
die Menschen seines Heimatortes
57 Die Weisheit des Johannes
blieb er der anmaßende «Narr», den sie
schon zu Anfang in ihm gesehen hatten.
Das Volk aber nannte seine Heilungen
‒ dort, wo sie erfolgen konnten ‒
«Wunderwerke», und man verstand
ihn nicht, wenn er in solchen Fällen stets
betonte, daß nur der eigene Glaube
und die ausströmende Kraft aus
dem Körper des Heilenden solche
«Wunder» wirke.
Den alten Lehren seines Volkes gab er
eine Auslegung, durch die sie auch
vor höherer Erkenntnis noch bestehen
konnten, und nur wo er sterilen Formel‐
kram die Gläubigen bedrücken oder den
düsteren Stammesgott der Vorzeit Opfer
fordern sah, sprach er das Wort:
«DEN ALTEN WARD GESAGT...
ICH ABER SAGE EUCH...!»
58 Die Weisheit des Johannes
Nachdem er so fast ein Jahr in Galiläa
heilend und lehrend mit wechselndem
Erfolg umhergezogen war, glaubte er zu
erkennen, daß nur in Jerusalem sei‐
nem Worte der rechte Nachhall werden
könne, und durch die Freunde von
Capernaum bereits bei deren Freun‐
den in der Heiligen Stadt aufs beste an‐
gekündigt, schloß er sich mit seinen
Schülern den Pilgern an, die zum Oster
feste nach Jerusalem wallten.
Die vornehmen Freunde nahmen ihn
gastlich auf; aber sein erstes Auftreten
schon zog ihm den Haß der Tempel
priester zu.
So verließ er bald die Stadt, kehrte aber
nicht nach Galiläa zurück, sondern blieb
in ihrer Nähe, um immer wieder kurze
Zeit in ihr zu verweilen, mied sie aber
doch mehr und mehr, nachdem er immer
59 Die Weisheit des Johannes
deutlicher gewahr geworden war, daß
seine vornehmen Freunde ihn kaum schüt‐
zen könnten, falls er der Priester
schaft in die Hände fiele, die er gar
hart in seinen Reden angegriffen hatte.
Er heilte und lehrte, wo er auch war,
so wie ehemals in Galiläa.
Es konnte darum nicht fehlen, daß er
stets größerer Kreise Hoffnung wurde,
besonders unter den Armen und Entrech‐
teten, die auf die knechtende Priester‐
herrschaft noch weniger gut zu sprechen
waren als auf die fremden Unterdrücker.
So kam es denn, daß alles Volk immer
mehr des Glaubens wurde, daß er der
in alten Schriften vermeintlich Verheis
sene sei, der aus der Priester- und der
Römer Knechtschaft nun die Armen be‐
freien müsse.
60 Die Weisheit des Johannes
Die aus dem immer ruhelosen Haufen
der Hauptstadt also dachten, hatten er‐
fahren, daß der Meister kurze Zeit vor
dem Osterfeste wieder nach Jerusalem
kommen werde, und sie bereiteten alles
vor, um ihn, sobald er käme, zum
nige auszurufen, da sie der Priester
Macht nur durch die römischen Kohorten
gesichert sahen, der Römer Gewalt
aber aus ihrer Enge her nicht begreifen
konnten.
Als der Meister nun kam, zog man ihm
vor die Tore mit großem Jubel entgegen
‒ Männer, Weiber und Kinder ‒, und
ihre Sprecher verlangten von ihm, daß
er sie gegen die Bedrücker führe.
Überwältigt von allem, was er sah, ver‐
ließ ihn hier die Sicherheit des inneren
Bestimmens, und so wie Moses nach
der Sage zweifelte, ob er dem Volke
61 Die Weisheit des Johannes
Wasser schaffen könne, so glaubte er
vielmehr für kurze Augenblicke, die
Macht, die man ihm zuerkennen wollte,
könne seiner Sendung Stütze
werden.
Nur allzubald sah er den Irrtum ein, so
daß er kaum die Stadt betreten hatte, als
er dem aufgeregten Haufen sich entzog
und in dem Hause eines seiner vorneh‐
men Freunde Zuflucht suchte, bis die
Menge durch der Römer Wachtsoldaten
auseinandergetrieben war.
Allein, die Folgen seines kurzen Schwan‐
kens ließen sich auf geistigem sowie
auf irdischem Gebiet nicht mehr ver‐
meiden.
Längst schon den Priestern des Tempels
als bitterer Mahner verhaßt und um
seines Ansehens bei dem Volke willen
62 Die Weisheit des Johannes
gefürchtet, hatte er jetzt selbst die
Gelegenheit geschaffen, ihn bei der römi‐
schen Obrigkeit zu verklagen als einen,
der sich gegen ihre Herrschaft wende:
einen Aufwiegler des Volkes, der
des Volkes König werden wolle.
Es war die römische Obrigkeit wahr‐
haftig Tumulte unter diesem Volke ge‐
wohnt und hätte auch den neuesten am
liebsten übersehen; allein, bei solcher
Art der Klage war es nicht mehr möglich,
die Verhaftung des Beschuldigten zu
unterlassen.
Der weltkluge römische Prokurator, der
deutlich sah, aus welchen Gründen man
ihn hier gebrauchte, fühlte in seinem
Stolze sich verletzt und suchte der Nöti‐
gung zu einem Urteilsspruche sich zu
entziehen.
63 Die Weisheit des Johannes
So schob er die Vernehmung denen zu,
die Klage erhoben hatten.
Er ahnte nicht, wie sehr willkommen es
jenen war, den Gehaßten nun scheinbar
mit besten Gründen auch nach ihrem
Gesetze zu verurteilen.
Es gab seiner Worte genug, die man frü‐
her nicht zu ahnden wagte und die ihn
nun des Todes schuldig erscheinen las‐
sen konnten. Überdies hatte er ja «den
Tempel gelästert»: was wollte man
noch mehr! Da ihnen aber eines Todes‐
urteils Vollstreckung unter der Rö‐
mer Macht entzogen war, so brauchten
sie nur darauf zu beharren, daß er das
Volk verführe und sich zum Könige
ausrufen lassen wolle, um die römische
Gerichtsbarkeit zu zwingen, den haß‐
geborenen Richterspruch an ihrer Stelle
auszuführen.
64 Die Weisheit des Johannes
Die Folge war, daß der Gehaßte starb am
römischen Kreuzesgalgen, nachdem ihn
römische Söldner aus aller Welt und
jüdische Tempelknechte schon fast zu
Tode gepeinigt hatten.
Hier aber, als sein Erdenwirken schon
beendet schien, vollbrachte erst der Mei‐
ster jene größte Liebestat, durch die
er allen, die da Geistiges erschauen, über
alle Menschengröße hoch erhaben bleibt
für alle Zeiten, als der Größte aller
Liebenden, die je die Erde trug ‒ und
keiner kann je nach ihm kommen, der
ihn an Liebeskraft erreichen würde...
In dieser letzten Stunde ist es ihm ge‐
lungen, das Menschentier in sich der
Macht des Geistigen zu absoluter
Einheit des Empfindens zu ver‐
einen, so daß er die Vernichter seines
65 Die Weisheit des Johannes
Erdenlebens noch in der Vernichtung
lieben konnte wie sich selbst.
Die unsichtbare Erde, die diesen Erd‐
ball in sich trägt gleichwie das Ei den
Dotter, ist seit jener heilighohen Stunde
der Macht des «Fürsten dieser Welt»
‒ des unsichtbaren, aber nur seiner
selbst und nicht im Geiste bewuß‐
ten, vergänglichen Gewaltigen, der
in dem liebeleeren Dunkel der Materie
sich selbst erlebt und alles in sein eige
nes Erleben ziehen möchte ‒ für alle
Zeit entwunden...
So wie er selbst in dieser Stunde über‐
wunden wurde, kann alle Macht der
Finsternis auf dieser Erde nunmehr über‐
wunden werden, durch jene, die um
solche Macht des Menschen wissen und
«guten Willens» ‒ wollend aus
der Liebe ‒ sind.
66 Die Weisheit des Johannes
Wüßte die Menschheit der Erde um
ihre Macht ‒ wahrhaftig, sie würde
schon seit fast zwei Jahrtausenden der
Erde Angesicht verwandelt haben, so daß
den Menschen, die in diesen Tagen noch
der Erde Not erleiden, ein Erdenzustand
dargeboten wäre, der ihnen wie des Him‐
mels Seligkeit erscheinen müßte. ‒
Zwar wird auf dieser Erde nie ein
«Garten Eden» sich erschaffen lassen;
allein, was hier sich dennoch wandeln
läßt, ist so gewaltig, daß späte Enkel
sicherlich in gleicher Weise voll Entsetzen
stehen, finden sie die Spuren heutigen
Geschehens unter Menschen ‒ wie jeden
heute Lebenden das Grauen packt, wenn
er die Gräber jener Menschtierahnen
öffnet, die, wie die Funde zeigen, ihrer
Feinde Hirne aus den Schädeln saugten
und das Mark aus ihren Knochen fraßen.
67 Die Weisheit des Johannes
Erst wenn diese Menschheit erkennen
wird, was sie vermag, sobald sie, aus
der Liebe wirkend, dieser Erde An‐
gesicht zu wandeln sucht, wird jene
Liebestat auf Golgatha ihr end‐
lich fruchtbar werden. ‒
*
68 Die Weisheit des Johannes
DER AUSKLANG
DAS GRÖSSTE, was ein Mensch
der Erde je vollbringen konnte,
ward noch im Kreuzestod
dereinst auf Golgatha vollbracht: ‒ des
Erdenmenschen Schicksal ward
gelöst aus kosmischer Verhaf
tung! ‒
Es ist nun weiter zu berichten, was nach
des Meisters Erdentod sich noch ereig‐
nete, da hier die Wahrheit durch das
Werk der frommen Phantasie schon
in den allerersten Zeiten Übertün
chung leiden mußte, durch die das
wirkliche Geschehen aller späteren
Zeit verborgen bleiben sollte. ‒
Wohl trägt die fromme Mär in sich der
Wahrheit Kern, und wer ihn unter
seiner Hülle fassen kann, wird nicht be‐
trogen sein.
71 Die Weisheit des Johannes
Wohl ist der Leuchtende aus seinem
Erdengrabe «auferstanden»; allein,
die irdische Erscheinung konnte
ihm in seiner «Auferstehung» nicht
mehr Träger seines Wesens sein.
Wohl ist der Leuchtende auch heute
noch bei dieser Erde und seinen Brüdern,
die in irdischer Erscheinung wirken, sicht‐
bar in der geistigen Gestaltungsform,
die seiner erdenhaften Daseinsform, in der
ihn seine Jünger kannten, voll entspricht.
‒ Allein, dies alles kann gewiß nicht hin‐
dern, daß dem irdischen Geschehen
nach des Meisters Tode für die Nachwelt
noch Bedeutung innewohne.
So sei denn dargestellt, was sich dem
Schauen zeigt, da doch der Kern des
frommen Glaubens, der die Menschen
durch Jahrhunderte hindurch beglückte,
in diesen Tagen kaum der Hülle mehr
72 Die Weisheit des Johannes
bedarf, ja durch die Hülle in Gefahr
gerät, von denen nicht erkannt zu
werden, die ihn suchen. ‒
Es folge hier nun der Bericht:
Die vornehmen Freunde des Meisters
hatten sogleich nach seinem Tode alles
aufgeboten, um seinen Leichnam
durch den römischen Prokurator zu er‐
halten, da vorher alles vergeblich gewesen
war, was sie unternommen hatten, um
den Todesgang ihm zu ersparen.
Der Prokurator aber ‒ des Meisters
Freunden ohnehin wohlgesinnt und voll
Verachtung gegenüber der Tempelprie‐
sterschaft, die ihn zu zwingen wußte,
einen Mann zu richten, der ihm nie und
nimmer eine Staatsgefahr zu bilden schien
‒ gewährte nur zu gerne nun den Freun‐
den ihren Toten, nachdem er vorher
73 Die Weisheit des Johannes
trotz dem besten Willen nicht imstande
war, den Lebenden ihnen zu retten.
Als aber die Tempelpriester davon hör‐
ten und mit Sicherheit wußten, daß ihnen
kein Gehör beim Prokurator würde,
bestürmten sie den Obersten der
Stadtwache und erreichten, daß er
ihnen Wächter stellte, die das Grab be‐
wachen sollten; denn sie fürchteten sehr,
daß des Toten Anhang sonst bei
dem Grabe weheklage und seine
Wut sodann gegen die Priester
richte. So erhielt das Grab nun eine
römische Wache, die den Auftrag hatte,
jede Ansammlung dort zu verhüten.
Es lebten aber zu der Zeit die hohen
Brüder des Meisters ‒ die ihn einst
geschult und als der Ihren einen voll
endet hatten zu seinem Priester
74 Die Weisheit des Johannes
königtum ‒ verborgen noch an nahen
Orten im judäischen Gebirge, und wäh‐
rend seines Wirkens war der hohe Meister
ihnen oftmals in der Einsamkeit begegnet,
hatte oft sie an den Stätten ihrer Ab‐
geschiedenheit besucht.
Sie wußten, was ihm widerfahren war,
und hatten ihn nicht retten können; denn
seine geistige Schuld: daß er ‒ wenn
auch für Augenblicke nur ‒ die äußer‐
liche Macht auf Erden sich zur Seite
stellen wollte, hatte sein Geschick ent‐
wunden jener hohen Geistesleitung, der
sie unterstanden und die auch ihn einst
führte, bevor er sich bei jenem Einzug
in Jerusalem für kurze Zeit betören ließ
durch das bestürmende Begehren derer,
die in ihm den Retter aus der äußeren
Bedrängnis sahen.
Die Wandlung der Gesetze in der un
75 Die Weisheit des Johannes
sichtbaren Erde, die er dann selbst
durch seine Liebestat auf Golgatha voll
brachte, hätte sein Endesschicksal ihm
erspart, wenn vor ihm ein Anderer
ihr Vollbringer gewesen wäre.
Da aber diese Wandlung erst in seiner
letzten Stunde sich durch ihn vollbrin‐
gen ließ, so mußten seine hohen Brüder,
schmerzerfüllt und doch im Innern ju‐
belnd seines Siegs gewärtig, ihn den Lei‐
densweg betreten lassen. ‒ ‒
Sie wußten nun um sein Grab, und
ihnen war er lebend nahe in seiner
geistigen Gestaltung.
So taten sie, was zu tun war, völlig mit
seinem Einverständnis und nach
seinem Willen, damit kein törichter
Kult um seinen Erdenleichnam sich
bilde.
76 Die Weisheit des Johannes
Es war einer unter ihnen, der die Kunst
verstand, bei bloßer Wechselrede Men‐
schen in magischen Schlaf zu bannen.
Dieser ging voran zu des Grabes Wäch‐
tern, und da er wie ein Großer der
Römer gekleidet war, so gaben die Wäch‐
ter ehrfurchtsvoll Antwort seinen Fragen,
bis ihre Zungen nur noch lallen konnten
und sie zuletzt in tiefen Traumschlaf
niedersanken.
Nun war die Zeit gekommen, die anderen
Brüder, die in der Nähe harrten, herbei‐
zurufen.
Mit einiger Mühe öffnete man das Grab
und nahm den Leichnam sorglichst her‐
aus. Dann legte man ihn, umbunden mit
seinen Leichenbinden, auf zwei lange
Tücher, die man mitgebracht hatte, so daß
er gleichsam auf dem einen saß, indes
das andere den Oberkörper hielt.
77 Die Weisheit des Johannes
In monderhellter Nacht trug man sogleich
die geliebte schwere Bürde mit vieler
Mühe weit hinauf in das Gebirge, bis
zu einer Felsenschlucht, die man schon
vorher ausersehen hatte ‒ allwo ein
Scheiterhaufen tags zuvor bereitet
worden war und zwei der hohen Brüder
harrten.
Es waren aber diese Brüder vornehme
Männer aus fremdem Stamme ‒ einst
weit her vom Osten gekommen ‒, und
nach ihres Stammes Weise wurde der
teure Leichnam nun hier verbrannt,
wo man gesichert war vor jeglicher Stö‐
rung. Das Licht des Mondes dämpfte zu‐
dem jeden Feuerschein, und weit und
breit war dazumal in jener Wüstenei kein
Mensch gesiedelt, so daß man auch ein
Feuer nicht beachtet hätte, wäre nicht die
Schlucht schon Schutz genug gewesen, es
78 Die Weisheit des Johannes
vor Entdeckung in der Weite ringsherum
zu hüten.
Als dann im lichten Frührot die Glut
erlosch, sammelten sorglich die hohen
Brüder jeden Überrest, der noch ver‐
blieben war, und trugen ihn, in Tücher
eingehüllt, auf langer Wanderung dem
Jordan zu, um dort das Letzte, das noch
von des Meisters irdischer Erscheinung
stammte, in dieses Flusses Fluten zu ver‐
senken, so wie es in ihrem Stamme Brauch
und Sitte war.
Sie blieben darauf, zurückgekehrt, noch
geraume Zeit an ihren verborgenen Orten
im Gebirge und suchten von dort aus
dann und wann die Schüler des Meisters
auf, die nach seinem Scheiden aus der
Sichtbarkeit noch in seiner geistigen
Gemeinschaft blieben.
79 Die Weisheit des Johannes
Zwölf Monde später aber verließen sie
dauernd die Gegenden Palästinas, wan‐
derten gen Osten: ihrer Heimat zu ‒
nahe dem höchsten Gebirge der Welt...
Sie waren wirklich jene «Könige» aus
Morgenland ‒ die Priesterkönige
und königlichen Priester ‒, die
einst den «Stern» des jungen Zimmer‐
manns aus Galiläa «fern im Morgenland
gesehen» hatten und gekommen waren,
ihn zu schulen, bis er seine Sendung
selbst erfassen konnte, auch wenn sie
nicht, wie jene spätere Sage will, schon
zu des Kindes Wiege knieten, um ihm
ihre Gaben darzubringen. ‒
Die Sage formte nur auf ihre Art, was
einst die Wenigen, die in des Meisters
nächster Nähe waren, durch ihn selbst
erfahren hatten und später denen, die bei
80 Die Weisheit des Johannes
ihnen Lehre suchten, in tief geheimer
Rede anvertrauten.
Sie formte es wohl altem, fernem Vor
bild gleich, und dennoch wahrte sie der
Wahrheit Züge; denn wenn auch sie
ben dieser hohen Brüder einst zu jener
Zeit das öffentliche Wirken ihres neuen
Bruders aus der Nähe sahen, so waren
doch nur drei von ihnen seine eigent‐
lichen Lehrer ‒ und drei der Leuch‐
tenden sind jeweils nötig, soll ein neuer
Ring der goldenen Kette ein
geschmiedet werden, die von den
ersten Tagen dieser Menschheit an sich
stets erneuern muß in jedem Menschen‐
alter. ‒
Der Schreiber jener alten Kunde, die
man das «Evangelium Johannis»
nennt, wußte von allen diesen Dingen
81 Die Weisheit des Johannes
und redete zu Menschen, die aus ge‐
heimer Lehre vieles davon kannten.
Das Wissen um des Meisters hohe Lehre
setzt seine Sendschrift schon voraus,
und wenn die Lehre auch den Wissen
den aus manchem Wort entgegenleuch‐
tet, so war sie doch den Außenstehen
den noch immer dicht genug verhüllt.
Verhüllung aber forderte das geistige
Gesetz zu jener Zeit.
Doch auch in des Geistes Wirken gibt
es der Ebbe Zeiten und Zeiten der Flut:
‒ Zeiten der Verhüllung und der
Offenbarung.
So ist es denn heute möglich, da zu
reden, wo man vordem schweigen
mußte.
Doch ist auch heute keine Gefahr, daß
etwa Unberufene dem stillen Tem‐
82 Die Weisheit des Johannes
pel göttlicher Verborgenheit sich nahen
könnten.
Die den Weg zu finden wissen, der zu
diesem Tempel führt, werden stets nur
die Erwählten sein, die aus reinster
Herzensinbrunst suchen, bis ihnen
die ersehnte Führung wird im eige
nen «Ich».
Geheimnisvoll Verborgenes wird ihnen
sich enthüllen; doch was auch immer
noch im Laufe der Jahrtausende sich
dieser Menschheit offenbaren mag,
wird stets weit tieferes Geheimnis in
der Ferne zeigen, und niemals wird die
Gottheit sich dem Erdenmenschen als
Gegenstand begrifflichen Erfas
sens überlassen. ‒
Nur Bild und Gleichnis dürfen von
der letzten Wahrheit Kunde bringen!
Wer aber solche Wahrheit nicht mehr
83 Die Weisheit des Johannes
außen sucht; wer da erkannt hat, daß
sie nur im Innersten des Innern
Menschen faßbar werden kann «von
Angesicht zu Angesicht», dem
zeigen Bild und Gleichnis Weg und
Weise, in das Innerste des Innern zu
gelangen.
Dort kann ihm, ist er ein Berufener,
noch vieles sich eröffnen, was ich hier,
und so vor jedem Menschenohr, ver
schweigen muß: ‒ sei es, daß Men‐
schenwort die Weite dessen nicht um‐
spannt, was hier zu sagen wäre, sei es, daß
solches Wissen keinem nützen würde, der
es nicht aus dem Innersten erlangt,
wo es allein für ihn erfaßbar werden
kann. ‒
Was ich zu sagen habe, ist mir selbst
genau umrissen.
84 Die Weisheit des Johannes
Ich kann nur darzustellen suchen, was
mir darzustellen aufgetragen ist, da‐
mit das Licht erneut die Finsternis
durchdringe.
Es sind in diesen Tagen allerorten viele,
die nach Licht verlangen ‒ weit mehr
als je zu einer früheren Zeit ‒,
und heute ist geschriebenes Wort, das
sie allein mit Sicherheit erreichen kann,
längst nicht mehr in Gefahr, durch Ab
schrift umgeformt und so gefälscht
zu werden.
Wohl ihnen allen, wenn mein Wort zu
ihren Herzen findet und sie der Fin
sternis entreißt, damit sie auf den
Weg gelangen, den höchste Liebe
schuf, und so zur Auferstehung
in sich selbst! ‒
*
85 Die Weisheit des Johannes
DIE SENDSCHRIFT
DER ALTEN Sendschrift erste
Formung wiederherzustellen,
ist auch dem Schauenden un‐
möglich, dem sich dagegen der ursprüng‐
liche Inhalt zeigt in geistigem Erschauen
seiner urgegebenen Bedeutung und
keineswegs etwa in Worten jener alten
Sprache, in denen ihn die Urschrift
dargeboten hatte. ‒ Geistiges Erschauen,
das nur bei wachen, ‒ ja fast überwachen
Sinnen erreichbar ist, erfordert von dem
Schauenden, der noch an die Gesetze
dieser Erde durch die irdische Erschei‐
nungsform gebunden ist, so unerhörte
Kräfte, um die Einstellung auf das
Erschaubare auch festzuhalten, daß über‐
dies hier auch der Wert des Resultats in
keinerlei Verhältnis stehen würde zu dem
Aufwand, den die Erreichung dieses Re‐
sultats verlangte, wenn man der ganzen
89 Die Weisheit des Johannes
Urschrift ursprünglichen Sinn in lük‐
kenloser Folge wiedergeben wollte. Die
Wenigen allein, die solches Schauen aus
Erfahrung kennen ‒ und nur den
noch im Erdenkleide hier auf dieser Erde
Wirkenden der «Leuchtenden des
Urlichts» ist ein solches Schauen mög‐
lich ‒, wissen um die Kraftausgabe lan‐
ger Jahre, die da Vorbedingung ist, um
in des eigenen Erlebens Helle zu er‐
blicken, was ein Menschengeist der Vor‐
zeit in sich trug, als er sein Werk zu for‐
men suchte.
Was so erschaut wird im Erleben
‒ nicht etwa von außen her ‒, muß
dann erst neue Formung finden in den
Worten dessen, der es schaut, um so in
seiner eigenen Redeweise des ersten
Formers wahre Meinung aufzuzeigen,
90 Die Weisheit des Johannes
in einer Wortform, die den Menschen
seiner Tage sich erschließen kann, selbst
wenn er dabei keineswegs darauf ver‐
zichtet, sich auch der Worte zu bedienen,
die er in den Textfragmenten noch er‐
halten sieht in ursprünglicher Ge‐
staltung.
Es würden jene, die «das Wort der
Schrift» für «göttlich» halten, nur
frevelhafte «Schriftverfälschung»
wittern, und jene anderen, die ohnedies
aus eigener Erforschung wissen, wie es
in Wahrheit um die «Göttlich
keit» des alten, arg entstellten Textes
steht, würden gleichwohl eine neue
Wiedergabe, die sich, ohne äußeren «Be‐
weis» für ihre Findungen, als Resultat
des geistigen Schauens zu beken‐
nen hätte, bestenfalls als Träumerei be‐
werten. ‒
91 Die Weisheit des Johannes
Ich werde dennoch ‒ wenn auch nur im
Bruchstück ‒ manches aus dem alten
Texte hier in diesem Buche wiedergeben
müssen und werde es hier wiedergeben,
so wie es sich dem Schauenden dem
Sinne nach enthüllt. Es sei mir aber
ferne, frommen Glauben anzutasten,
der den arglos Gläubigen beglückt und
ihn ‒ ist er es wert ‒ auch in der wun‐
derlichsten Form zur Wahrheit füh‐
ren kann.
Gleich ferne liegt mir die törichte Ab‐
sicht, was ich in diesem Buche bringe,
der gelehrten Forschung zu emp‐
fehlen, obwohl ich in mir selber gute
Gründe finde, um hier auszusprechen,
daß sicherlich noch manche alte Hand‐
schrift ihres Finders harren dürfte, aus
der sich meiner Wiedergaben Richtigkeit
dereinst erweisen lassen wird...
92 Die Weisheit des Johannes
Hier sei zuerst nun aufgezeigt, wie jene
Glaubenseiferer des neuen Kultes, denen
einst die alte Sendschrift in die
Hände fiel, mit ihrem Texte skrupellos zu
schalten wußten.
Der unbekannte Verfasser dieser Send‐
schrift hatte einst ‒ dem Sinne nach
‒ geschrieben:
«IM ANFANG IST DAS WORT, UND
DAS WORT IST IN GOTT, UND GOTT
IST DAS WORT.
ALLES HAT DASEIN NUR IN IHM,
UND AUSSER IHM IST NICHTS
IM DASEIN: AUCH DAS GERINGSTE
NICHT. IN IHM HAT ALLES LEBEN,
UND SEIN LEBEN IST DER MEN‐
SCHEN LICHT.
DAS LICHT LEUCHTET IN DER
FINSTERNIS, UND DIE FINSTERNIS
KANN ES NICHT AUSLÖSCHEN.
93 Die Weisheit des Johannes
ES IST IN DER WELT, UND DIE WELT
IST AUS IHM GEWORDEN; ABER
DIE WELT ERKENNT ES NICHT.
ES IST IN SEINEM EIGENEN; ABER
DIE IHM EIGEN SIND, NEHMEN
ES NICHT AUF.
ALLEN ABER, DIE ES AUFNEH
MEN, GIBT ES MACHT, GOTT
GEZEUGTE ZU WERDEN: DIE
NICHT GEZEUGT WERDEN AUS
DEM BLUTE, NICHT AUS DES
WEIBES WILLEN, NICHT AUS
DES MANNES WILLEN, SONDERN
AUS GOTT GEZEUGT, AUS DER
FÜLLE DER GNADE UND WAHR
HEIT
Hier war einst der Zusammenhang durch
nichts anderes unterbrochen, und es
war lediglich Absicht des Verfassers,
durch diese Worte, die sich im engsten
94 Die Weisheit des Johannes
Anschluß an die damals verbreitete Lehre
vom «Logos» hielten, den Getreuen, an
die seine Sendschrift gerichtet war, einen
deutlichen Hinweis zu geben, in welchem
Sinne er das nun Folgende aufgefaßt
wissen wollte.
Und dann erst begann er die Erzählung
von dem Täufer, die er bereits in den
alten Schriften vorgefunden hatte, auf
seine Weise zu verwerten, da er nicht nur
zu den Jüngern des Täufers, die
zu jener Zeit noch zu finden waren, sich
im Gegensatze wußte, sondern auch
den Seinen zeigen wollte, daß weder die
strenge Askese, die der Täufer als ein
Abgesandter einer mystischen Sekte einst
gepredigt hatte, das Heil gewähre, noch
die Wassertaufe des neuen Kultes,
der sich nach dem hohen Meister
nannte. Daneben aber wollte er dem Irr
95 Die Weisheit des Johannes
tum wehren, als sei der hohe Meister ‒
wie es ältere Sage wollte ‒ erst des Täu‐
fers Schüler gewesen, bevor er selbst
zu lehren begann.
Darum läßt er des Täufers Jünger die‐
sen verlassen, als er selbst bekennen muß,
daß er zwar mit Wasser taufe, jener
Jehoschuah aber mit Geist zu taufen
wisse.
Dies nun sagten ‒ dem Sinne nach
‒ die ursprünglichen Worte:
«ES WAR EIN MENSCH, DER NANNTE
SICH JEHOCHANAN.
UND DIES IST ZU BETHANIA GE‐
SCHEHEN, JENSEITS DES JORDANS,
WO JEHOCHANAN TAUFTE.
JEHOCHANAN SPRACH:
ICH TAUFE MIT WASSER; ABER
ES IST EINER IN EURER MITTE UND
96 Die Weisheit des Johannes
IHR KENNT IHN NICHT: DER WIRD
TAUFEN MIT GEIST!
NICHT WERT FÜHLE ICH MICH, IHM
AUCH NUR DIE RIEMEN SEINER
SANDALEN ZU LÖSEN.
EINES ANDERN TAGES ABER STAND
JEHOCHANAN DA MIT ZWEIEN SEI‐
NER JÜNGER.
UND ALS ER DEN JEHOSCHUAH
VORÜBERGEHEN SAH, SPRACH ER;
DIESER IST ES!
ICH KANNTE IHN SELBST NICHT;
ABER DER MICH BEAUFTRAGT HAT,
MIT WASSER ZU TAUFEN, SPRACH
ZU MIR:
WENN DU EINEN SEHEN WIRST, ZU
DEM EIN GEIST HERABKOMMT
UND ER BLEIBET IN IHM: DER IST
ES, DER MIT GEIST ZU TAUFEN
KOMMEN WIRD.
97 Die Weisheit des Johannes
UND JEHOCHANAN BEZEUGTE UND
SPRACH:
ICH SAH EINEN GEIST AUF IHN
SICH NIEDERSENKEN, WIE SICH
EINE TAUBE NIEDERLÄSST, UND
DER GEIST BLIEB IN IHM.
UND DIE ZWEI JÜNGER HÖRTEN
IHN DAS SAGEN UND FOLGTEN DEM
JEHOSCHUAH.»
Läge die Urschrift heute einem Über‐
setzer vor, so könnte er vielleicht die
Form der Sätze anders wiedergeben,
vermöchte aber keinesfalls zu anderer
Bedeutung zu gelangen.
Es war dem Verfasser der alten Send‐
schrift keineswegs daran gelegen, daß
sich die Form, in der er die Erzählung
gab, mit den Berichten deckte, die aus
98 Die Weisheit des Johannes
ihr sich die Bestätigung zu schaffen such‐
ten, daß der Täufer in dem Meister den
«Messias» erkannt und bekundet habe.
Es fehlt hier auch vieles, das man an
gleicher Stelle in der heute überlieferten
Textgestaltung findet.
Was hier aber fehlt, ist in dem über‐
lieferten Texte Zutat der gleichen
Gehirne, die den Urtext so zu ändern
wußten, daß des Täufers schon Erwäh‐
nung geschieht in den Worten, die der
ganzen Sendschrift Auftakt bilden.
In mannigfacher Abwandlung suchten sie
den Urtext den ihnen heiligen früheren
Berichten anzugleichen.
Was in der ersten Zeit des neuen Kultes
«Abschrift» hieß, war nichts als Para
phrase, und jeder Schreiber, der aufs
neue Abschrift nahm, hielt es für durch‐
aus gut und richtig, den Text so zu ver‐
99 Die Weisheit des Johannes
ändern, daß er seiner eigenen Glau
bensmeinung Stütze wurde.
Auf solche Weise ist der Text der ganzen
Sendschrift oftmals umgestaltet worden,
bevor der Text entstand, der aller über‐
lieferten Gestaltung nun zugrunde liegt.
Man kann bedauern, daß die Urschrift
nicht erhalten ist; allein, man darf
nicht ‒ durch seine Wünsche bestimmt
‒ das heute Überlieferte nach Möglich‐
keit zu retten suchen, sondern muß sich
klar darüber werden, daß weit mehr
davon Veränderung und Zutat ist,
als das Erhaltene ausmacht, was noch
originale Züge trägt. ‒ ‒
Nur wer die Lehre in sich aufgenommen
haben wird, die einst der hohe Meister
den Getreuen gab und die noch in dem
kleinen Kreis lebendig war, an den der
Urschrifttext dereinst erging, der wird mit
100 Die Weisheit des Johannes
aller Sicherheit erfühlen, was noch Ur
schriftprägung trägt und was da
fromme Fälschung ist.
Solange sich nicht wohlverwahrte alte
Texte finden lassen, die der Urschrift
immerhin noch näher stehen als das
heute Überlieferte, wird dies der
einzige Weg sein, hier zur
Klarheit zu gelangen.
*
101 Die Weisheit des Johannes
DIE REINE LEHRE
DES hohen Meisters reine Lehre,
die er allein nur den Ge
treuen gab, reicht wahrlich
weiter als die Lehren ethischer Natur,
die er vor allem Volke sprach, und
als jene, die man später aus der «Heid‐
nischen» Weisen Schriften nahm, um sie
in des hohen Meisters Mund zu legen. ‒
Es war diese reine Lehre nicht seines
Denkens Frucht, und nicht in frommer
Verzückung der Ekstase hatte er sie
erlangt.
Was er zu geben hatte an die wenigen
Getreuen, die «das Geheimnis des
Reiches Gottes» erfassen sollten,
stammte aus dem Weisheitsgut der gei‐
stigen Gemeinschaft, der er zugehörte.
Uraltes, heiliges Wissen: ‒ jedem
derer, die es hier in diesem Erdenleben,
105 Die Weisheit des Johannes
als der geistigen Gemeinschaft Glieder,
in sich selbst erlangen, nur in wache
stem Erleben faßbar ‒ formte er auf
seine Weise und in seiner Sprache, so
wie da jeder der «durch Selbstver
wandlung Wissenden» stets nur die
gleiche Wahrheit künden kann, in Bil‐
dern und in einer Sprache, die ihm selbst
zu eigen wurden, auch wenn in solcher
Sprache und in solchen Bildern manches
wiederkehren mag, das alter Prägung ist.
So wußte er die Schüler, die ihm folgen
konnten, einzuführen in das Innerste des
Seins und ihnen eine Vorstellung von
Gott zu übermitteln, die sehr wesentlich
sich von der öffentlichen Priesterlehre
unterschied.
Er sprach zu Menschen, die aus keiner
hohen Schule kamen und denen es ge‐
106 Die Weisheit des Johannes
nügte, wenn er ihnen von dem Urlicht,
das sich selbst als Urwort spricht, zu
sagen wußte:
«GOTT IST GEIST, UND DIE IHN
ANBETEN: IM GEISTE MÜSSEN SIE
DIE WAHRHEIT ANBETEN.»
Was er den Getreuen aber unermüdlich
zu zeigen sich mühte, war der Weg, um
in das Reich des Geistes zu ge
langen, in dem «viele Wohnstätten»
sind ‒ vielerlei Möglichkeiten des Er‐
lebens ‒ je nach der Höhe der An‐
schauungsweise, zu der sich des Menschen
Geistiges, ist es einmal erweckt, zu er‐
heben vermag.
Nicht immer ist es im gleichen Sinne zu
verstehen, wenn der Meister vom «Reiche
Gottes» spricht!
Wohl sagt er, daß das Reich der Him‐
107 Die Weisheit des Johannes
mel im Menschen sei; allein, er weiß
auch zu sagen, daß keiner das Reich
Gottes «sehen» könne, der nicht «von
neuem geboren» werde. Hier wird
Verwirrung nur vermieden, wenn man
weiß, daß einmal nur von der Art des
Menschengeistes gesprochen wird, der
latent die Erlebnismöglichkeit in
sich enthält, durch die ihm das Reich des
Geistes Gewißheit werden kann, doch
ohne die Fähigkeit, sich in den höchsten
Regionen geistiger Welten bewußt wie
hier im Erdenleben und noch wäh
rend dieses Erdenlebens zu empfinden
‒ und ein andermal von dem höch
sten Ziele des Menschengeistes: daß er
nach diesem Erdenleben und vielleicht
erst nach einer langen Vorbereitung in
der geistigen Welt eine neue Lebens
form erlange, in der er erst sich selbst
108 Die Weisheit des Johannes
im Innersten des geistigen Reiches be
wußt und wirkend erleben kann. ‒
Es sind hier verschiedene aufein‐
anderfolgende Zustände im Auge zu
behalten.
Der erste ist die Erweckung des Men‐
schengeistes aus seinem Schlafe im Men‐
schentiere, wodurch er, aus der Nacht der
Nichterkenntnis erwachend, ahnend
erfühlt, daß er nicht von dieser
Erde ist: daß er aus einem Lebensreiche
stammt, in dem das Leben anderer Ge‐
setze Formung ist als hier in dieser ir
dischen Erscheinungswelt. ‒ Hieraus
ergibt sich als zweites dann das Entgegen‐
streben, dem Urlicht zu, aus dem
durch des Geistes hierarchisch geordnetes
Leben stufenweise weitergeleitet, letzten
109 Die Weisheit des Johannes
Ursprungs das Leben des Menschengeistes
in ewigem Sein sich findet.
Diesem Entgegenstreben aber kann noch
während dieses Erdendaseins Erfül
lung werden, indem ein «Geistes
funke», ein Strahl aus dem Urlicht
‒ durch alle hierarchischen Stufen gei‐
stigen Lebens herabgeleitet ‒, im Men‐
schengeiste und aus dieses Menschen‐
geistes Kräften einen geistigen Orga
nismus schafft, durch den sich der
Menschengeist vereinigt findet mit
diesem göttlichen «Geistesfunken» oder
«Strahl» des Urlichts, den er erkennt
als seinen «lebendigen Gott».
Nun ist ihm sicherste Gewißheit ge‐
worden, was vorher nur ahnendes Er
fühlen war: ‒ er ist sich seines Lebens
im Geiste und aus dem Geiste be
wußt!
110 Die Weisheit des Johannes
Noch aber ist er keineswegs fähig,
auch jenes hohe Geistesreich bewußt
und handelnd betreten zu können,
aus dem er einst sich selbst durch seine
Willensneigung löste in jenem «Fall»
aus hohem Leuchten, der ihn an diese
irdische Erscheinungswelt verhaftet
hat. ‒
Hierzu ist anderes vonnöten; und wenn
er auch der Erde irdische Gestaltung
einstens nicht mehr trägt und sich in
Geistesform nach seines Körpers Erden‐
tod bewußt und lebend findet in den
niederen Regionen geistigen Lebens, so
bleibt ihm dennoch jenes höchste,
innerste der geistigen Erscheinungs‐
reiche ‒ «das Reich Gottes» im höch
sten Sinne ‒ so lange verschlossen, bis
er in ihm «aufs neue geboren» wird:
aus geistigem Samen neu gezeugt ‒
111 Die Weisheit des Johannes
aus den Urwassern des Lebens im
Geiste.
«Geburt» in irdische Erscheinungs‐
welt ist die Frucht der Weiterzeugung
tierischen Lebens und ermöglicht
allein Bewußtsein und Handeln in die‐
ser irdischen Erscheinungswelt.
Wer nicht in sie geboren wird, kann
anders nicht in sie hineingelangen: ‒ sie
ist ihm nicht erschlossen, auch wenn er
um sie wüßte.
So auch kann in keine der geistigen
Erscheinungswelten ‒ und alles, was im
Reiche des Geistes lebt, ist sich nur er‐
faßbar als geistige Erscheinung
ein Menschengeist hineingelangen, er sei
denn hineingeboren.
Ursprünglich ist nun der Menschengeist
in jenes innerste «Reich Gottes», aus
112 Die Weisheit des Johannes
Gott gezeugt, von Ewigkeit her «geboren»,
ließ aber den geistigen, gottgebore
nen Organismus ‒ in diesem Bilde ge‐
sprochen ‒ im innersten Reiche des
Geistes zurück, allwo er wieder der Kraft
der Gottheit sich verschmolz, so daß eine
individuelle «Wiedergeburt» erfol‐
gen muß, soll sich der Menschengeist in
jenem «Reiche Gottes» einst be
wußt und handelnd finden können.
Vorher ist der Menschengeist, auch bei
höchster Entfaltung durch das Erden‐
leben, nur seiner selbst und seines
lebendigen Gottes bewußt und fin‐
det sich nach dem «Tode» des Erden‐
körpers nur in jenen niederen geisti‐
gen Welten, deren Organismus ihm
keimhaft erhalten blieb, auch nach
seinem Falle in tierische Erscheinungs‐
welt ‒ als einzige geistige Daseinsform,
113 Die Weisheit des Johannes
die er hier noch besitzt und zu entfalten
vermag durch seine Haltung im Erden‐
leben. Von diesem höchsten und letzten
Ziele allein aber läßt der Verfasser der
alten Sendschrift den Meister sprechen:
«WENN EINER NICHT WIEDERGE
BOREN WIRD AUS DEM WASSER IM
GEISTE ‒ AUS GEISTIGEM SA‐
MEN ‒, SO KANN ER IN DAS REICH
GOTTES NICHT EINGEHEN
Und zur Bekräftigung und Verdeut‐
lichung läßt er den Meister weiter sagen:
«WAS AUS DEM FLEISCHE GE‐
BOREN IST, DAS IST FLEISCH; UND
WAS AUS DEM GEISTE GEBOREN
IST, DAS IST GEIST
Damit nur ja kein Zweifel sei, daß hier
die Erzeugung eines wirklichen Or
ganismus erfolge, wie aus dem Fleische,
so aus dem Geist...
114 Die Weisheit des Johannes
Die einzigen Menschen auf dieser Erde
aber, denen schon während ihres
Erdenlebens diese «Neugeburt» im Geiste
ward und die daher, zugleich mit ihrer
Erlebnisfähigkeit in irdischer Erschei‐
nungswelt, bewußt im innersten Reiche
des Geistes leben und handeln, sind
des Urlichtes Leuchtende, deren
der hohe Meister aus Nazareth einer war.
‒ Nur ein solcher vermag in Wahrheit
von sich und seinen Brüdern zu sagen:
«WIR REDEN, WAS WIR WISSEN,
UND WAS WIR GESEHEN HABEN,
BEKUNDEN WIR.»
Oder auch jenes andere, später einer hin‐
zugekommenen Erzählung eingefügte und
dort kaum mehr kennbare Wort:
«IHR BETET AN, WAS IHR NICHT
115 Die Weisheit des Johannes
WISSET, WIR ABER WISSEN, WAS
WIR ANBETEN.»
Dem hohen Meister gleich, muß jeder
der im Urlicht Leuchtenden be‐
kunden:
«ICH UND DER VATER SIND EINES.
WER MICH SIEHT, DER SIEHT
AUCH DEN VATER
Denn eine andere Selbstdarstellung hat
der «Vater» im Urwort nicht auf dieser
Erde, als den Leuchtenden des Ur
lichts, den er sich als Selbstdarstellung
bereitet hat und dem er, noch während
der Leuchtende in irdischer Erschei‐
nung lebt, die Geistesform aus sich
erzeugte, die ihn bewußt werden ließ in
geistiger Erscheinungswelt, ohne ihn
dieser Erdenwelt zu entziehen. ‒
116 Die Weisheit des Johannes
Er ist wahrhaftig des «Vaters» im
Urwort «eingeborener Sohn» gewor‐
den! ‒ ‒ ‒
Aus seinem bewußten Selbsterleben als
geistiger «Sohn» des ewigen, geistigen «Va‐
ters» im Urwort: ‒ aus seinem Bewußt‐
sein in geistiger Erscheinungswelt ‒
kündet der hohe Meister die reine Lehre.
«WOHL KENNT IHR MICH UND
WISSET UM MEINE HERKUNFT;
ABER NICHT VON MIR SELBST
BIN ICH GEKOMMEN ‒ NICHT WAS
ICH IRDISCHER HERKUNFT NACH
BIN, BERECHTIGT MICH ZUR LEHRE
UND LÄSST MICH SOLCHERART ZU
EUCH REDEN ‒, SONDERN ES
SANDTE MICH EIN WAHRHAF
TIGER, EINER, DEN IHR NICHT
KENNT.»
117 Die Weisheit des Johannes
«WENN ICH AUCH VON MIR SEL
BER ZEUGNIS GEBE, SO IST DOCH
MEIN ZEUGNIS WAHR, WEIL ICH
WEISS, WOHER ICH KAM UND WO‐
HIN ICH GEHE.»
«JA, DER MICH GESANDT HAT, IST
MIT MIR, UND ER LÄSST MICH
NICHT ALLEIN, DA ICH ALLEZEIT
TUE, WAS IHM WOHLGEFÄLLT.»
Und in der unwiderlegbarsten Gewiß‐
heit, daß er in seiner Umgebung der
Einzige ist, der da weiß, was nötig ist,
damit der Erdenmensch sich einst «an
seinem Letzten Tage» in dieser Erschei‐
nungswelt bereitet finde zu ewiger «Ge‐
burt» in geistiger Erscheinungswelt,
spricht er das gewaltige Wort:
«ICH BIN DER WEG, DIE WAHR
118 Die Weisheit des Johannes
HEIT UND DAS LEBEN. NIEMAND
KOMMT ZUM VATER AUSSER
DURCH MICH
Denn das Geistgezeugte, das er den
«Sohn» nennt und als das er sich
selbst erlebt als Leuchtender des
Urlichts, ist für allen Menschengeist
das Gleiche, und in ihm allein
wird dem Menschengeiste unvergäng
liches Leben in der Geisteswelt.
Dieses Leben erlebt er selbst, und von
ihm kann er künden:
«WAS MIR MEIN VATER GEGEBEN
HAT, IST GRÖSSER ALS ALLES, UND
NIEMAND KANN ES DER HAND MEI‐
NES VATERS ENTREISSEN.»
Aber nicht für sich selbst allein
will er im unvergänglichen Leben sein,
und so spricht er das Wort:
119 Die Weisheit des Johannes
«WER AN MICH GLAUBT, DER
GLAUBT NICHT MIR, SONDERN
DEM, DER MICH GESANDT HAT.
ICH BIN ALS LICHT IN DIE WELT
GEKOMMEN, DAMIT JEDER, DER AN
MICH GLAUBT, NICHT IN DER
FINSTERNIS BLEIBE.
DENN ICH HABE NICHT VON MIR
SELBST GEREDET, SONDERN DER
VATER, DER MICH SANDTE, DER
HAT MIR DAS GEBOT GEGEBEN,
WAS ICH REDEN UND LEHREN SOLL.
UND ICH WEISS, DASS SEIN GEBOT
AUS EWIGEM LEBEN KOMMT.
DARUM, WAS ICH REDE, REDE ICH
SO WIE ES MIR DER VATER GE
SAGT HAT.»
Wie aber im Leuchtenden des Urlichts
bereits in dieser Zeit des Erdenlebens der
120 Die Weisheit des Johannes
«Vater» im «Sohne» zur Selbst
darstellung kommt, ‒ wie der Leuch‐
tende selbst sich erlebt als «Sohn»
des ewigen «Vaters», des höchsten
geistigen Oberhauptes aller Leuchtenden
auf Erden, aus dem und in dem ein
jedes Glied dieser geistigen Gemeinschaft
lebt in absoluter Vereinigung, so wird
auch durch ihn nur der «Vater», der
urgezeugte Mensch der Ewigkeit im
Urwort, erkannt in erdenmensch
licher Offenbarung. ‒ ‒
«WIE DER VATER LEBEN AUS
SICH SELBER HAT, SO HAT ER
AUCH DEM SOHNE LEBEN AUS
SICH SELBST GEGEBEN.»
Aber gleichwie Moses in der Wüste die
eherne Schlange aufgerichtet hatte, damit
jeder, der im Glauben zu ihr aufsehe,
121 Die Weisheit des Johannes
genesen sollte, so muß auch im Menschen
dieser Erde das Bild des «Menschen‐
sohnes», des Leuchtenden, «erhöhet»
werden über alles andere, in gläubigem
Bewußtsein der Wahrheit, daß es das
Urlicht selbst ist, das in seiner Selbst‐
aussprache als das Urwort den ewigen,
urgezeugten Menschen des Geistes
«spricht», der ewiglich in seiner Licht‐
gezeugtheit im Urwort verharrt und
«Vater» wird den Leuchtenden, damit
durch sie der Menschengeist auf dieser
Erde wieder Kunde empfange von seiner
Urheimat und von dem Wege, der zu ihr
zurückführt. ‒
«GLEICHWIE MOSES DIE SCHLAN
GE IN DER WÜSTE ERHÖHTE, SO
MUSS DER MENSCHENSOHN
‒ DER KÜNDER AUS DEM REICHE
DES GEISTES ‒ UND DIE KUNDE,
122 Die Weisheit des Johannes
DIE ER BRINGT, ERHÖHET WER‐
DEN, DAMIT ALLE, DIE AN IHN
GLAUBEN, NICHT VERLORENGEHEN
‒ IN ÄONENLANGER NACHT DER
NICHTERKENNTNIS ‒, SONDERN
DAS LEBEN HABEN.»
Und nochmals, um zu zeigen, daß nur
dem Bestätigung wird, der so den
Leuchtenden des Urlichts vertraut, wie
jene der wundertätigen Schlange des
Moses vertrauen mußten, die genesen
wollten, läßt der Verfasser der alten
Sendschrift den Meister sprechen:
«WENN IHR DEN MENSCHENSOHN
WERDET ERHÖHET HABEN, DANN
WERDET IHR ERKENNEN, DASS ICH
ES BIN UND DASS ICH NICHTS
WIRKE AUS MIR SELBST
ALS ERDENMENSCH, NACH MEINER
123 Die Weisheit des Johannes
MENSCHLICHEN WILLKÜR ‒, SON‐
DERN REDE, WAS MEIN VATER
MICH GELEHRET HAT.»
Immer wieder wird betont, daß der
Leuchtende des Urlichts, in dem
die höchste geistige Erlebnisfähigkeit
in einem Menschen dieser Erde auf der
Erde Bekundung findet ‒ der die
höchste Geistigkeit dem Tiere zu
vereinen weiß ‒, nicht seine eigene
erdenmenschliche Weisheit lehrt,
sondern aus der Fülle des Erkennens
spricht, das ihm der «Vater» offenbart.
«MEINE LEHRE IST NICHT MEIN,
SONDERN VON DEM, DER MICH
SANDTE. WILL EINER NACH DES‐
SEN WILLEN TUN, SO WIRD ER
INNEWERDEN, OB DIESE LEHRE
AUS GOTT IST ODER OB ICH AUS
MIR SELBER GEREDET HABE.»
124 Die Weisheit des Johannes
Als Bedingung jeglicher Bestäti
gung der Lehre des Leuchtenden wird
somit gesetzt, daß der Schüler nicht nur
die unermeßliche Bedeutung erkenne, die
der Tatsache innewohnt, daß ein sterb‐
licher Mensch vom innersten Reiche
des Geistes Kunde bringen kann, son‐
dern daß er auch nach den Gesetzen des
Geistes handelt, von denen der Leuch‐
tende nur nach dem «Willen» seines
«Vaters» und im Einklang mit ihm
zu künden kommt. ‒
Doch nicht auf diese äußere Erschei‐
nungswelt der physischen Sinne allein
beschränkt sich das Wirken des Leuch‐
tenden.
Er wirkt ebenso im innersten Reiche
des Geistes ‒ im Reiche der Ur
sachen ‒ wie auf dieser Erde, wie auch
125 Die Weisheit des Johannes
in jenen niederen geistigen Welten,
die der Menschengeist betritt, wenn er
diese Erde verläßt, und von diesem
Wirken kündet er mit den Worten:
«ES KOMMT DIE STUNDE, UND
SCHON IST SIE GEKOMMEN, DA DIE
TOTEN (DURCH MICH) DIE STIMME
DES SOHNES HÖREN WERDEN,
UND DIE SIE HÖREN, WERDEN
LEBEN ‒ DENN SIE KANN DER
LEUCHTENDE AUFERWECKEN:
‒ KANN SIE BEREITEN ZU DER
NEUGEBURT IM GEISTE, DIE DER
VATER WIRKT.»
Doch daß man auch nicht glaube, daß er
als «Sohn» des Vaters etwa frei nach
Willkür schalte, weiß er zu sagen:
«DER SOHN KANN NICHTS AUS
SICH SELBER TUN, WENN ER ES
NICHT TUN SIEHT DEN VATER;
126 Die Weisheit des Johannes
DENN ALLES, WAS DIESER TUT:
AUF GLEICHE WEISE TUT ES
AUCH DER SOHN.
NIEMAND KANN ZU MIR KOMMEN,
WENN DER VATER, DER MICH GE‐
SANDT HAT, IHN NICHT ZU MIR
ZIEHT, DAMIT ICH IHN AUFER‐
WECKE AN SEINEM LETZTEN TAGE.»
Aber keinem Menschengeiste kann im
Reiche des Geistes das dauernde Leben
werden, wenn er nicht glaubt, daß er
dieses Leben finden wird. ‒
Und von diesem Glauben allein, der
ein selbstgewisses Vertrauen sein muß,
hatte der Meister einst gesprochen im
Hinblick auf seine Lehre, die alle Ge
wißheit aus der Geisteswelt durch
eines Menschen Mund auf diese
Erde brachte:
127 Die Weisheit des Johannes
«DIESES ABER IST DAS BROT,
DAS VOM HIMMEL HERAB KAM,
DAMIT, WER DAVON ISST,
NICHT STERBE
Es stand dieses Wort einst an der gleichen
Stelle, an der gesagt ist:
«WER AN MICH GLAUBT, AUS
DESSEN LEIBE WERDEN STRÖ
ME LEBENDIGEN WASSERS
FLIESSEN. ‒ ER SELBST WIRD
GEISTIGES AUS SICH WEITER
ZEUGEN IN DER GEISTIGEN
ERSCHEINUNGSWELT; DENN VOM
'LEIBE' DES GEISTGEBORENEN
IST HIER DIE REDE.»
Und von dem gleichen «Leibe» des
Geistgeborenen wußte der Meister
dort zu sagen, daß dieser «Leib» in
geistiger Erscheinungswelt so «wirk‐
lich» sei wie «Fleisch» und «Blut» in
128 Die Weisheit des Johannes
dieser irdischen Erscheinungsform, so
daß nur der im Geiste bewußtes Leben
haben könne, der dieses geistigen
Leibes Eigner geworden sei.
«WENN IHR DAS FLEISCH DES MEN
SCHENSOHNES NICHT ERLAN
GEN WERDET UND SEIN BLUT
NICHT IN EUCH SEIN WIRD, SO
WERDET IHR DAS LEBEN NICHT IN
EUCH HABEN.»
Alles, was nun in der heute überliefer‐
ten Gestaltung der Sendschrift an der
Stelle steht, an der das Wort vom
«Brote» sich den Worten vom «Fleisch»
und «Blute» mengt, ist spätere Umfor
mung und wohlerwogene Zutat.
Man fand das Wort von dem geistigen
«Leibe» wohlgeeignet, den neuen Kult
zu stützen, der aus den Kultgepflogen‐
129 Die Weisheit des Johannes
heiten mystischer Glaubensgemeinden
entstanden war, wie sie der Orient in
jenen Zeiten allerorten kannte.
So formte man des Meisters Worte der‐
art um, daß sie von seinem eigenen,
erdenhaften Fleische und Blute zu
handeln schienen und nicht von dem, was
ihm im innersten Reiche des Geistes Trä‐
ger seines geistigen Bewußtseins war,
wie hier auf Erden Fleisch und Blut sein
irdisches Bewußtsein trug. ‒ ‒
Man wiederholte diese eigene Glaubens‐
meinung in der Abschrift dann in man‐
nigfacher Paraphrase, indem man sie zu‐
gleich den Worten, die vom «Brot vom
Himmel» handelten, in gleicher Para‐
phrasierung eng verband.
Wohl waren später unter denen, die des
neuen Kultes Liturgie und Riten form‐
130 Die Weisheit des Johannes
ten, manche Hocherleuchtete und «Wis‐
sende»; allein, sie hatten allbereits schon
mit Bestehendem zu rechnen und
suchten durch Auslegung umzuwer‐
ten, was sie dem Wesen nach als fremdes
Kultgut eingewurzelt fanden.
Indessen endeten die einen als ausgestos‐
sene «Ketzer», während der ande‐
ren Deutung nur insoweit angenommen
wurde, als es möglich schien, auch ohne
die aus alten Heidenkulten überkomme‐
nen Lehren zu gefährden, denen der Kult‐
kreis seinen mystischen Nimbus dankte.
Doch ist es wahrlich kein «Zufall», daß
selbst der heute erhaltene Text der Send‐
schrift allein nichts weiß von jenen
Worten der drei älteren Berichte, die sie
den Meister bei dem letzten Osterfest‐
mahl sprechen lassen und die des glei‐
chen Kultes Stütze wurden! ‒ ‒
131 Die Weisheit des Johannes
Wie hätte doch gerade der Verfasser, dem
man die falschen Meisterworte von des
Meisters erdenhaftem Fleisch und Blut
zu unterschieben wußte: von seinem
«Fleische», das «wahrhaftig eine Speise»,
und seinem «Blute», das «wahrhaftig ein
Trank» sei, mit denkbar feierlich
ster Bekräftigung jene Worte beim
Ostermahl verzeichnet, wäre ein einzi
ger Ausspruch auch nur ähnlichen
Sinnes von ihm an der gefälschten Stelle
berichtet worden!
So aber wußte er nur zu gut, daß Vor‐
stellungen alter Heidenkulte hier ein
neues Leben in des hohen Meisters
Namen sich begründet hatten. ‒ ‒ ‒
Gerade in diesem Punkte schied sich
ja das geistige Erfassen, in dem er lebte,
und die Seinen festigen wollte, von der
132 Die Weisheit des Johannes
Lehre und dem äußerlichen Kulte, die
sich um des Meisters Namen rankten und
zu der Zeit, als der Verfasser seine Send‐
schrift schrieb, schon mancherlei Erfolg
verzeichnen konnten, da sie den mysti‐
schen Kultgemeinden, die man allerorten
vorgefunden hatte, in jeder Art des Mei‐
sters Lehre anzugleichen suchten. ‒
Die ganze alte Sendschrift ist nur zu ver‐
stehen, wenn man weiß, daß sie geschrie‐
ben wurde, um den Gegensatz zu zei‐
gen, in dem des hohen Meisters reine
Lehre, die zu jeder Zeit nur Wenige
erfassen konnten, zu der neuen Glau
bensmeinung stand, die mehr und
mehr die Geister fesselte und nicht zum
wenigsten darum Verbreitung fand, weil
sie das Neue so dem Überkomme
nen zu einen wußte, daß alles, was die
133 Die Weisheit des Johannes
Zeit an mystischer Lehre bot, in ihr zu
neuer Geltung kam.
Da sich in solche Glaubensmeinung aber
manches Wort des Meisters mischte,
das auch den Schülern des Johannes
heilig war, so wollte der Verfasser die in
seinem kleinen geistigen Kreise Schwan
kenden durch seine Sendschrift schüt
zen vor der drohenden Gefahr, dem
äußeren Kult anheimzufallen. ‒
Den Zweck, den sie erfüllen sollte, hat
seine Sendschrift aber auf die Dauer
nicht erreicht.
Die letzten Nachfolger der Schüler des
Johannes mußten vor dem neuen äuße‐
ren Kulte weichen und, von dessen Gläu‐
bigen als «Ketzer» angesehen, sich ver‐
bergen, so daß schon kaum ein Menschen‐
alter später keiner mehr zu finden war,
der in der reinen Lehre lebte.
134 Die Weisheit des Johannes
Als dann die alte Sendschrift in die
Hände frommer Glaubenseiferer des
neuen Kultes gekommen war, fand bald
dieser, bald jener Veranlassung, dem
Texte, den man guten Glaubens für
ein Werk des Jüngers Johannes hal‐
ten konnte, all das einzufügen, was ihn
nach Möglichkeit geeignet machte, in den
Versammlungen als Lehrtext verlesen
zu werden.
Die Ehrfurcht vor dem «Wort der
Schrift» hatte in jenen ersten Zeiten
des neuen Glaubens nicht die Bedeu‐
tung, die sie später erlangte.
Weit wichtiger war der Kult des
neuen Erlösergottes und die Verteidi
gung der Glaubensmeinung gegenüber
Juden und Heiden.
So wurden unbedenklich Texte verändert,
wie die Bedürfnisse des Kultes es ver‐
135 Die Weisheit des Johannes
langten, der nun den Formen alter
Mysterienkulte neue Auslegung
zu geben suchte, und ebenso unbedenk‐
lich änderten Juden- und Heidenchristen,
aus denen der Kultkreis bestand, was
in den Berichten ihnen bedenklich
schien vor ihren früheren Glaubens‐
genossen.
Man glaubte immer auf solche Weise
nur der Verbreitung des «wahren»
Glaubens zu dienen und letzten Endes
ganz in der Absicht der alten Ver‐
fasser zu handeln.
Fast bleibt es so ein Wunder, daß trotz
allem doch noch der Urschrift Spuren
da und dort erhalten blieben, wenn auch
der ursprüngliche Sinn sehr vieler
Einzelworte heute in sein Gegenteil
verkehrt erscheint.
136 Die Weisheit des Johannes
Wer aber tiefer schürft und die Verschüt‐
tung wegzuräumen sucht, kann heute
noch allhier die Fundamente eines alten
Tempels finden, in dem die reine
Lehre einst Erfüllung fand, die der
hohe Meister, als ein Leuchtender
des Urlichts, seinen nächsten
Schülern übermittelt hatte.
*
137 Die Weisheit des Johannes
DER PARAKLET
DER HOHE Meister, der als der
Größte aller Liebenden
über diese Erde schritt, wußte
jederzeit gar wohl, daß er die große
Liebestat, die er dereinst vollbringen
sollte, nur in seiner Todesstunde und
nur im Tode durch Menschen
hand vollbringen könne. ‒
So hatte er Zeiten, in denen er sich nach
der Stunde seines Todes sehnte, und
wieder andere Zeiten, in denen er mit
innerem Schauder an sein Ende dachte.
Bald wünschte er seinen Tod herbei, bald
hoffte er, noch lange Zeit zu leben, um
seinen Schülern noch recht lange beizu‐
stehen und ihnen geben zu können, was
sie vorerst «noch nicht tragen» konnten.
Die hohen Brüder, die er aufsucht in
ihrer Einsamkeit, wissen ihm in solchen
Stunden des Schauderns und Entsetzens
141 Die Weisheit des Johannes
nur zu sagen, daß es einem «Sohne» des
«Vaters» im Urwort niemals zieme, nach
dem Kommenden zu fragen...
In solcher Seelenverfassung, sein baldiges
Ende erahnend, ohne zu wissen, wie nahe
es sei, schrieb er aus der Einsamkeit einen
eigenhändigen Brief an seine Getreuen
und übersandte ihn dem Jünger, den er
liebte, weil dieser aus allen ihn am
tiefsten verstand, aus der hellfühlenden
Liebe, die ihn ihm verband.
Durch diesen Jünger sollte der Brief den
Getreuen kundgetan werden.
Aus Niederschriften von des Meisters
eigener Hand stammt manches Wort,
das der Verfasser der alten Sendschrift
den Meister reden läßt; hier aber ist
noch fast der ganze Brieftext erhal‐
ten, auch wenn er später auseinander‐
142 Die Weisheit des Johannes
gerissen und an erwünschteren Stellen
wieder eingefügt wurde, wie es des neuen
Kultes Glaube verlangte.
In seine Urschrift hatte einst der Ver‐
fasser der alten Sendschrift den Text
der Meisterworte solcherart über‐
nommen:
«NOCH EINE GERINGE ZEIT ‒ UND
DIE WELT WIRD MICH NICHT MEHR
SEHEN.
AN JENEM TAGE WERDET IHR MICH
UM NICHTS MEHR FRAGEN KÖN‐
NEN. DOCH ICH WILL EUCH NICHT
ALS WAISEN ZURÜCKLASSEN.
ICH WERDE DEN VATER BITTEN,
UND ER WIRD EUCH EINEN ANDE
REN HELFER SENDEN AUS
DEM GEISTE DER WAHRHEIT:
EINEN, DEN DIE WELT NICHT ER‐
143 Die Weisheit des Johannes
GREIFEN KANN; DENN SIE SIEHT
IHN NICHT UND WEISS NICHTS
VON IHM.
IHR ABER WERDET IHN ERKEN
NEN; DENN ER WIRD BEI EUCH
BLEIBEN UND IN EUCH SEIN.
ER WIRD EUCH ALLES LEHREN
UND EUCH AN ALLES ERINNERN,
WAS ICH EUCH SAGTE.
NICHT AUS SICH SELBST WIRD
ER REDEN ‒ SO WIE AUCH ICH
EUCH SAGTE, DASS ICH NICHT
AUS MIR SELBER REDE ‒, SON‐
DERN WAS ER HÖRT, WIRD ER
REDEN UND EUCH KUNDMACHEN.
ER WIRD MICH BESTÄTIGEN;
DENN VON DEM MEINEN WIRD ER
NEHMEN UND ES EUCH VERKÜNDEN.
ALLES, WAS DER VATER HAT, IST
MEIN.
144 Die Weisheit des Johannes
DARUM SAGE ICH: ER WIRD VON
DEM MEINEN NEHMEN.
WER IHN AUFNIMMT, DEN ICH SEN
DEN WERDE, DER NIMMT MICH
AUF, UND WER MICH AUFNIMMT,
NIMMT DEN AUF, DER MICH GE
SANDT HAT. AN JENEM TAGE WER‐
DET IHR ERKENNEN, DASS ICH
IN MEINEM VATER BIN.
EUER HERZ BETRÜBE SICH
NICHT. SEID OHNE FURCHT!
ICH HINTERLASSE EUCH IN FRIE
DEN.
MEINEN FRIEDEN GEBE ICH EUCH,
DEN DIE WELT NICHT GEBEN
KANN.»
Es ist von nichts anderem hier die Rede,
als daß der Leuchtende verspricht, seinen
Schülern nach seinem Erdentode einen
145 Die Weisheit des Johannes
anderen Lehrer zu schicken, und zwar
einen derer aus dem hohen Kreise der
Leuchtenden des Urlichts, die nicht
mehr im Erdenkörper, sondern in gei
stiger Gestaltung leben, damit sie unter
seiner geistigen Leitung sich vollenden
könnten und nicht in Sorge sein müßten,
daß er von Menschen ergriffen und seinen
Schülern genommen werden könnte wie
der Meister selbst.
Ausdrücklich sagt er in den gleichen
Worten, daß auch dieser Geisteslehrer,
den sie nur in ihrem Innersten zu
hören fähig seien, gleich ihm «nicht
aus sich selber» rede und ihnen das
Gleiche künde, das sie zuvor aus seinem
eigenen Munde vernommen hätten.
Aus dem Schatz des gleichen alten
Weisheitsgutes, das jeder, der ein «Sohn»
des «Vaters» wurde, aus dem Erken
146 Die Weisheit des Johannes
nen des Vaters empfängt, werde er
zu nehmen wissen und dadurch ihn, den
Meister selbst, bestätigen.
War aber der hohe Meister selbst gar
bald nach seinem Tode schon den Gläu‐
bigen des neuen Kultes zum Gotte ge‐
worden, so mußte auch dieser geistige
Bruder des Meisters alsbald zum Gotte
werden. ‒
Man hatte die wirkliche «Dreieinheit»
nicht erkannt, die darin allein gesehen
werden muß, daß sich das gestaltlose,
unfaßbare und alles in sich umfassende
Urlicht ‒ das unendliche, unergründ‐
liche, ewige «Meer der Gottheit» ‒ ewig‐
lich selbst als Einheit im Urwort
offenbart ‒ das «Wort», das «im An‐
fang» ist, der immer war und ist und
sein wird: «Gott» in der Gottheit ‒
147 Die Weisheit des Johannes
und daß das Urwort aus sich selber
offenbart den «Menschen der Ewig
keit» ‒ den lichtgezeugten ewigen
Geistesmenschen, der immerdar in
ihm verharrt und weiterzeugend als
«Vater» alle Geisteshierarchien aus sich
hervorgehen läßt, somit in Einheit
aller Vielheit Inbegriff, in sich offen‐
barend sich selbst in den Zahlen des
Ursprungs, aus denen hervorgeht alle
Unendlichfältigkeit des geistigen
Lebens...
Dieses ewige Sein des Geistes, gleich‐
zeitig Selbstoffenbarung des Gei‐
stes und dieser Selbstoffenbarung geistige
Folge:
     in Unerfaßbarkeit,
     in Einheit,
     in Zahl
148 Die Weisheit des Johannes
die wieder Einheit zeugt unendlich
fältig ‒, ist letzte Wirklichkeit, mit
welchen Worten man ihr auch Bekun‐
dung geben will; denn mit dem gleichen
Rechte wäre sie auch zu bezeichnen als:
     das ewige Unoffenbare,
     das ewig sich Offenbarende,
     das ewige Offenbarte. ‒
Stets wird aber jedes Wort der Men‐
schensprache nur ein Stammeln bleiben,
soll es des Geistes Leben künden, das
allein sich in der Liebe fassen läßt, die
auch den Menschengeist, der sich der
Liebe einst entwand, aufs neue seines
ursprünglichen göttlichen Erlebens
fähig werden läßt. ‒
Der «Geist der Wahrheit» aber ist
des Urwortes Leben: ‒ das Urlicht
selbst in seiner Unerfaßbarkeit ‒, das
149 Die Weisheit des Johannes
sich als Urwort offenbart und in dem
alle Geisteshierarchien leben, die gleich‐
sam Ton und Stimme dieses Urwortes
sind und seine ewig weiterzeugende
Offenbarung in der Geisteswelt des Ur
lichts.
Auch das niedere geistige Leben, das
dem Menschengeiste noch verblieb nach
seinem Falle aus hohem Leuchten, lebt
nur aus dem gleichen Geiste der Wahr
heit: dem substantiellen Geiste des ewi‐
gen Urlichts, von dem der Menschen‐
geist auch schon in diesem Erdendasein
einen «Strahl» erfassen und in seinem
eigenen «Ich» erkennen kann als seinen
«Lebendigen Gott».
Das Urlicht ist allein die ewige
Quelle alles Lebens: das aus sich selber
Seiende!
150 Die Weisheit des Johannes
In sich als Sein unfaßbar für sich selbst,
«spricht» es sich aus im Urwort, das
in ihm allein sein Leben hat «aus sich
selbst»...
Und weiterzeugend, offenbart sich so das
Urwort in dem ewigen Geistes
menschen, der wieder «aus sich selbst»
das gleiche Leben nur im Urlicht
hat und weiterzeugt die Hierarchien aller
Geisteswesenheiten, die alle «aus
sich selbst» das Leben haben, da sie alle
nur des Urlichts nähere und ferne
Offenbarung durch das Urwort
sind, das selbst des Urlichtes erstes,
ewiges Offenbaren ist. ‒ ‒
Die Liebe aber, die sich selbst im
anderen liebt, ist aller dieser Urseins‐
offenbarung innerster Impuls. ‒
151 Die Weisheit des Johannes
Wer «in den Geist» gelangen, wer
bewußt des Urlichts Leben neu in
sich empfinden will, der trachte vor
allem, daß er stetig «in der Liebe»
sei! ‒
Ihm wird man öffnen jene enge Pforte,
die zum Leben führt; denn er weiß
anzuklopfen, er sucht auf
rechte Weise, und sicherlich
wird ihn zu finden wissen
‒ der «Paraklet».
*
152 Die Weisheit des Johannes
SCHLUSSWORT
SOWEIT ICH in diesem Buche Worte
des überlieferten Textes mei‐
ner Rede verflochten habe, nahm
ich sie nur auf, wenn mir die geistige Ge
wißheit wurde, daß sie dem Sinn des
Ursprungstextes noch entsprechen,
und wo dies nicht der Fall war, suchte
ich in meinen Worten diesem ursprüng‐
lichen Sinn gerecht zu werden.
Da ich in diesem Buche nur die alte
Sendschrift deute, die als das «Evan
gelium Johannis» gilt, so ließ ich
mit Bedacht die Meisterworte fehlen, die
ich als gutbegründet auch in den drei
früheren Berichten von des Meisters
Erdenleben kenne, obwohl sie dem, was
155 Die Weisheit des Johannes
ich zu sagen hatte, gar oft Bestätigung
gegeben hätten.
Wer aber meinen Worten folgt, der wird
das Nichtverfälschte in den ande‐
ren Berichten unschwer selbst heraus‐
zufinden wissen, so wie er auch von Fall
zu Fall die Gründe bald entdecken
wird, die in der alten Sendschrift, wie
den früheren Berichten, Einschub und
Überarbeitung veranlaßt haben.
Es ist hier nicht zu leugnen, daß so man‐
ches Wort, das denen, die im Glauben an
die Göttlichkeit der alten Schriften
aufgewachsen sind, einst lieb und teuer
war und ihnen wohl auch heute noch als
heilig dünkt, nur spätere Erdichtung
ist.
Soweit sich solche Worte aber irgendwie
als Wahrheitsträger dartun lassen,
156 Die Weisheit des Johannes
sehe ich noch keinen Grund, sie nun ge‐
ring zu achten oder gar sie zu verwerfen.
Die späteren Bearbeiter der alten Schrif‐
ten waren ‒ will man sie als «Dich
ter» werten ‒ den ursprünglichen
Schreibern oftmals weitaus überlegen.
Sie fanden manches Bild und manche
Sagenformung, um die Glaubens‐
meinung, der sie dienten, in die alten
Texte einzuführen, die ihnen die ur‐
sprünglichen Verfasser wahrlich hätten
neiden können. ‒
Doch ist es ein Anderes, ob man er
kennen lernen will, was einst die Ur
schrift bot, oder ob man fromme Er
bauung sucht in eines Dichters
Worten, der bemüht ist, seinem inbrün‐
stig geliebten Glauben eine Urkunde zu
schaffen.
157 Die Weisheit des Johannes
Da in der alten Sendschrift, die es hier
zu deuten galt, zudem die Urschrift durch
die Dichtung überwuchert ist und
so ein Dokument Verfälschung fand, das
sich als einzige Bekundung jener rei‐
nen Lehre, die der hohe Meister nur den
nächsten Schülern gab, der Nachwelt
dargeboten hätte, so war es nur zu sehr
geboten, lediglich der Urschrift un‐
verfälschten Inhalt wieder aufzurich‐
ten, soweit der Text herangezogen wer‐
den mußte.
Durch eine Redeform, die jeden Satz für
sich bestehen läßt und ihm fast ab
geschlossene Bedeutung gibt, auch
wenn er sich an anderer Stelle findet
als dort, wo er zuerst gegeben war, sah
in der ersten Folgezeit sich jede Glau‐
bensmeinung leichthin in der Lage, die
158 Die Weisheit des Johannes
Sätze, die ihr störend waren, dem Zu‐
sammenklang des Textes zu entreißen und
sie nach Willkür dort dann einzufügen,
wo sie ihr vorzüglich dienen mußten.
Wo dann ein Wort zu finden war, das
man nicht gerne lesen mochte, dort schied
man unbedenklich als der «Ketzer» Zu‐
tat aus, was Urschriftprägung war;
und was doch zu gewichtig schien, um
ausgemerzt zu werden, dem gab man
einen Einschub oder einen Zusatz,
der den ursprünglichen Sinn ins
Gegenteil verkehrte.
Auch nahm man nur zu gerne Worte, die
der Meister einst in völlig anderem Zu‐
sammenhang gesprochen hatte, in die
bald nach seinem Tode schon entstan‐
denen Wundersagen auf, um so den
frommen Glauben an die Wundermären
zu befestigen.
159 Die Weisheit des Johannes
Unzähliges ist entstellt, Unzähliges in
sein Gegenteil verkehrt, und dennoch
bleibt die Spur der reinen Lehre noch
erhalten, dennoch leuchtet durch den
ganzen Text die hohe Liebe, die als
Vermächtnis des Apostels auch in den
fernsten seiner nachgeborenen Schüler
noch erhalten blieb und die auch den
Verfasser zeigt als Liebenden im Licht
der reinen Lehre, die er den Seinen,
denen seine Worte galten, erhalten
wissen wollte ‒ rein, wie er sie selbst
empfangen hatte ‒, unvermischt mit
Glaubensmeinungen, in denen er den Irr‐
tum nur zu deutlich sah. ‒ ‒
Von dem, was sonst noch, dieser alten
Sendschrift gleich, dem Jünger zu‐
geschrieben wurde, den der Meister
«liebte», weil er ihn «in der Liebe»
160 Die Weisheit des Johannes
fand, ist nichts von jenem Jünger einst
geschrieben worden, und nichts davon
entstammt der Feder des Verfassers dieser
Sendschrift.
Was man als «Briefe» des Jüngers
Johannes betrachtet, enthält gewiß so
manches herrliche Wort der Weisheit und
ist wahrhaftig eines Menschengeistes Be‐
kundung, der «in der Liebe» lebte;
allein, diese Briefe wurden erst geschrie‐
ben, als die Sendschrift, von der hier
die Rede ist, schon dem neuen Kulte an‐
geglichen worden war, und ihr Schreiber
war ein Gläubiger des neuen Kultes.
Das sogenannte Buch der «Offen
barung» aber ‒ die «Apoka
lypse» ‒ ist das Werk sehr ver
schiedenwertiger Geister und das
Zeugnis verschiedener Zeiten.
161 Die Weisheit des Johannes
Es finden sich in ihm die Spuren «Wis‐
sender» neben dem mysteriösen Ausputz,
den das Buch durch Gläubige des neuen
Kultes erhielt, und den freigebigen Zu‐
taten späterer Bearbeiter.
Der einst dem Inhalt dieses Buches die
grandiose dichterische Gestaltung gab,
benutzte nur ein Material, das lange vor
ihm schon in Fragmenten vorhanden war
als Bezeugung mystischer Gesichte.
Die reine Lehre aber, die der hohe
Meister seinen nächsten Schülern einst
gegeben hatte und die nur jener Eine,
den er «liebte», ganz erfaßte, um sie
denen zu vermitteln, die zu ihm sich
hielten, ist nur in dieser Sendschrift
zu erkennen, die ein Späterer, der ganz
im Geiste dieser Lehre lebte, auf‐
gezeichnet hat.
162 Die Weisheit des Johannes
Möge das Weisheitsgut, das diese
Sendschrift birgt, trotz aller Über‐
formung, die sie leiden mußte, den
Suchenden der kommenden Tage
nicht verloren sein!
*
163 Die Weisheit des Johannes
ENDE
KULTMAGIE
UND
MYTHOS
Verlagslogo
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG AG
BERN
BÔ YIN RÂ
Autorenname von J. A. Schneiderfranken
3. Auflage
Unveränderter Nachdruck der 1961 in der Kober'schen
Verlagsbuchhandlung erschienenen zweiten Auflage
Erste Auflage Verlag Magische Blätter Leipzig, 1924
© 1972, Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG Bern
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Übersetzung in
fremde Sprachen und der Verbreitung in Rundfunk und
Fernsehen
Druck: Graphische Anstalt Schüler AG, Biel
INHALT Seite
Vorbemerkung 7
Das Werk des Menschen 11
Mythos und Wirklichkeit 19
Mythos und Kult 31
Kult als Magie 41
Magie und Erkenntnis 55
Das innere Licht 69
Die Folgerung 81
Originalscan
VORBEMERKUNG
.Man erwarte hier nicht eine Abhandlung
gelehrten Stiles!
Was hier gegeben ist, will keine historische
Betrachtung sein.
Es ist kein Beitrag zur Altertumskunde.
.Lebendige Quellen bieten hier ihre
Wasser dar!
Leben soll aus ihren Kräften sprießen!
Leben und waches Tun!
Verstehen soll vermittelt werden, damit
man zu sondern wisse zwischen hohen
Dingen und menschlicher Machtsucht,
die sich von alters her dieser Dinge klug be‐
dient...
Und letzten Endes werde so auf wieder neue
Weise der ewig gleiche Höhenweg gezeigt, der
seine Wanderer zum Lichte führt.
*
9 Kultmagie und Mythos
DAS WERK DES MENSCHEN
.Ich kenne Größeres nicht auf dieser Erde
als das Geisteswerk des Menschen!
Insonderheit dort, wo es ihm selbst zu groß
erscheint, so daß er sich Götter schafft nach
seinem Bilde, muß ich des Menschen geistiges
Werk bewundern! ‒
Nie kann es mir an hohem Werte verlieren,
so man mir sagt: ‒ «Nun endlich haben wir
erkannt, daß dieses Geisteswerk, das wir als
Göttertat verehrten, in Wahrheit vom
Menschen stammt.»
Ich weiß, daß alles Geistige auf dieser
Erde stets des Menschen bedarf, soll es für
Menschen in Erscheinung treten und ver‐
nehmbar werden...
Ja, auch des Menschen selbstgeschaffene
Götter weiß ich noch zu ehren um seinet
willen!
Sein Bestes sehe ich in ihnen dargestellt!
Seine eigene Größe zeigen mir seines Geistes
Geschöpfe, die er über sich selbst emporhob,
um ihnen zu dienen...
Seiner eigenen Hoheit Bild schuf er, sich
vor ihm zu beugen...
13 Kultmagie und Mythos
.So ist mir auch mancher hohe Kult und
solchen Kultes weiser Mythos noch heilig um
des Menschen willen: ‒ als ein Werk des
Menschen.
Der Mythos zeigt mir den Menschen in
göttlichem Bilde. ‒
Im Kulte sehe ich ihn das Göttliche in
sich selbst verehren, ‒ benannt mit dem
Namen des Gottes, den er sich selber schuf. ‒
.Wahrlich: du denkst gar gering von dir
selbst, wenn du des Menschen Werk in
jenen Höhen da er sich Götter, Mythos
und Kult erschuf, verachten zu dürfen
glaubst!
Noch bist du dir selber fremd, wenn du
des Geistes Darstellung auf dieser Erde
suchst und dennoch verschmähen willst, was
als das Werk des Menschen sich in solcher
Darstellung bekennen muß! ‒
14 Kultmagie und Mythos
.Unmündigen mußten die Weisen der
Alten weislich verbergen, daß sie selbst ge‐
staltet hatten, was sie als der Götter Wort
verkündeten.
Die aber der Gottheit Stimme in sich
selbst vernommen hatten, mußten Götter
erschaffen, sollte das Wort in ihnen sie nicht
selbst erschrecken!
So ward die Sprache ihres Mundes ihnen
selbst schon Bild und Gleichnis, und jene
Anderen, die sie vernahmen, ließen Bild
und Gleichnis bilderzeugend weiter in sich
wirken. ‒
Hohe Wissende aber, die da erkannten, was
des Menschen geistige Kraft vermag,
schufen dem Mythos den Kult, ‒ schufen
die hohen Formen magischen Wirkens,
die verborgen hinter Bild und Gleichnis, des
Menschen geheimste Macht ihm dienstbar
werden ließen.
Vieles davon ist heute verschüttet, nachdem
es Jahrtausende hindurch einst des Menschen
heiligster Besitz gewesen war.
Vieles ist heute noch im Wirken, doch wird
15 Kultmagie und Mythos
es von denen, die seiner pflegen, kaum mehr
erkannt.
.Die aber allen Kult verachten, da sie
bei der Genesis des Mythos der ihn trägt,
den Menschen am Werke fanden, sind des
irren Glaubens, letzte Erkenntnis entschleiere
Mythos und Kult als Gebilde törichten
Wahns.
Sie ahnen nicht, daß hier der Wissende zu
ehren weiß, was sie mißachten!
Sie ahnen nicht, daß sie über Tempelfunda‐
mente schreiten, in deren Mauern köstliche
Kleinodien noch des Finders harren!
Sie haben den Menschen erkannt, wo sie
ehedem Götter am Werke glaubten, ‒ so
dünkt ihnen wertlos nun und verächtlich,
was sie ehedem verehrten.
Nur Seltene erfühlen in sich selbst, zu welcher
Höhe sich das Werk des Menschen erhe‐
ben kann.
Sie allein noch kennen die Ehrfurcht vor
dem Werke, das der Mensch der Vergangen‐
heit schuf.
16 Kultmagie und Mythos
Sie wissen, daß keine große Kultur bestand,
die nicht auf einem Kulte sich erhoben
hätte, der seine Tragkraft einem Mythos
dankte.
Sie wissen, daß Kult und Mythos sich nicht
schaffen lassen als ein Werk der Willkür
und darum ehren sie, was aus den Tiefen
schöpferischer Kraft des Menschen dermal‐
einst ins Dasein trat.
Noch keiner hat die tiefsten Tiefen
der Quelle dieser Kraft ermessen!
Wer aber ahnend in sich selber sucht, der
wird alsbald erkennen, daß er nur sich
selber lästert, wenn er das Werk der alten
Weisen schmäht...
Erschauernd wird er vor dem Werk des
Menschen stehen, das ihm die Gottheit
offenbart! ‒
*
17 Kultmagie und Mythos
MYTHOS UND WIRKLICHKEIT
.Fern in der Zeiten Nacht verborgen ist
uns jene grauenvolle Not, die einst den
Menschen drängte, da er den ersten dunklen
Mythos zeugte. ‒
.Im Lichtesfeuerglanze ewiger Liebe hei‐
misch, zu ewigem Leuchten im Dasein,
fand sich der Menschengeist, inmitten aller
Schauer einer chaotischen Welt, auf dieser
Erde als ein gefallener Stern.
Tier unter Tieren geworden, hatte ihn den‐
noch nicht alles Licht verlassen.
Unglücklicher als das Tier, ward ihm die un‐
sagbare Einsamkeit bewußt, in die er selber
ehe er sie kannte, sich hinausgesehnt, ‒ die
er sich selbst bereitet hatte. ‒
Und nun ertrug er nicht, wonach ihn ehedem
so sehr verlangte...
.Bildner von Anbeginn, blieb aber
Schöpferkraft ihm noch erhalten, und
selbst in seiner tiefsten Gottverlassenheit
21 Kultmagie und Mythos
vermochte doch das «Tier» sie ihm nicht zu
rauben.
Zu dieser seiner Schöpferkraft nahm er nun
seine Zuflucht, und so erschuf er sich im
Bilde, wenn auch dunkel nur und mannig‐
fach verwirrt, aufs neue, in den Augen‐
blicken ärgster Qual, den Wiederschein der
Lichteswelt aus der er selbst sich ausge‐
stoßen hatte.
.Die mancherlei Gewalten der Natur, die
ihm so drohend nahe kamen und deren
Macht er stetig über seinem Haupte fühlte,
heischten Einlaß auch in seine Geistes‐
schöpfung.
So wurde denn ihr Wirken ihm zum Werke
grausamer Dämonen, deren Gunst der
Machtlose nicht anders als durch Opfer sich
erkaufen konnte.
Was aber mild und wohltatspendend auf den
Qualverwirrten wirkte, wurde ihm zum
Werke guter, wohlgesinnter Götter, denen er
durch Dank und Lob sich angenehm zu
machen suchte.
22 Kultmagie und Mythos
.Da es der Menschen viele waren, die
das gleiche Erdenleben teilten, so fügte
jeder zu der Urgestaltung dieses Bildes einer
übererdenhaften Welt ein Eigenes an Ge‐
staltung bei, bis allen nicht mehr zu Bewußt‐
sein kam, daß sie die Schöpfer dessen
waren was nun ihren Glauben formte.
Der erste Mythos war geboren und hatte
Macht erlangt über den Menschen! Unzählig
sind die Formen, die aus seinem Samen von
Geschlechtern zu Geschlechtern fortgezeugt,
ins Dasein traten.
In allen offenbarte sich für lange Zeit nichts
anderes als die arge erdenhafte Not des
Menschen.
.Dann aber kamen Einige, die von hohen
Wundern zu erzählen wußten, die ihnen in
der Stille begegnet waren.
Die Hierarchien der geistigen Welt hatten
des Menschengeistes im Tiere sich erbarmt
und wollten ihm den Weg zurück zu seiner
Heimat zeigen.
23 Kultmagie und Mythos
Nicht anders aber war hier Erlösung zu
schaffen, als durch den Menschen selbst.
So suchten und fanden sie jene Wenigen die
sie zu Leuchtenden im Urlicht berei‐
ten konnten um durch sie den anderen
Licht zu spenden.
Im Herzen Asiens waren sie gefunden
worden und von hier aus gingen sie in alle
Welt, getreu der Sendung, die ihnen gewor‐
den war.
Unter allen Völkern tauchte plötzlich einer
der ihren auf, ‒ es entzündete ihre Rede
eine heilige Flamme in allen die sie hörten.
Was sie zu verkünden hatten aber war zu er‐
haben, als daß es unverhüllt ertragen
worden wäre.
So ging es in den Mythos ein, wie er jeweils
an dem Orte ihres Wirkens lebte. Es folgte
eine Zeit, die den Mythos zu Bild und Gleich‐
nis hehrster Weisheit erhob.
Geheimste Erkenntnis ward Unzähligen
durch ihn vermittelt.
24 Kultmagie und Mythos
.Das «Tier» aber hatte zu sehr schon den
Menschengeist umnachtet, so daß auch Un‐
zählige verblieben, die das Licht nicht er
reichen konnte. ‒
Das Licht kämpfte und rang mit der Finster‐
nis, aber die Finsternis blieb im Siege...
Nun ward der Mythos in gar vielen Wand‐
lungen gewandelt, und was da Licht und
Leben einst in ihm gestaltet hatten, er‐
starrte zu lebloser Form, ‒ wurde zu
Pfeilern der Götzentempel.
.Aus tiefster Verborgenheit heraus suchten
die Leuchtenden ‒ jeder Generation aufs
neue gezeugt ‒ an allen Orten der Erde
stets zu retten was zu retten war. Doch es
blieb in jedem Menschenalter nur eine gar
geringe Zahl, die sich von ihnen finden ließ.
Die Anderen taumelten den Weg des Wahns
dahin, dem «Tiere» und dem Dämon der
Erde mehr und mehr verhaftet, fern aller
Sehnsucht nach dem Lichte.
25 Kultmagie und Mythos
.In solcher stets wachsender Not, als die
Gefahr des Versinkens in grauenvollste Nacht
des seelischen Erlöschens allmählich aller
Menschheit drohte, erbarmten die geistigen
Hierarchien sich aufs neue der Gefallenen im
Erdentiere und erwirkten ihnen Hilfe aus
der Geisteswelt: ‒ sandten der Leuchtenden
einen mit einer Sendung aus, die vordem
keiner noch erfüllen mochte und die auch
nach ihm keiner mehr erfüllen könnte.
In unerfaßbarer Liebe hatte er selbst in der
geistigen Welt sich zu solcher Sendung dar‐
geboten...
Damit er fähig werde ihr zu entsprechen,
hatte er seine Liebeskraft schon im gei
stigen Reiche zu höchster Vollendung em‐
porgeläutert, bevor er dem «Tiere» dieser
Erde sich vereinte...
Als der Größte aller Liebenden die je
die Erde trug, vollbrachte er in seinem Tode
was er zu vollbringen übernommen hatte.
In seiner Todesstunde auf Golgatha wurde
durch ihn der Erde unsichtbare Aura
derart verwandelt, daß allen nun, die
26 Kultmagie und Mythos
ehrlich suchen und in sich den Willen von
der Finsternis zum Lichte kehren, Erlö
sung werden muß, so sie mit aller Inbrunst
in sich selber darum bitten...
Es war nun leicht geworden durch ihn, was
vor seiner Liebestat auf Golgatha die Kraft
der Stärksten kaum erreichen konnte! ‒ ‒
Noch blieb die Finsternis zwar an ihrem Ort,
allein sie hat nicht mehr die Kraft, den
Menschen der ihr wahrhaft widerstehen will,
wie ehedem zu binden.
Ihre stärkste Macht ward durch jene Tat
der Liebe eines Erdenmenschen für
immerdar gebrochen! ‒ ‒ ‒
.Wohl hatte der große Liebende den My‐
thos seiner Zeit und seines Volkes durch
lichtet.
Wohl hatte er in ihm die hohe Weisheit
aufgezeigt und sie gesondert von dem
Wahn der sie fast zu erwürgen drohte.
Wohl hatte er, als der Erste seiner Brüder,
die Lehre des Geistes, die er zu geben hatte,
27 Kultmagie und Mythos
rein und klar vermittelt ohne sie als Bild
werk einzuweben in den Mythos, wie es jene
Früheren, die einst den Menschen lehrten,
noch für ratsam hielten.
Allein er konnte nicht verhindern, daß nach
seinem Erdenwallen Andere sein eigenes
Bild dem Mythos einverwoben, ja, daß die
Kunde seines Lebens selbst zum My
thos wurde. ‒
Auch in diesem Mythos fand ewige Weis
heit Gleichnis und Bild!
.Auch in diesem Mythos aber wurde
Weisheit so von Wahn umschlungen, daß
scharfe Sonderung nötig ist, soll nicht der
Wahn die Wahrheit dauernd überwuchern!
Der letzte große Mythos den die
Menschheit schuf, muß sich zur Wirklich
keit verklären, von der er ausgegangen ist!
.Jahrtausende diente der Mythos dem
Menschen, ihm seine Nacht zu erhellen, ‒
28 Kultmagie und Mythos
nun aber ist die Zeit der Lehre durch den
Mythos erfüllt, ‒ die Zeit der Erkenntnis
aus der Wirklichkeit ist angebrochen!
‒ ‒ ‒
Der Mensch der kommenden Gezeiten wird
den Mythos, den die Vorzeit schuf, wie
keiner je vor ihm zu ehren wissen, allein
er wird ihn wie das Bild des Spiegels
werten, das ihm zwar Aufschluß gibt, will er
sein Antlitz selbst betrachten, und dennoch
keineswegs sein körperhaftes Dasein in sich
birgt.
.Die Schöpferkraft des Menschen wird
sich mählich mehr und mehr in anderer
Weise Anreiz zur Gestaltung suchen, doch
wenn auch manches wirkliche Geschehen
noch dem Mythos dienen mag, so wird
man dennoch wohl zu unterscheiden wissen
zwischen letzter Wirklichkeit des Seins
und allem was sich nur durch Bild und
Gleichnis sagen läßt.
29 Kultmagie und Mythos
.Die Macht, die einst der Mythos über
die Gemüter hatte und die er heute noch zu
halten weiß wo noch der Glaube lebt, den
er einst formte, wird ihm in einer neuen Zeit
genommen werden, und niemals wird sie
ihm je wiederkehren können! ‒
Des Geistes Leben, das der Mythos nur
zu spiegeln wußte, wird den neuen Men‐
schen selbst erfüllen, und in sich selber
wird er aller Wahrheit innewerden, die
seinen Vätern nur im Bilde durch den
Mythos nahekam.
Inzwischen aber möge der Mythos der Alten
die Ehrfurcht allenthalben finden, die ihm,
als dem geistigen Werke des Men
schen, wahrlich gebührt!
*
30 Kultmagie und Mythos
MYTHOS UND KULT
.Die Götter zu ehren, ihnen zu danken
oder die unholden zu versöhnen, mußte
des Menschen Trachten sein, dessen Glaube
der Mythos formte.
Nicht anders schien ihm dies möglich, als
durch äußeres Werk.
Bald aber glaubte er auch zu erfühlen, daß
bei solchem Tun die Form der Handlung
von Bedeutung sei.
Nicht jeglicher Gebrauch bei Opfer, Dank
und Lobgesang schien gleichen Wertes in
der Götter Wertung.
So sonderte er Formen der Verehrung und
des Opfers aus, die nicht der Götter Wohl‐
gefallen fanden, und übte andere Formen,
die ihm, wie er glaubte, ihre Gunst bescheren
mußten.
Eigener Wünsche Erfüllung größere Gewähr
zu schaffen, führte zu strengster Innehaltung
scheinbar sicher erprobten Gebrauchs.
Der Kult der Götter hatte seine feste Form
gefunden.
33 Kultmagie und Mythos
.So glaubte man sich den Himmlischen
die der Mensch im Mythos einst geschaffen
hatte, verpflichtet, bis jene ersten der Leuch
tenden erschienen, die den Mythos hell
ten.
Sie waren es, die den Kult der Götter zu‐
erst aus Banden dumpfen Aberglaubens
lösten, und ihn benutzten, um des Men‐
schen innewohnende magische Kraft zu
wecken.
Sie wußten um die Fähigkeit des Menschen,
Unsichtbares zu erregen, so daß es nach des
Menschen Willen wirken und ihm dienst
bar werden muß.
Sie wußten aber auch, daß nur letzte innere
Zuversicht solches Werk zum Gelingen
bringen kann, und banden so bewußt das
magische Tun an den Glauben, den sie je‐
weils fest gegründet fanden.
Als der Götter Gnade und Huld trat so in
des Menschen Bewußtsein, was er eigener
magischer Kraft zu danken hatte...
Noch war er nicht reif ‒ noch ist er es heute
nicht ‒ die Wirkung dieser hohen Kraft,
34 Kultmagie und Mythos
nur auf sich selbst gestellt zu er‐
proben.
.Wohl war es nicht augenblickliche Zau
berwirkung die auf solche Weise erfolgte,
doch zeigte sich nun eine weitaus gewissere
vermeintliche «Erhörung» der Wünsche.
Infolge der Durchlichtung des Mythos er‐
wuchs der Kult zu erhabenem Geschehen
und tiefste seelische Klänge wurden in dem
Gläubigen erweckt.
Die spätere Zeit des Verfalls und der Erstar‐
rung erst zerstörte auch hier das Leben und
hegte nur noch die äußere Form als ste‐
riles Gehäuse.
.Noch aber blieb Erinnerung ‒ ge‐
nährt durch die Sage ‒ an früheres segens‐
reicheres Geschehen.
Der Wunsch, die äußere Natur auch ohne
harte Arbeit zu bezwingen, ließ Legenden
wachsen, die der Ahnen «Zauberkräfte» ins
35 Kultmagie und Mythos
Gigantische erhoben zeigten, und die Götter,
die man jetzt nicht mehr erreichte, unter
Menschen wandelnd...
Man ahnte auch wohl, daß in Verborgenheit
noch Kulte blühten, die das Vermächtnis
alter Zeit zu hüten wußten.
Da aber die Verborgenen das ihnen Heilige
nicht profanierten, benützte allenthalben der
Betrug die Neugier um sich in Respekt zu
setzen.
Die Geschichte des Priestertruges be‐
ginnt in jenen, noch vorgeschichtlichen
Tagen!
Was die Geschichte heute an alten Kulten
kennt, stammt allerfrühestens bereits
aus der Spätzeit ihres Bestehens! ‒
Jahrtausende vorher müßten der For‐
schung zugänglich sein, sollte sie sichere
Kunde über die Ausgangspunkte der alten
Kulte bringen können!
.So Gewichtiges von höchstem Werte
aber auch verschüttet wurde: ‒ ein kärgli‐
36 Kultmagie und Mythos
cher Rest des einst Gewesenen blieb dennoch
bis in geschichtliche Tage erhalten, und
selbst in dieser heutigen Zeit ist noch nicht
alles von dem was jene Alten kannten, von
der Erde verschwunden.
Ein in Europa vor kaum zweitausend Jahren
nur scheinbar «neubegründeter» Kult
führt vieles davon noch heute als Erbgut mit
und weiß sehr wohl, weshalb er es vor aller
profanen Betastung schützt, während im In‐
neren Asiens ein noch weit jüngerer Kult
‒ aus guten Gründen dem in Europa einst
erblühten nur allzuähnlich ‒ nicht minder
vorgeschichtlichem Erbe neue Form und
neue Deutung gab. ‒ ‒
.Töricht wäre es heute, einen neuen Kult
zu schaffen, der, wie die hier gemeinten,
einem Mythos seine Tragkraft danken
würde.
Töricht vor allem: dem Mythos, der seinen
Kult noch besitzt, einen neuen Kult nach
Willkür zu formen.
37 Kultmagie und Mythos
Wer hindert die neuen Gläubigen des My‐
thos, die einst seinen Kult verließen, ihn
nun, befreit von späterer Zutat, aufs neue
so zu übernehmen, wie er einst vom Alter‐
tum, für den damals neuen Mythos umge
wandelt, übernommen worden war, wenn
das Bedürfnis nach einem, von ihrem
gläubigverehrten Mythos getragenen Kulte in
ihnen heute aufs neue lebendig sein sollte?! ‒
Eine heute vielleicht nicht mehr zu ferne
Zeit wird freilich des Mythos nicht mehr
bedürfen um sich ihren Kult zu schaffen. ‒
Ihr Kult wird auf dem Wesentlichsten
aller alten Kulte fußen, wird reinste Kult‐
Magie und Dienst am Innersten des
Menschen sein! ‒ ‒
Aber auch dieser kommende Kult läßt sich
nicht, aus Sehnsucht nach ihm, nach bloßer
Willkür schaffen.
Erst müssen die Kräfte im Menschen, die er
voraussetzt, allüberall in Vielen erweckt
und in lauterer Wirksamkeit sein!
Dann wird er gewißlich erstehen, aller
Hemmnisse spottend!
38 Kultmagie und Mythos
Längst ruht der Samen im Schoße der un
sichtbaren Erde, aus dem er, mit starkem
Schafte sprießend, dereinst zum Baume er‐
wachsen wird!
Aus seinen Früchten wird eine kommende
Kultur sich nähren! ‒
Die Sehnsucht der Vielen die ihn ersehnen,
wird mehr und mehr die Triebkraft des Samens
wecken aus dem er ersteht....
*
39 Kultmagie und Mythos
KULT ALS MAGIE
.Aus einem Dienste, den man gleich
dem Königsdienst, den Göttern, die man
selbst geschaffen hatte, einst zu schulden
glaubte, hatten des Urlichtes Leuchtende den
Kult zur Kult-Magie erhoben.
Noch aber durften zu selbiger Zeit nur Er
lesene hier um letztes Geheimnis wissen.
Noch war die Überzahl der Menschen keines‐
wegs herangereift, das Wissen um ihre eigene
Geistesmacht ohne Schaden für die Seele zu
ertragen.
So sehr bleibt stets der Menschengeist dem
«Tiere» dieser Erde, das ihm Zuflucht wurde,
unterworfen, daß auch die allermeisten Men‐
schen dieser heutigen Tage an der Seele
Schaden leiden würden, wüßten sie um ihre
Macht im Unsichtbaren.
Doch braucht die letzte Wahrheit heute
trotzdem keine Hülle, da jene, denen sie
nicht taugt, sie ihren Augen selbst verber‐
gen, mag auch im hellsten Sonnenlichte sie
vor aller Welt erscheinen. ‒
Sicherster Schutz wird ihnen durch ihren
entkräfteten Glauben!
43 Kultmagie und Mythos
.So läßt sich heute denn von vielen Dingen
reden, die einst die alten Weisen einem
glaubensstarken und dem Unsichtbaren eng
verbundenen Geschlecht verbergen muß‐
ten, wollten sie es vor sich selber schützen.
Auch heute werden es nur die Erlesenen
sein, die das Geheimnis ihrer geistigen Macht
erfahren, denn sie allein sind fähig, es
zu fassen! ‒
Nur sind die Erlesenen heute reicher an
Zahl als jemals vorher in der Zeiten Folge...
Ihnen allein kann Seelengut und Er
lebniserregung werden, was hier zu Worte
wird! ‒
.Vom Kulte sei hier die Rede, soweit er
als Magie sich auswirkt um des Menschen
willen!
Die Gottheit, die des Menschen bedarf
um sich dem Menschen zu offenbaren, heischt
wahrlich keinen Kult um ihretwillen, allein
der Kult, der in Magie sich auswirkt, kann
den Geist des Menschen aus dem Schlaf
44 Kultmagie und Mythos
im «Tiere» lösen und ihm ein Reich des
Wirkens neu erschließen, das ihn erkennen
lehrt, daß ihm auch dort noch Hilfe wird, wo
alle Macht des «Tieres» ihre Grenzen fühlt.
.Das Wort «Magie» ist sehr in Mißkredit
gekommen.
Die Charlatane aller Zeiten haben es ent‐
wertet.
Und dennoch wirkt Magie auf allen Wegen!
Zum Fluche wird sie allen die sie nützen
wollen, ihren Erdentiereswünschen feil
zu sein...
Zum Segen wandelt sich ihr Wirken, wenn
die Liebe ihr begegnet! ‒
Darum ist alle hohe Kultmagie so mächtig,
weil in ihr, verborgen unter manchem dich‐
ten Schleier, dennoch die Liebe wirkt! ‒
.Von Kultmagie kann nur die Rede sein
wenn Viele sich zu magischem Tun in
45 Kultmagie und Mythos
Einem einen, und solche Einigung bedarf
der Liebe. ‒
Hier wird das Mysterium enthüllt, das in den
Worten noch erhaltener Kultfragmente im‐
mer wiederkehrt, wenn jenes neueren Kultes
Priester die Gemeinde segnen:
«Der Herr sei mit euch
und wenn dieser Segen dann aus der Vielheit
stets zurückhallt:
«Und mit deinem Geiste!» ‒
.Mag auch für die Allermeisten, die ge‐
meinsam sich bei solchem Kulte finden,
längst dieser Segensspruch zu bloßem For‐
melwort entwertet sein, so bleibt er doch als
Hinweis auf die Vorbedingung aller hehren
Kultmagie bedeutungsvoll...
Hier soll in altgegebener Form die Seelen
einigung sich vollziehen, durch die dem
magisch Wirkenden die Kräfte aller die an
seinem Wirken Anteil nehmen, liebend über
tragen werden. ‒
Mit dieser ungeheuren aufgetürmten Seelen‐
46 Kultmagie und Mythos
kraft beginnt nun und vollendet hier der
Einzelne, in sich vereinigend den Willen
Aller, das hohe magische Werk. ‒
Die Deutung, die man diesem Werke gibt,
liegt hier weit außer dem Bereich der
Wirksamkeit!
Was hier geeinter Wille, glaubensstark und
in dem magischen Geschehen durch die
Liebe, die den eigenen Glauben in dem
Anderen liebt, verbunden, heiß erstrebt, ist
durch kein «Dogma» zu berühren! ‒
Die Gottheit, die durch diese Kultmagie
veranlaßt werden soll, dem Menschengeiste
sich für Augenblicke innerlich, als in diese
Welt der Erdensinne nun erfaßbar einge‐
gangen, zu bezeugen, ist wahrlich aller Wir‐
kung solchen magischen Geschehens sehr
entrückt, allein der Gläubige wird dennoch
letzte Wirklichkeit erleben.
.Der uralt heilige Kult, der hier zu neuem
Leben kam, sah in dem Brote, das der
Mensch als Nahrung braucht, und in dem
47 Kultmagie und Mythos
Weine, der als Trank der Kräftigung galt,
da er der Sinne Leben steigerte, die irdischen
Substanzen, die am meisten würdig waren,
die Gottheit in sich aufzunehmen, sollte sie
magisch sich der Materie einen.
Zwar war es der Mensch, der für sich
selber diese Einigung suchte, allein: noch
sinnlich ungebrochen, konnte sie ihm nur
Erlebnis werden durch die sinnliche
Erfahrung.
Wie anders sollte der Gott sich mit ihm ver
einen, als durch Speise und Trank, da
nur durch Trank und Speise Fremdes sich
ihm einverleiben konnte!
.Hier ist nicht zu fragen: wie etwa Ma
terie durch Magie verändert werden
könne, ‒ hier ist nur bedeutungsvoll, was
im Bewußtsein des Gläubigen sich voll‐
zieht, der Brot und Wein in sich aufnimmt,
nicht als irdische Materie, sondern als
die ihm sinnlich faßbaren Träger der Gott
48 Kultmagie und Mythos
heit, wie immer er sie auch benennen
mag. ‒ ‒
Wer in den Reichen des Unsichtbaren be‐
wußt und erlebnisfähig wurde, der weiß auch,
daß sich der inbrünstig Gläubige bei solchem
Kultmahl keineswegs betrügt.
.Nicht Brot und Wein bewirken freilich
die für die Zeit der höchsten Konzen
tration nach ihrem Genusse mögliche
«Schwingungsänderung» der eigenen Gei‐
stessubstanz, so daß sie für diese Mo
mente wahrhaft göttlichgeistiges Le
ben aufzunehmen fähig werden kann, son‐
dern allein die magische Kraft, die der
Glaube aus sich erzeugt. ‒
.Noch haben nur wenige erkannt, was
diese magische Kraft vermag, wenn sie zu
gleich von Vielen ausgeht, die alle des
gleichen Willens und des gleichen Glau
bens sind. ‒
Es ist diese akkumulierte Kraft, die zu
49 Kultmagie und Mythos
rückströmt auf jeden Einzelnen der des
gleichen Glaubens und Willens ist, selbst
dann, wenn er nicht bei ihrer Erweckung
während der Kulthandlung beteiligt war. ‒
.So baut denn auf wahrlich gut gesicher
tem Boden, was als ältesten Kultes Erb‐
teil heute in neuerer Gestaltung noch vor‐
handen ist und vielen derart befremdlich
dünkt, daß sie nur finstersten Aberglauben
zu erkennen wähnen. ‒
Die Deutung aus seinem, ihm unantast‐
baren Mythos, die dem Gläubigen unum‐
stößlich gewiß erscheint, obwohl nur sie
allein den Kult der Sphäre menschlichen
Irrens nahebringt, ändert nicht das Min‐
deste daran, daß Kräfte hier zur Auswir‐
kung gelangen, die durch den Kult erweckt,
sonst tief verborgen im Menschen ruhen.

.Der Weckung dieser Kräfte dient die
eigentliche Kult-Magie: eine Magie der
50 Kultmagie und Mythos
Zeichen, die von dem sie Ausübenden ver‐
langt, daß sein eigener Körper nach
streng bestimmtem Rhythmus und in streng
gegebener Folge selbst sich zu magischen
Zeichen forme, ‒ eine Magie der Laute,
die ebenso streng bestimmte Lautfolgen
und solcher Lautfolgen öftere Wiederholung
fordert.
Der begriffliche Sinn der Gebete, in
die sich diese Lautmagie verhüllt ‒ nicht
alle Gebete, die der Kult verlangt, sind sol‐
chen magischen Charakters ‒ kommt für die
erstrebte Wirkung keineswegs in Betracht.
Aus dieser Lautmagie erklärt es sich, daß
die Hälfte des noch erhaltenen Kultes ver
nichtet wäre, wollte man das gesprochene
Wort, das er fordert, nicht mehr in jener
alten Sprache sprechen, aus der er hervor
gegangen ist...
.Ob jene, die den Kult noch üben, wis
sen, was sie tun, ist ebenso belanglos wie die
Deutung, die sie ihm zu geben haben, und
51 Kultmagie und Mythos
wie die Gründe, die sie geltend machen, wol‐
len Neuerer ihn verändern.
.Kultmagie ist keine bloße «Sym
bolik»!
Kultmagie ist ein Wirken nach
strengen Gesetzen, zur Auslösung
magischer Kräfte, die im Menschen
verborgen sind!
.Altehrwürdig und um Jahrtausende
älter als man zugestehen möchte
vorausgesetzt, daß man es erahnt ‒ ist jener
Rest eines alten Kultes, der diesen heutigen
Tagen noch erhalten blieb! ‒ Altehrwürdig
ebensowohl in dem seit fast zweitausend
Jahren bestehenden Kulte, auf den hier vor‐
nehmlich meine Worte deuten, wie in dem
zeitlich jüngeren, den man noch im Inneren
Asiens übt! ‒ ‒ ‒
52 Kultmagie und Mythos
.Daneben aber sind noch gar manche
Fragmente alter magischer Kulte bei den
verschiedensten Völkern der Erde zu finden.
Oft hält man für einen Kult «auf primitiver
Stufe», was nichts anderes ist, als ein solches
degeneriertes Teilstück aus einem hohen
Kulte vorgeschichtlicher Zeit, ‒ wie
denn auch die Völker, um die es sich handelt,
keineswegs erst am Anfang, sondern am
ruhmlosen Ende ihres ehedem unvergleich‐
lich höheren Geisteslebens stehen. ‒ ‒
Wie hohe Kultur der Vertiertheit wei‐
chen mußte, so trat dann an die Stelle hohen
magischen Kultes, finsterer Fetisch
dienst und Zauberbrauch.
Im Zerrbild endet, wenn der Mensch dem
«Tiere» und damit dem Dämon dieser Erde
sich ergibt, was er einst schuf, auf daß es ihn
der Gottheit nahe bringen sollte...
*
53 Kultmagie und Mythos
MAGIE UND ERKENNTNIS
.Die magischen Riten der alten Kulte
sind wahrlich von Weisen geformt, die um
die Gesetze alles geistigen Geschehens wuß‐
ten.
Hier waren Wirkende am Werke die im
Geisteslicht erkannten, daß der Mensch mit
beiden Füßen fest auf dieser Erde Boden
stehen müsse, wenn er mit weitgespreiteten
Armen himmlische Gestirne in die Macht
seiner Hände zwingen wolle...
Gleichweit entfernt von selbstgeschaffener
Ekstase wie von jenem engen, erdgebundenen
Blicke der sich über seine nächste Umwelt
nicht erheben kann, erlebten sie im Innersten
die unvergleichliche hohe Einung aller
Seelenkräfte, die alles Äußere ins Innere
bringt und die kein «Außen» kennt, das nicht
der sichtbarliche Ausdruck innersten Ge‐
schehens wäre. ‒
So wußten sie ein äußeres Tun zu formen,
das Allerinnerstes erreichen mußte, um
durch dies Allerinnerste das Äußere zu
wandeln.
Den geistigen Gesetzen untertan, suchten
57 Kultmagie und Mythos
sie Menschen und Dinge aus erdenhafter
Bindung zu erlösen.
Sie lehrten äußere Kräfte so gebrauchen,
daß Allerinnerstes, durch sie zur Wir
kung angeregt, die Banden sprengte,
die anders nicht zu lösen waren.
Selbst hohe Magier, lehrten sie Magie
der göttlich höchsten Art und wurden
so zu Erlösern ihrer im Tiere schlafenden
Brüder.
Nicht jene irdische Erkenntnis wollten sie
vermitteln, die, als Frucht des Denkens,
zwar hohe Werte fördern, aber nie zu
geistigem Erwachen tauglich machen
kann.
Ihr Wirken galt dem geistigen Erkennen,
dem jene Dinge sich entschleiern müssen,
die nie dem Denken sich enthüllen kön‐
nen, da sie dem Schein entrückt, als letzte
Wirklichkeit im Sein allein sich finden. ‒
.Alles Denken menschlicher Gehirne ist
für immerdar in der Erscheinungswelt
58 Kultmagie und Mythos
verankert, der die Gehirne, mögen sie auch
über rein Abstraktes fabeln, selbst als
Teile angehören.
So wie da keiner sich selbst überspringen
kann und wenn er auch der beste Springer
wäre, so kann kein Denker jemals dem Be
reich des Denkens ‒ der irdischen Er
scheinungswelt ‒ sich selbst entziehen,
und wenn er es versucht, wird er mit aller
Arbeit seines messerscharfen Denkens sich
nur selbst zum Narren haben ohne solches zu
bemerken...
Alles aber, was zu dieser irdischen Er
scheinungswelt gehört, ist jenes «Außen»,
dem ein Innerstes entspricht, das nie im
Denken zu erreichen ist, da alles Denken,
mag es sich auch noch so hoch erheben,
Funktion bleibt der Erscheinungs
welt, in ihr beschlossen und verhaftet, mag
auch der Gegenstand des Denkens an
sich selbst hoch über aller irdischen Er‐
scheinung liegen. ‒
Als Material des Denkens ist des Gegen‐
standes vages Abbild nur gegeben. Er
59 Kultmagie und Mythos
selbst bleibt wo er war und kann dem
Reiche irdischer Erscheinung niemals sich zu
eigen lassen.
.Der Denker kann nicht Dinge letzter
Wirklichkeit erfassen.
Er setzt für sie Gedanken, die als Ge
bilde der Erscheinungswelt in ihr be
schlossen bleiben. ‒ ‒
Auch alle Geisteswelten sind Erschei
nungs-Welten, wenn auch von weit subli‐
merer Art als die Erscheinungswelt der kos‐
mischen Materie.
Und auch in ihnen kann das Denken nie
das Innerstedie letzte Wirklich
keit ‒ erreichen. ‒
Wohl ist das Denken dort an geistige Or‐
gane nur gebunden und so mannigfacher
Hemmung frei, die irdische Gehirne fesselt.
Allein auch jene geistigen Organe sind nur
Teile geistiger Erscheinungswelten und
was sie fassen können, bleibt in geistiger Er‐
scheinungswelt beschlossen.
60 Kultmagie und Mythos
Soll aber letzte Wirklichkeit der sicheren
Erkenntnis sich enthüllen, dann gibt es nur
ein Inne-Werden dessen, was es zu erkennen
gilt!
Nur im Erleben ist die letzte Wirklich
keit zu fassen! ‒ ‒ ‒
.Es ist dies ein Erleben, das, der Kraft
nach, über allem Denken steht, der Art
nach aber jenseits allen Denkens. ‒
Solches Erleben zu bewirken lehrten die
hohen Meister vorgeschichtlicher Tage einst
die reine Magie, die sie im Kulte zu ver‐
ankern suchten.
Es wurde jene Kultmagie der Welt gege‐
ben, die sich noch jetzt in letzten Resten auf
der Erde findet...
.Die Fundamente alter Tempel die
einst solchen Kult am Werke sahen, haben
ernste Forscher ausgegraben.
Sie fanden auch so manches Kultgerät,
fanden mannigfache Spuren bildgefaßter
61 Kultmagie und Mythos
Darstellung der alten Lehre, allein des
Kultes heiliges Mysterium ging einst mit
jenen Menschen unter, die es in ferner Vor‐
zeit als der Götter Gabe streng vor jeglicher
profanen Neugier schützten. So sorgsam war
dieser Schutz, daß aller Forschungsfleiß ver‐
geblich ist, will er aus den Fragmenten die
gefunden wurden, Schlüsse auf die Art des
einst geübten Kultes ziehen.
Nur jene letzten kultischen Reste die sich in
der Sprache Roms sowie im Innern Asiens
erhalten haben, könnten hier spärlichen Auf‐
schluß geben. ‒
Auch hier aber würde wohl allzuleicht der
rote Faden, der des Labyrinthes Ausgang
finden lassen könnte, verloren.
Nur der verliert ihn nicht, der klar erkannte,
daß die alte Kultmagie nicht Lehre als Ge
dankengut vermitteln wollte, sondern
Menschen zum Erleben dessen führte, was
anders nicht zu fassen ist als nur im inner‐
sten Erlebnis höchster Art. ‒
In solchem Erleben nur wird Erdenmen‐
schen jene Erkenntnis, die auch der Tod
62 Kultmagie und Mythos
des Erdenleibes nicht erschüttern oder gar
vernichten kann! ‒
.Nur solche Erkenntnis aber lohnt des
Erdenmenschen Streben nach gesichertem
Erkennen!
Dem so Erkennenden wird jegliche Erschei‐
nungswelt ‒ sei es die Welt der kosmischen
Materie oder eine jener Welten geistiger
Substanz ‒ zum Ausdruck und zum reinen
Bilde letzter Wirklichkeit.
Nur er wird jegliche Erscheinung aus dem
Innersten des Seins heraus verstehen, sei es
in diesem Erdenleben, oder in den mannig‐
fachen Lebensformen, die der Menschengeist
durchlebt, wenn er vom Körper dieses Erden‐
tieres bereits abgeschieden ist! ‒
.Uralte, aus des Menschen Erdennot ge‐
zeugte Fabeln wollen ihn bereden, daß er
nach diesem Erdenleben sogleich die volle
Klarheit in den Sphären übererdenhaften
Lichtes fände.
63 Kultmagie und Mythos
Der Mensch aber möge sich fernehalten
solcher wunschgeborenen Täuschung! ‒
Was nicht auf dieser Erde in des Erdenlebens
kurzen Tagen ihm geworden ist, wird ihm
auch nach dem Scheiden aus der irdischen
Erkenntnisform erst einstens werden müs‐
sen aus dem gleichen innersten Erleben,
das ihm auch während dieses Erdendaseins
hätte werden können, bevor er von der
Erde schied. ‒
Es kann ihm nichts erlassen werden, wo
immer er sich auch finden mag, denn hier
heischt ewiges Gesetz Erfüllung!
.Wohl kann der Menschengeist Jahrtau‐
sende in Geisteswelten glückerfüllt durch‐
leben, allein zuletzt wird ihn das gleiche
Grauen fassen, das ihn hier auf Erden faßt,
empfindet er in großen Augenblicken, daß
über aller höchsten Seelenregung noch ein
höchstes Innerstes ihm unerreichbar
bleibt. ‒
Dann wird er dort wie hier der hohen
64 Kultmagie und Mythos
Helfer Hände suchen müssen, soll er ins
Innerste des Seins geleitet werden...
Er selber aber muß sich erst erlebnisfähig
machen, soll ihm das Erlebnis werden! ‒ ‒
Ist es ihm geworden, so wird er zwar ver‐
bleiben in seiner geistigen Erscheinungswelt,
jedoch als ein Wissender, den nichts mehr
trügen kann, ‒ nicht anders als wie er hier
auf Erden gewiß die Erdenwelt nicht ver
lassen wird, nachdem ihm Erkenntnis aus
dem Erleben wurde. ‒
.Entgegen jenen Fabeln, die dem Men‐
schengeiste ein erleichtertes Erkennen
nach dem Scheiden von dem Erdentieres‐
körper prophezeien, muß ich bekunden, daß
vielmehr dem Menschengeiste der des Er
dentieres Kräfte noch in diesem Er
denleben meistert, das innerste Erle
ben, das allein zu der Erkenntnis letzter
Wirklichkeit verhilft, gar sehr erleich
tert ist, ‒ ja daß er ohne dieser Erde Leib
unsagbar Schwereres erfüllen muß, will er
65 Kultmagie und Mythos
zu seinem unentrinnbar festgesteckten Ziele
hingelangen. ‒
.Die Leuchtenden des Urlichts, die
da ehedem den Kult der Götter einst zur
Kultmagie erhoben, wußten um die
Kräfte dieser Erde, die der Menschen‐
geist sich dienstbar machen kann auf diesem
Weg.
Darum vereinigten sie die Erde dem
Himmel, ‒ darum schufen sie den kulti
schen Gebrauch, der irdische Kräfte:
Zeichen, Laut und Ton, dazu benützt,
das Innerste des Menschen zu erreichen,
in dem allein das heilige Erlebnis letzter
Wirklichkeit zur Wahrheit werden
kann. ‒
.Wahrlich, der Mensch dieser Tage darf
es gar sehr beklagen, daß ihm der Weg des
Kultes, will er sich nicht Dogmen beugen,
die er als krauses Gemächte menschlichen
66 Kultmagie und Mythos
Hochmuts erkennt, schon seit Jahrtausenden
verschüttet ist! ‒
Und dennoch ist ihm der Weg zum Erlebnis
keinesfalls verschlossen.
Es ist ein anderer Weg bereitet worden,
der über den Schutt der Tempeltrümmer hin‐
weg ins Innerste des heiligen Landes
der Seele führt...
.In mancherlei Lehre habe ich diesen Weg
beschrieben.
Ich setzte Wegmarken für alle die ihn finden
wollen.
Die diesen Weg beschritten haben, erfahren
mehr und mehr, daß sie dem Ziele näher
kommen, und viele sind des Zieles schon
innegeworden.
Sie missen nicht mehr die Tempel der
alten Kulte, und nicht die Förderung
durch Kultmagie, obwohl sie, erkennend
was der Geist erkennen lehrt, in manchem
alten Tempel wesenhaften Geistes Spuren
fanden und wahrlich die Magie der alten
Kulte hoch zu ehren wissen.
67 Kultmagie und Mythos
.Der Weg ins Innerste des Inneren, wie
er für alle gangbar ist zu allen Zeiten, ist
für jeden Einzelnen verschieden, obwohl
er stets der gleiche Weg für alle bleibt.
Die eigene Artung des Menschen be‐
stimmt diesen Weg, so daß jeder den seinen
findet auf der gleichen Spur die auch der
andere geht. ‒
Am Ziele erst wird jeder gewahr, daß er in
seiner Art den gleichen Weg gegangen
ist wie alle anderen die das Ziel erreichten, ‒
daß keine Weise, ihn zu gehen, etwa leichter
oder schwerer ist...
Wer immer aber diesen Weg durchwandelt,
wird von Erkenntnis zu Erkenntnis in
sich selber schreiten, bis er, am Ziele an‐
gelangt, sich selbst erkennt und in sich
selbst das Heiligtum gewahrt, in dem die
Gottheit wirkend sich bezeugt als sein le
bendiger Gott. ‒
*
68 Kultmagie und Mythos
DAS INNERE LICHT
.Versunken in die Finsternis des «Tieres»,
erkannte einst der Menschengeist sich
selbst und sein Geschick in fahlem Bilde
und stellte dieses Bild aus sich heraus als
Mythos. ‒
Gar spärlich war dieser Strahl des inneren
Lichtes und dennoch ließ er jenes Weges
ersten Anfang finden, der den Geist des
Menschen aus des «Tieres» Banden, wieder
zu sich selber führt.
Die wenigen, die diesen Weg erkannten, fan‐
den in früher Vorzeit schon ‒ wenn auch
nur tastend und erahnend ‒ in sich empor
zu jenem wesenhaften Lichte, das sich
niemals völlig von dem Menschengeiste
scheiden konnte, ‒ fanden des Weges Ziel:
‒ erlebten in sich selbst ihren leben
digen Gott, auch wenn sie solches Erleben
nur irrig zu deuten wußten. ‒
Es ist auch hier nicht die Deutung, die des
Erlebens Wert bestimmt, sondern allein des
Erlebens Wirklichkeit!
Die aber solchen Erlebens Wirklichkeit
nicht innewurden, schufen sich aus den
71 Kultmagie und Mythos
Kräften des «Tieres» ein äußeres Licht,
und all ihr Streben war darauf gerichtet,
diesem Lichte, das die äußere Nahrung des
gehirnlichen Denkens braucht, stets neue
Nahrung zuzuführen, so wie man das Öl auf
den Docht der Lampe gießt. Allmählich
brannte dieses Licht sodann für viele viel
zu hell, als daß sie noch nach jenem in
neren Lichte, das allein des Geistes Weg
erhellen kann, Begehr getragen hätten...
So ging selbst das Wissen um jenes inneren
Lichtes Dasein den allermeisten völlig
verloren, und viele, die noch darum wuß‐
ten, achteten es mehr und mehr gar sehr
gering, geblendet von dem grellen Schein
der Leuchte, die sie sich selbst geschaffen
hatten um die Außendinge zu erhellen.
Die Finsternis, die ringsum sie umgab, ließ
dieser Leuchte Schein so hell erstrahlen, daß
sie nicht glauben konnten, eines anderen
Lichtes zu bedürfen...
.Auch heute sind gar viele von diesem
äußeren Lichte geblendet, so daß es ihrem
72 Kultmagie und Mythos
Augen schier als allen Lichtes Inbegriff
erscheint.
Jedoch die Seele bleibt bei diesem äußeren
Lichte stets in Dämmerdunkel und nicht
für alle Zeit läßt sich der Seele banges Rufen
überhören. ‒
So wird gar mancher doch an seines selbst‐
geschaffenen Lichtes Allgewalt im Laufe sei‐
nes Lebens irre und sucht auf oftmals wun‐
derlichen Wegen jenes innere Licht zu fin‐
den, von dem ihm Kunde aus der Vorzeit,
und das Wissen derer, die es in sich selbst zu
finden wußten, sagen.
So mancher alte Mythos wird befragt, ob
er nichts sagen könne von der Weise, wie
dieses innere Licht erlangbar sei, und
dem Geheimnis alter Kulte sucht man auf
die Spur zu kommen, um hier vielleicht be‐
lehrt zu werden.
.Zwar sind nun Mythos sowohl, wie
alles, was noch an Resten alter Kulte lebt,
erfüllt von Wissen um die rechte Art, in der
73 Kultmagie und Mythos
das innere Licht erfahren werden kann, je‐
doch man sucht auch hier stets nur von
außen her, im Lichte seiner selbstgeschaf‐
fenen Leuchte. ‒
So führt auch dieses Suchen nur zu äußer
lichen Dingen, und ihre Deutung gibt
dem Irrtum Zuwachs. ‒
.Es könnte mancher Mythos deutliche
Fingerzeige geben, wüßte man ihn zu be‐
trachten, wie einst die Wissenden ihn be‐
trachtet wissen wollten: ‒ als Bild eines
inneren und innersten Geschehens
im Menschen selbst...
Vor allem aber kann hier jeder letzte Rest
von Kultmagie, der noch erhalten oder
auch nur durch Berichte alter Schriften noch
erkennbar ist, die Augen öffnen, will man die
Art und Weise finden, wie das innere Licht
aufs neue zu erlangen ist. ‒
74 Kultmagie und Mythos
.In aller Kultmagie ist Äußeres dem Inne‐
ren vereint und durch das Äußere wird
Innerstes erreicht. ‒
Das Äußere ist ihr niemals um seiner
selbst willen da!
Die kultischen Gebräuche mögen äußerer Be‐
trachtung wohl an sich genügen: was ihre
Schönheit, ihre Wirkung auf die Sinne,
ihre Kraft des Ausdrucks anbelangt, ‒
allein dies alles ist nur Mittel um das In
nere des Menschen zu erreichen, damit es
fähig werde, in sich selbst das Allerinner
ste in eigenem Erleben zu erfahren. ‒ ‒
.Hier ist die hohe Lehre aufgezeigt, die
aus den Resten alter Kultmagie auch noch
dem Menschen dieser Tage werden kann!
Hier gilt es zu erfassen, daß alles Äußere
dem Inneren verbunden ist und darum nie‐
mals anders als nur bruchstückweise sich
erkennen läßt, solange man es nur von
außen her beleuchtet! ‒ ‒
Hier gilt es zu erfassen, daß ein jegliches Ge‐
75 Kultmagie und Mythos
schehen in der Außenwelt zurück auf die
Innenwelt wirkt! ‒ ‒
Hier gilt es zu erfassen, daß auch des Men‐
schen Alltagsleben sich zur Kultmagie
erheben läßt, wenn er in allem seinem Tun
bestrebt ist, auf sein Inneres in solcher
Weise einzuwirken, daß dieses Innere all‐
mählich zum Erwachen kommt! ‒
.Noch sind nur Seltene sich der Verant‐
wortung bewußt, die sie für jeden leisesten
Gedanken, jedes Wort und jede Tat in
dieser Außenwelt zu tragen haben...
Die Allermeisten wissen nicht ‒ und manche
wollen es nicht wissen ‒ daß Worte und
Gedanken für die Wirkung in das Innere
des Menschen fast gleichen Wertes sind
wie die vollbrachte Tat, und daß sie stets
durch all ihr Denken, Reden oder Tun
nicht nur ihr eigenes Inneres in guter oder
übler Weise formen, sondern auch der Innen‐
welt der anderen entweder zum Segen
werden oder zum Fluch...
76 Kultmagie und Mythos
.Hier möge jeder, der diese Worte liest,
sich selber fragen, ob er hinfort sein ganzes
Wirken so gestalten will, daß es ihm selbst
und allen, die in seiner Mit- und Nachwelt
leben, zum Segen werde! ‒
Nur wenn er solchen Willens ist, wird er die
Vorbedingung schaffen, die von ihm selbst
allein geschaffen werden kann und die von
ewigem Gesetz gefordert wird, soll sich das
innere Licht ihm offenbaren! ‒ ‒ ‒
.Gar viele sind des eitlen Glaubens, sie
müßten «große Dinge» tun in dieser Außen‐
welt, damit ihr Wirken ihnen selbst und an‐
deren ein Heil erwirke, das meistens nur in
ihrem eigenen Wahn als «Heil» erscheint,
‒ zuweilen aber auch, selbst schon in dieser
Außenwelt, mehr Unheil ist als Heil. ‒ ‒
Sie achten sehr auf solches Tun, das allen
sichtbar wird, doch sind sie weit davon
entfernt, ihr Denken, Reden oder Handeln
dort zu zügeln, wo sie es vor der Welt ver
borgen glauben. ‒ ‒
77 Kultmagie und Mythos
So fühlen manche sich berufen, ganze Völker
zu beglücken, obwohl sie selbst nur Sklaven
ihrer eigenen Gedanken sind.
.Wahrlich, ‒ wer solcherart noch sich
selbst betört, darf nicht erwarten, daß das
innere Licht ihm werden könne!
Wer es erlangen will, wird all sein Tagewerk
‒ sei es nun weithin sichtbar oder still ver‐
borgen ‒ verantwortungsbewußt voll‐
bringen müssen, ‒ sich selbst bewahrend
vor dem Wahn, daß jene Taten nur zu
zählen seien, die dereinst in Chroniken ver‐
zeichnet werden. ‒
Und führte ihn sein Lebensweg zu einem
Wirken, das für Viele in der Außenwelt
Verantwortung zu tragen hat, so lasse er
erst recht sich nicht verführen, jene an
dere Verantwortung gering zu schätzen, die
ihm obliegt bei allem Alltagstun, auch
wenn es so verborgen ist, daß nie ein Anderer
darum weiß!
78 Kultmagie und Mythos
.Was die Magie der alten Kulte nur für
Feierstunden zu bewirken wußte: ‒ die
Einwirkung des äußeren Tuns auf
unsichtbare Kräfte ‒ das wird dem Su‐
chenden, der jenen freien Höhenweg, den
ich ihm zeige, zu betreten weiß, zur Heili‐
gung des ganzen Erdenlebens werden! ‒ ‒
Er wird durch all sein Denken, Reden
oder Tun sich magisch wirkend wissen,
und wird gar bald erkennen, daß nichts in
dieser Außenwelt geschehen kann, das
ohne Wirkung bleiben könnte im Bereich
des Unsichtbaren.
So wird er seine Seele zum Erwachen brin‐
gen und in sich selbst erfühlen, daß ihm ‒ je
nach seines Strebens Inbrunst ‒ eine Gei
steshilfe nahekommt, von deren Dasein er
vordem kaum wußte, oder deren Wirken ihm
vor seinem Selbsterleben, außer aller Mög‐
lichkeit zu liegen schien, so daß er jede
Kunde, die ihm davon sagte, in das Reich
der «frommen Fabeln» wies...
Durch solche Geisteshilfe wird er sich auf
seiner Bahn alsdann geleitet wissen, bis
79 Kultmagie und Mythos
seine Seele so bereitet ist, daß sie des inne
ren Lichtes endlich teilhaft werden
kann...
In diesem inneren Lichte wird er dann
sich selbst für alle Ewigkeit geborgen fin‐
den, und allen seinen letzten Fragen nach
des Menschendaseins Sinn wird unbezweifel‐
bare Antwort aus dem eigenen Erleben
kommen...
*
80 Kultmagie und Mythos
DIE FOLGERUNG
.Der Menschengeist, der sich in dem un‐
gestüm heischenden «Tiere» der Erde selbst
verloren hat, bleibt dennoch für alle Zeit
seiner geistigen Urheimat verbunden, auch
wenn er nicht darum weiß.
In dichtester Verfinsterung wird ihm zu Zei‐
ten stets ein zarter Strahl des Lichtes wie‐
derkehren, aus dem er einst sich selbst durch
eigene Willensabkehr löste. Es sind nur we‐
nige Sekunden jeweils, die ihn wie Erinne‐
rung an längstgeträumte Träume noch er‐
ahnen lassen, daß er von Ewigkeit her An
deres ist als dieses «Tier» der Erde, dem er
hier sich so verhaftet fühlt, daß er ihm seinen
ewigen Namen gab. ‒
Aus solchen wenigen Sekunden wird ihm
dann der Drang, sich selbst im Erdentiere
wieder aufzufinden.
.Gewohnt, allein des «Tieres» Kräften
zu vertrauen, beginnt er so sein Suchen nach
sich selbst in gleicher Weise, wie er die
Dinge dieser Erde zu ergründen sucht.
83 Kultmagie und Mythos
Notwendig muß er die Erfahrung machen,
daß all sein Suchen nach sich selbst auf
solche Art vergeblich bleibt und nur die
Dunkelheit verdichtet, die ihn vordem
schon umgab. ‒
rde Hilfe ihm nicht, die allein hier
helfen kann, ‒ die Hilfe aus der Urheimat
des Geistes, dargeboten durch die hohen
Helfer die dazu verordnet sind, ‒ so müßte
der Mensch daran verzweifeln, jemals sich
selbst, als den ewigen Menschengeist,
im «Tiere» dieser Erde wieder zu finden, und
den Dämon dieser Erde ‒ den «Fürsten der
Finsternis» ‒ zu bezwingen...
.Die sanften Strahlen uranfänglichen Lich‐
tes, die ihn zu Zeiten erreichen, vermögen es
wohl, in ihm die Sehnsucht nach dem
Lichte zu erwecken, allein: ‒ noch läßt sich
die Fessel nicht lösen, die das «Tier» um
den Menschengeist, der in und mit ihm lebt,
zu schlingen wußte. ‒
Noch wird sich der Mensch der Weite seines
84 Kultmagie und Mythos
Geistes, noch wird er seiner Höhe und
Tiefe nicht bewußt, denn was er bis hierher
seinen «Geist» zu nennen pflegte, ist nichts
anderes als sein gedankliches Bewußtsein
um sein tierisch-irdisches Erleben. ‒
Hier aber findet er sich eingeengt in viel‐
facher Bindung, so daß er alles was nicht
gleicher Bindung unterworfen ist, als außer
sich und über sich empfindet. So schafft er
sich seinen Gott und seine Götter, auf daß
sie Träger seien dessen, was seiner Erd‐
gebundenheit sich scheinbar nicht vereinen
läßt, und noch nicht erkannt wird als des
eigenen, ewigen Wesens Inbegriff...
So schafft er sich seinen Mythos ohne vor‐
erst auch nur zu ahnen, daß er nur die Ge
schichte seines eigenen Daseins dar‐
zustellen weiß. ‒
So schafft er aus dem Mythos sich den Kult,
und wird sich nicht bewußt, daß hier das
Erdentier, gezwungen sich dem Menschen‐
geiste endlich zu beugen, nur eine Ausflucht
fand, um seine Herrschaft doch in dieser
Form zu wahren...
85 Kultmagie und Mythos
.Würde der Mensch erkennen wer er ist,
dann wäre es um des «Tieres» und des Erden‐
dämons Macht in ihm geschehen, ‒ so aber
stellt er sein Bestes über sich hinaus und
fühlt sich nur um so mehr in des «Tieres»
und seines kosmischen Despoten Gewalt.
Die Leuchtenden des Urlichts, die
einst den Kult zur Kult-Magie erhoben,
suchten zwar ihre irrenden Menschenbrüder
solcherart aus dieser Macht des «Tieres» zu
erlösen, doch viel zu fest hält diese Macht
den Menschengeist gebunden, als daß er je‐
mals sich ihr ganz entwunden hätte.
Der größte Liebende ging über diese
Erde und lehrte klaren Wortes, daß dem
Menschen «alle Gewalt» gegeben sei, des
«Tieres» und der dämonischen Kräfte Herr
zu werden und aller selbstgeschaffenen Götter
Herrlichkeit in sich zurückzunehmen, ‒
allein man verstand nicht seine Lehre und
formte sie in solcher Weise um, daß man im
«Tiere» zwar fortan den «Feind» erblickte,
doch einen Feind, den man zwar foltern, aber
niemals gänzlich überwinden könne.
86 Kultmagie und Mythos
Erstickt ward jegliche Regung, sich des
«Tieres» Kräfte zu einen und als des «Tie‐
res» Herr sich seiner zu bedienen, wie man
ein Lasttier braucht, das man zwar gut bei
Kräften hält und wohlernährt, doch sicher
dorthin lenkt, wo es dem Eigner Dienste
leisten soll...
.Die Kunde von des hohen Meisters Le‐
benstagen ward zu einem neuen Mythos,
der alsbald auch einen Kult zu tragen hatte,
geformt aus Überresten alten kulti
schen Besitzes, denen man aus Worten die
der Meister hell und klar gesprochen hatte,
willkürlich dunkle, eigener verworrener
Erkenntnis angepaßte Deutung gab. ‒
Bedeutsam aber bleibt auch heute noch, was
so entstanden ist, da es die Reste alter Kult
magie verwahrt, die sonst verloren wären.
Unzählige sind noch in heutigen Tagen nur
durch diese Reste alter Kultmagie dem Gei
stigen verbunden und Geisteshilfe weiß
sie zu erreichen, sei auch die eigentliche
87 Kultmagie und Mythos
Quelle solcher Hilfe ihren Augen dicht ver‐
hüllt durch jene bilderreichen Schleier, die
der Mythos ihres Glaubens, wunderlich und
arabeskenhaft verschlungen, um alle letzte
Wirklichkeit zu weben weiß...
Nicht denen, die in solcher Art Ge
nüge finden, gelten meine Worte!
Sie mögen zu bewahren suchen was sie haben,
und dürfen immerhin gewiß sein, daß der
Weg den ihres Glaubens Lehre sie zu gehen
heißt, zwar oftmals «Umweg» ist und sie
durch dunkle Gründe leitet, jedoch zu
letzt, wenn sie das Reich der bloßen Bilder
einst durchwandelt haben, das höchste
Ziel dennoch erreichen läßt, ‒ so sie auf
diesem Wege, voll des gläubigen Ver
langens, letztlich nach dem Geiste stre‐
ben. ‒
Anderen aber gilt meine Rede!
Jenen Anderen, die keine Kultmagie er‐
reicht, da sie der Deutung die der Kult er‐
heischt, sich längst entwachsen wissen, auch
wenn sie noch erfühlen, was wie ferner Glok‐
kenklang aus dieses Kultes Liturgien tönt,
88 Kultmagie und Mythos
als letztes Zeugnis längst dahingegangener
Geschlechter. ‒
.Der Weg den ich zu künden komme, läßt
den Suchenden der ihm vertraut, das Land
der Wirklichkeit erreichen, ohne seinen
Blick durch jene Mauern einzuengen, die ein
furchtgeborener Glaube angstumschnürter
Herzen zu errichten wußte... Wer immer
diesen Weg betritt, wird in sich selber
sichere Führung finden, so er nur selbst
sich solcher Führung würdig macht durch
eine Willenswandlung, die da alle seine
Seelenkräfte einigt in unwandelbarem Stre‐
ben nach dem höchsten Ziele. ‒
Wer aber diesen Weg betritt, wie er auch vor‐
dem andere Wege fruchtlos zu erforschen
strebte ‒ sei es um der Neugier willen, oder
um sein erdenhaftes Wissen zu bereichern
‒ der wird allein gelassen werden und gar
bald des Weges rechte Spur verlieren!
Desgleichen duldet dieser reine Höhenweg
die Füße dessen nicht, der noch das «Tier»
89 Kultmagie und Mythos
in sich nicht zu bezwingen wußte, mag er
auch seiner Seele Kräfte allem Hohen dienst‐
bar machen wollen...
Hier ist kein Paktieren möglich mit des
«Tieres» nimmersatten Trieben, und keine
Folge triebversklavten Handelns läßt sich
tilgen! ‒ ‒ ‒
.Das «Tier» im Menschen wird ihm täg‐
lich tausend gute Gründe bringen, seiner
Triebe scheinbar «gutes Recht» zu wahren.
Des «Tieres» Stimme wird mit holden Wor‐
ten schmeicheln, ‒ wird geflissentlich den
Menschen zu betören suchen, als sei «belang‐
los», was er ihm gewähre, bleibe seiner Seele
Sehnen nur auf Geistiges gerichtet...
Es sucht das «Tier» mit allen Listen seine
Macht zu wahren und duldet selbst Ver
achtung und Verachtung seiner Wünsche,
wenn der Mensch um diesen Preis nur sich
ihm ergibt. ‒
90 Kultmagie und Mythos
.Wer aber den Weg, der ihn zur Selbst
erkenntnis führen sollte, nicht im Wege
zur Vernichtung enden sehen will, der hüte
sich, des «Tieres» Stimme zu vertrauen!
Er sei gut zu dem Tiere und wisse ihm zu
sagen: «Wahrlich, ich danke dir, du mein
Tier, daß du solcherart stark in mir bist,
allein deine Kraft sei nun allein in meiner
Macht! ‒ Wisse: du sollst mir gewandelt
werden, und gefügig mir fortan dienen als
deinem Herrn!» ‒
.Wie Donnerschlag ist solches Wort dem
«Tiere», so daß es daran sterben muß, ‒
jedoch, wie eine ekle Raupe zwar als Raupe
stirbt, um dann als farbenreicher Falter
zu erstehen, so ist auch des «Tieres» Sterben
nur vonnöten, damit es zu neuer Art des
Lebens ‒ geläutert und durchlichtet
in sich selbst ‒ gewandelt werde...
Der aber ehedem ein Höriger des «Tieres»
war, ist dann sein Eigner und es dient
ihm willig aus seiner erneuten, hochge
wandelten Kraft! ‒ ‒
91 Kultmagie und Mythos
Im gleichen Leibe geschah sein «Sterben»
und sein Auferstehen, und doch sind alle
Atome dieses Leibes geistig erneut!
.Wer solcherart das «Tier» in sich zu
wandeln weiß, den wird des «Tieres» Leben
nicht mehr hindern können.
Dem Leben des Geistes wird es sich völlig
einen!
Wie das Gehäuse der Laute Resonanz dem
Klang der Saite gibt, so wird der tierische
Leib dem Menschen dienen, seines Gei
stes Kraft zu voller Entfaltung zu bringen.
Es wird fürderhin nur der Geist alle Herr‐
schaft üben!
Ausgelöscht ist des «Tieres» Eigenwille,
der vordem des Geistes Feind und steter
Widersacher war...
.Nun erst ist die Gefahr beschworen, die
einem Jeden stetig droht, der sich vermißt,
zur Höhe aufzusteigen, bevor das «Tier» in
92 Kultmagie und Mythos
ihm erstarb und wieder ihm erstand, in
heilig hehrer Wandlung hingegeben nun
des Geistes Willen! ‒ ‒
.Zwar hat es zu jeder Zeit auch Menschen
gegeben, die, ihrer Geistigkeit bewußt, zu
hohen Stufen vorgedrungen waren, ohne des
«Tieres» sichere Eigner zu sein, allein, ‒
man lasse sich durch hohen Erdenruhm nicht
täuschen.
Kein einziger aus ihnen hat sein höch
stes Ziel erreicht auf dieser Erde, kein
einziger aus ihnen erlebte während dieses
Erdenlebens in sich selbst, in seinem Aller‐
innersten, seinen lebendigen Gott! ‒ ‒
Wohl hat ihr Geist in herrlich hohen Worten
sich bekundet, allein sie selber blieben stets
im Zwiespalt bis zum Ende! ‒
.Wer dieser geistig Hochgelangten weise
Worte in sich aufzunehmen weiß, tut wohl,
doch wahrlich darf er nicht ihr Leben sich
93 Kultmagie und Mythos
zur Richtschnur dienen lassen, wenn er zum
Vollbewußtsein seiner höchsten Daseins
form im Göttlichen gelangen will! ‒ ‒ ‒
Gar mancher Mensch, der in Verborgenheit
sein Leben lebte und dessen Name keine
Kunde nennt, hat unbeschreiblich Höheres
erreicht als auch der Größte derer, die zwar
hohe Geistesstufen zu ersteigen wußten, aber
nicht vermochten, aus des «Tieres» Fesseln
sich zu lösen...
.Nur dort, wo das «Tier» verwandelt
und vollkommen dem Geiste geeinigt
wurde, ‒ nur dort werden die Geheimnisse
nicht mehr nur geahnt, sondern in klarem,
wachen, eigenen Erleben erlebt! ‒
Solchem Erleben aber kann jede
Seele erschlossen werden.
Es bedarf dazu nicht des Glaubens an einen
Mythos, noch ist ein Kult dazu vonnöten,
der aus einem Mythos erwuchs.
94 Kultmagie und Mythos
.Wird Kult in seiner höchsten Form zur
Kult-Magie, so läßt sich von des Erden‐
menschen Alltagsleben sagen, daß es erst
lebens-wert und lebens-würdig wird, so‐
bald der Mensch erkennt, daß all sein Tun ein
magisches Geschehen auslöst, mag er
darum wissen oder nicht... Erst dann ist die
höchste Form des Lebens erreicht, wenn alles
Denken, Reden oder Tun bestimmt wird
durch das Wissen um die Wirkung in der
unsichtbaren Welt des physischen Ge‐
schehens, und weiter: durch das Wissen um
die Wirkung jeglicher Impulse auf die
eigene Geistsubstanz. ‒ ‒ ‒
.Von außen her wird hier auf Erden alles
Innere erreicht!
Von außen her allein vermag der Mensch
sein Inneres zu formen, auf daß es fähig
werde, Allerinnerstes dann in sich selber
zu vernehmen!
Es gibt nichts Äußeres, das hier ge
ring zu achten wäre! ‒
95 Kultmagie und Mythos
.Bewußtseinsfremd geworden seiner Ur‐
heimat im Geiste, findet der Menschengeist
sich nunmehr nur bestätigt durch sein Den‐
ken, Reden oder Tun in dieser Außenwelt,
und nur von hier aus kann er füglich auch
zurückgelangen zu sich selbst.
Alles Äußere muß ihm zum Mittel werden,
sein Inneres wieder zu erreichen! Nur so
macht er von aller Außenwelt den rechten
Gebrauch: ‒ er, dem sein eigener Körper auf
dieser Erde schon «Außenwelt» ist! ‒
.Man ruft in diesen erdgefesselten Zeiten
nach dem «neuen Mythos», und man meint
im Grunde den neuen Kult...
Nicht eher aber wird der neue Kult der
Menschheit werden, als bis Magie in ihrer
heilighöchsten Form alles Erdenleben
durchlichtet hat. ‒
Die geistige Daseinswirklichkeit des
Menschen wird dann an die Stelle des
Mythos treten, und aus dem Leben wird
die kommende Kultmagie erstehen! ‒
*
96 Kultmagie und Mythos
ENDE
DAS BUCH
DER
KÖNIGLICHEN
KUNST
Verlagslogo
ENDGÜLTIGE GESTALTUNG NACH DEN
UNVOLLENDETEN AUSGABEN VON 1913 BIS 1920
BÔ YIN RÂ
IST DER DICHTER, PHILOSOPH UND MALER
JOSEPH SCHNEIDERFRANKEN
COPYRIGHT BY
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASLE 1932
BUCHDRUCKEREI WERNER-RIEHM IN BASEL
INHALT Seite
Einleitung 5
I.Teil
Der Leuchtende dem Suchenden 11
Die Ernte 21
Das unendlichfältige Eine 35
Erkenne dich selbst 49
Von den geistigen Meistern 65
Gefahr der Eitelkeit 79
II.Teil
Die Schwelle 91
Die Frage des Königs 117
Die Wanderung 131
Osternacht 141
Vereinung 159
III.Teil
Allen, die zum Lichte streben 175
Die Lehre 181
AUSKLANG 207
Originalscan1  Originalscan2
Einleitung
.Es ist Torheit, zu glauben, das Zeugnis
höchster Erfahrung der Erfahrensten einer
Rasse sei in dem Schrifttum eines Volkes
dieser Rasse zu finden.
.Es ist noch größere Torheit, unbedenklich
anzunehmen, man brauche nur alle Texte
eines solchen Schrifttums säuberlich zu über‐
setzen, um dadurch die Lichtsplitter, die sich
in ihm verfangen haben, der eigenen Rasse,
‒ dem eigenen Volke, ‒ zu retten.
.Gewiss: ‒ solange die Erde sich um die
Sonne dreht, kam Lichtesaufgang allem Irdi‐
schen aus dem Osten, ‒ und vom aller‐
ersten Anfang menschlicher Selbstfindungs‐
versuche an waren die erfahrensten Finder
im Osten zu finden.
5 Das Buch der königlichen Kunst
.Unsäglich Weniges aber nur von ihren
Funden ging in das Werk der Völker ihrer
Rasse ein. ‒
.Geheimgut blieb, ‒ selbst für die „hei‐
ligen Schriften”, ‒ das, was jederzeit Ge‐
heimnis bleiben wird Allen, die es nicht
selbst in sich erfahren!
.Solche Erfahrung in der ihm gemäßen
Weise zu erlangen, soll dieses Buch den Er‐
lebenden lehren.
.Die hier gegebenen Lehren gründen in
den Felsgründen ewiger Wirklichkeit.
.Aber diese Lehren sind nicht Selbstzweck
und wollen keine „Dogmen” schaffen, son‐
dern nur nötige Erklärung.
.Erst wenn sie zu innerer Erfahrung
führten, hat sie der Suchende sich zu eigen
gemacht. ‒
6 Das Buch der königlichen Kunst
DAS LICHT VOM
HIMAVAT UND DIE WORTE
DER MEISTER
SUCHST DU DAS LICHT,
SO WISSE:
DASS DEIN WEG BEHÜTET IST
DURCH DIE LEUCHTENDEN
IM EWIGEN TAG!
9 Das Buch der königlichen Kunst
Der Leuchtende dem
Suchenden
.Ich will dir vom Wege sagen, den ich
selbst gegangen bin!
.Ich will den Weg dir zeigen, zu dem
ich selbst geworden bin!
.Ich war der Sonne so nahe gekommen,
daß sie den ganzen Himmel bedeckte.
.Alles stand in Flammen, über und unter
mir.
.Ich war Wanderer auf dem Wege ins
Licht, und ehe ich es versah, war ich Weg
geworden ohne Wahl...
.Zum Wege geworden aber, schoß ich wie
ein Pfeil ins Ziel: ‒ verbrannte mich selbst
in der glühenden Sonne.
.So ward ich selber Glut und Leuchten.
13 Das Buch der königlichen Kunst
.Mich selbst verzehre ich in meinem
Feuerlicht: ‒ wie könnte ich anderes wollen,
als daß Alles zu Licht und Feuer werde!
.Alle Sonnen brennen im selben Licht!
.Wer zur Sonne verbrannte, ist mit allen
Sonnen vereinigt. ‒
.Du weißt nicht, welcher Sonnen Licht
in meinem Lichte dir leuchtet!
.Ziehe nicht Grenzen der Willkür!
.Im Lichte verschwinden alle willkür‐
lichen Grenzen. ‒
.Suche das Licht in den Sonnen und
die Sonnen in ihrem Licht!
.Liebe ein wenig das Licht in allem
Leuchten, ‒ du Suchender!
.Willst du dem Lichte nahen, so gib
den Widerstand auf!
14 Das Buch der königlichen Kunst
.Alles in dir ist noch Widerstand!
.Alles in dir ist noch Rede: ‒ darum
hörst du nicht...
.Alles in dir ist noch Blick: ‒ darum
kannst du nicht sehen....
.Gebiete dir selber Schweigen und halte
die Blicke gesammelt, damit die Stille
Einkehr bei dir halte!
.Nur in der lautlosen Stille vernimmst
du das ewige Wort! ‒
.Noch aber sind tausend Widerstände in
dir, die gegen ein anderes Tausend streiten.
.Noch bist du nicht frei in dir selbst!
.Noch bist du nicht wunschlos willig, mit
mir deinen Pfad zum Lichte zu wandeln.
.Der „Anfang”: ‒ das Ursein, ‒ zeugt
aus sich das Urlicht, und das Urlicht zeugt
das Wort.
15 Das Buch der königlichen Kunst
.Das Wort aber hat das Licht des Le
bens, und das Licht leuchtet im Wort,
das den „Vater” zeugt: ‒ den Urgeist‐
Menschen, ‒ in der tiefen Stille der Ewig‐
keit, die heute ist, wie sie allzeit war und
immerdar bleibt.
.Was wir dir aus dem Wort verkünden,
ward nicht von Menschenhirnen ersonnen...
.Es ist Aufschluss der Ewigkeit und hat
nichts mit erdachter Erdenweisheit zu
schaffen.
.Was du hier empfängst, ist Licht
aus dem Wort!
.Im Wort sind wir alle, denen du diese
Worte dankst, vereint in Erkenntnis
und Bewußtsein.
.Wir schaffen geistgesetzte Ordnung
durch das Wort: ‒ im Chaos der Spie‐
gelbilder, die sich bedrängen und verdrän‐
16 Das Buch der königlichen Kunst
gen auf der Oberfläche stetig bewegter, in
Alleräußerstes strebender Kräftewellen.
.Wenn wir lehren, lehren wir uns selbst
erkennen.
.Nur in vorgelebter Lehre kann man
dir lebendiges Licht vor Augen stellen,
ohne dich durch seinen Urglanz zu blenden.
.Willst du zum Lichte, so mußt du glau
ben lernen!
.Glauben heißt: Kraft entfalten, um
höhere Kraft zu erwecken.
.Gläubige Worte allein schon können
Kraftentfaltung sein, aber in Worten allein
sollst du nicht glauben lernen.
.Glaube ist Wille!
.Nach deinem Glauben wird dir ge
schehen wie du gewollt!
.Wie dein Glaube, so sind deine Kräfte!
17 Das Buch der königlichen Kunst
.Nur deine eigene Kraft löst alle
heren helfenden Kräfte für dich aus!
.Wenn du zum Lichte willst, lerne beten!
.Wenn du betest, so bitte vor allem um
Flügel! ‒
.Siehe: es gibt Flügel, die höher tragen
als Adlerschwingen...
.Es gibt Flügel, die dich über alle Sterne
tragen.
.Um solche Flügel bitte, wenn du beten
willst!
.Ein jedes andere Gebet wird Lästerung,
wenn du in dir nicht auch zugleich um
diese Flügel bittest. ‒ ‒
.Wer um Flügel bittet, dem werden
wahrlich auch Flügel gegeben...
.Indem du fliegen willst, werden dir
Schwingen wachsen!
18 Das Buch der königlichen Kunst
.Noch während du betest, wirst du er
hoben sein!
.Und nun, du Suchender, zerstöre die
falschen Götter, willst du dem Einzigen,
Ewigen nahen: ‒ deinem lebendigen
Gott!
.Dein Gott ist in dir selbst, und nur
in dir selber kannst du seiner innewerden!
.Nur in dir selber kann er sich dir ge‐
bären...
.Nur in dir selber sich dir vernehmbar
machen!
.Du sollst keinen „Gott” suchen außer
dem Gotte in dir!
.Du sollst keinem anderen „Gotte” die
nen wollen!
.Höre die uralten, irrig gedeuteten
Worte!
19 Das Buch der königlichen Kunst
.Höre sie neu im Verstehen!
.Höre mit bebendem Herzen: ‒
.ICH” ‒ „bin der Herr!” ‒ spricht
dein Gott...
.„Du sollst keine anderen Götter su‐
chen!” ‒
.„Du sollst dir keine Vorstellung ge‐
stalten, um dir selber einen „Gott” zu
schaffen, der als monströses Zerrbild deiner
selbst in nur durch dich bedingtem Da‐
sein wäre, bis du selbst dem Irdischen ent‐
schwunden bist! ‒ ‒ ”
.Hier, o Suchender, stehst du vor
aller Wahrheit Anfang und niemals
endendem Ende!
.Wohl dir, wenn du erkennst, was dir
die Worte dessen, dem sein Gott einst also
sprach, ‒ zu sagen haben. ‒
.Mit Absicht gab ich dir hier dieser Worte
ewigkeitsgezeugten Sinn!
20 Das Buch der königlichen Kunst
Die Ernte
.Wir wollen einen bedeckenden Schleier
über alle Worte werfen, die in den letzten
Menschenaltern wechselnd als unsere Äuße‐
rung galten.
.Es wird so besser sein, denn Vieles braucht
zarte Schonung, was wir rücksichtslos durch‐
jäten müßten, wollten wir in aller Lehre
das, was wir zu säen wußten, von allem Un‐
kraut säubern.
.Unsere geistig „jüngeren” Menschen‐
brüder ‒ und Schwestern ‒ rechnen mit weit‐
aus kürzeren Zeitenfolgen als wir.
.So fühlten sich manche dazu berufen,
dem Werke nachzuhelfen, das wir zu wirken
haben.
23 Das Buch der königlichen Kunst
.Wie würde das Tempo unseres Wirkens
diesen „Ungestümen ohne böse Absicht” erst
mißfallen, wüßten sie, daß wir heute noch
am Anfang unseres Werkes stehen, und
kaum begonnen sehen, was ihnen längst
schon als abgetan erscheint...
.Wir streuen Samen auf gepflügtes Land.
.Es kommt auf euch an, ob der Samen
keimen kann! ‒
.Sehet zu, daß ihr naschhaften Vögeln
wehrt die Körner zu verzehren, bevor sich
Wurzeln und Halme bilden können!
.Hütet, was man euch anvertraut!
.Es müssen viele im Dunkel sitzen und
viele müssen im Schatten wohnen, denn
die Tage sind finster: ‒ sie fressen das
Licht.
24 Das Buch der königlichen Kunst
.Denen aber, die auch des Nachts wa
chen, wird die Sonne am mitternächtigen
Himmel aufgehen!
.Zu diesen werden Arbeiter in die Ernte
kommen um die Ähren zu Garben zu binden!
.Danach werden weißgekleidete Hirten
kommen und mit Flötenspiel ihre Herden
sammeln!
.Dann wird jeder, der Führung sucht, den
Führenden finden!
.Der Führer aber wird ihn leiten, durch die
ehernen Tore und den Wüstenweg, zu
den Höhen von Himavat!
.Dort ist die Sonne im Lichte ertrunken
und die Erde hat ihre Schwere verloren.
.Dort ist der Himmel ewiger Feuerbrand und
alle Sterne glühen hell in seinem Licht.
25 Das Buch der königlichen Kunst
.Alles, was brennreif ist, wird dort zu Feuer
und ewigem Leuchten...
.Vieles aber ist grün noch und wasser‐
geschwängert.
.So widersteht es dem Brande, ‒ wächst,
verwelkt und verfault. ‒ ‒
.Sicher ersehen die ewigen Väter des Licht‐
feuers Nahrung.
.Sterne um Sterne entzünden sie in der
leuchtenden Glut...
.Höre! ‒ Entbrennen, Glühen, Leuch
ten, oder: ‒ Verfaulen, ‒ ‒ eines da‐
von ist dein Los!
.Suchst du dem zu entrinnen, so betrügt
dich nur eigene Torheit!
.Du hast nur die Wahl in der Hand!
26 Das Buch der königlichen Kunst
.Wer seine eigene Meinung ewiger Got
tesweisheit gleich zu achten wagt, der steht
dem Werk im Wege, das wir hier auf Erden
wirken müssen.
.Er lästert das Licht, das die Erde durch‐
leuchtet, und sündigt gegen den Geist aus
dem er selber lebt.
.Wehe dem Menschen, der seine Ge
danken solcherart frevelnd an Stelle des
Wortes setzt!
.Ehe die Welten wurden, war das Wort
und in ihm das Licht als des Wortes Er
kennen.
.Nicht im Denken wird dieses Erkennen
dem Menschen erfahrbar, denn das Denken
ist nur des Wortes Diener.
.Wer immer die leuchtende Gabe des
Herrn empfangen will, der gebiete dem
Diener Schweigen!
27 Das Buch der königlichen Kunst
.Wir wirken das Werk des innersten
Ostens: ‒ das Werk des lichten Tages der
Ewigkeit.
.Wir sollen die Seelen dem lebendigen
Lichte öffnen.
.Wer Führung sucht, die Keinen in die
Irre führt, der möge unsere Worte bei sich
im Herzen verwahren!
.Wir aber werden ihm nahe sein, auch
wenn er auf der anderen Seite der Erde lebt.
.Wir sind in dieses Erdenleben geboren
als Abgesandte der Söhne des Urlichts: ‒
der Väter des Lichtes im Wort...
.Durch uns ward, seit Jahrtausenden im‐
mer erneut, das Licht im Wort den Men‐
schen menschlich erkennbar, ohne die
Augen der Sterblichen zu blenden.
28 Das Buch der königlichen Kunst
.Wir leben im Fleische das Leben der
Ewigkeit.
.Wer durch uns auf den engen Pfad geleitet
wird, der zu unserem Reiche im Geiste führt,
der geht seinem eigenen Sein im Ewigen
entgegen.
.Wir führen zu den Sternen ewigen Lebens,
die eins sind mit uns ‒ aus wesenhaftem
Lichte geboren ‒ im Lichte lebend, das
von Urbeginn war, das allzeit ist und nie
mals verlöschen kann.
.Wir sind sehr Wenige, die wir diese
uralte Einheit des Willens auf Erden ver
körpern.
.Viele aber sind wir mit denen, die
vor uns die gleiche Bürde trugen, ‒ mit
denen, die sie nach uns tragen werden.
.Wir sind weder durch Volkstum und
Nation, weder durch Landessprache, noch
29 Das Buch der königlichen Kunst
durch räumliche und zeitliche Entfernung
getrennt, oder jemals zu trennen, auch wenn
in jedem aus uns die irdischen Eigenschaften
seiner Rasse erhalten bleiben.
.In uns selbst beten wir an, was durch
uns sich offenbaren will...
.Wir haben darauf verzichtet, noch
Anderes zu sein, als Seine Offenbarung in
der Welt der Sichtbarkeit.
.Wir sind absolute Einheit in uns selbst,
und unser erdenhaft Verwesliches ist uns
nur Werkzeug in der Welt des Werdens
und Vergehens.
.Wir haben uns alle nicht dazu gedrängt,
zu werden, was wir ohne davon zu wissen,
waren, und bewußt nun sind.
.Vor Urzeiten wurden wir erwählt, durch
die Einzigen, die erwählen können, und
30 Das Buch der königlichen Kunst
nahmen die Pflicht des Erwählten auf uns
wie eine schwere, heilige Last.
.Jeder aus uns denkt mit Entsetzen an
den Tag zurück, der ihm das irdische Wissen
brachte um die Pflichten und Verant‐
wortungen, denen er im Geistigen schon seit
Jahrtausenden dargeboten war...
.Wo immer einer der Unseren lebt, dort
ist einer unserer geistigen Tempel.
.Keiner aus uns gibt durch sein Wort
etwa nur auf subjektivem Erkennen allein
gegründete Lehre.
.In dem Worte des Lehrenden sprechen
alle Wirkenden aus dem ewigen Urlicht
in Ver-einung.
.Vergeblich würde man einen aus uns,
von seinen geistgeeinten Brüdern je zu
sondern suchen!
31 Das Buch der königlichen Kunst
.Man kann auch keinen aus uns lösen
von den Anderen durch den Tod, denn alle
leben wir ineinander, einer den Anderen
durchdringend, ‒ ob wir nun noch im
Erdenleib sind, oder ob wir ihn abgelegt
haben.
.Wir haben Denken und Schauen über‐
stiegen und fanden das Reich der einfach‐
sten Zeichen: ‒ das Land der Wirklichkeit.
.Dort leben, und von dort aus wirken
wir, im Innersten vereint, auch wenn
Tausende von Meilen überwunden werden
müßten, wollten wir in unseren Erden‐
körpern zueinander kommen.
.Wer zu einem aus unserem Kreise geistig
Zutritt fand, der hat einen Tempel des
Geistes auf dieser Erde betreten...
.Wir wollen die Herzen der Menschen
erreichen, damit die Herzen den Pfad zum
32 Das Buch der königlichen Kunst
Geiste finden, der allem Denken der Gehirne
unauffindbar bleibt, solange ihn das Gei
stige des Menschen nicht zu finden wußte.
.Die Auswahl leitet geisterwachsenes
Gesetz, das nicht zu beugen, nicht zu
brechen ist.
.Keinem aus uns steht es frei, einen Je‐
den, der da kommen mag, auch in den
geistigen Bezirken sich zu vereinen.
.Der Strom muß dem Meere nahe
sein, soll er des Meeres Schiffe schon
tragen können. ‒ So auch muß der Such‐
ende bereits bereitet sein, zu über
nehmen, was wir ihm zu geben haben.
.Einem Jeden der geistig zu uns kommt,
kann zwar auf die ihm gemäße Weise Hilfe,
und in bestimmter Art auch Führung wer‐
den, soweit ihm Hilfe wirklich von Nutzen
sein wird, und soweit er Führung schon
33 Das Buch der königlichen Kunst
zu entdecken weiß, wenn sie auch nur seinen
Alltag lenkt. ‒
.Die Führung auf den höchsten Höhen‐
wegen aber dürfen wir dem nur bieten,
den wir am Ende des Pfades durch die
Wüsten dürren Denkens finden, aus seiner
eigenen Kraft.
.Ihn allein hat das Gesetz dazu bestimmt
die höchsten Höhen geistiger Erkenntnis
zu erreichen.
.Jeder Andere würde nur tief zu Falle
kommen, wollten wir ihn in geistiger Füh‐
rung auf die Hochpfade geleiten, die nur
den allerwenigsten aus allen gleichzeitig
Lebenden auf dieser Erde gangbar sind. ‒
34 Das Buch der königlichen Kunst
Das unendlichfältige Eine
.Es liegt uns ferne, die keusche Weis‐
heit, deren erwählte Priester wir sind, vor
dem lüsternen Auge der Neugier zu ent‐
schleiern.
.Wir selbst verwirren durch geistigen Ein‐
griff alles, was ohne oder gegen unseren
Willen dann und wann durch Unberufene
vernommen wurde, damit es nicht zum Scha‐
den derer führen kann, die wahllos Lehre su‐
chen wo die Wahrheit sich nicht finden läßt.
.Nach jeder Kunde, die ein Nichtgerufener
sich zu erschleichen wußte, sind wir gezwun‐
gen, die Mauer des Schweigens zu erhöhen,
die um das Heilige gezogen ist, da das Ge‐
setz des Geistes solchen Schutz verlangt,
wir aber das Gebot erfüllen müssen.
37 Das Buch der königlichen Kunst
.Man hat euch in alter und neuerer Zeit
gar vieles gegeben, das denen nicht ge
hörte, die es euch brachten.
.Lernet erwachend erkennen, wie das Ge‐
setz des Geistes solche Gaben immer wieder
zu vernichten weiß, um nicht das ursprüng‐
lich Gute zur Nahrung keimenden Unheils
werden zu lassen!
.Nur was wir selber den Seelen geben,
verantworten wir im Geiste als unser auf‐
getragenes Werk.
.Glaubt nicht, daß ihr im irdischen
Osten, ‒ ja selbst an den Hängen des
Himavat, wo die geheiligten „Schwäne” an
den Ufern der höchsten Tempelteiche nisten,
‒ der reinen, lichtlebendigen Weisheit
des geistigen „Ostens”: ‒ des Sonnen
aufgangs in der Seele ‒ etwa näher
wäret!
38 Das Buch der königlichen Kunst
.Nicht alles, was vom geographischen
Osten kommt, ist deshalb Licht vom Lichte
des geistigen Ostens! ‒
.Auch der sengende Wind dürrer Speku‐
lationen, wie der Fieberhauch wüstesten
Aberglaubens, wehen vom Osten her.
.Die größte Torheit und die höchste Weis
heit finden sich im irdischen Osten. ‒
.Das Licht aus dem innersten geistigen
Osten aber ist ewige, kosmische Weisheit!
.Wir wissen jedes Volk und jeden Ein
zelnen ohne Umwege zu erreichen.
.An den so Erreichten liegt es allein,
ob das, was wir zu geben haben, aufge
nommen wird, oder zu uns zurückkehrt,
wie wenn es abgeprallt wäre an hartem
Stein...
.Suchet, und ihr werdet ‒ gefunden!
39 Das Buch der königlichen Kunst
.Doch dieses Suchen nötigt euch nicht,
auch nur aus dem Hause zu gehen. ‒
.Nur in euch selbst sollt ihr suchen
und nur in eurem Allerinnersten wird
man euch zu finden wissen.
.Glaubt nicht, daß eitle Mystagogen, die
euch in Hörigkeit haben möchten und dar‐
um ähnliche Macht sich anzudichten ver‐
stehen, jemals solches vermögen!
.Glaubt nicht, daß wir, die allein zu
solchem Finden fähig sind, dabei Anderes
wahrzunehmen vermöchten, als was euch
im geistlebendigen Lebenskern auf
höchste seelische Weise bewegt!
.Wir kennen keine Neugier, und sehen
geistig nur was lichtempfängnisfähig ist
in euch.
.All' unser Tun ist nur darauf gerichtet:
Licht zu entzünden, wo es aufgenommen
wird.
40 Das Buch der königlichen Kunst
.Hütet, was wir euch vertrauen!
.Es ist Licht aus dem innersten Osten!
.Das Licht, das ewig ist und ewig sein
wird, leuchtet zwar allenthalben in der
Finsternis, aber die im Finstern Träu‐
menden erkennen es nicht.
.Siehe: ‒ noch bist du selbst nur dein
Traum, ‒ du, der sich selbst als Licht
im Urwort erkennen lernen soll! ‒
.Niemals warst du wirklich in der
Finsternis, die du dir träumend schaffst,
denn was du auch immer als finster emp‐
finden magst, hat in der Wahrheit keinen
Bestand.
.Du warst Licht vom Anbeginn, der
niemals Vergangenheit werden kann,
weil er in Ewigkeit Gegenwart ist! ‒
41 Das Buch der königlichen Kunst
.Leuchten wollen sollst du in dir selbst,
auf daß du deine Lichtesfülle erkennst, ‒
und erwachen sollst du aus dem Traum der
Finsternis!
.Heute noch bist du des Traumes Sklave.
.Morgen schon kannst du vielleicht er‐
wachen, und dein Tag wird ewig sein!
.Keine Nacht wird dir dann die Fülle
des Lichtes mehr rauben können!
.Aus eigener Willenswahl: ‒ durch dei‐
nen Glauben an die Nacht, ‒ bist du zu
einem Traum der Finsternis geworden. ‒
.Nun sollst du deine Finsternis, in glei‐
cher Weise, durch den Glauben an den
Tag erhellen, damit Licht in dir werde
und dein Traum ein Ende finde.
42 Das Buch der königlichen Kunst
.Nimm dich in acht vor deinen Träumen,
denn die Geister des Traumes sind herrsch‐
süchtig und tyrannisch!
.Leicht können sie dich länger im Schlafe
halten als du schlafen müßtest, und dann
verschläfst du deinen Tag und mußt bis
zu einem anderen Tage warten...
.Noch suchst du im Traum ‒ in leerem
starren Nichts über Wolken den Einen,
der nur in unzählbaren Einzelnen sich
offenbaren will.
.Siehe, ‒ Er wohnt auch in dir und
spricht:
.Ich bin in ihrer Mitte, doch sie ver
nehmen nicht mein Wort, denn meine
Stimme ist sanft wie ferner Vogelruf!”
.Lerne darum die Welt der Vorstellung
scheiden von der Welt der Wirklichkeit!
43 Das Buch der königlichen Kunst
.Die Vorstellung muß überwunden wer‐
den, aber nicht die Wirklichkeit der Welt,
die auch „ein Gott” nicht wirklich über‐
winden könnte...
.Suche nach der Einfalt des Kindes
in dir, wenn du Geistiges erkennen ler‐
nen willst!
.Meide alle erdachte „Weisheit”!
.Fliehe die Welten, die nur dein Denken
dir erstehen läßt, und die mit deinem letz‐
ten Hirngedanken wie ein wirrer Spuk
zerstieben!
.Verlasse die Welt der wechselnden Vor
stellung, wie sie nur in deinem Kopfe
lebt und west!
.Das ist „die große Entsagung”!
.Das ist der Anfang des Schreitens auf
dem Pfade, bei dem der Wanderer all‐
44 Das Buch der königlichen Kunst
mählich selbst zu wahrhafter Wirklich
keit gewandelt wird.
.In heiliger Ordnung waltet das Gesetz
des geistigen Geschehens.
.Soll das Licht aus dem Wort die Her‐
zen der Menschen erreichen, so muß es zu‐
vor die Farbe der Erde zeigen.
.Wir sind nicht das Licht, sondern des
Urlichtes Leuchtende!
.In uns wird dem Lichte der Ewigkeit
die Farbe der Erde!
.Vertraue dem Leuchtenden, der dir zum
geistigen Führer wird in dir selbst, aber
liebe in ihm allein das Licht, das ‒ ihn
durchflutend ‒ sich dir nahen will.
.Befreie deine Seele von jedem Bilde
sterblicher Formen, wenn du das Licht
durch ihn empfangen willst!
45 Das Buch der königlichen Kunst
.Was in dir wirken will, ist nicht der
Erdenmensch, durch den des Lichtes Strah‐
len dir erkennbar werden, sondern das
Licht im Wort.
.Nennst du den dich Leitenden: ‒ „Mei
ster”, so wisse, daß nur Einer „der Mei‐
ster” ist in jedem aus uns!
.Wir sind, was wir sind, um euch zu
helfen.
.Nichts anderes will das Gesetz von uns.
.Wir sollen Kräfte in euch erwecken,
durch die eure Herzen aller Finsternis ent‐
rissen werden: ‒ Kräfte, die in euch selber
sind! ‒ Kräfte, die euch zu Bewußtsein
kommen müssen, wenn ihr sie gebrauchen
lernen wollt!
.Wir sollen euch zu euch selber führen!
46 Das Buch der königlichen Kunst
.Wir sollen das ewige Licht des Wortes
in euch entzünden!
.Wir sollen das Wort in euch zum Wider‐
klang bringen!
.Wir aber können nichts für euch tun,
wenn ihr keine Hilfe wollt!
.Wir können euch nicht helfen, wenn
ihr nicht unerschütterlich wenigstens an
die Möglichkeit geistiger Hilfe glaubt, so
wie ein Seefahrer glaubt, auf der anderen
Seite des Meeres festes Land zu finden.
.Wir sind Menschen der Erde wie ihr,
und müssen wie ihr den Zoll an die Erde
entrichten.
.Wir wirken als Menschen der Erde und
wissen Irdisches wahrlich zu achten.
.Aber wir wissen auch um das Voll
kommene, als um das ewige Ziel, dem
47 Das Buch der königlichen Kunst
alles Geistgeborene ewig zustrebt ohne es
jemals erreichen zu können.
.re die absolute Vollkommenheit je‐
mals erreichbar, so würde im Augenblick
des Erreichens jegliches Leben enden, und
nur durch ihre Unerreichbarkeit gibt sie
allen Ewigkeiten stets neuen Lebensgrund.
.Vollkommen ist nur der ewig unendlich‐
fältige Eine, der sich in unzählbarer Ge‐
staltung im Ursein, Urlicht und Urwort
ewig neu als sich selbst erlebt...
48 Das Buch der königlichen Kunst
Erkenne dich selbst
.Glaube nicht irregeleiteten Schwärmern
wenn sie dir etwa sagen: es könne jeder,
der es begehrt, zum Leuchtenden des Ur‐
lichts werden.
.Es gibt leider nur allzuviele, die gerne
bereit sind, jeglichem Worte zu glauben,
wenn es nur ihre zehrende Eitelkeit be‐
tört, ‒ und die dann mit allem gierenden
Streben nicht weiter gelangen, als bis zur
Zerstörung ihrer ureigenen Lebensbahn...
.Wer nicht als Leuchtender im Urlicht
schon geboren wird, nachdem er seit Jahr
tausenden bereits im Geiste war, was
er nunmehr auch hier im Erdenleben
sein soll, der wird nur vergeblich jemals
zu „werden” suchen, was er nicht vom
Geiste her längst ist.
51 Das Buch der königlichen Kunst
.Suchet nicht, was euch nicht selber sucht!
.Ihr könnt sonst gar leicht recht teuf‐
lischen Selbsttäuschungen erliegen.
.Die Menschen, denen die Natur ihre
Siegel öffnen muss, sind zu jeder Zeit so
selten, dass nur pathologische Vermessenheit
den törichten Glauben nähren kann, man
gehöre vielleicht zu dieser verschwindend
kleinen Zahl.
.Wer wirklich dazu gehört, der weiß
es im irdischen Bewußtsein erst dann, wenn
ihm durch den Leiter seiner Bewußtseins‐
erziehung die Kräfte zum geistigen Wirken
auf Erden übertragen wurden.
.Vorher ist kein Erdenmensch fähig, die
unerhörte Belastung seines Bewußtseins,
auch nur einen Augenblick lang ertragen
zu können ohne daran zu zerbrechen, ‒
die mit dem Erlebnis der Identität des ir‐
dischen Selbsterlebens mit einem unfaßbar
52 Das Buch der königlichen Kunst
weit älteren, individuell gestalteten vorge‐
burtlichen Leben im ewigen Geiste natur‐
notwendig verbunden ist.
.Der hier auf sicherem Boden fußt, weiß
sich frei von allem Geltungstrieb von Jugend
auf.
.Er hat seine Aufgabe niemals selbst er‐
sehnt.
.Im Geiste aber war er dafür bereitet
worden ehe er geboren wurde, und als er
seine Zeit erreichte, fanden die Väter
im Urlicht ihn vollendet wie man eine reife
Frucht am Baum findet.
.In seinem Erdenleben strebte er vielleicht
zu Zeiten streng nach Weisheit, allein er
war gewiss unendlich weit davon entfernt,
geheime Kräfte sich zu wünschen.
.Wohl suchte er in Demut Führung,
doch er erstrebte sicher nicht die Weihe, die
ihm nachmals wurde, ohne daß er vordem
53 Das Buch der königlichen Kunst
darum wußte, daß sie Einzelnen im Erden‐
leben Schicksal sei.
.Selbst wenn er von Ähnlichem hörte,
galt es ihm nur als Sagenstoff oder Gebilde
allzu erregter Phantasie.
.So ward er Meister in dem, was er ohne
es zu ahnen, von Geburt an war...
.Macht über okkulte Kräfte, wie sie
menschliche Märchenlust geistiger Meister‐
schaft allezeit zuschrieb, galt aber jederzeit
jedem wirklichen Leuchtenden des Urlichts
nur als verächtlich und keineswegs erstrebens‐
wert.
.Ihr habt gehört, daß es Mittel und Wege
geben kann, solche abenteuerlichen Kräfte
zu erlangen?
.Es wäre wahrlich für euch besser, ihr
wüßtet von solchen Dingen nichts!
54 Das Buch der königlichen Kunst
.Den Allermeisten die danach strebten
wurden solche Kräfte zu Schlingen, und
traurig war das Schicksal derer, die in diesen
Schlingen hängenblieben.
.Wer okkulte Kräfte als Berufener
meistern soll, der wird in langen Jahren
der Vorbereitung durch einen Berufenen
zu ihrer sicheren Beherrschung und Abwehr
geschult. Selbst dann noch können sie ihm
zum Verderben gereichen.
.Die in harter Erziehung erlangte Macht,
durch die allein okkulte Kräfte zu beherr
schen sind, verpflichtet den der Macht ein‐
mal Sicheren zu steter Betätigung seines
Könnens, und rächt sich furchtbar, wenn
der Wille auch nur einmal erlahmt.
.Ein Moment des Zögerns, und des Zwei‐
felns an der eigenen Macht, kehrt alle Kräfte,
denen sie gebieten kann, gegen den Be‐
schwörer, und bringt Unheil mit unüber‐
sehbaren Folgen.
55 Das Buch der königlichen Kunst
.Wahnsinn und geheimnisvoller Tod sind
noch nicht die schrecklichsten Wirkungen,
die solcherart entstehen können.
.Schuld trifft dann den, der diese Macht
in Hände gab, die nicht für sie geschaffen
waren.
.Kein wirklicher geistiger Meister würde
sich mit solcher Schuld beladen, obwohl er
wahrlich die hier Macht gewährenden Prak‐
tiken bis ins kleinste kennt.
.Wirkliche Geistesmacht steht unbe‐
schreiblich hoch über allen okkulten Fähig‐
keiten irgendwelcher Art.
.Der Schüler, den ein geistiger Meister
zum Sohn annimmt muß ein Mensch sein,
der vordem im Willen der Erde sich selbst
„gestorben” ist und nun im Willen Gottes
lebt, in dem er „geboren” wurde.
.Was dann der Meister tut, besteht einzig
darin, daß er aus Gott den Menschen leitet,
56 Das Buch der königlichen Kunst
Gottes Wille in sich zu benützen und ihm
sich anzugleichen, was freilich oft wunder‐
same Wirkung haben kann.
.Die Erde der Menschen ist dann des
erwählten Sohnes Arbeitsfeld, und das Reich
des ewigen Willens seine Heimat.
.Wer hingegen nach okkulten Kräften
strebt und sie durch äußere Übung zu be‐
meistern sucht, ist erst in das schwüle Däm‐
merland verderblicher Wünsche und gefahr‐
voller Versuchung gelangt.
.Magie im höchsten Sinne, als die König
liche Kunst der Geistgeeinten, hat mit
diesem Dämmerland allerdings nichts ge‐
mein!
.Die wahre Wunderkraft der Königlichen
Kunst ist nur des Gottesgeistes nie be
siegbarer Wille...
.Der Mensch besitzt Anteil an diesem
Willen in sich selbst, sobald er sich un‐
57 Das Buch der königlichen Kunst
widerruflich dem Willen der Erde in sich
versagt.
.Wer aber dem Willen der Erde sich
entziehen will, der darf nicht glauben,
nun auch „der Erde entsagen” zu müssen. ‒
.Weltverneinung ist Torheit!
.Weltverneinung ist der narkotische
Trank schwächlicher Seelen, die der
Wirklichkeit entwischen zu können
glauben...
.Durch Weltverneinung wirst du gerade
am engsten dem Willen der Erde ver
haftet, denn: ‒ was dich die Welt „ver
neinen” heißt, ist nur der unbefriedigte
Wille der Erde, nicht aber des ewigen
Geistes sieghaft starker Urkraftwille,
dem alles durch ihn im Dasein Erschienene
dienen muss, und dem nichts widerstehen
kann. ‒
58 Das Buch der königlichen Kunst
.Dem Willen der Erde kannst du dich
nur entziehen durch aktive eigene Willens‐
haltung.
.Der Erde aber entsagen wollen, ver‐
langt nichts anderes von dem Entsagenden,
als müde Passivität.
.Die Flucht aus der Welt ist wahrlich
nicht als aktives Handeln zu werten, und
in den allermeisten Fällen ist sie nur folgen‐
schwere Auswirkung psychophysischer Stö‐
rung, vereint mit dem Trieb zu überstei‐
gertem Selbstgenuß.
.Töricht sind sonderlich alle „Ich”-Ver‐
ächter, denn sie wissen nicht, was sie ver‐
achten.
.Wenn sie sagen: „Bekämpfe in dir
dein Ich!” ‒ so raten sie dir schlecht!
.Lösche „Ich” aus, und Alles ist aus‐
gelöscht, ‒ denn alles Sein und alles
59 Das Buch der königlichen Kunst
Scheinen ist nur durchIch”, fürIch
gewirkt: ‒ wird wirkend nur inIch
empfindbar...
.Du kannst „Ich” nicht auslöschen, wenn
du auch aus allen Kräften zu einem Nicht
„Ich” werden möchtest.
.Ewig ist das Ur-„Ich”, das ewig dich
aus sich erzeugt.
.Nicht eine Sekunde wärest du im Da‐
sein, würde diese geistige Zeugung auch nur
während einer Millionstel-Sekunde dich
nicht im Dasein wollen. ‒
.Sage denen, die da behaupten, in ihnen
sei „Ich” erloschen: ‒
.„Nicht ihr seid Nicht-„Ich” geworden,
sondern eure Torheit glaubt nur an dieses
Unwesen eurer Ein-bildung!”
.„Ihr unterdrückt zwar, was „Ich” ist
in euch, aber ihr könnt „Ich” nicht töten!”
60 Das Buch der königlichen Kunst
.Irrig habt ihr die Worte der Weisen
verstanden, denn der Weise ist „Ich” von
Grund auf! ‒ Alles in ihm ist untertan
seinem „Ich”! ‒ ”
.Was ihr aber abtun sollt, ist: ‒ das
Angenommene!”
.Ich” bist du, o Suchender, von Ewig
keit her, auch wenn du deine eigene Iden‐
tität noch nicht in der ewigen Spirale
geistiger Aufeinanderfolge erkennst!
.Alles, ‒ außer „Ich”, ‒ ist zeitweilig
angenommen! ‒
.Du verteidigst zwar das Angenommene,
als sei es dein Eigentum, ‒ aber alles,
was an-genommen ist, gehört dir nicht von
deinem Urgrund her zu eigen!
.Alles, was angenommen ist, wird dir
wieder genommen!
61 Das Buch der königlichen Kunst
.Unzähliges Angenommene ist dir schon
unzählige Male wieder genommen worden...
.Dein „eigener” rper ist nur an-ge
nommen in dieser Welt der ‒ Annahme. ‒
.Du aber bist „Ich”! ‒
.„Ich” ist einmalig, einzigartig und
unzerstörbar in jeder seiner Emanationen!
.Auflösung” des „Ich” ist unmöglich!
.Was man wohl der Kürze halber so
nennt, ist ein sehr komplizierter Vorgang
der Bewußtseinszerstörung, bei dem das
vorher „Ich”-vereinte Bewußtsein sich löst
vom „Ich”, und somit sein ewiges „Ich”
verliert.
.„Ich” ist unerklärbar, denn „Ich” ist
absolute Einheit, ‒ „Licht an sich”,
und vollendete Klarheit.
62 Das Buch der königlichen Kunst
.Scheinbare Klarheits-Differenzie
rung im „Ich” ist nur Wirkung der Bewußt
seinsbewegung, die du wahrnimmst
im „Ich”.
.„Ich” ist ewig aus Ur-„Ich” gezeugt
und bleibt ewiges Zeugnis ewiger Zeugung!
.Zerstören kannst du nur dein Bewußt
sein um dein unzerstörbares „Ich”. ‒ ‒
.Geistig bewußt werden aber kannst du
nur, indem dein Bewußtsein Aufnahme
findet in „Ich”, so, wie „Ich” im Geiste
lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit...
.Nicht anders wird der „Vater”, nicht
anders das „Urwort”, nicht anders das
Urlicht” erkannt und geliebt, als im
Ich”!
.Dieses aber bist du: ‒ du jedesmal
einziges „Ich”, ‒ wenn du Alles von dir
abgetan hast, was nur Angenommenes
ist! ‒ ‒
63 Das Buch der königlichen Kunst
.Suche nicht außen, du Suchender,
was nur im Innersten lebt!
.Nie und nimmer kannst du außen
finden, was du suchst!
.Nie wirst du wissen um „Ich”, wenn du
nicht vorher „Ich” im Innersten deines
Innern gesucht und gefunden hast!
.Du wirst „Ich” jedoch nur dann fin
den in dir selbst, wenn du geistig nüchtern
bleibst und dein Bewußtsein nicht beirren
läßt durch Gaukelspiel, wie es deine und
Anderer Phantasie so reichlich darzubieten
hat. ‒
.„Ich” ist nur einmal in dir im Dasein,
‒ aber Unzähliges sucht sich in dir zu
behaupten, indem es unter diesem Namen
dir verbirgt, daß es nur Angenommenes ist.
64 Das Buch der königlichen Kunst
Von den geistigen Meistern
.Wie steht es aber um die hohe Gemein‐
samkeit der geistigen Lehrer?
.Wie gelangst du zu ihnen, die dich vom
Geiste her helfend führen, wenn du „außen”
nicht suchen sollst?
.Was sollen dir diese Worte hier, die
doch von außen her dich erreichen müssen,
wenn du nur in deinem Allerinnersten
die Führung erwarten darfst?
.O Suchender! ‒ Diese geistige Führer‐
schaft ist dir sehr nahe und du weißt es
nicht! ‒
.In dir wirkt sie und in dir bist du mit
ihr verbunden, ohne die Spur der Ver‐
bindung zu ahnen.
67 Das Buch der königlichen Kunst
.Du könntest im äußeren Leben auch
Tage und Nächte lang mit einem der gei‐
stigen „Meister”, wie man die Leuchtenden
des Urlichts zu nennen pflegt, in einem
Raume zusammen leben, und du würdest
ihn doch nicht als das, was er ist, erkennen,
denn gut hat der eine Meister, der uns zu
geistigen Meistern schuf, unsere Meister‐
schaft vor trübsichtigen Augen verhüllt...
.Wenn du aber sehend unserer Geistes‐
gemeinschaft nahen willst, so achte darauf,
in dir selbst die geistige Atmosphäre zu
erreichen in der wir leben, ‒ wir, die wir
selber sehend wurden durch das eine ewige
Auge, dem kein irdischer Sinn entspricht.
.Nicht eher wirst du innerlich uns ver‐
nehmen, als bis zu jenem Tage, der dich
zum erstenmal in innerster wunschloser
Stille, voll Sicherheit und vertrauender
Furchtfreiheit findet!
.Äußere Ruhe nützt dir dabei nur wenig.
68 Das Buch der königlichen Kunst
.Je reicher du beschäftigt bist in deiner
Alltagswelt, ‒ je intensiver du die Arbeit,
die dein Tagewerk von dir verlangt, zu för‐
dern weißt, ‒ desto näher kommst du in
deinem Innern der geistigen Atmosphäre,
die uns Lebensnotwendigkeit ist, und in
der allein die unstörbare Stille herrscht,
die du erreichen mußt. ‒ ‒
.Du liebst vielleicht die romantische Vor‐
stellung, wir „Löwen der Stille”, wie man
uns nannte, seien müßige Träumer, phan‐
tastische Hierophanten, oder gar „Yogis”
von der zweifelhaften Sorte, die man an den
Märkten sieht?!
.Du glaubst, die Klar-Augen, denen die
Mythe aller Völker erhabene Einsicht dankt,
seien wohl Priester mysteriöser Kulte in
weihrauchdurchzogenen geheimen Krypten?!
.Du kannst dich nicht lösen von der Vor‐
stellung, wir seien irgend einem irdischen
Willen dienstbar, ‒ irgend einer macht‐
69 Das Buch der königlichen Kunst
erstrebenden Religion oder Weltansicht
gemeinsam verhaftet?! ‒ ‒
.Wenn du, o Suchender, jedoch auf die
Spur der Wahrheit finden willst, dann lass'
dich nicht täuschen durch die Gaukelspiele
deiner übersatten Phantasie!
.Wisse, daß unter den geistigen Meistern,
die auf dieser Erde wirkten, Meister des
Schwertes sind!
.Wisse, daß andere die Geschicke großer
Länder lenkten!
.Einige aus uns pflegten hohe Künste,
andere hohe Wissenschaft, und wieder andere
flohen und fliehen jede Wissenschaft, jede
Kunst.
.Einige lebten in großen Städten inmitten
des Weltgetriebes ihrer Zeit, ‒ andere aber
hausten in ferner, unnahbarer Einsamkeit,
die auch heute noch fast aller Zuflucht blieb.
70 Das Buch der königlichen Kunst
.Wechselnd im Wechsel der Zeiten, fin‐
den sich in gar verschiedenen Situationen
menschlichen Erdendaseins unsere Spuren.
.Keineswegs aber sind alle aus uns ein‐
ander in jeglicher geistiger Hinsicht gleich,
und jeder einzelne behält die Freiheit der
Entscheidung, ob und wie lange er auf seiner
erreichten Stufe stehen bleiben, oder aber:
ob und wann er die darauffolgende ersteigen
will.
.Alle der Unseren aber hören immerdar
den Ruf, der sie berufen hat...
.Vielleicht würde nur Weniges deiner
übersteigerten Vorstellung von dem Wesen
gotteiniger Menschen entsprechen, könntest
du einen aus uns, die man „Meister der
sieben Tore” zur Gottheit nennt, in seiner
irdischen Einkleidung erkennen!?!
.Jedoch: ‒ das Äußere ist dem Weisen
nur gültig als notwendig irdisch geforderter
71 Das Buch der königlichen Kunst
Schein, und jeder Schein ist an sich trüge
risch, ‒ auch wenn er wahrlich nicht als
bloßes „Nichts” gewertet werden darf. ‒
.Wie sollten aber die „Wolken der
Erkenntnis” das Land befruchten kön‐
nen, wenn sie nicht ‒ in eine Welt des
Scheines gesandt ‒ als Schein im Schein
zu wirken wüßten?! ‒
.Glaube aber nicht, daß du einem aus
uns begegnen müßtest, um sein geistiger
Schüler werden zu können!
.„Von außen her” lehrt keiner aus uns
die letzten Dinge!
.Was ich dir hier sage, kann dir wohl
Anstoß deines Willens werden, die Wahr‐
heit zu suchen, aber alle Lehre, die ich dir
in Worten meiner Sprache geben kann,
bleibt stets nur Weckruf an dein Inneres,
denn die Weisheit des Himavat wird anders
„gelehrt”...
72 Das Buch der königlichen Kunst
.Sie ist tiefer gegründet, als nur auf die
Auffassungsfähigkeit der Gehirne!
.Tiefer als alle menschlich vergänglichen,
irdisch veränderlichen Lehren und Schulen!
.Du kannst aber nicht im Innersten dei‐
nes Innern mit den lebendigen „Steinen
der großen Mauer” leben, bevor du ge‐
wohnt bist, in ihrer Luft, hoch über allen
Nichtigkeiten von vermeintlicher Wichtig‐
keit, und hoch über aller bramarbasierenden
Marktschreierklugheit zu atmen.
.Wie aber der Ton auf allen Harfen im
Saale mitklingt, wenn der Finger des Spie‐
lers die Saite einer Harfe berührt, so klin‐
gen alle heiligen Klänge für jeden Schüler
der geistig eingeordnet wurde, nachdem
er die „Stimmung” der „Harfen des ge
weihten Berges” in sich erreichte...
.Dein innerer Zustand ist der Schlüssel,
der dir die Pforte öffnet zum geheimen
geistigen Tempelraum!
73 Das Buch der königlichen Kunst
.Nichts kann dir verschwiegen, nichts dir
vorenthalten werden, wenn du diesen Schlüs‐
sel wirklich dir erworben hast, ‒ der aber
auch nur so lange aufzuschließen vermag,
solange du in dem durch geistiges Gesetz
geforderten Zustand verharren wirst. ‒
.Suche aber nicht etwa Klänge in dir zu
hören, Visionen zu haben, oder Worte der‐
art zu vernehmen, als wenn sie von außen‐
her zu dir gesprochen würden!
.Prüfe dich selbst und bleibe seelisch wach,
damit du nicht Wahn- und Wunschträumen
zu willen wirst, wo du die Wirklichkeit
erkennen lernen willst!
.Suche nichts, außer dem Zustand
innerster, wunschlos vertrauender see
lischer Stille!
.In dem gleichen Grade, in dem du dich
diesem Zustand näherst, wirst du dich Denen
nähern, die mit dir den Weg zur Wahrheit
74 Das Buch der königlichen Kunst
geleitet werden, und ebenso wirst du dich
von ihnen entfernen, wenn du versäumst,
den Zustand allerinnerster wunschloser Stille
ungestört in dir zu erhalten.
.Keine äußere Unrast kann diese hier
gemeinte Stille stören, die nur
durch dein eigenes Verhalten allein
bestimmt wird in dir. ‒
.Suche nicht in seelischem Zwielicht nach
den geahnten Gefährten.
.Du kannst nur teilhaben an ihrer bereits
erlangten Kraft, und du wirst dieser Stär‐
kung deiner eigenen Kräfte gewiss bewußt
zu werden vermögen, ‒ doch um die mit
dir im Streben zum Geiste Vereinten weiß
nur der, dessen Schüler du bist, wie auch
jene seine Schüler sind.
.Grüble nicht, sondern sei dir nur stets
der ehrlichen Anspannung aller deiner dir
bekannten inneren Fähigkeiten bewußt!
75 Das Buch der königlichen Kunst
.Keinen Augenblick darfst du dich
selbst aus dem Auge der Seele verlieren!
.Du könntest sonst den Weg verfehlen,
und würdest erst nach langer Zeit gewahr,
daß du nicht mehr auf dem Wege bist...
.Wenn du zu denen gehörst, die auf dieser
Erde ihre Zeit nicht ungenützt versäumen,
dann wird dir schon während dieses
Erdenlebens in deinem eigenen Innern
der strahlende Tag erscheinen.
.Dann wirst du allen Gefahren entronnen
sein, denn du wirst alsdann deinen Weg
aus deiner eigenen Klarheit erleuchtet
sehen.
.Doch heute darf deine Sorge gewiss noch
nicht jenem Tage gelten, dem du nur in
Geduld entgegenwachen lernen sollst!
.Du weißt es nicht, wann er dir be‐
schieden ist, und niemand weiß es...
76 Das Buch der königlichen Kunst
.Du selbst bestimmst deine Zeit, und
mußt „deine Zeit” erfüllen!
.Es genüge dir das Wort, das ich dir
hier zu sagen habe:
.In der vollendeten Zeit wird auch
dir die Vollendung nahen!
.Alle Ungeduld trübt nur deinen Blick
und verzögert dadurch das Werk.
.Ewig bist du, und dein ist die
Ewigkeit!
.Beharrlich harre aus!
.Gelassen lasse das „Angenommene”!
.Du hast es nur gut zu verwalten!
.Es ist keineswegs dein Besitz. ‒
.Erstrebe täglich und stündlich den hohen
Zustand innerer Stille, mitten im Lärm der
Außenwelt!
77 Das Buch der königlichen Kunst
.Erfülle dich mit gläubigem Vertrauen
und halte dich frei von aller Furcht!
.So kommst du im Geiste dem nahe,
der dich geistig leiten kann, ‒ so
wirst du im Geiste die hohe Gemein
schaft gewahr, aus der er dich erreicht,
so kommst du endlich zu dir
selbst in deinem lebendigen Gott!
78 Das Buch der königlichen Kunst
Gefahr der Eitelkeit
.Hüte dich aber, du Suchender, vor
deinem eigenen Wankelmut!
.Hüte dich vor den Dornenhecken der
Zweifel! ‒
.Du ahnst vielleicht die Stätte des Lichtes,
so wie ein nächtiger Wanderer durch die
Frühnebel hindurch jene Stelle am Himmel
schon ahnt, an der das Tagesgestirn bald
aufleuchten wird.
.Zwischen dir und jener Stätte aber wurzelt
das Dornengestrüpp stets sich erneuernder
Zweifel...
.So viel du ihrer auch ausrotten magst,
so viele wachsen wieder aufs neue nach.
81 Das Buch der königlichen Kunst
.Versäume deine Zeit nicht mit törich‐
tem Tun!
.Niemals ‒ auch nicht in Ewigkeit, ‒
würdest du vorankommen können, wolltest
du dich vermessen, die Dornenhecken der
Zweifel erst auszuroden! ‒
.Hier hilft allein dein beharrlicher Mut.
.Kraftvoll und sicher schreite voran, auch
wenn deine Füße aus tausend Wunden der
Eitelkeit bluten!
.Dein Fuß muß rein sein, wenn dich
der eine ewige Meister, der da Meister ist
in jedem aus uns, die klaren kristallenen
Wegstufen betreten lassen soll, die zu den
Hallen der Anbetung im Geiste und in der
Wahrheit führen.
.„Rein” wird dein Fuß erst dann, wenn
er in deinem eigenen Blute gereinigt
wurde...
82 Das Buch der königlichen Kunst
.Tausende haben den Weg zum Lichte
gesucht und blieben in den Dornenhecken
der Zweifel hängen, weil der Suchenden
selbstische Eitelkeit es nicht zuließ, daß sie
weiterschritten, ohne die Dornen vorher
entfernen zu können.
.Du, o Suchender, sei nicht diesen gleich!
.Du bist geborgen, wenn du der ewigen
Sonne vertraust, deren Strahl dir im Lichte
meiner Worte leuchtet...
.Fühllos für alles, was dich zurückhalten
möchte, strecke du deine Hände aus nach
jenen hilfreichen Händen die du nun vor
dir siehst!
.Schweigend folge dem dich Führenden,
der von sich sagen kann:
.Ich suche das Licht nicht mehr,
denn ich selbst wurde leuchtend!”
83 Das Buch der königlichen Kunst
.Ich suche den Frieden nicht mehr,
denn ich selbst wurde Friede!”
.Ich suche kein Wissen mehr, denn
ich wurde selbst unvergängliches Wis
sen!” ‒
.Beziehe alles Gute auf Gott!
.Wiege dich aber nicht in der eitlen
Vermessenheit so vieler, als ob Gott dir
auf jede Frage antworten müsse.
.Frage getrost, und freue dich, wenn dir
Antwort wird, ‒ aber beruhige deine
Fragelust, wenn dir die Antwort nicht zu‐
fällt noch während du fragst!
.Die Wunden, die dir die Zweifel reißen,
sind nötig für das Wachstum deiner Glau
benskraft.
.Fliehe nicht feige, was dir als Hindernis
erwächst, damit es dich festhalte bis deine
Kraft erstarkt ist zum Weiterschreiten!
84 Das Buch der königlichen Kunst
.Wähne nicht, daß du berufen sein könn‐
test, für dich selbst und Andere alle Hecken
der Zweifel zu lichten, wie deine Eitelkeit
gerne dir zuraunen wird.
.Erst wenn du die Zweifel lieben lernst,
wirst du dich vor ihnen zu hüten wissen!
.Erst wenn kein erreichtes Ziel mehr
deinem Geltungswillen neue Nahrung
schafft, wirst du befähigt befunden, das
höchste der Ziele zu erreichen...
.Schweigen muß deine Seele lernen,
wenn das Licht ihr nahen soll!
.Schweigen wird deiner Seele tiefster
Ruf nach Erleuchtung sein!
.Schweigend geht deine Seele dereinst
dann in das ewige Leuchten ein!
.Je besser du innerlich schweigen lernst,
desto näher wirst du den Einsichten kom‐
men, die deine Seele ersehnt.
85 Das Buch der königlichen Kunst
.Die tiefen Einblicke in die Bereiche
wahrer Wirklichkeit öffnen sich nur dem,
der in sich selbst zur Ruhe kam, weil er
das innerliche Schweigenkönnen zu er‐
lernen wußte!
.Unter tausend Masken ist es aber immer
wieder deine Eitelkeit, die deine innere
Ruhe stört durch immer neue Fragen,
denen keine Antwort werden kann, solange
du nicht in der großen Stille bist...
.Erst wenn du innerlich zu schweigen
weißt, kommst du in der Stille deiner Seele
zu der Antwort, die dich auf ewig erlöst!
86 Das Buch der königlichen Kunst
AUS DEN LANDEN
DER LEUCHTENDEN
.IN DEINER SEELE IST EINE KLEINE
PFORTE, ‒ KLEINER ALS EIN SON‐
NENSTÄUBCHEN.
.WER SIE DURCHSCHREITET, KANN
IN FERNE LANDE REISEN OHNE SICH
AUS SEINEM HAUSE ZU ENTFERNEN.
.DIE ÄLTESTEN ZEITEN KANN ER
AM HEUTIGEN TAGE ERLEBEN.
.NUR WENIGE ABER WISSEN SICH
SO KLEIN ZU MACHEN, DASS SIE DIESE
WINZIGE PFORTE BEWUSST DURCH‐
SCHREITEN KÖNNEN...
89 Das Buch der königlichen Kunst
Die Schwelle
.Im Tempel angelangt, in dem ihm die
Weihe werden sollte, fragte der Schüler
den Meister:
.„O sage mir doch noch, du Sicherer,
dem ich so lange schon mich anvertraue,
was du vor dir selber bist in deinem
Wissen um dich selbst, ‒ du, der du alles
in dir zu bemeistern weißt und von nichts
mehr bemeistert wirst!?
.Ist das, was du bist, noch im Menschen
beschlossen, oder hast du in dir selbst ein
Anderes gefunden, dem der Mensch nur als
Maske dienen muß? ‒”
.Und der Meister sprach:
.Ich bin, wie du, ein Mensch, ‒ aber
was ich war, bevor mir meine Mutter Leib
93 Das Buch der königlichen Kunst
und Leben dieser Erde gab, das wurde ich
hier erst, nachdem ich den Schlaf des
Menschen dieser Erde überwunden hatte.
.Dann erst wurde ich der Meister meiner
ewigen Kräfte auch hier auf Erden, als ich
den erdbedingten Schlaf bezwingen lernte,
in dem die Menschen dieser Erde sich ihr
Leben zu erträumen trachten.
.Fragst du mich nun, was ich bin, so
kann ich dir nur sagen:
.Ich bin ‒ ich selbst, und nur ‒ ich
selbst!”
.„Du selbst?” ‒ stammelte fragend der
Schüler...
.„Du selbst? ‒ ‒”
.„Wie soll ich das deuten?! ‒ ”
.Mein wissensdurstiger Schüler”, ant‐
wortete darauf der Meister, ‒ „wie vieles
94 Das Buch der königlichen Kunst
hast du bereits von mir gehört, und wie
vieles könnte ich dir noch zu sagen haben,
‒ aber wie vieles muss ich dir dennoch
ewig verschweigen, wenn du es nicht aus
dir selber dir zuerst zu sagen weißt! ‒ ‒
.Wirst du mehr um mich wissen, wenn
ich dir nun sage:
.Ich bin Herr meiner ewigen Kräfte, denn
ich bin dieser ewigen Kräfte Selbstkraft
geworden?
.In mir sind sie nun ihrer selbst bewußt,
und in meinem Willen wissen sie sich allein
gewollt...”
.„So sage mir von den Kräften, deren
Selbstkraft du bist, o Großbeseelter!” ‒
bat darauf der Schüler.
.Und der Meister sprach:
.„Höre, du Suchender nach dem Licht,
und verstehe in deinem Herzen!
95 Das Buch der königlichen Kunst
.Wenn ihr schlafenden Menschen nach
der Weise der Erde sagt: ‒ wir sehen die
Welt durch das Auge, wir fühlen oder tasten
sie, und unser Ohr gibt von ihr Kunde,
dann redet ihr von einem kleinen Teile
der Welt, der euch mehr oder weniger er‐
kennbar wird.
.Ich aber weiß das Ganze und lebe be
wußt in ihm...
.Ich sehe, höre und fühle mehr wie ihr!
.Ich lebe in der ganzen Allwelt, die
aus Welten, der euren gleich, gebildet ist
und alles, was ist, in sich umfaßt.
.Ineinander verwoben, ‒ einander durch‐
dringend, ‒ sind alle Welten am gleichen
Ort.
.In eurer Welt verborgen, ‒ verhüllt
durch eurer Welt sichtbare Formen, ‒
steht die Welt der geistigen Kräfte, denen
ich Selbstkraft aus dem Geiste bin.
96 Das Buch der königlichen Kunst
.Urschöpferisch, aber auch: ‒ durch
Schöpfung zerstörend, ‒ wirken diese
Kräfte.
.Ohnmächtig sind sie aus sich allein, da
ihnen alle Impulse fehlen, sich aus Eigenem
auszuwirken, aber die Selbstkraft eines Ein‐
zigen, der ‒ er selbst ‒ ist, erfüllt sie
mit Antrieb zum Selbsterleben, und so
werden sie zu geistig gewollten Gewalten...
.Die Macht dieser Gewalten fühlen alle,
die hier auf Erden leben, ‒ Könige, wie
Bettler, ‒ Starke, wie Schwache, ‒ Reiche,
wie Arme, ‒ jedoch nur die wenigsten
ahnen, aus welchen Welten her solche Aus‐
wirkung sie erreicht.
.Fast allen ist es verborgen, weil sie nur
traumwach sind in ihren Erdenleibern,
während ihre Seelen schlafen. ‒
.Doch, höre weiter, du, der ein Auge
der Welten werden soll!
97 Das Buch der königlichen Kunst
.Verwoben und eingesenkt der Welt, die
euch allein als die ganze Allwelt er
scheint, und in gleicher Weise auch ver‐
woben der Welt dieser Kräfte des leben
den Feuers von denen ich hier zu dir rede,
steht eine Welt des reinen Lichtes, das
alle Welten durchleuchtet und in sich zur
Offenbarung bringt.
.Diese drei Welten hält, ‒ in sich ge‐
bettet, ‒ sie durchströmend, und in sich
selber alle erlebend, ‒ Der Gewaltige, der
sich selbst allein in Seinem Namen kennt.
.Uns offenbart Er sich im Schweigen...
.Aus Ihm und in Ihm lebt jeder, der
ein sehendes Auge der Welten wurde.
.Durch Ihn ist Selbstkraft Herrin der
Kräfte des lebenden Feuers.
.Du könntest Ihn wahrlich auch ‒ Die
‒ Gewaltige nennen, denn Mann und Weib
sind in Ihm beschlossen.
98 Das Buch der königlichen Kunst
.Im Urbeginn der Wesen, die sich „Men‐
schen” nennen, war der Mensch in der
ewigen Zeugung aus dem „Vater”, Eigner
der Selbstkraft und Herr aller Kräfte des
lebenden Feuers.
.Doch, als die Kräfte des lebenden Feuers
das ohne Flamme brennt, dem urgezeugten
Menschen ihre Macht in allem Leben zeig‐
ten, vergaß er seiner Selbstkraft, der allein
die Kräfte des Feuers ihre Stärke, Größe
und Gewalt zu danken hatten, und ‒
fürchtete sich vor ihnen...
.Furcht ist des Menschen Urschuld,
‒ denn nur aus Furcht vor den Kräften,
deren Herr er war, fiel der Urgezeugte
aus dem ewigen Leuchten!
.Siehe, du kennst nun die Ursache alles
Bösen hier auf dieser Erde!
.Nicht nur der Mensch allein ist ihm
verfallen, sondern auch alle Welten in die
der Gefallene seine Urfurcht trug...
99 Das Buch der königlichen Kunst
.Bewundernd stehst du vor den „Wun‐
dern der Natur”, ohne zu ahnen, daß da
alles was du wahrnimmst, aus deinem nun
gebannten ewigen Geisteswillen stammt,
und weitaus wunderbarer wäre, würde das
Reich, das du „die Natur” nennst, und dem
du selbst nunmehr verhaftet bist, dich heute
noch als seinen Herrn erkennen kön‐
nen. ‒
.Nun müssen alle Kräfte in ihm weiter
wirken wie die Räder eines Uhrwerks, das
man einmal aufgezogen hat.
.Du allein kannst auch „die Natur”
er-lösen, und wenn darüber noch Millio‐
nen Jahre vergehen sollten!
.Aber glaube nicht, daß dieser kleine
Stern auf dem wir hier jetzt leben, für sich
allein die Folgen deines „Falles” trägt!
.Den ganzen physisch wahrnehmbaren
Weltenraum mit allen seinen Sonnen und
100 Das Buch der königlichen Kunst
Planeten, hat der Mensch, durch seinen Fall
aus dem Bewußtsein seiner Geistesmacht,
dazu verurteilt, ohne „Gott” zu sein, denn
nur dem Menschen allein war urbedingt
einst anvertraut, was heute unsichtbare gei‐
stesferne Machtgier sich zu eigenem Herrsch‐
bereich erzwungen hat.
.Unschuldig muss, durch des Menschen
Schuld, unzählbares Lebende leiden!
.Schuldhaft hat er über sein eigenes
irdisches Leben gleiches Schicksal verhängt.
.Nur durch den Menschen, der, in
Furcht verfallen, seiner urgegebenen Macht
vordem entsagte, kann alle Kreatur der‐
einst auch wieder ihren Peinigern entrissen
werden, die an dem unsagbaren Leid sich
weiden, das der Fall des Menschengeistes
ungewollt bewirken mußte.
.Nun höre weiter vom Schicksal des
Menschen, ‒ dem Schicksal, das nicht auf‐
101 Das Buch der königlichen Kunst
gehalten werden könnte, auch wenn ihm
ursprünglich nur einer der Menschen allein
verfallen wäre.
.Stets neues Übel neu bewirkend, durch‐
rollt es die Zeiten aller erdmenschlichen
Generationen, und mehrt die Furcht: ‒
die Urschuld, ‒ in jedem der neuen Ge‐
schlechter.
.So sank der Mensch herab von seiner
geistigen Macht und in Gott gegründeten
Größe, bis eine vergängliche Tierform
seinem Selbsterleben letzte Rettung bot. ‒
.Was ihr „Urmenschen” nennt, waren
jene Tiere, denen sich der geistgezeugte
Mensch: ‒ der „Herr der Erde”, einte,
nachdem er, durch Furcht überwunden,
aus seiner Gotteseinung „gefallen” war...
.Dennoch hat ihn die Kraft aus der Höhe
nicht ganz verlassen!
.Aus urgegebenen Kräften lebend und
den tierischen Körper durchdringend, ver
102 Das Buch der königlichen Kunst
borgen dem Tiere und im Tier verhüllt
vor sich selbst, ahnt er doch Selbstkraft
in sich wie ein fremdes, höheres Wesen.
.Das Tier wurde Zuflucht dem Gefallenen,
der ohne Heimat irrte, ‒ denn die Heimat
kannte ihn nicht mehr, ‒ und des Tieres
Leib ward ihm auch zur Höhle der Er
lösung...
.Sobald nun Selbstkraft in ihm zu
leuchten beginnt, jauchzt er im Tiere, und
alle Brunst des Tieres wird in diesem
Lichte dunkel. ‒
.Darum verlangt er im Tiere ungestüm
nach solchem Licht, ‒ und immer mehr
treibt heischendes Begehren ihn diesem
Lichte entgegen nach jedem neuen aufge‐
nommenen Strahl.
.Einige der Wesen, die sich hier auf
Erden nun „Menschen” nennen, ‒ deren
103 Das Buch der königlichen Kunst
Mut gestärkt war, da sie aus dem Geiste
her der Tierheit banges Mühen sahen, dem
sie selbst entgegengingen, ‒ strebten mit
solcher Gewalt dem Lichte zu, daß sie das
Licht bereits vor ihrer irdischen Geburt
wieder erreichen konnten.
.Diesen wurde Selbstkraft aufs neue
zum Eigentum!
.Sie wurden die ersten Helfer ihrer im
Tiere schlafenden Brüder und dieser ihrer
Brüder Schwestern.
.Sie wurden die sehenden Augen der
Welten!
.Sie beherrschen die Kräfte des leben
den Feuers, die ihnen dienen mit feurigem
Eifer...”
.Weißt du nun, was ich bin ‒ ? ‒”
fragte nach dieser Rede der Meister.
104 Das Buch der königlichen Kunst
.Und sein Schüler, wie aus einem Traume
erwachend, antwortete verwirrt, indem er
sprach:
.„Ja, Herr! ‒ Ich glaube nun zu ahnen
was du bist.
.Allein: ‒ erkläre mir doch, der du so
vieles mir schon erklärtest, ‒ war es dein
Vater, der dir solche Geisteskraft vererbte,
oder gab dir deiner Mutter Leib die Gabe
solchen Erkennens?
.Verzeihe mir, wenn meine Frage mehr
erfragen sollte, als du mir beantworten willst!
.Du weißt, daß ich vor dir mich in Ehr‐
furcht beuge, ‒ aber mein Auge kann nicht
vergessen, daß es dich als einen Menschen
vor sich sieht, gestaltet gleich anderen Men‐
schen, und vergebens späht es danach, an
dir zu entdecken, was deines lichten Er‐
kennens leibliche Ursache ist.”
105 Das Buch der königlichen Kunst
.Törichter!” erwiderte der Meister, „ich
glaubte, du fragtest nach mir! ‒ Du woll‐
test wissen, was ich sei!?!
.Indessen hast du nach dem Tiere ge‐
fragt, das mir hier noch zur Nahrung dient,
und verzehrt wird von mir, indem ich dieser
Welt durch seine Kräfte lebe. ‒
.Woher ich habe, was dir meine Worte
gaben, sagte ich dir auch heute wieder.
.Allein, du hörst nicht, was man dir
sagt, denn immer schläfst du noch den
Schlaf in dem ihr euer Leben denkend
euch erträumt!
.Wisse, daß meine Worte dir Wissen
im Urlicht gaben, und daß nur, wer Selbst
kraft besitzt, Wissen im Urlicht erlangt! ‒
.Nun aber, ‒ nun sage du mir, was du
bist? ‒ ‒ denn also verlangt es das Gesetz,
daß ich an dich die gleiche Frage richten
106 Das Buch der königlichen Kunst
muss, die du in diesem Heiligtum an mich
gerichtet hast.
.Was bist du?! ‒ Der du von vielem
gemeistert wirst und noch so weniges mei‐
stern lerntest! ‒ ‒ ”
.Da antwortete der Schüler:
.„Meister, du fragst mit harten Worten,
was wohl nur du mir sagen könntest. ‒
.Ich ‒ ‒ weiß es nicht!”
.Und der Meister sprach:
.„Nie war ein Mensch so kühn wie du!
.Wie konntest du diesen Tempel betreten,
‒ diesen Tempel, der Keinen entläßt, der
meiner Frage keine Antwort weiß, ‒ wenn
du nicht einmal sagen kannst, was du bist!? ‒
.Unseliges Nichts! ‒ Wenn du nicht
weise genug zur Antwort bist, so laß' meine
107 Das Buch der königlichen Kunst
Frage wenigstens deine Klugheit wecken,
damit diese Mauern nicht dein Verderben
sehen!”
.Kaum seiner Stimme mächtig vor Er‐
regung, und an allen Gliedern bebend, gab
nun der Schüler diese Antwort:
.„Du, der alles liebt, ‒ wie dürftest du
deinen Schüler töten lassen, nur weil er auf
deine Frage hier keine Antwort weiß? ‒ ‒
.Ich mag vielleicht wirklich Nichts sein,
wie du ja sagst, ‒ mag auch dein Wort
verborgenen Sinn in sich beschließen. ‒”
.Du Tor!” sagte darauf der Meister mit
kalter Stimme und mit hartem Spott, ‒
„du bist nicht nur Nichts in irgendwelchem
geheimen Sinne, sondern dem allgemei
nen Wortsinn nach!
.Nichts sehe ich, dem ich die große
Weihe übertragen könnte, die einer von
108 Das Buch der königlichen Kunst
uns dem anderen weitergibt, seitdem der
erste aus uns sie durch das Urwort aus dem
Urlicht empfing.
.Nichts sehe ich vor mir, was diese Weihe
tragen könnte, solange du noch nicht weißt,
was du bist!
.Vordem stand noch mein Schüler hier.
.Nun sehe ich Nichts, und rede zu
Nichts.”
.Da schrie der Schüler auf wie ein Fieber‐
kranker:
.„Meister! ‒ Mein Lehrer! ‒ ‒ Du
höhnst deinen Schüler!
.Du willst mich verderben!
.Du redest, wie du nie vorher zu mir
geredet hast!
.Du weißt, wer vor dir steht!
109 Das Buch der königlichen Kunst
.Du weißt, was ich bin!
.Du weißt, daß ich nicht hier vor dir
stünde, wenn ihr mich nicht gerufen
hättet!”
.Was wagt mich hier zu schmähen?”
erwiderte verächtlich der Meister.
.Und der Schüler schrie so laut, daß seine
Stimme schrill von den dunklen Wänden
widerhallte:
.„ICH bin es!! ‒ ‒ Aber ich schmähe
nicht!
.ICH, dein Schüler!!
.ICH SELBST bin es, der ich hier vor
dir stehe!!”
.Als der Schüler diese Worte hinausge‐
schrien hatte, verließ ihn die Macht über
seine Sinne, und er sank hin wie leblos.
110 Das Buch der königlichen Kunst
.Endlich, nach einem langen und tiefen
Schlafe, erwachte er.
.An dem Lager, auf das man den fast
Leblosen gebettet hatte, stand der Meister.
.Der Schüler sah um sich und erkannte
den Ort nicht mehr, denn er war nun in
den inneren Räumen des Tempels.
.Dann erkannte er aber den Meister,
und sah, dass sein Angesicht leuchtete vor
Freude.
.„Stehe auf”, sagte der Meister mit liebe‐
erfüllter Stimme, ‒ „stehe auf und ersteige
jetzt die erste der sieben Stufen, die dich
zum Heiligsten des Tempels bringen.
.Dort wirst du die Kraft erlangen, der
die feurigen Kräfte gehorchen...
.Du hast nun die Probe der Schwelle
bestanden, denn zum ersten Male ward jede
Faser deines Körpers zum ‒ Wort! ‒
111 Das Buch der königlichen Kunst
.Vorher waren nur Kopf und Herz
lebendig.
.Nun ist im Schrei deiner Todesangst
Alles in dir zum Leben erwacht!
.Nun ist der Mensch im Tiere zu sich
selbst gekommen und sein Schlaf ist über
wunden!”
.Der Schüler hörte diese Worte und wußte
nicht wie ihm geschah.
.Halb zweifelnd noch ergriff er die Hand
des Meisters und sprach:
.„O du Gütiger! ‒ Wie groß ist doch
dein Herz! ‒ Was soll ich tun, dir zu
danken?!”
.Aber der Meister schüttelte das Haupt
und sagte mit ruheerfüllter Stimme:
.„Steige die Stufen!
112 Das Buch der königlichen Kunst
.Und wenn du vermagst, dieser Aufgabe
zu entsprechen, wie ihr entsprochen wer‐
den muß, ‒ dann werde ich dich wieder‐
sehen.
.Wer reif zum Finden ist, der wird
hier gefunden.
.Wenn du aber zu früh gekommen bist,
dann wirst du diesen Mauern auch jetzt
noch nicht entrinnen.
.Lebe wohl!
.Vielleicht ‒ siehst du mich wieder!
.Noch stehst du vor dem Letzten!”
.Darauf führte der Meister seinen Schüler
schweigend durch lange und gewundene
dunkle Gänge, ‒ und schweigend verließ er
ihn, als sie angelangt waren vor den sieben
hohen Stufen.
113 Das Buch der königlichen Kunst
.Allein, ‒ ohne jede Hilfe, ‒ mußte
der Schüler zu steigen versuchen.
.Fest, gesammelt, und mit eisernem Willen,
gelang es ihm, nach langewährendem, im‐
mer vergeblichen Bemühen, endlich die
Höhe der ersten Stufe zu erreichen.
.Jede neue Stufe war noch weit schwerer
zu erklimmen als die vorher erstiegene.
.Oft drohten seine Kräfte ihn zu verlassen.
.Die siebente Stufe aber war kaum zu
ersteigen, denn sie war ‒ so hoch wie
er selbst...
.Mit seiner letzten Kraft mußte der
Schüler versuchen, über sich selbst hinauf‐
zugelangen, bis er, nach unsäglicher An‐
strengung, endlich vermochte, sich auf diese
höchste der Stufen emporzuschwingen.
.Hier zeigte endlich sich der Weg nun
frei, zum Heiligsten des Heiligtums.
114 Das Buch der königlichen Kunst
.Im Heiligsten des Tempels angelangt,
fand der Schüler hier Alle, die vor ihm
die gleichen Stufen erklommen hatten, und
unter den allhier Versammelten gewahrte er
auch den Meister, dessen Schüler er war.
.Als er ihn erblickte, wollte er dankbar
des Meisters Hände küssen, denn wohl fühlte
er, welche Veränderung mit ihm selber vor‐
gegangen war, und daß er die Kraft nun
besaß, die ihm der Meister verheißen hatte,
falls er die sieben Stufen zu ersteigen ver‐
möchte.
.Aber der Älteste derer, die sich im
Heiligsten des Tempels gefunden hatten,
wehrte gütig ab und sprach:
.Wem willst du noch danken, ‒ es
sei denn Dem, in dessen Namen du zu
Worte wurdest?! ‒
.Siehe, wir Alle sind: ‒ Einer in
Einem! ‒ ‒
115 Das Buch der königlichen Kunst
.In dir war, was uns zu dir rief! ‒
.In dir war, was zu sich selbst gelangen
wollte! ‒
.In dir war, was in dir vollendet
wurde! ‒ ‒
.Du lebst nun in uns, und wir in dir!
.Wir, ‒ Alle Einer, ‒ aber leben in
Dem, der uns eint!
.Ihn erkennend, beten wir Ihn an
in uns selbst...”
.So war der Schüler selbst zum Meister
geworden, und nun Allen vereint die vor‐
dem ihn geleitet hatten, da sie ihn bereitet
fanden zur ewigen Einung, ‒ schon ehe
er hier auf Erden geboren worden war.
116 Das Buch der königlichen Kunst
Die Frage des Königs
.Erkläre mir, Unsterblicher,” ‒ begann
der König, ‒ „warum die Weisheit eines
jeden Weisen eine andere ist? ‒
.Der eine, wie der andere nennt seine
Lehre: Wahrheit, und doch sind ihre
Lehren grundverschieden.”
.Sie lehren alle das Gleiche!” ‒
sprach jener, von dem sie sagten, daß er
die große Einung erlangt habe, die jeden,
der sie erreicht hat, all-einig macht, so
daß er nie mehr mit sich selbst im Streite
liegen kann, und nie mehr zu scheiden
ist von den ewig einigen Erkennenden
im urgezeugten Licht.
.Verzeihe, Großer Lehrer, daß ich dir
widersprechen muß!” ‒ erwiderte der König.
119 Das Buch der königlichen Kunst
.„Ich habe vieler Weisen Lehren ein‐
gesogen, und jede schmeckte anders.
.Der eine sprach von vielen leiblichen
Geburten des gleichen individuellen Lebens
in vielen, nach jedem Körperverlust erneut
entstehenden Leibern, ‒ der andere aber
wußte vielmehr von vielen seelischen
Geburten in nur einem, einmalig dar‐
gebotenen Erdenleib, während eines ein
zigen Lebens auf dieser Erde. ‒
.Dem einen galten Götter als Richter, ‒
dem anderen aber stand der Mensch hoch
über allen Göttern, und nach solcher Lehre
sollte der Vollendete Göttern gebieten
können.
.Wie willst du das alles vereinen?! ‒ ”
.Es ist die Rede von einer Wahrheit
in allen diesen Lehren!” ‒ sagte der Weise.
.Wie aber können denn diese Lehren
so Verschiedenes künden, wenn sie im
120 Das Buch der königlichen Kunst
Grunde nur eine und die ewig gleiche
Wahrheit bergen? ‒” fragte darauf der
König.
.Und der Weise antwortete ihm:
.Grosser König, vernimm ein Gleichnis!
.Ein Meister saß an einem strahlenden
Tage mit seinen Schülern am Ufer des Meeres.
.Keine Welle zerriß den grenzenlosen
Spiegel, und die Kuppel des Himmels leuch‐
tete wie ein einziger Edelstein.
.Da baten die Schüler den Meister, daß
er mit ihnen in ein Boot steige, um sich
von ihnen durch Ruderschlag hinausführen
zu lassen auf die Höhe der Meeresweite.
.Der Meister bestieg das geräumige Boot,
und seine Schüler zogen die Ruder an, bis
das Land ihren Blicken entschwunden war.
.Als sie dann Ruhe hielten unter einem
ausgespannten Sonnensegel, sagte der Meister:
121 Das Buch der königlichen Kunst
.„Ich will euch prüfen an euren eigenen
Worten, ob ihr schon seht, was ich euch
sehen zu lehren suche.
.Sagt mir darum, was ihr seht!”
.Da fing der erste der Schüler sein Bild
auf dem glatten Wasserspiegel und bewun‐
derte sehr, wie getreu ihn die Oberfläche
des Meeres widerstrahle.
.Der zweite sah über die Wasser und
fand ihr Ende dort, wo das Gewölbe des
Himmels sie berührte, ‒ und da er wohl
wußte, daß ihm in dieser Ferne das gleiche
Rundbild beschieden sein würde, so wurde
sein Herz ergriffen vom Erfühlen solcher
unfaßbaren Weite, worauf er denn ergreifend
in ehrfurchtsvollen Worten die Unendlichkeit
pries.
.Als nun der dritte reden sollte, sprach
dieser von dem Schwarm der Fische, die
in dem tiefen klaren Wasser das Boot
122 Das Buch der königlichen Kunst
umschwärmten, und er beschrieb mit Liebe
die geschmeidigen Formen in ihrem farben‐
schillernden Schuppenglanz.
.So redeten sie alle von anderen Dingen
und waren doch alle am gleichen Ort. ‒
.Als nun noch der vierte vom Lichte
gesprochen hatte, das alles umstrahle, ‒
und nachdem er, dieses Lichtes trunken,
laut, in wohlgesetzter Rede des feuer‐
glänzenden Gestirnes Lob zu verkünden
wußte, dem alles Erdenlicht zu danken ist,
‒ sahen die Schüler erwartungsvoll ihren
Meister an, denn es schien den dreien die
zuerst gesprochen hatten, gewiß, daß nur
der vierte die Antwort gegeben habe, die
der Meister erwarte.
.Und der Meister sprach:
.„Ich sehe die Sonne und sehe das Licht,
‒ ich sehe die scheinbar grenzenlose Weite,
‒ sehe die Tiere des Meeres, die den Schat‐
123 Das Buch der königlichen Kunst
ten unseres Bootes umdrängen, ‒ und ich
sehe auch mich selbst in dem flüssigen
Spiegel, ‒ ‒ aber ‒ ich sehe mehr,
und mehr als das alles will ich euch sehen
lehren!”
.„O sage uns, was du außer dem allen
noch anderes siehst, geliebter Lehrer!” ‒
baten nun die vier Schüler wie aus einem
Munde.
.Der Meister aber sprach:
.„Habe ich euch denn noch immer nicht
genug davon gesagt?
.Seit vielen Monden sage ich euch von
dem, was ich sehe, und ihr wißt es noch
nicht?”
.Da riefen alle:
.„Noch nie, Meister, sind wir zusammen
auf dem Meere gewesen, und du willst uns
davon gesprochen haben!? ‒”
124 Das Buch der königlichen Kunst
.„Sagte ich denn, daß ich vom Meere
erzählt hätte, oder sprach ich nicht vielmehr
von dem, was ich sehe!?” erwiderte der
Meister, und fuhr dann in seiner Rede also
fort:
.„Ihr habt mich auf das Meer heraus‐
gerudert, und ihr wart des Glaubens, daß
ich euch vom Meere reden hören wolle,
von der Weite der Wasser, und dem Lichte,
das sich über sie ergießt.
.Das Meer aber erzählt sich selbst, und
alles erzählt sich selbst, was uns hier umgibt!
.Wären tausend Schüler hier um mich
in ihren Booten, so hätten meine Ohren
tausend Erzählungen des Meeres, des Lichtes
und der Unendlichkeit vernommen, ‒ hör‐
bar geworden in der Sprache des Menschen‐
mundes...
.Aber wäre das im Palmwalde anders? ‒
125 Das Buch der königlichen Kunst
.Oder auf den schneebedeckten Bergen
des Himavat? ‒
.Auch Wald und Berge erzählen sich
selbst, und ich bin nicht genötigt, euch zu
fragen, wenn ich ihre Erzählung vernehmen
will.
.Wohl aber wollte ich durch euch hören
von dem, was ich an allen Orten sehe,
und das dennoch zeit- und ortlos ist! ‒
.Wer das erschaut, der vergißt darüber
die Erzählungen des Himmels und des
Meeres, der Berge und der Wälder! ‒ ‒
.Ihr sucht noch draußen, weil euer
inneres Reich noch keine Sonne sieht und
darum finster ist...
.Wenn ihr aber eurer Reiche „Könige
einst geworden seid, dann muß alles, was
draußen liegt, zu euch kommen, und euch
Tribut entrichten, wann immer ihr es ver‐
langt. ‒
126 Das Buch der königlichen Kunst
.Laßt also alles was draußen liegt, ruhig
sich selbst erzählen, wie es sich euch erzäh‐
len mag, und stellt keine Fragen, die euch
von draußen her vorerst ja doch nicht beant‐
wortet werden!
.Wartet, bis ihr Herren in euch selber
seid, auf daß man euch draußen geben
müsse, was ihr verlangt, denn wenn ihr
als Bettler hinauszieht, gibt man euch,
was man mag! ‒ ‒ ”
.Als die Schüler diese Rede vernommen
hatten, schwiegen sie beschämt, und jeder
bewegte des Meisters Worte im eigenen
Herzen.
.Da der Abend nahe war, suchte man
nun mit scharfen Ruderschlägen wieder dem
Lande sich zu nähern, und jeder Ruder‐
schlag wurde den Schülern zum Gelöbnis,
vor aller Frage an das, was draußen liegt,
zuerst die Herrschaft in sich selbst zu
erstreben.”
127 Das Buch der königlichen Kunst
.Demnach”, sagte der König, als der
Weise seine Erzählung hier beendet hatte,
‒ „demnach möchte ich glauben, daß Ver‐
schiedenheit der Lehre nur bei denen sei,
die noch „draußen” stehen? ‒”
.So ist es wohl, o König”, ‒ sprach
der Vollendete, ‒ „aber vergiß dabei den‐
noch nicht, daß jene, die von ihrem Innen
künden, nachdem sie Herren in sich selbst
geworden sind, doch auch nur in ihrer
Zunge reden können! ‒
.Wenn du die Wahrheit ganz nach deiner
Art erkennen willst, mußt du sie selbst in
dir selber suchen!”
.Da nun der König schwieg, erhob sich
der Weise, wie einer, der weiß, daß man
ihn nicht mehr braucht, durchschritt das
Gefolge und ging von dannen, versunken
in sein inneres Licht.
128 Das Buch der königlichen Kunst
.Der König aber beratschlagte bei sich,
ob er wohl selbst ein Seher der Wahrheit
werden möchte?
.Nach einer Weile jedoch gab er seine
Gedanken auf und sprach zu sich selbst:
.„Wer weiß, ob ich die Wahrheit in mir
finden würde?!
.Wer weiß auch nur, ob sie mich nicht
längst schon verlassen hat, da sie sich von
mir verlassen sah?!
.Weshalb soll ich auch selbst der Wahr‐
heit ins Auge sehen müssen?!
.Vielleicht wäre ich meiner Wahrheit
selbst nicht sicher, und wie sollte ich dann
wissen können, was Wahrheit sei?!
.In meinen Landen aber leben so viele
Weise, und allenthalben lehren erfahrene
Lehrer.
129 Das Buch der königlichen Kunst
.Mir, dem Könige, müssen sie um ihre
reinste Erkenntnis sagen, und ich kann
annehmen, was ich mag.
.Auch meine Vorväter ließen vor sich
nur das als Wahrheit gelten, was sie wahr
haben wollten, und ich will mir die gleiche
Freiheit wahren!”
.So kam es, daß dieser König
ohne Wahrheitserkenntnis blieb bis an sein
Ende.
130 Das Buch der königlichen Kunst
Die Wanderung
.Der Schüler, dessen Heimat im Abend‐
lande gelegen war, fern von dem großen
Gebirge an dessen Abhang der Meister
lebte, hatte eben die Frage gestellt nach
dem erhabenen Lehrer aus Nazareth,
und bat um Belehrung.
.„In meinem Lande”, sagte der Schüler,
„gibt es viele berühmte Lehrer, die nicht
glauben, daß Jener einst über die Erde
geschritten sei, und sie meinen, daß die
Sage seine Züge gebildet habe, ‒ ja, es
gibt einzelne die des Glaubens sind, die
Erzählungen seines Lebens seien nur ver‐
hüllte Berichte von einem Sternenmythos,
der einst den Menschen der Vorzeit heilig
gewesen sei.
.Du, o Lauterer, aber hast schon des
133 Das Buch der königlichen Kunst
öfteren Worte zu mir gesprochen, die du
wohl mit Absicht den Büchern entlehntest,
die von dem Leben des jüdischen Lehrers
und seiner Lehre zu erzählen wissen.
.Du warst voll Ehrfurcht, wenn du seinen
Namen nanntest, und so ich dich recht ver‐
standen habe, steht er dir höher als alle
anderen, die jemals den Weg der Einung
gegangen sind? ‒
.Weshalb nun finde ich dich nicht unter
denen, die sich als Gläubige des auch von
dir so hoch verehrten jüdischen Meisters
bekennen?”
.So fragte der Schüler, da er noch nicht
wußte, wer „der Meister” in jedem geist‐
geborenen Meister ist...
.Der Befragte aber lächelte nur gütig
und verstehend, aber er antwortete nicht.
134 Das Buch der königlichen Kunst
.Da sagte der Schüler, der nun in Zweifel
geriet, ob seine Frage nicht am Ende un‐
gehörig gewesen sei, in einiger Verlegenheit:
.„Wohl hast du recht, du Gebieter über
geistige Kräfte, von denen meine Lehrer
im Abendlande mir nichts zu sagen wußten,
wenn du meine Frage bei dir verlachst!
.Wie magst du uns Menschen des Westens
voll Mitleid betrachten. ‒
.Aber dennoch bitte ich dich, du wollest
wenigstens die eine Frage deiner Antwort
würdigen: ‒
.Wäre es nicht weit besser für uns Abend‐
länder, wenn wir dieses jüdischen Lehrers
Lehre auf sich beruhen und unbeachtet lassen
würden, gleich einer Sage, die uns heute nichts
mehr zu sagen hat?
.Jede Zeit hat doch ihre zeitgerechte ei
gene Weise, sich der Wahrheit zu nähern.”
135 Das Buch der königlichen Kunst
.Bei diesen Worten stand der Meister still.
.Die beiden Wanderer waren jetzt auf der
Höhe angelangt, die eines Flusses Wasser
von dem eines anderen schied.
.Eine mächtige, vierkantig flächige Stein‐
säule, die aus einem einzigen Felsen vor‐
einst herausgehauen worden war, bezeich‐
nete den Ort.
.In der Schrift des Landes trug sie
in erhabener Größe tief eingemeißelt die hei‐
ligen Silben:
.OM MANI PADME HUM ‒
was da bedeutet: „Wahrhaftig! Die Lotos‐
blüte birgt das Geheimnis!”
.Unterhalb dieser Worte aber war ein
Zeichen, das den fremden Pilgern den Weg
zum Ziel ihrer Wallfahrt angab.
.Meinst du nicht, daß es besser wäre”,
‒ begann der Meister, so als ob er die
136 Das Buch der königlichen Kunst
Frage des Schülers, wohl in eigene Gedanken
versunken, überhört haben möchte, ‒ „wenn
diese riesengroße alte Säule hier verschwinden
würde?
.Ich habe bei den Völkern deiner Rasse
Anderes gesehen, und ich gedenke dahin
zu wirken, daß aus der großen Stadt im
Süden einer der zeitentsprechenden neuen
Wegzeiger hier heraufgebracht wird, ge‐
fällig bemalt und mit allerlei Zier versehen,
so, wie ihr Menschen des Westens sie aus
Eisen zu gießen wißt.
.Die Pilger sollen sehen, daß die Mönche
unten im Kloster nicht so weltferne sind,
dass sie nicht doch ihrer Zeit zu genügen
wüßten!
.Die längst schon der Zeit recht ungemäße
Säule mag man dann stürzen und in der
Schlucht dort neben dem Pilgerpfad zer‐
schellen lassen.
137 Das Buch der königlichen Kunst
.Was hätte uns auch dieser Felsblock
heute noch zu sagen?! ‒”
.Du redest doch nicht im Ernst, Mei‐
ster?” erwiderte der Schüler erschreckt.
.„Zwar sieht man der Säule wohl an,
daß sie alt ist, aber sie zeigt die großen
einfachen Formen, die zu keiner Zeit ver‐
alten können, und die heiligen Silben sind
in einer Schriftform eingemeißelt, die an
Schönheit wahrlich ihresgleichen sucht.
.Wie könntest du dieses gewaltige Werk,
das von erhabenster Würde zeugt, zerstören
lassen, um an seiner Stelle eine aller Größe
entratende, barbarisch geschmacklose Tafel
aus Eisenguß aufzurichten, wie man sie
leider heute an allen Straßen sieht!?!
.Wie könnten die heiligen Silben dir
derart gleichgültig sein, daß du es ertragen
möchtest, wenn man sie auf einen solchen
erbärmlichen bunten Firnis malen wollte?! ‒
138 Das Buch der königlichen Kunst
.Auch ist auf solcher Höhe, allen Stür‐
men dargeboten, dergleichen nur von kür‐
zester Dauer!
.Die Säule, aus einem einzigen Felsen
geformt von erhabener Hand, steht aber
schon mehr als tausend Jahre hier und
kann noch viele tausend Jahre hindurch
allen Pilgern, die sie schon von ferne sehen,
ihren Weg zum Tempel zeigen, ‒ und sie
selbst ist schon ein hohes Heiligtum: ‒
wahrhaft der Gottheit würdig!
.Du redest doch sicher nicht in vollem
Ernst, denn wie könnte das, was hier ent‐
gegenspricht, dir, dem doch alles mensch‐
liche Fühlen sich offenbart, auch nur einen
Augenblick lang verborgen gewesen sein?? ‒”
.Da lächelte der Meister wieder, und
schwieg, wie er vordem geschwiegen hatte.
.Dann gingen sie.
139 Das Buch der königlichen Kunst
.Schweigend wanderten sie zu Tale, ‒
den ausgedehnten Gebäuden des alten Lama‐
klosters zu, in dessen Nähe der Meister sich
zurückgezogen hatte.
.Der Schüler aber sann darüber nach,
warum wohl sein Lehrer ihn immer wieder
zu zwingen wußte, sich auf jede Frage selbst
die Antwort zu geben, ‒ wie es nun auch
hier geschehen war, bei der Frage nach dem
Meister von Nazareth...
140 Das Buch der königlichen Kunst
Osternacht
.Die Zinnen und Türme der Tempel‐
stadt zeichnen zarte Schattenrisse in die vom
Lichte des Vollmonds trunkene Luft.
.Die Talweite ist erfüllt von silber‐
schimmerndem Leuchten und über die
kahlen Höhen des judäischen Gebirges legt
es sich wie ein glänzender Reif.
.Wir sind ferne der Stadtmauer und vor
uns liegt ein Ölhain.
.Wie eine graugrüne Wolke schmiegt er
sich an den schroffen Absturz eines Hügels.
.Nahe der senkrechten Felswand aber hat
man eine Zeile ernster dunkler Bäume ge‐
pflanzt ‒ man kann sehen, daß Menschen‐
wille sie also setzte ‒ und nun streben
143 Das Buch der königlichen Kunst
sie über die graugrüne Laubwolkenmasse
empor wie eine Schar schwarzgepanzerter
Wächter.
.Es herrscht tiefste Stille.
.Aber war es nicht eben wie eine weiße
Gestalt, dort am Rande des Ölhains, wo
lichte Schatten ihn von der Asphodeloshalde
trennen? ‒
.Doch! ‒ Es bewegt sich dort etwas!
.Ein Mensch!
.Einer im weißen Gewande tritt behutsam
hervor, hebt den Arm über die Augen, weil
ihn wohl das Mondlicht blendet, und sucht
sorglich das freie Gelände ab...
.Nahebei führt ein Weg dem Gebirge zu.
.Wie ein helles Seil, das einer achtlos
fallen ließ, liegt der Weg da.
144 Das Buch der königlichen Kunst
.Man kann ihn gut mit dem Auge ver‐
folgen, bis er auf mäßiger Höhe sich zwi‐
schen vorgelagerten Felsen verliert.
.Der Späher sucht noch immer nach allen
Seiten hin, aber er findet offenbar nichts,
das ihn beunruhigen könnte.
.Jetzt tritt er wieder in die blauen Schatten
zurück und verschwindet unter den Ölbäumen.
.Was wollte er nur?...
.Aber schon sieht man wieder Weißes
aufleuchten; doch diesmal müssen es Meh‐
rere sein, denn gleichzeitig gewahrt man da
und dort zwischen den gewundenen Stäm‐
men einen weißen Fleck aufblinken und
wieder verschwinden.
.Eben tritt einer heraus ins Freie.
.Nein, ‒ noch einer!
.Sie tragen etwas.
145 Das Buch der königlichen Kunst
.Es scheint eine schwere, kostbare Last
zu sein...
.Nun kommen noch zwei, und jetzt sieht
man deutlich, daß es ein Mensch sein muß,
oder gar eines Menschen Leichnam, den die
Vier so behutsam zu bergen trachten.
.Er ist auch in Weiß gehüllt wie sie selbst.
.Was mag sich da nur ereignet haben? ‒
.Jetzt haben sie lautlos die Asphodelos‐
halde durchschritten und sind auf den Weg
gelangt.
.Nun sieht man es noch deutlicher, daß
sie einen der Ihren tragen.
.Aber es muß ein Toter sein!
.Unter seinen Knien haben sie eine lange
Zeugbahn durchgezogen, die bis über der
beiden Vorderen Schultern reicht.
.Die beiden vorderen Träger halten mit
beiden Händen das zusammengedrehte Tuch,
146 Das Buch der königlichen Kunst
das über ihren Schultern liegt, und sie tra‐
gen schwere Last.
.Die zuletzt gehen, aber tragen den Ober‐
körper des Toten: ‒ fassen ihn um den
Rücken und unter den Armen.
.Sein Haupt scheint zwischen ihren Schul‐
tern gestützt zu sein.
.Es ist ein schweres Gehen für die Vier...
.Nur langsam schreiten sie voran.
.Nachdem sie schon geraume Weile ge‐
gangen sind und unseren Blicken undeut‐
licher werden, sieht man, daß sie vorsichtig
Rast halten.
.Man kann auch glauben, daß sie wieder
das Gelände spähend durchforschen; aber
auch während der Rast halten sie sorglichst
ihren Toten in der gleichen Lage, in der
sie ihn trugen seither.
.Sie müssen ihn sehr geliebt haben, als
er noch im Leben war! ‒
147 Das Buch der königlichen Kunst
.So trägt man keinen, den man nicht
liebte!
.Es ist Ehrfurcht in der Art, wie sie ihn
tragen...
.Sie sind weitergegangen.
.Nun sind sie dem Gebirge schon sehr
nahe.
.Man sieht sie nur noch als etwas Weißes,
das sich langsam fortbewegt, und wer sie
vordem nicht gesehen hatte, würde sie
schwerlich auf dem weißen Wege noch
entdecken.
.Jetzt biegen sie hinter die Felsen, die
den Weg verschwinden lassen.
.Nun sieht man nichts mehr von ihnen...
.Silberflimmernd liegt das Licht des Mon‐
des über dem Gelände.
148 Das Buch der königlichen Kunst
.Es ist wieder so, als ob der Weg noch
niemals beschritten worden wäre...
.Plötzlich ein wilder Schrei ‒ von dort‐
her, wo die dunkle Baumzeile über den
Ölwald ragt!
.Dann andere Schreie ‒ ungebärdig wie
lautes Fluchen tobender Kriegsknechte ‒
und aus dem Dunkel leuchtet roter Fackel‐
schein, der sich der Stadtmauer zu, gleich
dem Getöse, rasch entfernt.
.Man sah das Fackellicht nur, solange es
die dunkle Felswand bestrahlte und die Zeile
der schwarzen Bäume.
.Dann wurde sein Schein völlig aufgesogen
im hellen Mondlicht.
.Nun war nichts mehr zu erkennen.
.Den Weg zum Stadttor hin kann man
hier nicht sehen, sonst müßte man wohl
149 Das Buch der königlichen Kunst
die roten Fackeln wieder im Schatten der
Stadtmauer gewahren.
.Aber man sieht auf dem kahlen Scherben‐
berg vor der Stadt drei Kreuzgalgen auf‐
gerichtet.
.An zweien scheinen noch die Gehängten
sichtbar, aber es ist, als sei der dritte Gal‐
gen leer...
.Ja, man kann es deutlich gewahren, daß
er leer ist!
.Es ist ja so hell in dieser Nacht.
.Aber warum wurde er denn aufgerichtet?!
.Es muß doch einer daran gehangen haben!
.Weshalb der wohl abgenommen wur‐
de? ‒ ‒
.War es vielleicht jener, den die weißen
Männer davongetragen haben??
150 Das Buch der königlichen Kunst
.Dann wäre er aber schnell verendet,
denn manchmal hängen sie noch tagelang
dort, fast wie tot, bis sie plötzlich wie wilde
Tiere aufheulen und man sieht, daß es mit
ihnen doch noch nicht zu Ende ist.
.Vielleicht war es einer, der nicht viel
Schmerz ertragen konnte, oder einer, der
schon fast gestorben war unter den Miß‐
handlungen der römischen Rotte, bevor sie
ihn hängten...
.Aber wie kommt es nur, daß man ihn
herunternahm? ‒
.In dem Ölhain herrscht wieder Ruhe.
.Wir wollen hinübergehen und sehen,
was dort den Grund solchen Lärmens gab.
.Jetzt ist sicher niemand mehr dort.
.Das ist ja kein Ölwald!
151 Das Buch der königlichen Kunst
.Das ist ja ein offener Garten eines Reichen!
.Auf guten Wegen sind wir schon bis zu
den dunklen hohen Bäumen gelangt.
.Ist dort nicht eine Öffnung in die Fels‐
wand gemeißelt?
.Wahrhaftig! ‒ Es ist ein Grab!
.Es ist dunkel hier, denn des Mondes
Licht wird durch die Felswand aufgehalten
und wir haben keine Leuchte.
.Da scheint es tief hineinzugehen, aber
man darf sich nicht vorwagen, will man
nicht in einen verborgenen Abgrund stürzen.
.Doch, da kommt ja wieder eine solche
weiße Gestalt!!
.Wer mag das sein?
.Sicher der Besitzer des Gartens!
.Aber was macht er nur zur Nachtzeit
hier??...
152 Das Buch der königlichen Kunst
.Seid ihr solche, die den suchen, den
man hier begraben hatte?!”
.„Nein, wir wissen von keinem, der hier
begraben sein soll, ‒ wir sahen nur, wie
vier Männer, gleich dir gekleidet, einen
Toten aus diesem Garten trugen, dem Ge‐
birge zu, und wir hörten dann hier großen
Lärm und sahen Fackelschein.”
.„So bewahrt als euer Geheimnis, was
ihr sehen durftet, ‒ ‒ aber wisset: der,
den ihr hinaustragen saht, ist zwar seiner
Marter erlegen, aber dennoch lebt er!”
.„Wir sahen vordem, daß an einem der
Galgen auf dem Scherbenberge keiner mehr
hängt, und muß doch einer dort gehangen
haben. ‒ Ist es etwa der gewesen, von dem
du sprichst?!”
.Der war es! ‒ Und er ist mein
Bruder! ‒ Und die ihr ihn tragen saht,
waren meine und seine Brüder! ‒”
153 Das Buch der königlichen Kunst
.„O, warum wurde er dann gerichtet?!
‒ Du siehst wahrhaftig nicht aus, als wenn
du eines Räubers und Mörders Bruder
wärest! ‒ ‒”
.Weil er die Menschen aus dem Tode
löste, und weil die ewig Toten Rache
heischten!”
.„Das sind uns ferne Worte, seltsam zu
hören, aber du redest so, daß man dir
glauben muß.
.Weshalb aber war der Lärm, den wir
vordem hörten? ‒”
.„Das waren die Wächter, die wir in
magischen Schlaf bannten, um unseres Bru‐
ders Erdenleichnam holen zu können, der
für kurze Zeit in diesem Grabe ruhte, auf
des reichen Freundes Bitte, die der Mächtige
in dieser Stadt gewährte.
.Sie sollten das Grab bewachen, und als
ich sie erweckte, so als ob ich des Weges
154 Das Buch der königlichen Kunst
gekommen sei und nicht wüßte, weshalb
sie hier schliefen, zündeten sie ihre Fackeln
an, fanden das Grab geöffnet und leer.
.Darum ihr wüstes Schelten!
.Nun suchen sie in der Stadt nach denen,
die das Grab geöffnet haben könnten und
möchten den Leichnam finden.
.Ich aber bleibe hier, um die Freunde
und Schüler des Bruders zu trösten, wenn
sie kommen werden, vor seinem Grabe zu
klagen.
.Ich bleibe hier, um ihnen zu sagen, daß
er lebt!”
.Aber wir sahen doch, wie deine Brü‐
der seinen Leichnam von dannen trugen!”
.„Dennoch lebt er, dem dieser Leichnam
Kleid und Hülle war, solange er Kleid
und Hülle brauchte um denen, die nur
Kleid und Hülle sehen, den Geist zu offen‐
baren! ‒”
155 Das Buch der königlichen Kunst
.„Wenn du Wahrheit redest, so sage auch
uns denn, wo dieser Lebende zu finden ist,
denn du redest wie von einem, den man
suchen möchte, und müßte man auch wan‐
dern bis an der Erde Grenzen! ‒ ‒”
.In euch selbst!”
.Und während wir verwundert uns an‐
sahen, nicht wissend, was diese Worte be‐
sagen wollten, war der Weißgekleidete von
uns gegangen ehe wir es bemerkten, und
als wir nach ihm riefen, erhielten wir
keinerlei Antwort...
.Erst in späteren Tagen wurde uns Licht
gegeben und wir sahen den Lebenden und
wir erfaßten seine hohe Lehre und er war
von da an in uns selbst!
.Während der Weißgekleidete da zu den
Fragenden gesprochen hatte, warteten zwei
seiner Brüder in einer nicht allzufernen
156 Das Buch der königlichen Kunst
Felsenschlucht im Gebirge auf jene anderen
vier, die den Leichnam des Bruders brachten.
.Die Wartenden hatten Holz und Reisig
herbeigetragen und hochgeschichtet, so daß
der Leichnam darauf ruhen konnte.
.Nun sahen sie die Träger herannahen
und eilten den Ermüdeten entgegen, um
ihnen tragen zu helfen.
.Erschüttert ‒ in worteloser Ergriffen‐
heit ‒ hoben die sechs Männer den Leich‐
nam des Bruders, dessen Werk vollbracht
war, auf den Holzstoß und übergaben ihn
der am Steine entzündeten Flamme...
.Von der Ferne her konnte man kaum
eine leise Rauchspur gewahren, die sich
mählig über dem Gebirge verzog, als schon
die Strahlen des ersten Frührots die Höhen‐
rücken färbten.
.Der wahrhaft Auferstandene aber hatte
157 Das Buch der königlichen Kunst
alles so gewollt, und seine Brüder hatten nur
getan nach seinem Geheiß.
.Es sollten seines Erdenleibes modernde
Reste nicht die Auferstehung hindern,
die er in der Seinen Seelen sich bereitet
hatte. ‒ ‒
.Er aber war nun von allem gelöst, was
nicht des Geistes war an ihm, und frei
geworden, war er nur mehr seiner geistigen
Gestalt bewußt, ‒ nicht wissend mehr die
Unbill, die dem Erdenleibe widerfahren war.
.Selbst auferstanden in seiner Geist‐
gestalt, ist er seit jenen Tagen in der Geistes‐
sphäre dieser Erde in erhöhtem Leben,
allen Auferstehung, die in Tat und Leben
seiner Lehre wahre Jünger sind. ‒
.So lebt er mitten unter den Seinen wie
er einst verheißen hatte: ‒ „bis ans Ende
der Welt!”
158 Das Buch der königlichen Kunst
Vereinung
.Als ich angelangt war vor dem Hause
der Weisen des Lichtes, begann ich an die
Pforte zu pochen, wie einer der da mit Be‐
rechtigung Einlaß begehrt, ‒ aber niemand
kam, der geöffnet hätte.
.Da überfiel Traurigkeit meine Seele, und
ermattet schlief ich ein vor der Schwelle.
.Als ich nach wüsten, angstvollen Träumen
erwachte, stand ein Mann vor mir, der ein
Lasttier mit sich führte, und das Tier war
beladen mit geflochtenen Rohrkörben voll
frischen Brotes.
.Was willst du hier, Fremdling”, sprach der
Mann zu mir.
.„Weißt du nicht, daß diese Pforte sich
161 Das Buch der königlichen Kunst
keinem öffnet, der nicht zuvor aus ihr her‐
ausgetreten ist?”
.Ich aber erwiderte:
.„Wehe mir, wenn deine Worte Wahr‐
heit künden, denn ich komme weiten Weges,
da mich der Meister also gehen hieß zu
denen, die in diesem Hause wohnen, damit
ich aufgenommen werden könne in den
Kreis ihrer Gemeinsamkeit.”
.Da sprach der Mann zu mir:
.„Auch ich gehöre zu denen, die in diesem
Hause wohnen, und dein Verlangen ist
meinem Geiste wohlbekannt, ‒ allein, ich
sage dir: ‒ Keiner ist je über diese
Schwelle geschritten, der nicht vorher
gestorben wäre!
.Findet er sich nach seinem Tode in die‐
sem Hause wieder, dann geht er fortan un‐
gehindert ein und aus.
162 Das Buch der königlichen Kunst
.Willst du also sterben um zu uns zu
kommen, dann mag dich dieses Tier als
einen Toten über die Schwelle tragen!”
.Wie sollte ich nicht sterben wollen”,
war meine Antwort, ‒ „wenn ich anders
nicht in eure Gemeinsamkeit gelange?! ‒
.Töte mich eilends, auf daß ich über die
Schwelle komme, denn ich weiß, daß jen‐
seits dieser Pforte mein Tod beendet ist!
.Bist nicht auch du vormals gestorben,
ehe du durch diese Pforte gelangtest, und
stehst nun doch lebend vor mir?! ‒”
.Es geschehe dir nach deinem Willen”,
antwortete der Mann, und allsogleich fühlte
ich, wie mein Körper leblos wurde: ‒ wie
mein Wissen um mich selbst erschauerte...
.Aber ehe ich noch erkannte, daß ich
gänzlich meinen Leib verlassen hatte, fand
163 Das Buch der königlichen Kunst
ich mich seltsamerweise wieder als eines
der Brote, die in den Rohrkorbbeuteln waren.
.Ich wollte rufen, aber ich konnte nicht.
.Es war nicht anders, als wenn man aus
schwerer Traumnot rufen möchte und es
nicht vermag.
.Ich wollte entfliehen, aber das Brot war
mein Leib geworden und bewegte sich nicht.
.Da ermattete mein Bewußtsein, und so
muß man mich wohl in das Haus und auf
die Tafel gebracht haben, wo ich mich bald
darauf, neben anderen Speisen vor der
Schüssel des Ältesten der Weisen liegend,
wiederfand.
.Nicht lange lag ich so ‒ immer noch
wie in einem schweren dumpfen Traume ‒
als ich die Stimme des Ältesten der Weisen
vernahm, die da sprach:
164 Das Buch der königlichen Kunst
.„Gesegnet und geheiligt sei dieses Brot,
das Nahrung werden will dem ewigen Geiste!
.Ewig sei es im Ewigen Nahrung der
verhüllten Gottheit!”
.Nach diesen Worten brach er das Brot,
das ich selber war, entzwei, und ich fühlte
den Riß durch meinen Leib hindurch, als
wenn man meine menschliche Gestalt zer‐
teilt hätte.
.Bebend vor Schmerz schien mir Ver‐
nichtung nun gewiß, und ich ersehnte sie
als Erlösung, denn der Gewalt, der ich aus
freiem Willen mich dahingegeben hatte, war
nicht mehr zu entfliehen.
.In immer mehr Bissen zerbrach der
Älteste das Brot, um allen seinen Brüdern
davon zu geben, und in jedem der Bissen
war ich selbst lebendig.
.Mein Wissen um mich selbst umnachtete
abermals...
165 Das Buch der königlichen Kunst
.Doch nicht lange sollte diese Umnach‐
tung währen, denn bald schon entstand um
mich eine Klarheit, die ich noch nicht kannte,
so hell auch vordem einst jenes Leuchten
war, in dem mich der Meister die Dinge
der drei Welten sehen lehrte, ehe er mich
den Weg zu dem Hause der Weisen er‐
wandern hieß.
.Auch fand ich mich plötzlich wieder in
einem menschlichen Leibe und wußte kaum
zu fassen, daß ich nicht mehr ein Brotring
war, von jener Form des Brotes, wie ich
sie in den Rohrkorbbeuteln gesehen hatte,
die das Lasttier vor der Pforte trug.
.Und siehe: ‒ ich sprach, ‒ und was
ich sagte, waren Worte des Ältesten der
Weisen...
.Sein Leib war der meine geworden, und
mein Geist von dem seinen nicht zu trennen.
.Als aber die Weisen: ‒ seine Brüder,
‒ bemerkten, was sich ereignet hatte, sprach
166 Das Buch der königlichen Kunst
ihr Sprecher, in dem ich den Mann erkannte,
der mich vordem vor der Schwelle fand:
.„Jubel sei in unserem Kreise, denn es
ist uns ein neuer Bruder geboren, und du,
o Ältester, der die ewige Kette der Leuchten‐
den schmiedet, ‒ du hast mit dem Hammer
den offenen Ring zum Glied der Kette
geschlossen!”
.Ihr sagt es!
.Diese, deine Worte künden meine An‐
kunft.”
.So sprach ich nun aus dem Munde des
Ältesten der Weisen.
.„Als Speise bin ich euch gekommen um
in eurem Geiste geboren zu werden.
.Doch, nun gebt mir meinen Mantel wie‐
der, damit ich nicht in eines Anderen Kleid
hier bei euch bin, während der Andere sich
verborgen hält!”
167 Das Buch der königlichen Kunst
.Auf meine Worte hin verließen die
Weisen ihre Sitze an den Tischen, und ge‐
führt von dem Ältesten, dem mein Geist ge‐
eint war, zogen sie alle hinaus vor die Pforte.
.Da aber lag mein Erdenleib leblos und
starr wie tot.
.Der Älteste jedoch neigte sich über ihn,
und sprach überaus leise, so daß es mehr
wie ein Anhauchen war, diese Worte:
.Du bist ich!
.Diene dir in mir und mir in dir nun
aus diesem, deinem Erdenleibe!
.Du bist nun geboren als Speise dem
Leben des Lichtes, das alles ernährt!”
.Als er diese Worte ausgesprochen hatte,
fühlte ich, wie mein Empfinden aus dem
Erdenleibe des Ältesten auszog, während
mein Geist dem seinen vereinigt blieb.
168 Das Buch der königlichen Kunst
.Zugleich aber fand sich mein Bewußtsein
wieder in dem Leib in dem ich vor die
Pforte gekommen war, und doch war es
nicht mehr ganz der gleiche Körper von
ehedem...
.Es war etwas in ihm verwandelt wor‐
den, und ich konnte jetzt im Inneren
meines Leibes die Dinge der drei Welten
sehen, so, wie ich vordem nur im Äußeren
durch das äußere Auge sah.
.Nachdem ich mich nun erhoben hatte,
empfingen mich die Weisen, wie einen auf
den man lange gewartet hat, in überschweng‐
licher Freude.
.Und als sie den Neugewordenen durch
die Pforte ins Innere des Hauses führten,
begann der Älteste, in Gottheit trunken,
eine Weise zu singen, deren Worte sich
also fügten:
169 Das Buch der königlichen Kunst
.„Lebe der Liebe, zur Nahrung dem Lichte!
‒ Lehrend Erleuchteter, leuchte der Welt!”
.Und der Chor der Weisen, die mir nun
zu Brüdern gegeben waren, ließ sich ver‐
nehmen im Wechselgesang:
.„Lerne im Lichte dein Leuchten erkennen!
‒ Lebe der Liebe und leuchte der Welt!”
.In meiner Seele aber war das geistige
Erkennen aller derer, die um mich ver‐
sammelt waren.
.Ich fand sie alle mir vereint, und war
in jedem von ihnen bewußt geworden, wie
ich es vordem nur in mir selber war...
170 Das Buch der königlichen Kunst
DER WILLE ZUR FREUDE
GOTT LEBT IN DER FREUDE, ‒
 NICHT IM LEID!
DES LEIDES SKLAVEN SCHUFEN
SICH DEN „LEIDENDEN” GOTT!
DEIN LEID SOLLST DU DIR
DIENSTBAR MACHEN, DAMIT ES
DEINER FREUDE KNECHT
UND HELFER WERDE!
173 Das Buch der königlichen Kunst
Allen, die zum Lichte streben!
.Frage nicht nach Gott!
.Überlasse die Frage nach Gott den Gott‐
losen und den Götzendienern!
.Du zweifelst mit guten Gründen, wenn
du Zweifel hegst, daß Gott unvernehm
bar sei.
.Wir jedoch wissen, daß Gott keinem
antworten wird, der Ihn in Frage stellt!
.Wir wissen, daß Gott den Lärm der
Frager scheut...
.Wer aber weiß, ob er Gott nicht ver
nähme, wenn er nur Gottes Sprache hören
lernen würde?! ‒
.Dazu bedarf es der Stille!
177 Das Buch der königlichen Kunst
.Alles Schaffende bleibt in der Stille.
.Bereite der Stille in dir eine Stätte, ‒
auf daß Gott dir zum Freunde und Haus‐
genossen werden kann!
.Zur großen Stille sollen diese Worte
deine Seele leiten.
.Wir werden dir hier eine Weile vom
Menschen reden.
.Vom Menschen aus müssen wir zu Gott
gelangen, sonst bleibt uns Gott in Ewigkeit
ein Fremder!
.Wir wollen Gott nicht in der Trübsal
des Herzens suchen, denn uns erzeugte
Gottes Wille zur Freude! ‒
.Wir wollen Gott nicht für dich durch
Fragen erkunden, denn auch in der leise‐
sten Frage lärmt schon der Zweifel...
178 Das Buch der königlichen Kunst
.Wir lehren Gott in der Stille finden:
‒ im Willen zur Freude!
.Von denen, die aus den Ängsten ihres
Herzens nach der Gottheit lärmen, kehren
wir uns bewußten Willens ab, denn wie
könnten wir sonst mit dir in die Stille ge‐
langen.
.Wir müssen allein sein mit dem Men‐
schen, den wir in die Stille bringen wollen.
.Der Mensch, der Gott vernehmen lernen
will, muss erst sich selbst vernehmen
lernen...
.Sich selbst muß er zu beantworten
trachten!
.Er muß sich selbst zu stummer Frage
werden, und seine Antwort ist dann laut
lose Tat.
179 Das Buch der königlichen Kunst
.Mit diesem, sich selbst erhörenden Men‐
schen nur können wir in die große Stille
kommen!
.Mit ihm können wir die Wege wandeln,
auf denen allein Gott zu er-hören ist...
.Nur dem, der sich selbst vernehmen
lernte, kann die Lehre gelten, die wir hier
formen.
180 Das Buch der königlichen Kunst
Die Lehre
.Am Ufer des Meeres sah ich eine Mutter
sitzen mit ihrem Kinde.
.Das Kind spielte im Sande mit Muscheln
und bunten Steinen.
.All sein Spiel aber war ein Wählen
und Verwerfen.
.Sind wir nicht selbst derart spielende
Kinder?! ‒
.Wir wählen und verwerfen, und trei‐
ben es so durch Jahre und Jahrzehnte,
bis wir zum Ende rüsten.
.Ist nicht der gleiche Trieb das Treibende,
der jenes Kind mit Muscheln und Steinen
spielen ließ?! ‒
183 Das Buch der königlichen Kunst
.Hier wollen wir verweilen!
.Wir werden an dieser Stelle den Sonnen‐
aufgang sehen.
.Weshalb sollten wir um die Erde reisen
durch die Nacht, der Sonne nachzulaufen?
.Schon haben wir den Menschen gefun‐
den, der selbst sich Frage, selbst sich Ant‐
wort ist.
.Wählen und Verwerfen ist sein Tun.
.Du wirst den Menschen nie bei etwas
anderem finden!
.Freilich wird er dir große Gründe nennen,
wenn du ihn fragst, weshalb er das tut.
.Der Mensch belügt sich aber nie so sehr,
als wenn er selbst die Gründe seines Tuns
ergraben will...
184 Das Buch der königlichen Kunst
.Aus gleicher Tiefe quellen die Impulse
für das Spiel des Kindes wie für alle Tat. ‒
.Hier wie dort ist im tiefsten Grunde
der Wille zur Freude zu finden!
.Letzte Lösung wird er vielen Rätseln.
.All deine Gedanken und Taten sind
deine „Muscheln” und „bunten Steine”.
.Nach deinem eigenen Werte wirst du
wählen und verwerfen. ‒
.Bald wirst du erkennen, daß vieles „ver‐
werflich” ist, da es zu bleibender Freude
nicht taugt.
.Aber gar viele „bunte Steine” schichtest
du doch zu Haufen, und dein Auge erfreut
sich an ihnen für einige Zeit.
.Dann aber wirst du des Spielens müde.
185 Das Buch der königlichen Kunst
.Du lernst Werte unterscheiden.
.Edelsteine möchtest du finden und
echte Perlen, ‒ nicht nur leere Muscheln
und bunte Kiesel...
.Zuerst entfällt dir der Mut.
.Du siehst deine erste Freude an deiner
Erkenntnis sterben. ‒
.Umdüstert streift dein Auge über den
Sand.
.Doch siehe: ‒ dort leuchtet etwas
zwischen den Kieseln!
.Eilend wirfst du deine bunten Steine
beiseite um jenes Leuchtende zu erlangen.
.Du findest deinen ersten Edelstein!
.Von diesem Tage an bist du weise ge‐
worden!
186 Das Buch der königlichen Kunst
.Du wirst nicht mehr an Kieseln deine
Freude finden, die nur glänzen solange sie
das Meer umspült.
.Von heute an wirst du vieles verwerfen
von dem, was deinem Auge reizvoll er‐
scheint, und wirst nur nach dem wenigen
suchen, das dauernd leuchtet.
.So verlangt es der Wille zur Freude:
.Freude ohne Enttäuschung,
.Freude ohne Unterlass,
.Freude ohne ein Ende!
.Du wirst nun fragen:
.„Wenn diese Lehre die Wahrheit birgt,
woher dann ‒ das Leid? ‒”
.Und ich antworte dir:
187 Das Buch der königlichen Kunst
.Leid ist der Freude Bedingnis und
Unterpfand!
.Alles im Kosmos lebt aus polaren Gegen‐
sätzen.
.Klein und groß, nieder und hoch,
Leid und Freude, Lüge und Wahrheit,
Schwäche und Kraft, ‒ daraus lebt alles
Leben!
.Ohne das Leid könnte die Freude nicht
zu sich selber kommen, denn alles Tren‐
nen und Teilen schafft Leid: ‒ Trennung
und Teilung aber ist vonnöten, damit
Freude sich in allen Formen offenbaren
kann, die ihr unendlichfältig verschiedenes
Wirken braucht, aus dem alles Leben sich
erhält.
.Aber dein Wille zur Freude wird dich
im Leid die Lüge sehen lehren und dir
so das Leid ent-werten.
188 Das Buch der königlichen Kunst
.Leid und Freude brauchen einander,
aber Leid und Freude bekämpfen auch
einander ohne zum Frieden zu gelangen.
.Leid wie Freude wollen deine Kräfte
an sich ziehen.
.Leid wie Freude wollen durch dich ge
wertet werden.
.Soviel du der Freude Wert beimessen
wirst, soviel Wert entziehst du dem Leid,
‒ bis es dereinst zum willigen Diener
deiner Freude wird! ‒
.Ich rate dir gewiß nicht, allem Ungemach
feige zu entfliehen!
.Der Wille zur Freude will den Menschen
oft durch trübe Schicksalschluchten zu hellen
Höhen führen...
.Aller Sieg braucht Kampf.
189 Das Buch der königlichen Kunst
.Kampf heißt: Wunden erleiden und
Wunden schlagen!
.Leid wird dir durch Andere kommen
und du wirst Ursache werden für der An
deren Leid.
.Hüte dich aber in deinem Willen zur
Freude, auch an den Wunden dich zu er‐
freuen, die du im Kampfe schlagen mußt!
.Du sollst dein Leid in Fesseln legen,
wenn es dich nutzlos leiden macht.
.Wo aber dein Leid zum Kampfe for
dert, dort sollst du dir den Sieg erkämpfen!
.Alles Leid ist Lüge!
.Alles Leid geht dereinst unter in der
Wahrheit!
.Das Leid ist nichts Bleibendes!
.Nur die Freude ist ewig, weil sie der
Ewigkeit entstammt!
190 Das Buch der königlichen Kunst
.Alles Leid ist dein Gegner und Wider
part!
.Alles Leid mußt du binden und zum
Dienen zwingen, damit die Freude frei sei
und herrsche!
.Du sollst jedoch dein Leid nicht hassen!
.Hass ist die Farbe der Ohnmacht.
.Der Wille zur Freude aber wird dich
die Liebe des Siegers lehren!
.Im Willen zur Freude wird dir alles
leicht.
.Du hast des Lebens wirkensgewaltigste
Macht zur Seite!
.Auch einer, der dem Leide Zuwachs
schafft, strebt heimlich nach Freude...
.Sein Wille zur Freude ist zwar ge
191 Das Buch der königlichen Kunst
fesselt, und dennoch bleibt er Quelle der
Kraft.
.Wille zur Freude zeugt alle Tat!
.Wille zur Freude erhält alles Leben!
.Wähle du selbst, ob, als betrogener
Kämpfer, du dem Leide dienen willst, ‒
oder ‒ als Sieger ‒ das Leid überwinden?!
.Du kannst nur dann unterliegen, wenn
du vor dem Leide Furcht bezeugst!
.Zum furchtlosen Sieger aber will dich
der Wille zur Freude vollenden!
.Du findest den Willen zur Freude am
Werk in allem Dasein.
.Form und Maß will der Wille zur
Freude, damit die Freude geboren werden
könne aus der Liebe.
192 Das Buch der königlichen Kunst
.Liebe ist Streben nach Einigung alles
Ent-zweiten!
.Liebe allein zwingt Haß zum Dienste!
.Liebe vereinigt alles Entgegen-ge‐
setzte!
.Aus der Liebe allein kann Wille zur
Freude die Freude zeugen!
.Wille zur Freude ist männlicher Wille,
‒ er bedarf der Gebärerin: ‒ der
Liebe! ‒
.Ohne Liebe wäre der Wille zur Freude
wie ein ruheloser Verdammter...
.Liebe erst gibt ihm Ziel und sichere
Richtung.
.Liebe schafft Ausgleich zwischen gegen‐
sätzlichen Polen.
.Liebe ordnet alles Kleine dem Großen ein.
193 Das Buch der königlichen Kunst
.Liebe einigt Wert und Unwert nach
ewigen Gesetzen in umfassender Einheit.
.Jeder Unwert ist ihr lieb um des Wertes
willen, dem er dienen muss, ‒ denn es
gibt keine isolierten Werte und Unwerte
im Bereich der Wirklichkeit.
.Ungleichen Ranges, bedingen doch Wert
und Unwert immerdar einander.
.Alles was wachsen will, muß Wert und
Unwert zu vereinen streben.
.Alles Lebendige braucht Vereinigung
ungleicher Teile in der Liebe.
.So nur erwächst das Bleibende!
.Du siehst die Menschen sterben und
du fragst:
.„Wo ist hier nun das Bleibende?! ‒”
.Frage lieber:
194 Das Buch der königlichen Kunst
.„Wo ist hier das Vergängliche?!”
.Die liebsten Menschen sah ich sterben,
und nichts Vergängliches konnte ich finden.
.Betrachte, was zurückblieb von allen,
die auf dieser Erde lebten, und du wirst
nur neue Einigung der Teile gewahren,
soweit dein äußeres Auge sieht!
.Wer will dir dort, wohin dein Erden‐
körperauge nicht zu sehen weiß, etwa Ver
gängliches zeigen??
.Dorthin, wohin zu sehen es nicht taugt,
sah es auch damals nicht, als die dir nun
entrückten Menschen noch deinen Sinnen
faßbar waren.
.Deine Sinne hatten ehedem dir nur ge‐
zeigt, daß da etwas Bestimmtes sei, von dem
dir nur die Wirkung auf deine Sinne
Kenntnis gab.
.Glaubst du nun das vernichtet, was du
voreinst seiend wußtest, als es noch auf
195 Das Buch der königlichen Kunst
deine Sinne wirken konnte, ‒ dann bist
du wahrhaftig nur ein „Sklave” deiner
Sinne! ‒
.Auch alle Totentrauer entstammt nur
dem Willen zur Freude, der sich in Ohn‐
macht findet, das zurückzuholen, was ihm
als Anlaß der Freude entschwunden ist.
.Trügerisch betört dich diese Trauer, will
sie dir den Glauben an das Dasein derer
nehmen, die dein körperliches Auge nicht
mehr sehen kann, weil es nur Körper
sinnenfälliges zu sehen tauglich ist.
.Dich selbst kannst du betrauern, weil
du einer Täuschung erlegen warst!
.Nur was die Sinne deines Körpers be‐
rührte, hattest du für das Seiende gehalten...
.Nun mußt du sehen, daß die vergängliche
Freude am Sinnenfälligen des Men‐
schen etwas sehr wesentlich anderes ist,
196 Das Buch der königlichen Kunst
als die bleibende Freude am Menschen
selbst.
.Nun mußt du erkennen lernen, daß alle
„Sichtbarkeit” nur unsichtbarer Wirk
lichkeit zeitliches Zeugnis ist.
.Alle Wirklichkeit wirkt aus dem Un
sichtbaren!
.Willst du die Wirklichkeit des Men
schen finden, so wirst du sie nur im Un
sichtbaren, durch dein Unsichtbares er‐
reichen können! ‒
.Du darfst der Sichtbarkeit zwar vieles,
aber nicht alles glauben!
.Du mußt die Sichtbarkeit als Gegenpol
deines Unsichtbaren erkennen lernen!
.Wir könnten nicht in diesem Dasein
uns erleben, ohne den ins Äußere streben‐
den Willen zum erdensinnenhaften Sicht‐
barsein.
197 Das Buch der königlichen Kunst
.Unsichtbar wirkender und sichtbar ge
wirkter Wille sind in uns zeitlich vereint.
.Noch nähern wir uns nicht der geist‐
gesetzlich bestimmten Bedingung zu blei
bender Einung beider Willenspole.
.Erlösung vom Zuviel, ‒
.Ergänzung des Zuwenig: ‒
nichts anderes ist in Wahrheit der „Tod”,
der unser Unsichtbares aus dem Sichtbaren
löst.
.Nicht mehr gehemmt durch sichtbare
Formen, werden wir dennoch auch in der
Sichtbarkeit leben und wirken: ‒ ein jeder
als Ganzes, bewußt seiner selbst nun aus
dem allewigen Ganzen...
.Weil ihr „Außen” ein „Innen” wurde,
dein „Innen” aber noch mit deinem
„Außen” ringt, ‒ darum findest du keinen
198 Das Buch der königlichen Kunst
Weg zu denen, die du: „die Toten
nennst. ‒
.Es gibt zwar einen Weg zu ihnen, aber
nur wenige Menschen sind jeweils im Leibes‐
leben, die diesen Weg gefahrlos betreten
können.
.Er beginnt im Äußeren und führt durch
die innersten Hallen der Natur, bevor er
sein Ziel erreicht.
.Der Mensch, der ihn betreten will, muß
selbst diesen Weg erleuchten, sonst ver‐
irrt sich der Wandernde in den Labyrinthen
die zu „durchwandern” sind.
.Nacht und Verwirrung umfängt ihn dort,
bis er selbst in Nacht und Verwirrung
untergeht.
.Irrsinn ist dann das Ende!
.Alle, die gefahrlos diesen Weg betreten
können, ‒ meiden ihn.
199 Das Buch der königlichen Kunst
.Alle könnten die Wahrheit meiner Worte
bezeugen.
.Du kannst dich selbst kaum in deinem
„Innen” erkennen, ‒ wie dürftest du hoffen,
die zarten Stimmen der Entrückten dort
zu vernehmen!?!
.Es bleibt aber gänzlich unnütz, etwa im
„Außen” nach Beweis für etwas zu suchen,
was nur im allerinnersten „Innen” zu fin‐
den ist.
.Ewiges Leben ist Ruhe und Tat.
.Ruhe und Tat sind in ewigem Wechsel
wie Ebbe und Flut, im ewigen Meere inner‐
sten Geschehens.
.Ewige Ruhe wäre wirklicher Tod!
.Ewige Tat wäre wirkliche Verdammnis!
.Ruhe und Tat in Freude vereinigt,
sind seliges Leben!
200 Das Buch der königlichen Kunst
.Du deutest irrig deine Sehnsucht, wenn
du nach „ewiger Ruhe” zu verlangen glaubst.
.Deine Sehnsucht will ewige Freude in
Ruhe und Tat!
.Freude ist menschliches Fühlen
göttlicher Vollkommenheit!
.Darum sollst du dem Willen zur Freude
Macht in dir geben!
.Du kannst nie zuviel nach Freude
verlangen!
.Und was jetzt dir an bleibender Freude
gegeben wird, kann niemals dir wieder
genommen werden...
.Allüberall stellt Natur ihre Wegzeiger
auf.
.Die Menschen tollen daran vorüber wie
tanzende Kinder...
201 Das Buch der königlichen Kunst
.Ihr solltet besser auf die Wegzeiger ach
ten lernen! ‒
.Noch strebt ihr nach Lust, und laßt von
Gelüsten euch verzehren, indessen allein
nur die Freude ins dauernde Leben führt...
.Gott ist in der Freude!
.Freude ist klares Licht!
.Lust und Gelüste sind schwelender
Brand!
.Der Wille zur Freude ist Wille zu Gott!
.Erkenne dich selbst: ‒
.Schlafender Wille warst du, bevor
der eine Pol in dir zur Sichtbarkeit
drängte.
.Träumender Wille bist du noch jetzt!
.Mehr und mehr aber wirst du zu wa
chem Willen werden, bis du dereinst in
202 Das Buch der königlichen Kunst
Freude und Klarheit alles in dir lebendig
durch-willst.
.Alle Gesetzestafeln sind durch den Willen
zur Freude errichtet.
.Du selbst bist Wille zur Freude und
folgst nur eigenem Gesetz, wenn du in der
Freude zu dir selber kommen willst und
in Freude zu Gott!
.Alles, was bleibende Freude bewirkt,
wird dir dienen.
.Alles, was bleibender Freude nicht
dient, muß dir schaden.
.Du selbst bist dein Richter, und dein
Richterspruch ist deine Tat!
.Du kannst dich selbst für lange Zeit
„verdammen”, und kannst dich durch dein
Tun zur höchsten „Seligkeit” erheben...
203 Das Buch der königlichen Kunst
.So lange du aber auch irren magst, ‒
du mußt zuletzt, und wenn es auch nach
Äonen wäre, dir selber folgen!
.Sobald du dich selber erkennst, wirst
du im Lichte der Gottheit dich finden.
.Noch strebst du hinaus in ein leeres,
starres Nichts.
.Noch spähst du nach tausend Zielen
irgendwo „da draußen”...
.Dereinst aber mußt du erfahren, daß
du nur selbst dir zum Ziel werden sollst,
im Willen zur Freude an dir selbst.
.Du hältst in deiner Hand die Macht,
dich zu binden und dich zu lösen!
.Noch bist du deiner Macht dir nicht
bewußt.
204 Das Buch der königlichen Kunst
.Du erwartest „außen”, was nur im Inner
sten geschieht.
.„Außen” und „Innen” aber werden dir
zu Einem werden, wenn du dich selbst
erst im Willen zur Freude erkennst!
.Lange hatte man dich belehrt, daß „Trüb‐
sal des Herzens” und „Zerknirschung” dich
Gott nahe bringen könnten.
.Du hattest diesen Lehren vertraut, und
nun fürchtest du dich auf dem Wege zu
dir selbst und zu deinem Gott.
.Fürchte aber nichts, als was dich
fürchten machen will!
.Du wirst furchtlos in der Kraft der
Freude schreiten, sobald du dich selbst
im Willen zur Freude willst.
.Im Willen zur Freude wirst du ewi
ges Leben erleben!
205 Das Buch der königlichen Kunst
.Im Willen zur Freude offenbart sich
dir dein lebendiger Gott!
.Im Willen zur Freude wird sich Gott
dir dereinst auf ewig einen!
.Dann wirst du erkennen, daß es nur
düstere Götzen waren, die vordem dich
der Freude an dir selber, als der Ur‐
quelle deines Willens zur Freude, fernzu‐
halten suchten!
.Dann wirst du entdecken, daß es ‒
Angst war, was dich nicht zu deiner Freude
kommen ließ!
.Dann wirst du erfahren, daß dein Sein
dir nur sicher ist, wenn du dich an dir
selber freuen kannst!
.In heiliger Freude dir ewig selber ge‐
schenkt, wirst du auf ewig im Willen zur
Freude sein!
206 Das Buch der königlichen Kunst
AUSKLANG
WAS DIE SO WENIGEN, MIR IM GEISTE
.VEREINTEN,
ABER DURCH BLUTÜBERTRAGENES
.DENKEN
URALTER FORM VERPFLICHTETEN,
.MEINER BRÜDER,
HEUTE NOCH SO VERBORGEN
.HALTEN,
DASS SIE NUR HART UND VIELFACH
.GESCHULTEN
NACH LANGER PRÜFUNG
SPARSAMEN EINBLICK GEWÄHREN,
DAS DURFTE ICH ALLEN MENSCHEN
.OFFENBAREN,
DIE MEINE WORTE ERFASSEN.
ALLE BEDENKEN WURDEN ENTKRÄFTET,
DIE SOLCHE KÜNDUNG AUFHALTEN
.WOLLTEN, ‒
207 Das Buch der königlichen Kunst
BLEIBT DOCH VERHÜLLT AUCH DAS
.OFFENBARE,
ALLEN, DIE SELBST NOCH NICHT
.SEHEN KÖNNEN.
WISSEND ABER MIED ICH WESTLICHE
.WEISE:
„WIRKLICHKEIT” DAS NUR ZU
.NENNEN,
WAS DAS GEHIRN DAFÜR HÄLT. ‒
DENN ICH BIN EINGEFÜGT EWIGER
.ORDNUNG
UND BEFOLGE GESETZE
.ÜBERZEITLICHER ART.
208 Das Buch der königlichen Kunst
ENDE
DAS BUCH
VOM
LEBENDIGEN
GOTT
Verlagslogo
gegründet 1816
KOBER`SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG AG
BERN
4. Auflage
Unveränderter Nachdruck
der 1927 erschienenen Neuausgabe
(Anm.: Erstausgabe 1919)
©
1971 Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Bern
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Übersetzung
in fremde Sprachen und der Verbreitung in Rundfunk und
Fernsehen
Druck: Graphische Anstalt Schüler AG, Biel
INHALT Seite
Geleitwort 5
„Die Hütte Gottes bei den Menschen” 13
Die „Weiße Loge” 29
Übersinnliche Erfahrung 41
Der Weg 63
En sôph 111
Vom Suchen nach Gott 121
Von Tat und Wirken 127
Von Heiligkeit und Sünde 133
Die „okkulte” Welt 143
Der verborgene Tempel 159
Karma 169
Krieg und Frieden 183
Die Einheit der Religionen 197
Der Wille zum Licht 209
Die hohen Kräfte des Erkennens 219
Vom Tode 233
Vom Geiste 247
Der Pfad der Vollendung 263
Vom ewigen Leben 281
Im Osten wohnt das Licht 291
Glaube, Talisman und Götterbild 307
Die Magie des Wortes 321
Ein Ruf aus Himavat 333
Eucharistie 343
Epilog 349
Originalscan
GELEITWORT
.Es lese keiner dieses Buch, der
fromm und gläubig ist!
.Es lese keiner dieses Buch, der nie
an Gott gezweifelt hat!
.Dieses Buch ist geschrieben für solche
Menschen, die in harten inneren Kämpfen
ihren Gott erringen wollten, aber ihn nicht
fanden...
.Dieses Buch ist geschrieben für Alle, die
in den Dornen der Zweifel hängen...
.Diesen wird es helfen!
.Diesen wird es ein Wegzeiger sein!
.Uralte Weisheit ist es, die ich hier ver‐
künde.
7 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Die Wenigen, die jeweils sie empfinden
konnten, hielten sie seit alter Zeit geheim.
.Nur selten, nur zu gewählter Stunde und
nur in dunklen Symbolen durfte in früheren
Tagen der Welt davon gesprochen werden.
.Nun aber ist die Zeit gekommen, deut
licher davon zu reden, nachdem durch Un‐
berufene verzerrte Bilder dieser Weisheit in
der Welt verbreitet wurden und verbreitet
werden.
.Im „innersten Osten” wurde beschlos‐
sen, den lange und sorglichst vor profanen
Augen gehüteten, „heiligen Schrein” nun den
Menschen des Westens zu öffnen.
.Der ihn hier öffnet, ist dazu ermächtigt.
.Noch aber verlangt man strenge Prü
fung von den Suchenden, und keiner kann
den Tempel betreten, wenn er nicht vorher
die Prüfung besteht. ‒
8 Das Buch vom Lebendigen Gott
.So läßt sich denn vorerst nur aus der
Ferne zeigen, was der Würdige dereinst er
fassen und begreifen soll...
.Was sich von den Geheimnissen des Tem‐
pels sagen läßt, will ich euch sagen!
.Wollt ihr sie ergründen, dann müßt ihr
Sorge tragen, sie im eigenen Innern zu er
leben!
.Sie offenbaren sich wahrlich nur dem,
der mit allen Kräften sich ihr Erfassen er
ringt! ‒
.Mit dem „Lesen” meiner Worte werdet
ihr wenig errungen haben...
.Was hier Wort wird, muß willige Her
zen finden; ‒ Herzen, die es aufzunehmen
und in sich zu behalten wissen, sonst ist es
vergeblich Wort geworden! ‒ ‒
.Keiner aber kann etwa ein Urteil fällen
über Wert oder Unwert des Vernommenen,
9 Das Buch vom Lebendigen Gott
bevor er sich der vielverlangenden Prüfung
unterzog, die ihm geboten ist, wenn er den
Tempel selbst betreten will. ‒
.Nur denen, die im Innern dieses Tempels
sind, ist hier die Urteilsbildung möglich!
.Ich kann hier nur von außen zeigen, was
sich dereinst im Innersten des also Belehr‐
ten offenbaren soll.
.Damit es sich offenbare, ist ein lange
dauernder, hoher Wille vonnöten, und nur
wer diesen Willen in sich erzwingt, darf auf
Bestätigung meiner Worte in sich selber
hoffen.
.Er findet den Weg zu seinem lebendigen
Gott!
.Er findet in sich selbst das Reich des Geistes
und seine hohen Gewalten!
.Sein Gott wird in ihm selbst „geboren
werden!
10 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Es liegt mir ferne, „Beweise” zu führen.
.Ob meine Worte Wahrheit künden, müßt
ihr selbst erproben!
.Nur in euch selbst wohnt jener stille
Richter, der euch bekräftigt, was mein Wort
in euch erregt...
.Meine Beweise könntet ihr nicht ver
stehen, denn ihr seid nicht die Wege ge‐
gangen, die ich einst mühevoll durchwandern
mußte! ‒
.Hier gibt es auch keine „allgemein gül
tigen” Beweise!
.Hier findet ein jeder den für ihn bündigen
Beweis nur in sich selbst! ‒ ‒ ‒
.Ich gebe euch auch keine „Wissenschaft
und verkünde euch keinen „Glauben”.
.Ich zeige euch nur was sich zeigen läßt,
von der Weisheit desinnersten Ostens”,
11 Das Buch vom Lebendigen Gott
vom hohen Geheimnis des Tempels der
Ewigkeit!
.Möge euch mein Wort ermuntern zum
endlichen Erwachen zu euch selbst, denn
noch weiß keiner aus euch, ‒ wer er ist!
‒ ‒ ‒
.Segen und Kraft aber werde allen, die
guten Willens und starken Wollens sind!
12 Das Buch vom Lebendigen Gott
„DIE HÜTTE GOTTES BEI DEN
MENSCHEN”
.Es kam eine stille Kunde schon in alten
Zeiten einst von Sonnenaufgang her nach dem
Abendlande und stellte in der Bilderweise
frommen Christenglaubens eine wunder
same, geistverbundene Gemeinschaft
wissend Wirkender vor Augen, ‒ die
Menschen des Abendlandes aber wußten
nicht zu deuten, was sie solcherart er‐
reichte. ‒ ‒
.Der Sage Schleier wob sich um den „hei
ligen Gral” und seine hehre „Ritterschaft”..
.Ein trosterfülltes Wissen ging in dunkler
Mythe unter, ‒ wurde frommer Dichtung
sagenhafter Hintergrund. ‒
.Da geschah es jedoch in unseren Tagen,
daß in phantastisch aufgeputzten Berichten
15 Das Buch vom Lebendigen Gott
abenteuerlicher Mystagogen vor aller Welt
gesprochen wurde von verborgenlebenden
Geheimniskundigen im inneren Orient,
obwohl die Mär wider Willen zugleich be‐
zeugte, daß ihre Künder zwar vom Dasein
der Verborgenen erfahren, aber keinen je ge‐
sehen hatten, ‒ ansonsten man niemals
hätte vermeinen können, gewisse Wunder
fakire und seltsame Heilige denen man be‐
gegnet war, seien Glieder jenes geistigen
Kreises...
.Weil aber im Nichtbewußten vieler
Seelen letzte dunkle Ahnung sich erhalten
hat von einer möglichen geistigen Verbun‐
denheit mit einem irgendwo auf dieser Erde
noch verborgenen, gottesgeisterfüllten Heilig‐
tum, so fanden sich bald zum Glauben Geneig‐
te, die solche Verbindung zu erlangen hofften.
.Leider suchten sie auf falschen Wegen,
und auf diesen Irrtumswegen suchen sie noch
jetzt. ‒ ‒
16 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Aus Wissensbrocken die am Wege lagen,
türmten sie ein wunderliches Scheinwerk auf
und nannten es die „Wissenschaft” vom
Geiste, ‒ ahnungslos dem Wahn verfallen,
daß wahres Wissen um den Geist der Ewigkeit
erlernbar sei wie irdische Verstandeswissen‐
schaft.
.Sie leben als Asketen, um sich, wie sie
meinen, zu „vergeistigen”, ‒ versenken sich
in mitternächtigdunkle Giftmoraste einer
„Mystik” die aus der Fieberatmosphäre tro‐
pischheißer Dschungel stammt, ‒ spüren
allenthalben leidenschaftbetört nach alten oder
neuen Anweisungen um „okkulte Kräfte
zu erlangen, ‒ und glauben, daß sie sich auf
solche Weise Jenen nähern könnten, die für
alles dieses nur ein mitleidsvolles Lä
cheln, voll Verzeihung und Verstehen,
übrig haben. ‒ ‒
.Keiner mag die Felsensteige betreten, die
zu den im Sonnenlichte strahlenden Firnen
des „großen Gebirges” führen, und alle laufen
17 Das Buch vom Lebendigen Gott
dahin auf breiten, staubigen Straßen, nach
den längst entweihten Wallfahrtszielen dump‐
fer Täler...
.Viele träumten sich schon auf dem Wege
zu den nüchternklaren Lenkern im Reiche der
Seele, und nun durchsuchen sie die Wälder,
um ‒ einenHeiligen” zu entdecken...
.Andere wieder glauben, die religiösen
Lehren östlicher Völker seien identisch
mit der Weisheit jener stillen und verborgenen
Lenker...
.So sagen sie sich denn mit Recht:
.„Auch bei uns hat es in alten Zeiten Seher
und Weise gegeben, auch wir haben unsere
heiligen Bücher aus der fernen Vorzeit!
.Das Göttliche aber ist allerorten gleich!
.Weshalb nur sollten wir, des Westens
Söhne, nun unser Heil allein im Osten su‐
chen?! ‒”
18 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Sie reden wahr, ‒ denn, wenn es sich
allein um Jenes handeln würde, was man
allerorten, frommen Herzens, in sich fühlen
lernen kann, ‒ wenn es hier nur um jene
Lehren aus der Vorzeit ginge, die im Morgen‐
lande noch die Glaubensvorstellungen mit‐
bestimmen, ‒ dann fände jeder Suchende
Befriedung aus sich selbst und in den weisen
Lehren die ihm seines Volkes Seher und Ver‐
künder hinterlassen haben.
.Aber Weisheit und Wirken jener stillen
Lenker haben nur weniges zu tun mit den
Lehren der östlichen Völker, und die verbor‐
genen geistigen Helfer führen weiter, als nur
zu jenen Himmeln, die jede Zeit als Ausdruck
ihres frommen Sehnens sich erschuf. ‒
.Die Hüter des Urzeiterbes aller Mensch‐
heit sind die mächtigsten Schützer alles Gei
stigen im Menschen, und sind zugleich des
Erdenmenschen wahrhaftigste Freun
de, voll Verstehen und voll Rat. ‒
19 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Seit den ältesten Zeiten haben sie Brüder
entsandt, nach allen Ländern der Erde, um
geistige Strahlungspunkte zu bilden, wo
sie vonnöten waren.
.Aus allen Völkern haben sie im Laufe der
Zeiten sich ihre geistigen Söhne und Brüder
erwählt, wie geistiges Gesetz sie wählen hieß.
.Allen aber, die sie so erwählten, wurde
eine Stätte mitten in Asien zur geistigen Hei‐
mat, zu der den Zutritt keiner findet, der etwa
kommen möchte, ohne geladen zu sein.
.Die wenigen, die dort seit Urzeittagen
schon zusammen leben, kommen niemals
sichtbar in die Welt des äußeren Getriebes.
.Dazu verordnen sie nur jene ihrer gei‐
stigen Söhne und Brüder, die geistiges Gesetz
zu „Wirkenden” bestimmte.
.Sie selbst sind lediglich die treuen Hüter
eines geistigen Schatzes, den der Erdenmensch
20 Das Buch vom Lebendigen Gott
einst vor dem Falle in die Welt der physischen
Materie besaß.
.Sie schaffen jene Macht, aus der die
Wirkenden zum Wohl der Erdenmenschheit
handeln.
.Ist es nicht äußerste Torheit, zu glau‐
ben, diese hohen Lenker seien „Buddhisten
oder „Brahmanen”, ‒ „Lamas”, „Pun
dits”, oder gar „Fakire” !?! ‒
.Man glaube aber auch nicht, man habe es
hier etwa mit „Gelehrten” einer okkulten,
sogenannten „Wissenschaft” zu tun!
.Was solcherart vermutet wird, ist alles
arger Irrtum!
.Die Leuchtenden des Urlichts sind
vor allem „Schaffende”.
.Die „Ältesten” oder die „Väter” haben
den „Durst nach Wissen” nie gekannt und
konnten ihn nicht kennenlernen...
21 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Ihre „Söhne” im Geiste und ihre „Brüder”
zugleich, aber haben alles „Wissenwollen”
längst verlernt.
.Sie wollen alle auch gewiß nicht etwa die
Welt zu den Lehren morgenländischer Mystik
und Philosophie bekehren.
.Ihnen allen ist es gleich, ob du an die
Bibel „glaubst”, an den Koran, die Veden,
oder an Buddhas Lehren.
.Wohl aber finden sie in allen diesen Glau‐
benskreisen immer wieder Menschen, denen
sie Helfer und geistige Führer zu sein ver‐
mögen, auch wenn die Beschützten und Be‐
ratenen oft keinerlei Bewußtwerden der hier
nötigen Vorgänge in sich erleben...
.Die Leuchtenden des Urlichts wollen
dir nicht Glaubenslehren geben, sondern
dir dieBrückenbauen, die dich, den
tierverhafteten Menschen dieser Erde, ‒ mit
dem substantiellen Geistesreiche verbinden.
22 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Sie stehen aber ferne jenen Lehren, die
den Menschen in Ekstase peitschen wollen,
damit er dann, ‒ der Sinne nicht mehr
mächtig, ‒ Macht zu haben wähne, das Gött
liche zu sich herabzuziehen. ‒
.Sie wissen wahrlich auch, daß man im
Denken niemals das erkennen kann, was
allen Denkens Vorbedingung ist und über
allem Denken lebt. ‒
.Sie lächeln, hören sie von jenen, die sich
selber für verkappte Götter halten.
.Sie werden aber jedem unsichtbar zur
Seite stehen, der seinen Gott in sich emp
fangen will. ‒
.Sie sind die wahren Hohenpriester, die den
Kelch des Segens jedem Pilger reichen, der
aus der tiefsten Inbrunst seines Herzens Gott
in sich verlangt. ‒ ‒ ‒
.Siehst du nicht ein, daß es sich hier um
anderes handelt, als jene sonderbaren, vor‐
23 Das Buch vom Lebendigen Gott
geblichen Wissenden „okkulter Wissenschaft”,
von denen dort geredet wird, wo man aus
aller Völker mystisch dunkler Lehre ein Ra‐
gout sich zubereitet hat, und diese Speise
Gottesweisheit”, ‒ „Theo-sophia” be‐
nennt?! ‒ ‒
.Du wirst mit solcher „Gottesweisheit”
armer Irrender und Selbstbetörter, mit allem
Üben”, Meditieren, Fasten, ‒ bei aller
Reinheit deiner Taten und Gedanken, ‒
mit einem Wissen über Dinge die man nicht
zu wissen braucht, ‒ noch nicht um eines
Haares Breite jenem Ziele näherkom
men, das du durch deines Herzens tiefstes
Fühlen als das Hochziel aller deiner Wün
sche ahnen kannst! ‒ ‒
.Du wirst vielleicht ein Narr, vielleicht für
dich und andere einHeiliger”, ‒ doch
niemals kommst du so zu deinem Gott!
.Wenn du nur finden willst, was jederzeit
du ohne Geisteshilfe in dir selber finden
24 Das Buch vom Lebendigen Gott
kannst, dann brauchst du wahrlich deine
Blicke nicht zum „hohen Osten” hinzu‐
wenden!
.Die von dort aus dich leiten, ‒ auch wenn
sie mit dir im gleichen Lande leben mögen,
oder gar im selben Hause, ‒ die haben an
deres zu geben! ‒
.Sie können in dir etwas schaffen, das du
nicht selber in dir schaffen kannst...
.Etwas, das in dir Wurzel faßt, und dem
du Nahrung wirst...
.Etwas, das du noch nicht hast und nie
mals aus dir selber haben könntest! ‒ ‒
.Auch die Leuchtenden des Urlichtes
haben es gewiß nicht aus sich selber. ‒
.Sie geben dir nur wieder, was einst dein
eigen war, bevor du es durch deinen Drang
in diese Welt der physischen Materie ver
lieren mußtest. ‒ ‒
25 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Die „Ältesten” der Brüder haben es
niemals verloren, da sie dem tiefen Fall in
dieses Menschentier der Erde nie verfallen
sind...
.Sie kennen nicht den Tod, und leben,
so wie vor Jahrtausenden, auf dieser Erde hier
in unzerstörbarer Gestaltung aus den Kräf‐
ten reinster Geistsubstanz.
.Sie waren nie mit einem Körper, dem der
Tiere gleich, vereint wie du und ich.
.Sie aber schufen sich in Menschen die vor‐
einst gefallen waren und zu ihrer Zeit dem
Tiere dieser Erde sich vereinen mußten, auf
geistigen Planen ihre „Brüder”, damit
diese, dann in die Erdenwelt geboren, wirken
konnten, was allhier nur dann zu wirken ist,
wenn man im Erdentiereskörper lebt...
.So bereiten sie auch heute zukünftige
„Brüder” für eine kommende Zeit.
26 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Der Ort ihres Wirkens auf dieser Erde
aber ist seit der Urzeit, als die ersten Tier
menschen Träger des Geistmenschen wur‐
den, ‒ dort, wo das höchste Gebirge der Erde
sich erhebt, ‒ unzugänglich jedem, den sie
nicht geistig selbst in ihre Mitte führen.
.Hier ist in Wahrheit „die Hütte Gottes
bei den Menschen” dieser Erde!
.Hier reicht das Reich des Geistes, durch
die Kräfte reinster Geistsubstanz, herein in
dieser Erde physisches Geschehen!
.Von hier aus gehen Strahlen reinster
Geistsubstanz zu allen, die auf dieser Erde
wohnen! ‒
.Ich sehe aber nur allzuviele Menschen
dieser Erde noch vergeblich nach dem
Geiste suchen, da sie auf falschen Wegen
schreiten.
.Ich kann diese Vielen nur zur Umkehr
mahnen, denn das wirkende Licht aus dem
27 Das Buch vom Lebendigen Gott
innersten Osten” dürfte sie schwerlich er‐
füllen können, wenn ihre Augen weiter ge
blendet bleiben von den mancherlei Lich‐
tern aus allen Zeiten, ‒ den Leuchtern und
Nachtfackeln, mit denen der in Tierheit ge‐
fallene Mensch sich selbst seinen Weg zu er‐
hellen suchte. ‒
.Wahrlich, nur wer ungeirrt durch das
Lichtergefunkel der Erde nach „Osten” blickt,
der findet auf hohen Bergen lebendiges Licht!
.Wer es gefunden hat, dem wird es leuch
ten auf seinem Wege, bis er sein Ziel er‐
reicht, ‒ ‒ bis er sein Ziel erreicht! ‒
28 Das Buch vom Lebendigen Gott
DIE „WEISSE LOGE”
.Mit dem Namen „Weiße Loge” hat man
den Kreis der geistigen Helfer im allgemei‐
nen Sprachgebrauch zu bezeichnen versucht,
und somit sei diese Bezeichnung auch hier
beibehalten, trotzdem die so Benannten sie
nur gelten lassen, aber keineswegs sich
selber also nennen.
.Ihre völlige Abschließung von der
äußeren Alltagswelt mag zu rechtfertigen
scheinen, daß man den Begriff der „Loge”,
aus der Freimaurerei her bekannt, auf ihre
rein geistige Gemeinschaft übertrug.
.Es handelt sich hier um die eigenar
tigste Vereinung auf diesem Planeten, und
es findet sich unter Menschen keine wie
immer geartete Gemeinschaftsform, die Ver‐
31 Das Buch vom Lebendigen Gott
gleichsmöglichkeiten, und sei es auch nur im
übertragenen Sinne, zu bieten hätte.
.Die Glieder dieser Ver-einung kommen
sich nur in den allerseltensten und wich
tigsten Fällen äußerlich, körperlich, nahe
und sie schreiben sich auch fast niemals Briefe.
.Dennoch stehen sie in unausgesetzter,
geistiger Verbindung, in stetem Aus
tausch der Gedanken, ja in absoluter
seelischer Gemeinsamkeit....
.Diese Vereinung besitzt keine äußeren
Gesetze.
.Ein jedes ihrer Glieder ist dem anderen
gleichgestellt, und doch kennt jedes Glied
seine ihm vorbehaltene Stelle, bedingt durch
die Verschiedenheit der geistigen Sonderart
des Einzelnen.
.Alle aber unterordnen sich freiwillig ei‐
nem gemeinsamen geistigen „Oberhaupte”.
32 Das Buch vom Lebendigen Gott
Dieses „Oberhaupt” wird nichtge
wählt” und nichternannt”, und doch
wird niemals eines der Glieder der Verei‐
nung im Zweifel sein, wer dieses „Ober‐
haupt” sei. ‒
.Die „Aufnahme” in diese Gemeinschaft
kann weder rechtmäßig erworben, noch er‐
schlichen oder erzwungen werden.
.Verborgene geistige Gesetze und durch sie
bewirkte besondere Anlage der menschlichen
Natur geben allein den Ausschlag, ob ein
Mensch zur „Aufnahme” bestimmt ist, und
keine Macht der Welt kann in solchem Falle
seine „Aufnahme” verhindern.
.Die Aufgenommenen aber verpflichtet
kein Gelübde, kein Versprechen...
.Sie selbst sind sich Gesetz und Norm!
.An keinen äußeren Zeichen, keiner
gemeinsamen Besonderheit der Lebens
33 Das Buch vom Lebendigen Gott
weise sind die Glieder dieser geistigen Ge‐
meinschaft zu erkennen.
.Sie selbst aber, mögen sie auch von An‐
gesicht sich völlig fremd sein, erkennen ein
ander, ‒ und zwar ohne „Zeichen, Wort
und Griff”, ‒ sobald es nötig wird, einander
auch im äußeren Leben zu begegnen.
.Ihrer ganzen Art nach muß diese Ver‐
einung als solche der Außenwelt verborgen
bleiben, und doch stehen viele Einzelne und
selbst ganze Völker zuweilen unter ihrem gei‐
stigen Einfluß...
.Kein Weg des Aufstiegs zu höheren, über‐
materiellen Zielen wurde je betreten, ohne
daß eines der Glieder der Vereinung, oder
diese als Ganzes, die unwahrnehmbare Füh‐
rung übernommen hätte. ‒ ‒
.In den allermeisten Fällen wissen und
ahnen die geistig Beratenen nichts von die‐
34 Das Buch vom Lebendigen Gott
sem unsichtbaren Ein-fluß, dem sie ihr Be‐
stes danken.
.Wo aber Spuren geistigen Erwacht
seins sich finden, dort wird der Einfluß gei‐
stiger Hilfe wohl gefühlt, ‒ doch wird er
fast immer, sei es aus Unkenntnis oder be‐
wegt durch abergläubische Vorstellungen, auf
überweltliche Mächte zurückgeführt...
.Die poetische Vorstellungswelt aller Zei‐
ten und Völker dankt solchem irrigen Deuten
immerhin eine Fülle ihrer Gestalten. ‒
.Der Aberglaube war noch immer ein
Freund der Dichter, denn die nackte Wahr‐
heit ist zu streng und einfach, als daß sie sich
bereit finden könnte, sich mit den üppigen
Draperien der Phantasie des Poeten umklei‐
den zu lassen.
.Nicht minder wurde irriges Deuten ge‐
fühlter geistiger Hilfe, die aus dem stillen
35 Das Buch vom Lebendigen Gott
Kreise der „älteren Brüder” auf Erden
kam, Anlaß zur Bereicherung religiöser
Sagenwelt. ‒
.Von Zeit zu Zeit aber wurde Einzelnen
das Dasein und Wirken der unsichtbaren
und doch an reale Erdenmenschen ge
bundenen Gemeinschaft bewußt, ‒ doch
Andere verschütteten die aufgezeigten Spu‐
ren wieder mit Zweifeln aller Art, so daß
zuletzt nur das Raunen der Sage da und dort
bezeugte, daß man vor Zeiten wohl einmal
mehr von diesen Dingen wußte, ‒ daß
manche Menschen hier Bedeutsames erfah‐
ren haben mußten...
.In unseren Tagen erhielten dann allzu
schwärmerisch veranlagte Seelen Kunde
von dem Dasein der Gemeinschaft, aber
deren einfaches geistiges Sein und Wir
ken genügte der farbenreichen Einbil
dungskraft dieser Enthusiasmierten so
wenig, daß sie es für nötig hielten, ihre Be‐
richte mit seltsamster Zutat zu schmücken, und
36 Das Buch vom Lebendigen Gott
die „älteren” (‒ weil geistig älteren ‒)
Brüder der Menschheit zu Halbgöttern,
oder mindestens großen Zauberern, her‐
auszuputzen, die alles, was moderne Wissen‐
schaft erst zu ergründen sucht, „längst wis
sen” sollten, und gar freigebig mit allen
Wunderkräften ausgestattet wurden, von
denen je exotische Märchendichter träumten.
.Man hat offenbar hier in guter Absicht
gefehlt und wollte den Zweck die Mittel hei‐
ligen lassen, indem man die erahnten Unzu‐
gänglichen hoch über alles Menschentum
hinaufzusteigern suchte, wobei man sich
bestätigt sah, durch recht geschmacklose Fa‐
kirwunder, die man denen, die sie verübten,
gläubig als Beweis ihrer Zugehörigkeit zur
Weißen Loge” anrechnete...
.Die aber mit diesem Namen gemeint
sein sollten: ‒ die wahren Leuchtenden
des Urlichts, ‒ die Priester des Tem
pels der Ewigkeit auf dieser Erde, ‒
37 Das Buch vom Lebendigen Gott
lehnen freilich allen phantastischen Aufputz
mit unerbittlicher Entschiedenheit ab.
.Sie wissen, daß sie Menschen gleich an
deren Menschen sind, nur durch ein hö
heres geistigesAlter” befähigt, ihre Stel‐
lung im Stufenbau der geistigen Hierarchie
auszufüllen und ihren Mitmenschen Geistes
kräfte zuzuleiten, deren Lenker sie sind,
nicht deren Erzeuger!
.Die Wirklichkeit zeigt aber trotzdem
ein weitaus würdigeres, weitaus erhabene
res Bild, als es die farbenlüsternste Phanta
tasie sich jemals ausmalen könnte....
.Das stille Wirken der Glieder der Ver‐
einung umfaßt alle Gebiete geistiger Ent
wicklung in der Menschheit.
.Durch ihre Hände laufen Fäden, die oft‐
mals bei den Äußerungen höchster mensch‐
licher Schöpferkraft, höchster menschlicher
Machtentfaltung enden...
38 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Sie versetzen wirklich Berge ohne ein
Glied eines Fingers zu rühren, denn ihr Wille,
durch reinste Geisteserkenntnis gelei
tet und völlig von allem persönlichen
Wünschen gereinigt, steht hinter so man‐
chem Willen, der andere Gehirne und Hände
benutzt und bewegt! ‒
.Für Fakirkünste aber ist im Wirken
der „älteren Brüder” der Menschheit wahr
lich kein Raum!
.Sie arbeiten lediglich auf rein geistige
Weise an der Verwirklichung des unermeß‐
lichen Entwicklungsplanes, den ein ewiges
kosmisches Gesetz der Erdenmenschheit vor‐
gezeichnet hat, und ihre Arbeit kennt kein
persönliches Sonderinteresse, aber auch
keine Bevorzugung Einzelner, auch
wenn sie aus den idealsten Motiven heraus
erfolgen könnte. ‒
.Wer grobe „Wunder” sucht, der wird
sie hier nicht finden!
39 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Die tatsächlichen Geschehnisse im
Wirken der „älteren Brüder” mögen zuwei‐
len dennoch wahrhaft „wundersam” sein,
aber je mehr sie solche Bezeichnung etwa ver‐
dienten, desto sicherer bleiben sie äußeren
Augen verborgen. ‒
.In den Einflußkreis dieses geistigen Wir‐
kens aber tritt jeder Erdenmitmensch, dem
es ernsthaft am Herzen liegt, seine in diesem
Erdendasein höchstmögliche geistige
Entfaltung zu erreichen.
.Je reiner sein Wille ist, ‒ je freier
bereits von selbstsüchtigen Wünschen, ‒
desto klarer wird Geistiges in ihn ein
fließen können, und desto stärker wird er
diesen Ein-fluß ehestens in sich empfinden.
.Unzählige empfinden ihn, ohne zu
ahnen, woher er kommt...
40 Das Buch vom Lebendigen Gott
ÜBERSINNLICHE ERFAHRUNG
.Ein jeder Mensch kann zu gelegener Zeit,
wenn gewisse übersinnliche Vorausset
zungen gegeben sind und keine zu starken
Widerstände in der physischen Welt beste‐
hen, übersinnliche Erfahrungen machen.
.Am besten dazu veranlagt sind die aller
einfachsten Naturen und ‒ die Künstler,
sofern es sich bei diesen um ursprüngliche
Begabungen, ‒ echte Schöpferische, ‒
wirklich „Begabte des Herzens” handelt.
.Das innere „Empfangen” einer schöp
ferischen Idee, ‒ einer echt künstleri
schen Vor-stellungist an sich schon
eine Art „übersinnlicher Erfahrung”. ‒
.Dennoch aber besteht ein himmelwei
ter Unterschied zwischen jeder Art künst
43 Das Buch vom Lebendigen Gott
lerischerInspiration”, oder gelegent‐
licher höherer übersinnlicher Erfahrung,
wie sie jeder Mensch erleben, und wie sie
eine besonders geeignete Natur in stärkster
Erlebensmöglichkeit kennen kann, und der
Art des übersinnlichen Erfahrens die von
den Wenigen geübt wird, denen das Erb
gut des Geistesmenschen wahrlich mehr
ist, als ein Gegenstand der Befriedigung des
Wissenstriebes, ‒ die es sich vielmehr
nur darum anvertraut wissen, damit sie ihren
„jüngeren” Brüdern von hohen Bergen her
die Wegsignale geben können.
.Ich rede hier nicht etwa von dem, was
die Welt unter „Mystikern” versteht!
.Mystikund die „Königliche Kunst”
der wahren, im Reiche wesenhaften Geistes
allein als solche gewürdigten „Eingeweih
ten”, sind sehr verschiedene Dinge!
.Dem Mystiker ergeht es ähnlich wie
dem Künstler...
44 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Ihm, wie jenem, wird „Inspiration” aus
einer ihm unbekannten Sphäre, in die er nie
mals selbstbewußt und mit wachen Sin
nen einzutreten vermag.
.„Es” packt ihn, überwältigt ihn, und er
wird Sprecher dieser unbekannten Kraft,
oder er erlebt nur ihre Einwirkung im
wortelosen Schauen”.
.Dem im Reiche substantiellen Geistes
Geweihten”, dem wahren „Eingeweih
ten der königlichen Kunst”, dem Sohne
und Bruder der „Leuchtenden des Ur
lichts”, ‒ ‒ ergeht es sehr wesentlich
anders!
.Er lebt, bewußt seiner selbst, stets
und ständig in den drei Welten, die sich
in der Welt der Wirklichkeit vereinigt fin‐
den, als Welt der physischen Materie,
Welt der übermateriellen, aber substan
tiellen Seelenkräfte, und Welt des sub
stantiellen, reinen Geistes.
45 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Er ist nie und nimmer in Ekstase,
noch in irgendwelchen Zuständen der
sogenanntenTrance”, und er ist ferne
allen mysteriösen Praktiken, denn nie‐
mals könnte er sonst dem Kreise seiner gei‐
stigen Brüder und hohen Väter zugehören.
.Während er seine Erfahrungen in über
sinnlichen Regionen sammelt, bleibt er in
allen drei Welten seines Seins bewußt,
und so ist denn auch sein Bewußtsein in die‐
ser, allen Menschen im klaren Wachen gegen‐
wärtigen, äußeren Sinnenwelt keinen Au
genblick dabei auch nur im mindesten ver
dunkelt.
.Sein Erkennen „äußerer” Dinge ist ‒ im
Gegenteil ‒ erweitert und zu jener Klar
heit erhoben, die seinen Blick ins Über‐
sinnliche erfüllt...
.Während er auf übersinnlichem Plane
mit seinen geistigen Brüdern „spricht”, ‒
46 Das Buch vom Lebendigen Gott
und sie mit ihm „Besprechung” pflegen, ‒
ist er imstande, den geringsten Vorgang in
der ihn umgebenden materiellen Welt zu‐
gleich nicht minder klar zu sehen und zu
empfinden, wie das, was allein mit Geistes
Sinnen wahrgenommen werden kann.
.Es tritt keine „Verengung”, sondern viel‐
mehr eine fast unendliche Erweiterung des
Bewußtseins ein...
.Vieles von dem, was in der Welt des
wesenhaften Geistes, die wieder unzähl
bare „Welten” in sich umschließt, „gespro
chen” wird, kann niemals mit Worten einer
menschlichen Sprache bezeichnet werden, ‒
aber dennoch ist es klare „Sprache”, in Rhyth‐
mus und Form, voll Sinn und Wahrheit, so
daß es wohl möglich wäre, geeignete Worte
menschlicher Sprachen dafür zu finden, nicht
aber: ‒ zugleich mit diesen Worten die gei‐
stige Ein-sicht zu vermitteln, die alles im
47 Das Buch vom Lebendigen Gott
substantiellen Geiste sogleich von allen Sei
ten her erkennen läßt. ‒
.Das, was demnach in Worte einer mensch‐
lichen Sprache „übersetzt” werden darf, ist
bestimmt durch die individuelle Sonder
art des wirkenden Bruders, sowie durch die
Zeit, in der er wirkt, den Kulturkreis, der
ihn auf Erden umgibt.
.Alles aber, was er mitteilen wird, ent‐
spricht unter allen Umständen stets der lau‐
tersten Wahrheit, ‒ ist ungetrübte Eröff‐
nung absoluter Wirklichkeit, wie sie allen
„Eingeweihten der Königlichen Kunst” je
derzeit gegenwärtig vor Augen steht, be
freit von allen den unzähligen Täuschungs
möglichkeiten und Fehlerquellen des
Forschens in der physisch-materiellen
Welt. ‒
.Für „Spekulationen” und philosophi‐
sche Spitzfindigkeiten des menschlichen, erd
gebundenen Denkens ist in den Welten
der substantiellen Welt des Geistes kein Platz!
48 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Es wird ja nicht, ‒ wie im verstandes
bedingten, irdischen Erkennens-Ver
such, ‒ eine „Wahrheit” aus der anderen
erschlossen”!
.Alle Wahrheiten stehen im Reiche sub‐
stantiellen, reinen Geistes als Wirklichkei
ten vor dem Schauenden! ‒ ‒ ‒
.Scheinbare „Widersprüche”, wie sie die
Unfähigkeit zur Nachprüfung so beflissen in
den Bekundungen der wahren „Eingeweih‐
ten” aller Zeiten stets zu finden suchte, er‐
klären sich schon allein durch die Art der
übersinnlichen Anschauungsweise, die da alle
Dinge stets von allen Seiten zugleich er‐
kennen läßt, wobei der Verkündende jedoch
bald die eine, bald die andere „Seite” allein
zeigen muß, will er seinen, nicht auf gleiche
Weise schauenden Mitmenschen einigermas‐
sen verstehbar werden, ‒ ‒ handelt es sich
doch nur zu oft um Dinge, bei denen jeder
Vergleich „auf beiden Seiten hinkt”, da
49 Das Buch vom Lebendigen Gott
nichts Irdisches die Ähnlichkeitsentspre
chung mit dem darzustellenden Substan
tiell-Geistigen aufweist. ‒
.Die lokale Färbung der Redeweise, in der
ein Bruder der „Leuchtenden des Ur
lichts” seine Bekundungen gibt, ist dagegen
stets von seinem persönlichen Ermessen
abhängig, wird durch Pietät gegenüber sei‐
nen früheren Lehrern, durch eigene Neigung,
oder durch Gründe der formalen Gestaltung
bestimmt.
.Wenn auch das Herz Asiens noch heute,
wie vor Jahrtausenden, die irdische Stätte
des Tempels substantieller Geisteskräfte in
sich birgt, so ist es doch keinem der Brüder,
die diesen geistigen Mittelpunkt auf unserem
Planeten als ihre wahre irdische Heimat
betrachten, etwa geboten, sich in seiner Ver‐
kündigung der religiösen und philosophi‐
schen Begriffe des Orients zu bedienen.
.Benutzt ein Glied dieses Kreises aber, als
Mensch des Abendlandes, dennoch die
50 Das Buch vom Lebendigen Gott
Redeweise der Völker des Sonnenauf
gangs, so geschieht das aus freier Wahl,
‒ aus Vorliebe für die Poesie des Orients,
‒ aus Liebe zu gewissen Redebildern, die
Geistiges besser vermitteln als abendländi‐
scher Sprachgebrauch, ‒ und schließlich auch:
um unvergeßbarem Erleben sein origi
nales Kolorit zu belassen...
.Auch der höchstentfaltete der wirkenden
Brüder ist ein Mensch und seines Menschen‐
tums von Herzen froh, ‒ nicht etwa frei
von menschlicher Neigung, ‒ kein dem
Irdischen abgestorbener Asket, ‒ ‒
auch wenn so manche Fanatiker der Ver
neinung alles Erdenhaften dies keineswegs
verstehen können, da sie des Bannes nicht
mehr ledig werden, der sie an ihre, aus der
Unter-Welt erhaltenen Glaubens-Lehren
bindet...
.Welcher liebend-fühlende Mensch aber
würde nicht Neigung zeigen, von den Din
gen seiner Liebe in jenen Formen gerne
51 Das Buch vom Lebendigen Gott
zu reden, in denen ihm vor Zeiten gütige Leh‐
rer einst zum erstenmale davon sprachen!?
.Leicht könnten jedoch die gleichen Dinge
auch in völlig anderer lokaler Redeweise
vorgebracht werden, ohne irgendwie an Wahr
heit zu verlieren.
.Gefährlich ist nurÜbersetzung
durch Unberufene. ‒
.Es ist viel schwerer als sich mancher träu‐
men lassen mag, etwa einen, in christlicher
Gewandung einherschreitenden Satz eines
wirklichen „Eingeweihten” unter einen in
dischen Turban zu bringen, oder in der
Weise Chinas Gedachtes in europäische
Denkform umzugießen! ‒ ‒
.Vielfach aber müssen Begriffe aus den An‐
schauungswelten der verschiedensten Völ
ker sich vereinen, soll eine geistige Wahr‐
heit, die abendländischem Denken ferne
52 Das Buch vom Lebendigen Gott
liegt, dennoch dem Abendländer erfaßbar
werden. ‒
.Möge sich kein Suchender je durch solche
freie Verwendung der Darstellungsmit
tel etwa verleiten lassen, zu glauben, es sei
der Verkündung Absicht, jene religiösen
oder philosophischen Lehren zu propa‐
gieren, aus deren Begriffsschatz aufgenom‐
men wurde, was sich brauchbar zeigte, zur
Förderung der Erkenntnis urewiger
Wirklichkeit! ‒ ‒
.Es ist bekannt, daß menschliche Gemein‐
schaften, die ihren Mitgliedern alltagsferne
Ziele zeigen, den Gebrauch haben, innerhalb
ihres Kreises, den Alltagsnamen der Zuge‐
hörigen aufzugeben und ihnen „neue”, an
dere Namen zu verleihen.
.Woher dieser Gebrauch ursprünglich
stammt, und daß er hinaufreicht bis in Ur
zeittage, dürfte aus dem Nachfolgenden deut‐
lich werden...
53 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Auch sei hier nicht ohne Grund erinnert
an jene Worte der Genesis:
.„Und es soll dein Name nicht fürder
mehr Abram sein, sondern Abraham sollst
du heißen...”
.Desgleichen:
.„Du sollst nicht mehr Jakob heißen, son‐
dern Jisroel soll dein Name sein...
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Der Name” eines individuellen geistigen
Wesens ist etwas durchaus Anderes als die
von äußeren Umständen abgeleitete Bezeich‐
nung, die Volksgebrauch und Landessprache
dem Erdenmenschen zuteilt. ‒
.Auch der Erdenmensch ist eine geistige
Individualität, aber er kennt, mit sehr we‐
nigen Ausnahmen, die zu jeder Zeit anzutref‐
fen waren, „seinen Namen” noch nicht. ‒
54 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Erst wenn er seiner substantiellen
Geistigkeit bewußt geworden ist, weiß
er auch „seinen Namen”.
.So ist der „Name” eines wirklichen, im
Geiste „Eingeweihten”, der früher oft sehr
geheim gehalten wurde, da man fürchtete,
ihn zu „entweihen”, wenn er in aller Munde
käme, denn auch wahrlich keine willkür
liche Benennung, wie der „bürgerliche”,
sogenannte Name, der einem Wohnsitz der
Ahnen, einem Beruf oder einer Eigenschaft
ferner Vorfahren, und zuletzt noch der Will‐
kür der Eltern seine Formung verdankt! ‒
.Er wird dem „aufgenommenen” Sohne
und Bruder zuteil durch die „Ältesten” der
Brüder, und bezeichnet in der von den „Brü
dern auf Erden” gebrauchten „Buchsta
ben-Sprache” jene Kräfte, die im geistigen
Sein des Bruders zur Auswirkung kommen...
.Seine „tragende” Kraft aber ruht in
gewissen „Buchstaben”, so daß sich der
55 Das Buch vom Lebendigen Gott
Wirkende auch mit anderen Worten „nen
nen” könnte, sobald nur diese „Buchsta
ben”, die seine „Kosmische Zahl”, ‒ sei‐
nen urgeistig-ewig vorhandenen, sub
stantiell-geistigenNamen” bilden, darin
enthalten wären...
.Es ist also immer noch eine, wenn auch
an sich schon geheiligte Hülle um den „Na
mender ewigen Geistgeltung gebreitet,
den keineraussprechen” kann, ‒ auch
wenn er die tragenden „Buchstaben” kennt,
‒ außer dem Einen, der selber dieser
„Name” ist... ‒
.In seinem „Namen” ist der Bruder ein
Wortim Urwort: ‒ als des Urwortes
Selbstaussprache in einer individuel
len, ihrer selbst bewußten, substantiel
len, geistigen Form...
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
56 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Von „wissenschaftlichen Forschungs
methoden” um Geistiges zu erforschen,
weiß man in der Vereinung der „Brüder auf
Erden” begreiflicherweise so wenig, wie bei
ihren geistigen „Vätern”, die nie aus dem
Urlicht „gefallen” sind.
.Die Weisheit des wirklichen Geistgeweih‐
ten besteht nicht in einer Ansammlung und
steten Vermehrung dessen, was er auf irdische
Verstandesweise „weiß”, sondern im Besitz
gewisser heiliger Kräfte, durch die er das
Wissensobjekt jederzeit in Wirklichkeit,
‒ „an sich”, ‒ erkennen kann.
.Sein Ansammlungswissen, in weltlicher
Weise gewonnen, ist durchaus unwesentlich
für ihn und nur in den seltensten Fällen
mit geistiger Weisheit vereinbar.
.Je mehr er dergleichen besaß, desto
schwerer wurde ihm voreinst, als er noch
„Schüler” war, das Überwinden der kau
salen Schwierigkeiten, das jeder berech‐
tigten „Einweihung” vorangehen muß...
57 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Man darf nicht nach „Gründen” fragen,
wenn man diese „Schulung” bestehen will,
die dem Berechtigten zuletzt die Pforte öff‐
net, die keine irdische Gelehrsamkeit ihm
jemals öffnen könnte. ‒ ‒
.Der wirkliche „Eingeweihte” verkündet
auch niemals ein Wissens- oder Glaubens‐
System”.
.Ihm liegt die Wirklichkeit der Dinge
in der geistigen Welt ausgebreitet vor Au
gen, und lehrend, redet er stets nur von die‐
ser Wirklichkeit, die kein System des
Denkens oder Glaubens je in sich ein‐
schließen könnte. ‒
.Solche „Systeme” sind, soweit sie auf
Dinge des geistigen Reiches übergreifen,
immer nur sekundäre Gebilde anderer
Gehirne, die sich der Bekundungen eines in
Anschauung und durch Selbstverwandlung
Wissenden bemächtigt haben.
58 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Angebliche „Erforscher höherer Wel
ten”, die mit „wissenschaftlicher” Auf‐
machung ihrer „Forschungsergebnisse
prunken, darf man beileibe nicht etwa als
geistig „Eingeweihte” werten!
.Alle derartigen „Forscher” im „Okkul
ten” sind nichts anderes als betrogene Skla‐
ven ihrer eigenen plastischen Phantasie,
‒ einer äußerst verhängnisvollen und ge‐
fährlichen Kraft im Menschen, die, wenn sie
zur Tätigkeit gewaltsam angeregt wird, ihr
armes Opfer alles gestaltet sehen läßt,
was es ihr selbst vorher in Gedanken, Wün‐
schen und Befürchtungen, ‒ oft unbewußt,
als Modell vorhielt. ‒
.Auf diese Art sind alle die monströsen
Wanderungen auf höheren Ebenen
und Darstellungen „höherer Welten” ent‐
standen, die so manchem „Geistesforscher
und „Geheimlehrer” unter seinen Anhän‐
gern den Ruf eines geheimnisvollen „Se
hers” verschafft haben, wobei noch im Ein‐
59 Das Buch vom Lebendigen Gott
zelnen zu untersuchen ist, was als bewußte
Zutat und Ergänzung sich herausstellt,
und meistens gar leicht erkennen läßt. ‒
.Da diese Gebilde der „plastischen Phan‐
tasie” durch seelische Ansteckung leicht
übertragbar sind, so glauben die Anhänger
und Schüler solcher „Propheten” und Sek‐
tengründer, sie hätten sich geistig selbst von
der Wahrheit der Offenbarungen ihres
„großen Lehrers” überzeugt, so bald es ihm
in der mysteriösen „Geheimschulung” ge‐
lang, seine eigenen Schöpfungen ins Be‐
wußtsein der Schüler zu übertragen, ‒
nicht viel anders, als wie jeder geschickte
Hypnotiseur sein Experimentierobjekt al
les sehen und erleben lassen kann, was
etwa erwünscht erscheint. ‒ ‒
.Eine spätere Rettung solcher Getäusch‐
ten ist nahezu unmöglich.
.Unzählige sind auf diese Weise zu
gutgläubigen Selbstbetrügern, Unzäh
60 Das Buch vom Lebendigen Gott
lige zu hoffnungslos Betrogenen ge
worden!
.Wenn ich von allen diesen Dingen hier,
wo von den Möglichkeiten übersinn
licher Erfahrung die Rede ist, klar und
deutlich spreche, so geschieht es deshalb,
um jedem ehrlich Suchenden die Kriterien
zu sicherem Urteil zu bieten.
.Ich rede von Dingen, die keines Schleiers
bedürfen, und muß zugleich reden von
solchen Dingen, die entschleiert werden
müssen, im Interesse der die Wahrheit
als Wirklichkeit suchenden Seelen.
.Mögen meine Worte nicht vergeblich
gesprochen sein!
.Möge man doch begreifen lernen, daß
niemals einer der Menschen, die vollbe
wußt im substantiellen, reinen Geiste
leben, die Weisheit des Lichtes, die er
61 Das Buch vom Lebendigen Gott
seinen Mitmenschen darstellt, durchwis
senschaftlicheBegründungsversuche
entweihen kann. ‒
.Was der im Geiste „Eingeweihte” lehrt,
ist zur Prüfung durch Tat und Hingebung
bestimmt!
.Was er als Botschaft seinen „jüngeren”
Brüdern, den Seelen der mit und nach ihm
auf Erden lebenden Generationen, ‒ mögen
es Männer oder Frauen sein, ‒ zu geben
hat, soll nicht gedanklich zerspalten,
sondern seelisch nacherlebt werden, da‐
mit die zahllosen Suchenden ihren Weg zum
Geiste finden, ‒ ihren Weg zur Wirklich
keit!
62 Das Buch vom Lebendigen Gott
DER WEG
.Alle großen Dinge verlangen Mut und
Glauben! ‒
.Ehedenn du „am Kreuze” hingest, kannst
du nicht „auferstehen”! ‒ ‒
.Ehedenn du glauben wirst, kann dich
die „leuchtende Wolke” nicht durch das
„trockene” Meer geleiten!
.Du hast gar vieles in dir zu überwin
den, und mehr noch wirst du überwinden
lernen müssen, willst du auf deinem Wege
vorwärts schreiten...
.Das Meer wird drohen, dich zu verschlin‐
gen, und die Wüste wird dir keine Nahrung
geben, ‒ dennoch darfst du nicht einen
einzigen Augenblick in Zagen und Zwei
fel stehen bleiben, sobald du diesen Weg
65 Das Buch vom Lebendigen Gott
zu dir selbst und deinem Gott in dir ein‐
mal betreten haben wirst. ‒
.Wie schwer das ist, wirst du erst sehen,
wenn du auf diesem Wege bist!
.Aber fürchte dich nicht!
.Du bist auf diesem Wege nicht allein...
.Alle jene geleiten dich, die vor dir die‐
sen Weg beschritten haben!
.Auch sie mußten durch alle Gefahren
voreinst hindurch!
.Nicht einem von ihnen wurde der Weg
etwa leichter als dir!
.Nun aber sind sie eingegangen zum „ge‐
lobten Lande”...
.Nun haben sie der Mühen Ziel erreicht,
und von „heiligen Bergen” her senden sie dir
Hilfe und Kraft. ‒ ‒ ‒
.Von jenen, die im höchsten Lichte ihres
Gottes sonnenhaft erstrahlen, die götter
66 Das Buch vom Lebendigen Gott
gleich, als eine Einheit, eine Sonne aller
Sonnen, allen Sonnen, allen Welten, leuch‐
ten ‒ ‒ bis herab zu denen, die auf dieser
Erde geistgestaltet leben, und endlich de‐
nen, die hier noch das Kleid des Erden
tieres tragen, durchfließt ein Strom des
substantiellen Geisteslichtes alle Weiten
und einigt die von ihm Erfüllten zu erhaben‐
ster Gemeinsamkeit. ‒ ‒
.Auf der dir nächsten, tiefsten Sprosse
dieser „Himmelsleiter” aber stehen jene Hel
fenden, die dir die Hand zur Hilfe bieten
können, wenn du ihre Hilfe willst...
.Sie lassen keinen je allein, der durch die
Nacht des Grauens sich den Weg zu bahnen
strebt, nach jenem friedvollen, stillen, hohen
Tempel, darin sein Gott sich in ihm selbst
aus Licht zu Licht ‒ „gebären
kann. ‒
.Sie senden aber ihre Hilfe nicht etwa
von außen her, denn tief in deinem In
nersten sind sie mit dir verbunden, sobald
67 Das Buch vom Lebendigen Gott
du mutvoll deinen Weg beschreitest, ‒ den
gleichen Weg, den jeder, der zu seinem Gott
fand, einst durchwandern mußte, und den auch
sie, die dir nun helfen wollen, voreinst gehen
mußten, obwohl ihr Geistiges schon durch
Jahrtausende hindurch bereitet worden war
zu klarster geistiger Erkenntnisfähigkeit. ‒
.Wer nicht aus diesen einer ist, kann
dir nicht helfen, auch wenn er Wunder über
Wunder wirken könnte...
.Es werden viele falsche Lehrer deine
Straße kreuzen, ‒ „Lehrer”, die selbst sehr
der Belehrung bedürften, ‒ und viele
stolze Sprecher werden dir mit ihrem „Wis
sen” prahlen.
.Du wirst gar manchem selbstgerechten
Heiligen” begegnen, der sich in Eitelkeit
verzehrt, und es für große Tat hält, andere
zu seiner „Heiligkeit” und angemaßten
„Würde” zu verführen.
68 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Es werden dich die wunderlichsten „Hie
rophanten” schrecken, die jeden, der sich
ihnen naht, zu blenden suchen durch die krau‐
sen, glitzernden und unheimlichen Zeichen,
die sie selbst in wirrem Wahn, mit falschem
Gold, auf ihre „Zaubermäntel” hefteten...
.Wenn du der Vorsicht einmal nur ent‐
raten wirst, kannst du auch allzuleicht in
mancherlei verborgene Garne laufen, und
selten nur kommt einer, der sich fangen ließ,
dann wieder heil aus solchen Vogelsteller‐
schlingen...
.Nur stete Achtsamkeit kann dich vor
der Gefahr bewahren!
.Sei auf der Hut vor allen denen, die ihre
vorgebliche „Gottesweisheit” wie das Wis
sen um die Dinge dieser Erde lehrbar und
erlangbar glauben!
.Sei auf der Hut vor allen, die mit „Wun
derkräften” deinen Sinn betören wollen!
69 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Es gibt noch vieles, auch in dieser schein‐
bar „aufgeklärten” Zeit, was dir sehr „wun
dersam” erscheinen kann, und wahrlich sind
im Menschen wahre Wunderkräfte tief ver‐
borgen, doch niemals kann der Geist der
Ewigkeit sich selber so zur Frage wer
den, daß er sich durchWunderzu
beweisensuchen würde...
.Zeigen wirklich sich an einem Menschen
wundersame Kräfte, so ist dies nur Beweis
dafür, daß diese Kräfte existieren, ‒ nie
mals aber ein „Beweis”, daß dieser Mensch
im Geistigen „bewußt zu atmen” weiß, und
von der Wahrheit, die in Wirklichkeit
gegründet ist, gewisses Zeugnis bringen
kann! ‒ ‒
.Solche Bezeugung läßt sich nur erprüfen
durch das „Wunderder Erkenntnis, das
sie in der Seele wirkt, und nichts darf dir
als Wahrheit gelten, was nicht in deinem
Allerinnersten Bestätigung erfährt, so‐
bald du die Voraussetzung erfüllt hast,
70 Das Buch vom Lebendigen Gott
die dich zur Erlangung der Bestätigung be
rechtigt. ‒ ‒
.te dich auch vor jener Torheit, die da
glaubt, durch die Besonderheit der Lei
besnahrung oder irgend eine Fakirpraxis
sei es möglich, sich in „höhere Geistigkeit”
hinaufzuessen und hineinzuatmen!
.Die Leuchtenden des Lichtes, das die
Welten durchleuchtet, werden wahrlich
niemals dir zu solchen Mitteln raten!
.Sie werden auch niemals von dir fordern,
daß du dich sonderst von deinen Neben
menschen um dich geheimen, sinnbetö
renden Zeremonien oder mysteriösen
Gebräuchen ‒ hinzugeben!
.Sie werden dir niemals „geheime Grade”,
seltsame Titel oder „Würden” verleihen,
durch die nur Eitelkeit genährt und ein
lächerlicher Dünkel in dir erzeugt werden
könnte....
71 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Nur was in dir Wirklichkeit wurde, da
du es selbst dir er-wirktest, hat vor ihren
Augen Geltung und bestimmt ihnen deine
Stufe”! ‒
.Du wirst sie auch nicht mit Schauspieler‐
gesten auf Rednertribünen finden, und
nicht auf den Märkten vor vielem Volke. ‒
.Sie werden dir vielmehr ihre Hilfe nur
in Worten geben, die du in der Stille bei
dir erwägen kannst, ‒ unbeirrt durch ver‐
fängliche Rednerkünste...
.Sie werden dir helfen in innerem Wirken,
und werden sich niemals zu zeigen suchen!
.Es ist nicht nötig, daß du sie erkennst,
wenn du ihnen etwa begegnest!
.Es ist nicht nötig, daß du sie im Erden
kleide findest!
.Sie finden dich und wissen dir zu helfen,
auch wenn du nie die Helfer ahnen magst!
72 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Sie wirken wahrlich mit anderen Mitteln
als jene eitle Toren, die ihre Anhängerschar
mit geheimnisvoller Geste und hohlen, tönen‐
den Rednermätzchen zu ködern trachten. ‒
.Sie werden auch niemals einen Tribut
für ihre Belehrung und Führung fordern oder
erwarten, und würden eher mit dir den
letzten Heller teilen, als daß sie für
ihre Hilfe von dir einen halben Heller
nehmen würden.
.Was sie an Geistigem zu geben haben,
ist des Geistes Gut, und keiner derer, die
es geben können, würde jemals Erden
werte dafür tauschen wollen...
.Nur „Arbeit”, die des Leibes irdische
Erhaltung vorbedingt, hat Anrecht, erden‐
haften Gegenwert zu fordern.
.Wer Augen hat, zu sehen, und Ohren, zu
hören, der schütze sich selbst vor Gauklern
und Usurpatoren!
73 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Leicht wird er sie erkennen!
.Die Leuchtenden des Urlichts aber
sind schwerer zu finden.
.Du wirst sie kaum entdecken unter an‐
deren Menschen in dieser Erde Kleid, und
nichts Absonderliches wird sie dir ver‐
raten, denn sie lieben die Stille und schätzen
die Verborgenheit...
.Sind sie gezwungen, in der lauten Welt
zu leben, so werden sie gewiß von allen an‐
deren Redlichen, die da ihr Erdenwerk be‐
treiben, nicht zu unterscheiden sein!
.Wohl dem, der ihnen vertraut! ‒ ‒
.Doch nun, o Suchender, wollen wir zu
sammen in die Stille gehen, und ich will dir
den Anfang des „Weges” zeigen!
.Sammle dich in dir selbst und höre mir
zu, nachdem du nun gewiß bereitet bist, das
74 Das Buch vom Lebendigen Gott
was ich weiterhin dir jetzt zu sagen haben
werde wachen Sinnes zu verstehen!
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Zuerst, o Suchender, wirst du vieles ver
gessen müssen! ‒ ‒
.Man gab dir eine falsche Vorstellung
von „Gott”, und so erstickte man in dir mit
eitler Lehre jenen Keim, aus dem in deiner
tiefsten Seele heiligen Gewässern sich die
Lotosblüte” einst entfalten sollte, in der
das Licht, das ewig dich erleuchten soll,
geboren” werden kann...
.Der Geist, der über den Wassern
schwebte” erfüllt die unendlichen Räume,
aber du kannst ihm nicht anders nahen, als
nur ‒ in dir! ‒ ‒ ‒
.Nur wenn er in dir, ‒ als dein Gott,
‒ aus Licht zu Lichte sich gestaltet, wirst
du von seinem stillen Walten Kunde geben
können. ‒
75 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Die seine Unendlichkeit ergründen
wollen, irren sehr...
.Sie glauben, Dem, den alle Weltenräume
nicht umfassen können, in Vermessenheit
zu nahen, und ahnen nicht, daß sie ein Zerr
bild schufen, das sie nun beherrscht. ‒
.Wir aber wollen nun in dich aufs Neue
den Keim jener ewigen „Lotosblume” ver‐
senken...
.Vielleicht ‒ wird sie aus deinen Kräften
nunmehr Nahrung finden! ‒
.Wenn ihre Blüte dann entfaltet ist, wird
sich der Geist, der aus sich selber sich er
zeugend, aus sich selber lebt, in dich her‐
niedersenken und als dein Gott in dir „ge‐
boren” werden, ‒ ‒ als dein in dir leben
diger Gott! ‒ ‒ ‒
.Nicht eher weißt du vonGott”!
76 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Glaube jenen nicht, die dir von dem
Gott ihrer Träume berichten: ‒ von einem
Gott, der sich in schwüler Ekstase finden
läßt! ‒
.Was so gefunden werden kann, ist nur
eineFata-morgana” der inneren Welt!
.Du kennst noch den Reichtum nicht,
den deiner Seele Weiten in sich fassen! ‒ ‒
.Hier gibt es „Kräfte” und „Mächte”,
denen du Anbetung darbringen würdest,
gleich dem Propheten vor dem brennenden
Busch, wenn ich sie dir sichtbarlich zeigen
könnte. ‒ ‒ ‒
.Deine Seele ist ein unermeßlicher
Ozean, und noch keiner hat seine Tiefen,
keiner die Wunder des Meeres der Seelen
kräfte ergründet! ‒ ‒
.Du denkst an deine Seele wie an eine
lichte Hülle, und glaubst allein dich selbst
in ihr zu finden...
77 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Doch deine Seele ist wie ein Meer aus
Myriaden mit latenter Macht erfüllten
Meerestropfen, ‒ oder wie eine leben
dige Wolke, gebildet aus Myriaden kraft
erfüllter Wesen, ‒ und du sollst aller die‐
ser Wesen Herr und Meister werden. ‒ ‒
.Sobald sie in dir nicht ihren sicheren
Herrscher erkennen, wirst du, betäubt von
ihrer, dich beängstigenden Kraft, zu ihrem
Sklaven werden. ‒
.Sie müssen dir dienen, wenn du sie be
meistert hast, ‒ aber sie werden dich durch
die seltsamsten Gaukelspiele stets am Nar
renseil führen, wenn du dich in falscher
Demut vor ihnen beugst.
.Sie brauchen einen starken Willen, um
sich unter ihm zu einen...
.Bevor du sie nicht in einem Willen ge
einigt hast, wirst du in deiner Seele nie die
Ruhe finden, die allein das Erblühen der
heiligen „Lotosblume” bewirken kann. ‒ ‒
78 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Nicht eher auch wirst du in dir, durch
deiner Seele Kräfte, Kunde erlangen von je‐
nem stillen Geister-Reiche, das nur durch
deiner Seele willenseins geeinte Kräfte dir
erkennbar, fühlbar, ‒ ja zuweilen selbst
erschaubar und erhörbar werden kann, ‒
weil es in dir, wie allerorten, durch die
gleichen Kräfte lebt...
.Nicht eher auch wirst du von dem, der
dich aus dem Geiste leitet, ein sicheres
Zeichen erhalten ‒ nicht eher die hohen
geistigen Lenker, des Urlichts Leuchtende,
in dir erfühlen..
.Darum strebe, o Suchender, vor allen
Dingen danach, in dir einen festen, klaren
Willen zu dir selbst zu gründen!
.Du mußt dich selbst bejahen, wenn du
im Geiste Bejahung durch den Geist er‐
fahren willst!
.Du findest dich, und in dir deinen Gott,
allein in deinem „Ich”! ‒ ‒ ‒
79 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Trachte mit heiterer Freude und in
stiller Gelassenheit danach, dich in dir
selbst voll Ruhe zu behaupten, und wende
dein Auge ab von allen inneren Bildern, die
dein aufgereizter, noch nicht selbstgeeinter
Sinn dir zeigen möchte!
.Du mußt in Freude und voll Vertrauen
erst völlig zu dir selber kommen!
.Bevor du in dir selber dich gerundet und
von allen Seiten abgeschlossen hast, ‒ wie
ein Meer das sich selbst begrenzt, ‒ wie eine
Wolke, die sich selbst zu ballen weiß, ‒
wirst du vergeblich deine Seele zu besitzen
suchen, denn deiner Seele Kräfte geben sich
nur dem zu eigen, der ihrer Ehrfurcht wahr‐
haft würdig ist...
.Glaube aber nicht, daß du dieses Ziel je‐
mals erreichen könntest, wenn du stets tatlos
in äußerer Ruhe verharrst!
.Du mußt als Mensch der Außenwelt, in
die du nun einmal geboren bist, zu wirken
80 Das Buch vom Lebendigen Gott
trachten Tag für Tag, wie alle äußere Natur
stets wirkt und immer neue Formen bildet,
wenn du den Willen also in dir stählen
lernen willst, daß deiner Seele Kräfte ihm
gehorchen können! ‒ ‒
.Kein Ding der Außenwelt ist so gering,
daß es dir nicht zum Lehrer werden könnte!
.Aus jeglichem Erleben kannst du Lehre
ziehen, und keine Tätigkeit ist so verächtlich,
daß du nicht aus ihr zu lernen hättest! ‒
.Vor allem aber mußt du deine flüchtigen
Gedanken bannen lernen, und sie vermögen,
sich auf einen Punkt jeweils zu sammeln.
‒ ‒
.Nicht die Einöde der Wüste, und nicht
das Leben unter den wilden Tieren der
Dschungel sind deinem Vorhaben etwa gün‐
stiger, als das Getriebe einer volkreichen
Stadt, in der du tätig deinem Gewerbe
obliegst! ‒ ‒ ‒
81 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wenn du auch im lautesten Lärm noch
bei dir selber bleiben lerntest, wenn du in
absoluter Sicherheit deinen Gedanken und
deinem Willen in dir gebieten kannst, wenn
deine Wünsche nur kommen und gehen, wie
du selbst sie kommen und gehen heißt, ‒
dann erst beginne den ersten Versuch, dei
ner Seele Kräfte in dir zu einen! ‒ ‒
.Du wirst auch dann noch mancherlei
Widerstreben in dir finden...
.Lange noch wirst du deinen nun gefestig‐
ten Willen dennoch vergeblich gebrauchen,
um alle die widerstrebenden Kräfte deiner
Seele unter ihn zu beugen. ‒
.Jede einzelne Seelenkraft wird deinen
Willen nur für sich selbst besitzen wollen,
und keine wird sich willig deinem Willen
als Besitztum geben...
.Du wirst dies verstehen, wenn du dir klar
zu machen weißt, daß jede deiner Seelen
82 Das Buch vom Lebendigen Gott
kräfte, ‒ obwohl du sie alle als in dir ver‐
wobene „Eigen-schaften” betrachtest, ‒
ein selbständiges Seelenwesen ist, begabt
mit eigenem Willen und dem Drang, nur
sich selbst zur Darstellung zu bringen, und
sei es auch auf Kosten aller anderen Seelen‐
kräfte. ‒ ‒ ‒
.Du darfst nur niemals mutlos werden bei
deinem oftmals noch vergeblichen Ringen
um die Oberherrschaft deines eigenen Wil‐
lens über die vielen Willen, die in deiner
Seele nur sich selber wollen! ‒
.Niemals darfst du dir selbst mißtrauen! ‒
.Niemals darfst du die Freude deines
Herzens und deine stille Gelassenheit
verlieren! ‒ ‒
.All dein Ringen ist nur eine stete Probe
deiner Geduld und deiner bereits erworbe‐
nen Kraft im eigenen Willen...
83 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wisse aber, daß du in solcher Art am Ende
sicher einst zum Sieger werden wirst!
.Ein Tag wird erscheinen, an dem du wahr‐
lich die hohe Freude des Siegers glück‐
erfüllt in dir erleben wirst!
.Dann ist der Keim der „Lotosblume” auf
gegangen, und in den heiligen Tempeltei‐
chen, die kein irdisches Auge je erblickt,
wird das Geistesauge deines unsichtbaren
Führers, ‒ die Alten nannten ihn: deinen
dich schützenden „Engel”, ‒ eine Knospe
über der unbewegten, geheimnisreichen Was‐
serfläche erschauen...
.Er wird seine Gefährten rufen in heiliger
Freude, und eine Schar erwählter Wächter
wird von diesem Tage an die heiligen Wasser
behüten.
.Ein Wunder ist geschehen!
.Ein Wunder, das ein Erdenmensch voll‐
brachte, ‒ denn leichter ist es, einen wüten‐
84 Das Buch vom Lebendigen Gott
den Elephanten an einem dünnen Hanfseil
durch das Gedränge des Marktes zu führen,
als die vielen Willen der Seelen-Kräfte,
die eines Menschen „Seelebilden, unter
den einen Willen dieses Menschen zu ei‐
nen! ‒ ‒ ‒
.Nun aber muß das gedämpfte Licht des
Tages mit seinen weichen Strahlen die Knospe
umfluten, damit sie sich einst zu voller, pran‐
gender Pracht der Blüte entfalten kann.
.Hohe, hundertjährige Bäume umgeben den
geheimnisreichen Tempelteich und schützen
die zarte Knospe vor den brennenden Pfeilen
der Sonne, die vorerst noch das kaum erstan‐
dene Gebilde alsbald versengen und vernich‐
ten müßten...
.Hohe Tempelmauern halten den Glutwind
aus der Wüste ab...
.Nun, o Suchender, beginnt für dich eine
neue Tätigkeit!
85 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Doch dieses Tun will nun wirklich auch
äußere Ruhe und stillste Versenkung.
.Du wirst aber das, was du nun tun sollst,
nach der Arbeit deines Tagewerks verrichten
können, vielleicht ihm auch vorher die stil
len Morgenstunden widmen...
.Jetzt ist für dich die Zeit gekommen, da
du leise und zart nach innen fragen und
alsdann nach innen hören lernen sollst.
.Du kannst nicht still genug dabei
sein!
.Was sich in dir verbirgt und bald ent
hüllen soll, wird nicht bei dem lauten Re
den der Gedanken gefunden. ‒ ‒
.Es ist in deines Herzens Mitte, doch du
vernimmst noch nicht sein Wort, denn seine
Stimme ist sanft wie ferner Vogelruf...
.Scheuche sein Wort nicht von dir!
86 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Achte auf den leisesten Laut!
.Du kannst sein Wort gar leicht in dir
überhören, wenn du nicht Stille in dir zu
erhalten weißt! ‒
.Es antwortet dir im Anfang auf deine
stillen Fragen so leise, daß selbst der zarteste
Windhauch seine Stimme in dir verweht. ‒ ‒
.Eines Tages aber wirst du dann doch seine
Stimme hören und von jeder anderen in‐
neren Stimme unterscheiden lernen.
.Nicht so, als ob von außen gesprochen
würde, wirst du die Stimme vernehmen!
.Auch nicht mit Worten deiner Lan
dessprache wird sie zu dir sprechen, und
nicht in irgend einer anderen Men
schensprache dieser Erde! ‒ ‒
.Und doch wird das, was die Stimme dir
zu sagen hat, dir weit verständlicher sein
als alles, was du je, von Kindheit an, durch
87 Das Buch vom Lebendigen Gott
Menschenmund, in Menschensprache,
hörtest! ‒ ‒ ‒
.Nun wirst du dieser Stimme folgen
müssen...
.All dein Weiterschreiten auf dem Pfade
wird allein durch deine Treue vorbereitet.
.Allmählich wirst du erkennen lernen,
daß jetzt dein Wille dir nicht mehr nur nach
der Weisung deiner erdenhaften Ein
sicht dient, sondern daß du ihn, ganz un‐
vermerkt, bereits nach hoher Geistes
Unterweisung, ‒ nach dem Willen jener
„Stimme”, ‒ umzulenken weißt...
.Tiefer und tiefer wirst du in das Ge‐
heimnis deiner Seele tauchen.
.Je mehr du erkennen wirst, desto mehr
wirst du noch im Verborgenen ahnen. ‒ ‒
.Dankbar und sorgsam verwahre auch
das kleinste Erlebnis, das du im Seelischen
88 Das Buch vom Lebendigen Gott
erfährst, denn: ‒ deine Dankbarkeit für
Weniges wird dir am ehesten des Erlebens
Fülle bringen! ‒ ‒ ‒
.Du wirst zuletzt ein Reich der inneren
Wunder schauen, davon dir heute keine
Schilderung auch nur ein Ahnen bringen
könnte!
.Es werden Dinge in dein Leben treten, die
heute dir „Unmöglichkeiten” heißen, ‒
und heute wahrlich noch mit Recht! ‒ ‒
.Als größtes aller Wunder aber wird es
dir erscheinen, daß alles dieses dann in
deine Macht gegeben ist, ‒ daß du nicht
in Ungewißheit warten mußt auf Erfüllung
deines Sehnens, da es sich stets alsdann mit
aller Sicherheit durch seine eigene
Kraft erfüllt...
.Bist du bis hierher treu als Befolger
der inneren Räte befunden, dann wird die
„Lotosblüte” im geistigen Tempelteich sich
89 Das Buch vom Lebendigen Gott
allmählich mehr und mehr erschlossen
haben.
.Du wirst dann gar bald schon, oder doch
in nicht mehr ferner Zeit, jenen Tag erleben,
an dem die völlig eröffnete Blüte auf den
Wassern leuchten wird, durchglüht von
einem Lichte, das gewiß nicht von der Sonne
dieser Erde kommt...
.Siehe, der Tag ist erschienen, o Suchen‐
der, an dem dein Gott sich als dein Gott
nun in dir selber offenbart, ‒ in deinem
Ich”! ‒ ‒ ‒ ‒
.Er wird in dir, und du wirst in ihm
„geboren”...
.Geheimnis bleibt, auch für den Schau
enden im Geiste, was sich geistig solcherart
vollzieht. ‒ ‒
.Noch aber wirst du gewiß des inneren
Führers nicht entraten können, aber auf
90 Das Buch vom Lebendigen Gott
neue Weise wirst du nun mit ihm vereinigt
sein...
.Schon wenn die Knospe der „Lotos‐
blüte” erschienen ist, kann es sich fügen,
daß du den geistigen Lenker vor dir im
magischen Bilde erschauen magst, falls du
die Eignung in dir trägst zu solchem
Schauen.
.Er ist es nicht selbst!
.Es sind gewisse „magischeKräfte
deiner Seele, die er durch seinen Willen
zu seinem Bilde formt.
.Sei dankbar, wenn dein „Berater” solcher‐
art sichtbar sich dir zeigen kann, ‒ wenn er
aus seinem Bilde dich belehrt, so daß du ihn
zu hören glaubst!
.Doch sorge dich nicht, wenn du auch
niemals in diesem Erdenleben sein Bild als
äußere Erscheinung erblickst!
91 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Nur in seltenen Fällen ist es möglich
für ihn, sich dir im Bilde darzustellen, und
er wird nur dann solche Möglichkeit be
nutzen, wenn es zu deinem Heil gereicht
und dich nicht in Versuchung bringen
kann, deiner SeelemagischeKräfte
sodann um anderer „Bilder” willen zu
mißbrauchen...
.Besser, du siehst das Bild des Führers
niemals vor dir, als daß sein Gebrauch
deiner Seelenkräfte Ursache würde, sie will
fährig zu machen, auch für täuschende
Gewalten! ‒ ‒
.Du wirst seine Leitung um so sicherer in
deinem Innersten erfühlen, und was du
nicht im Äußeren erschauen kannst, wird
sich zutiefst in dir ‒ be-greifbar dir zu
eigen geben...
.Nun aber, ‒ nachdem dein Gott in
dirgeboren” wurde, und du in ihm, ‒
92 Das Buch vom Lebendigen Gott
wird sich dein geistiger Berater, in Verei‐
nigung mit deines Gottes Stimme und mit
dir, nur in dem höchsten Leben seines
Geistes offenbaren.
.Du wirst ihn völlig identisch mit dir
glauben, solange er bei dir ist...
.Er wird dich nicht mehr lehrend
führen, sondern sich selbst dir eröffnen,
und du wirst selbst aus seinem Schatze inne‐
ren Lebens nehmen, was dir noch fehlt. ‒ ‒
.Über dem allen aber wird die Sonne
göttlicher Freude leuchten, und alles
Ringen um Licht und Erleuchtung, wie es
einst dich verzehrte, bevor du auf dem Wege
warst, wird dir nunmehr wie einstig erlittene
„Qual der Hölle” erscheinen. ‒
.Du siehst vor dir eine Ewigkeit, deren
tiefste Tiefen immer Tieferes erahnen
lassen, und weißt, daß du, mit deinem
Gott vereinigt, durch die tiefsten ihrer
Wunder ewig weiterschreiten wirst.
93 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wenn du dich hier in dieser Außen
welt gewahrst, in Leid und Erdenfreude,
wirst du nach wie vor nur einen Erden
menschen finden, ‒ und dennoch wird dein
Geist in deinem Gott hoch über alles Erden‐
menschliche hinauf erhoben sein, denn
deine Seele ist ein „Reich” der Ewigkeit
geworden: ‒ ein Himmel in den Him
meln! ‒ ‒ ‒
.Dies, o Suchender, ist des „Weges” Lauf,
‒ des Weges, den du beschreiten und durch‐
wandern mußt, willst du zu deinem Gott
gelangen!
.Der „Weg” ist in dir selbst, ‒ in deinem
eigenen „Ich”!
.Dies ist der Weg, der dich allein zu deinem
höchsten Ziele führt: ‒ zum „Erwachen
in der Geisteswelt!
.Bist du hier nicht bereits in ihr „er
wacht”, so wirst du „drüben”, nach dem
94 Das Buch vom Lebendigen Gott
Ende dieses Erdenlebens, lange „weiter
schlafen” bis man dich erwecken kann, ‒
aus Träumen, die du selber dir geschaffen
hast und die dich durch Aeonen dann in
ihrem Banne halten können. ‒ ‒ ‒
.Nun höre, was dir noch zu raten ist!
.Vom Tage an, der dich entschlossen findet,
diesen „Weg” zu wandern, wirst du dir einen
starken Stab zur Reise schneiden müssen.
.Du findest dann „das rechte Holz”, wenn
du die Kraft des Wortes, wie sie sich in
jeder Menschensprache offenbart, erfühlend
zu entdecken weißt! ‒
.Wähle dir Worte, die zu deinem Her
zen sprechen, ‒ Worte von denen du „er
faßt”, „erhoben” und „durchdrungen
wirst!
.Schaffe dir eine kleine Zeit in jedem
Tage, und, wenn es sein kann, schaffe sie dir
95 Das Buch vom Lebendigen Gott
zur immer gleichen Stunde, ‒ eine Zeit,
in der du dich dem Geiste dieser Worte in
Betrachtung zu vereinen suchen kannst,
ohne durch äußere Pflichten dabei gestört
zu werden.
.Behalte ein Wort, das dich „erfaßte
dann für lange Zeit zu deiner „stillen Stunde”
als eine Übungsaufgabe für dein Denken,
gleichwie ein Flötenspieler stets die gleiche
Weise immer wieder „übt”, bis er der Töne
höchste Reinheit dafür fand. ‒ ‒
.Du wirst in diesem Buche viele Worte
finden, die dir zu solcher „Übung” deines
Denkens taugen können.
.Andere gab ich an anderen Orten.
.Doch mußt du nicht etwa an meine Worte
dich verhaften!
.Der Menschheit „heilige Bücher” sind
der Worte voll, die dich „ergreifen” und
zu sich „erheben” können. ‒
96 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Dichter und Weise haben solche Worte
wahrlich in Fülle gegeben!
.Gefahr ist nur: daß du in solchen Worten
zugleich die falsche Lehre findest, die Un‐
verstand, oder allgemeines Überkommen, ge
wohnheitsmäßig ihnen unterlegt. ‒ ‒
.Darum rate ich dir, im Anfang doch
lieber Worte aus meinen Schriften dir
zu wählen, wenn du dich meiner Belehrung
nun vertrauen willst.
.Beginne damit, daß du, wie ich dir
schon sagte, zuerst imDenken” den Grund
solcher Worte zu ergründen suchst!
.Dann aber versuche an ihnen eine Weise
des Denkens zu finden, die „wortlos” ist!
.Ruhe nicht, bis du, in „wortelosem” Er‐
fassen, dir den tiefsten Sinn der gewählten
Worte ganz zu eigen weißt!
.Präge sie deinem Auge ein, gelöst von
anderen Worten, geschrieben in klarer
Schrift deiner eigenen Hand!
97 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Fühle die Worte deiner Wahl als ob es
deine eigenen Worte wären!
.Versuche in dir den Geisteszustand des‐
sen zu erzeugen, der diese Worte erstmals
niederschrieb!
.Suche dein inneres Ohr zu erwecken,
indem du der Worte Klang im Innersten
zu „hören” versuchst!
.Wenn du in allen diesen Formen des Er‐
fassens sichere Erfolge zu verzeichnen
hast, dann gehe weiter, ‒ aber ‒ erst
dann! ‒ auch wenn es gar lange währen
sollte, bis du soweit bist. ‒
.Ich warne dich davor, „schnellfer
tigweiterzuschreiten!
.Wohl mag es dir so scheinen, als wenn
du „in wenigen Stunden” dies alles errei‐
chen könntest...
98 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Vielleicht auch wirst du schon heute, da
du meine Weisung empfängst, bereits des
Glaubens sein, solcher Übung des Erfassens
keineswegs mehr zu bedürfen...
.Viele, die einst den Pfad betreten woll‐
ten, blieben am Anfang schon liegen, weil
sie also dachten! ‒ ‒
.Es wird hier mehr verlangt, als du
im ersten Augenblick wohl vermuten möch‐
test!
.Man muß nur oft vieles in ähnlichen
Worten sagen, was an sich sehr verschie
den ist. ‒
.Nicht was die Dichter „Sprachempfin
dung” nennen, wird hier von dir verlangt,
wenn auch ein Mensch, gewohnt der Sprache
Klang und Rhythmus zu empfinden und der
Worte Wert zu fühlen, schon auf halbem
Wege ist, die hier gestellte Aufgabe zu ver
stehen...
99 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Hast du aber alles, was hier verlangt
wird, wirklich erreicht, dann wird eine
neue, große Erweiterung deines Emp
findens, ein weitaus wacheres Erleben
deines Daseins dir die Sicherheit geben,
daß du geschützt vor jeder Selbsttäu
schung bist.
.Dann schreite weiter, ‒ du, der das
höchste aller menschlichen Ziele erstrebt!
.Nun mußt du jene Worte in dir selbst,
mit deinem ganzen Sein, zu fühlen
suchen!
.Nun müssen jene Worte in dir selbst le
bendig werden! ‒
.Nicht nur deine Seele soll vom „Geist”
der Worte nun durchdrungen sein, son‐
dern dein Erdenleib muß jetzt in jeder
Faser jene Worte fühlen lernen! ‒ ‒
.Die Worte müssen mit dir, ‒ mit deiner
Seele und deinem Leibe, ‒ zu einem Sein
verschmolzen werden! ‒
100 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Dein Erdenkörper muß zum Körper
der gewählten Worte werden, als ob
nichts anderes in ihm lebendig wäre. ‒ ‒
.Die Kräfte deiner Seele, bereits in dei
nem Willen straff geeint, müssen nun sich
auch den Worten, die du wähltest, einen,
und du mußt als Bewußtsein dieser Worte
dich empfinden! ‒ ‒ ‒
.Dann aber hast du Großes errungen auf
deinem Wege!
.Du wirst zum erstenmale nun erfahren,
was das „Leben” ist, das dich, wie alles
Lebende bewegt! ‒ ‒
.Es wird dir sein, als seiest du auf einer
neuen Erde, ‒ in einer neuen, nie ge
ahnten Welt...
.Du wirst erkennend innewerden, daß alles,
was die Menschen auf der Erde „Wach
sein” nennen, nichts anderes ist, als tiefer,
dumpfer Schlaf und wirrer Traum.
101 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Hier schon kann ein klares Erschauen
der geistigen Welt beginnen, wenn die von
Anbeginn in dich gelegten Kräfte solches
erlauben, und wenn du ein Mensch des
Schauens, nicht einer des begrifflichen
Erfassens bist. ‒
.Bist du jedoch, nach deiner Eigen-Art,
nur dann „im Bilde” wenn du das, was du
erkennen willst, „be-greifen” kannst, dann
wirst du kaum zum „Schauen”, wohl aber
zum be-greifbaren Erleben kommen...
.Zu einem neuen Menschen wirst du ge
wandelt sein, und ein Bewußtsein deiner
selbst wirst du errungen haben, das deinem
gegenwärtigen Bewußtsein kaum ver
gleichbar ist!
.Wie die strahlende Sonne des hellen
Mittags in ihrem Lichte einer kleinen Öl‐
Lampe Licht verschwinden läßt, so wird in
einem neuen Bewußtsein aufgehen und ver‐
102 Das Buch vom Lebendigen Gott
schwinden, was du noch heute dein „Be
wußtsein” nennst...
.Du wirst dann wissen, warum der Weise
vom „Leben”, als vom „Lichte” der Men‐
schen redet, und wirst der vielgedeuteten
Worte herrlichen Sinn verstehen:
.Im Anfang ist das Wort, und das Wort
ist bei Gott, und Gott ist das Wort...”
.„In ihm hat alles Leben, und sein Le
ben ist der Menschen Licht.”
.„Und das Licht leuchtet in der Finster‐
nis, und die Finsternis kann es nicht aus
löschen.” ‒ ‒ ‒
.Der diese Worte niederschrieb, der
wußte wohl was er sagte, und auch du wirst
es wissen, wenn du an diesem Punkte deines
Weges angelangt sein wirst...
.Doch, ‒ „das Himmelreich leidet Ge‐
walt, und nur die Gewalt brauchen, reißen
es an sich!” ‒
103 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Ohne Bezwingung deiner Ungeduld,
ohne ausdauernde Übung deiner Kräfte,
wirst du niemals Erfolg erwarten dürfen.
.Glaube aber nicht, daß ein wildes Er
zwingenwollen, oder daß krampfhafte
Anstrengung dich deinem Ziele näherbrin‐
gen könnte!
.Nicht so ist dieses Wort gemeint!
.Stets muß dich eine Stimmung voll hei
terer Gelassenheit und stiller Freude
umfangen, und alle deine Sorge muß darauf
gerichtet sein, mit unsagbarer Behutsamkeit
jenes zarte, innere Vernehmen zu errei‐
chen, von dem ich vordem sprach.
.Es kostet mehr „Gewalt”, dich so „im
Zaum” zu halten, als manche heroische
und weithin sichtbare Tat dich kosten
würde...
.Wenn du aber alles wohl erwogen hast,
was ich dir sagte, und fortan tun willst, was
104 Das Buch vom Lebendigen Gott
gefordert wird, dann kann ich dir die Sicher
heit geben, daß auch du dereinst zu jenen
gehören wirst, die das Geheimnis des
Himmelreichs” in sich erfahren dürfen.
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.So beginne denn deinen steilen Weg!
.Möge unermüdliche Ausdauer dich
bis ans Ende geleiten!
.Hohe Hilfe wird dir allezeit nahe
sein...
.Blicke nicht zurück auf das Leben voll
Leid und Freuden, Schuld und Verdiensten,
das hinter dir liegen mag!
.Wisse auch, daß es gleichen Wertes für
deine Aufgabe ist, ob alle Erdengelehr
samkeit dein eigen wurde, oder ob du
unter den Unwissenden der Geringste
bist! ‒ ‒
105 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Suche nicht dich abzusondern von den
Menschen, und glaube nicht, daß seltsame
Lebensart, der Art des Lebens deiner Zeit
und deines Landes fremd, dich etwa fördern
könne.
.Noch weniger kann dir die Art deiner
Nahrung nützen oder schaden auf deinem
Wege, wenn sie nur deinen Körper ge
sund und bei Kräften hält.
.Willst du das Fleisch der geschlach
teten Tiere meiden, dann meide es, und
willst du dem Weine entsagen, dann entsage
ihm, aber bilde dir nicht etwa ein, du seiest
nun dadurch ein „reinerer”, oder gar „höher‐
stehender” Mensch geworden! ‒ ‒
.Das Gleiche gilt von der sinnlichen
Liebe zwischen Mann und Weib. ‒
.Erniedrige dich nicht zum bloßen
Tiere, und halte deine gebändigten
Triebe stets in starker Hand, damit sie
106 Das Buch vom Lebendigen Gott
niemals gegen deinen Willen dich unterwer
fen können, aber beflecke nicht durch
Lästerung ein Mysterium, das du erst
rein” verstehen kannst, wenn du bereits
zu den Erwachten im Geiste gehörst! ‒
‒ ‒
.Nicht ohne tiefste Gründe ergründet zu
haben, sprachen die Priester ältester Kulte
die Symbole der Zeugung heilig, ‒ und
wahrlich: sie verehrten anderes darin, als
nur ein Bild der ewig zeugenden Natur...
.Enthaltung aber ist dir nur dort ge‐
boten, wo deiner Triebe unbezähmte Gier
zur Ursache des Unheils für dich selber
oder andere werden könnte. ‒ ‒
.Enthaltung ist nötig von allen Lastern,
da sie dein hohes Streben zum Geiste alsbald
behindern und zuletzt ersticken müßten.
.Vermeide alles, was dich oder andere
schädigen könnte!
107 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Vermeide auch jeden lieblosen Ge
danken!
.Liebe dich selbst! ‒ Denn, wenn du
dich selbst nicht lieben kannst, wirst du
deinem „Nächsten” wahrlich wenig Gutes
antun, wenn du ihn „liebst” ‒ wie dich
selbst. ‒ ‒
.Gehe selbst deinen eigenen Weg, aber
lasse auch jeden Anderen seinen eigenen
Weg durchwandern, ‒ auch wenn seine
Ziele ferne hinter dir liegen! ‒
.Du weißt nicht, wann eines Anderen
Stunde kommt, und du hast kein Recht,
ihn vor seiner Stunde im Schlafe zu stören...
.Erwecken” würdest du ihn doch nicht
können, denn keiner entrinnt dem
Schlafe, bevor seine Stunde kam. ‒
.Ist aber seine Stunde nahe, dann wird er
selbst dich um Belehrung bitten. ‒ ‒ ‒
.Dann erst darfst du sie ihm geben!
108 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Dann erst werden dir auch die Leuch
tenden des Urlichts mit ihrer Kraft zur
Seite stehen und deine Hilfe wirksam
unterstützen. ‒ ‒
.Du bist nicht berufen, aus dem Geiste
her zum Geiste zu führen, und die dazu
berufen sind, werden niemals andere
nötigen, sich ihrer Führung zu vertrauen!
‒ ‒ ‒
.Gehe du in heiterer Stille deinen
Weg zu dir selbst!
.Dein Weg zu dir selbst wird dich in
deinem Seelenreiche zu deinem geistigen
Berater führen, und er wird dich in dir
zu deinem höchsten Ziele leiten...
.Dein Weg zu dir selbst istdein
Weg zu Gott!
.Niemals kannst du zu Gott gelangen,
wenn du ihn nicht findest, wie er istin
dir selbst! ‒ ‒ ‒
109 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Nun aber will ich dir noch einige Worte
geben, die dich des geistigen Reiches Wirken
auf der Erde, und noch manches Verborgene
erkennen lassen werden, wenn du, guten
Willens, Geistiges erkennen willst.
.Ich will einige Kränze an die Wände
deines Hauses hängen.
.Kränze aus jenen Blumen, die ich auf mei‐
nen höchsten Wegen fand und an meines letz‐
ten Weges Ziel, in meinem blühenden Garten.
.Zerpflücke mir die Kränze nicht,
und lasse jede Blume dort, wohin ich sie
verflochten habe! ‒
.Du kannst sonst die eine, große Wirk
lichkeit nicht rein erfassen, die alle Worte
dieses Buches dir zu künden kommen...
.Du kannst sonst nicht das Geheimnis
deuten, das hier in stillen Worten sich ent‐
hüllt: ‒ das Geheimnis des göttlichen
Lebens im Erdenmenschen, ‒ das hohe
Mysterium vom lebendigen Gott! ‒ ‒ ‒
110 Das Buch vom Lebendigen Gott
EN SÔPH
.En sôph”, „das Seiende aus sich
ist „Geist”, der Alles in sich faßt.
.Die Kräfte des Universums aber sind
Ursachen” vieler „Wirkungen”, und das
verführte euch, nach einer ersten Ursache
zu suchen.
.Doch nie hat es eineerste Ursache”,
nach eurem Sinne, gegeben! ‒
.Ewig gestaltet sich „Gott” aus dem
Chaos der Elemente des Seins! ‒ ‒ ‒
.Nichts ist hier „Ursache” und nichts ist
Wirkung”!
.Nur der freie, bewußte Wille des Geistes
gestaltet sich selbst für sich selber zu
Gott”! ‒ ‒ ‒
113 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Chaotisch wirken die Elemente des
Seins, dort, wo sie, aus Ursein hinaus
geschleudert, sich bezeugen, als die tief‐
sten, schöpfungsträchtigsten Gewalten der
Urnatur.
.Dort sind sie drang- und triebhaft tätig,
ohne Eigenbewußtes in ihrer Wirkung. ‒
.Dort stehen sie noch auseinander, und
jedes einzelne behauptet nur sich selbst.
‒ ‒
.Aus solcher Selbstbehauptung des Ge‐
schiedenen jedoch ergibt sich Pol und Ge
genpol, und damit ‒ Anziehung, die im
Verlaufe unermeßbar langer Erdenzeit so‐
dann die Sammlung vorbereitet...
.Im Seelischen des Erdenmenschen
wird dann die Vereinung aller Urseins-Ele‐
mente wieder Wirklichkeit, wenn Men
schenwille sie erstrebt. ‒ ‒ ‒
114 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Was in deinem Herzen tobt und drängt
nach Gestaltung, ‒ was dich ständig be‐
wegt und in Unrast erhält: ‒ dieses jagende
Streben, irgend etwas erreichen zu müssen,
‒ ‒ darin erkenne die Auswirkung jener
Urseinskräfte, die sich in dir erneut und
nun individuell bestimmt, vereinen wollen!
.Noch aber drängen sich in diesen Ele‐
menten, die sich in der hohen Form, die
dein Bewußtsein braucht, als deine See
lenkräfte offenbaren, gar viele Willen an
dich heran...
.Noch findest du dich nicht im gebieten
den Willen, der, alle die andern in sich zu
vereinen weiß...
.Alles was in dir nach Außen hin „Ich
sagt, und was du im Innern als „Ich” emp‐
findest, ist meist noch der vielen Willen
einer, die sich im Geistesfunkenlichte
deines Selbst-Bewußten einen sollen...
115 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Erst im bewußten Sein kann göttli
ches Bewußt-Sein sich in Urseinselementen
neu bezeugen!
.Von grauenvoll ‒ im Unsichtbaren,
wie im Sichtbaren ‒ erregter Urnatur
bis hin zur Einung im Bewußtsein eines
Erdenmenschen (und es gibt gar viele
Erden”!) führt der Weg der Urseinsele‐
mente zurück, hinauf, zu gottbewußtem,
„neuem” Sein. ‒ ‒
.Was du jedoch von außen her betrach‐
test und „Naturkraft” nennst, ist nichts
als Wirkung, nichts als Wiederspiege
lung und Zeugnis gegenseitiger Beein
flussung der Urseinselemente, ‒ aber kei
neswegs mit diesen selbst identisch! ‒ ‒ ‒
.Was du die „Wirklichkeit” des sicht‐
baren und unsichtbaren Universums nennst,
ist nur insofern „wirklich”, als es lediglich
die Wirkung urgegebenen Seins, in Ur
116 Das Buch vom Lebendigen Gott
seinselementen auf verschiedener For
mungsstufe, als Erscheinung darstellt.
.Das Universum „ist”, soweit die Ur
seinselementesind”, ‒ nicht aber „aus
sich selbst”!
.Ihr redet noch von einem „Gott”, ‒
dem „Schöpferaller Dinge, der eine un‐
endliche Welt sich zu Ehren „erschuf”, sich
zu Ehren „erhält”.
.Doch solche Gottesvorstellung und Welt‐
daseinserklärung war nur entschuldbar in
der Vorzeit, die noch nichts von alledem
kannte, wodurch sich heute Urseinselemente
in der Auswirkung bezeugen, und wahr‐
lich eurem Denken schon zum Anlaß wer‐
den sollten, die alten Vorstellungen auszu‐
löschen. ‒
.Sie jetzt noch beibehalten wollen, ist
zu gleichen Teilen Torheit, wie Läste
rung! ‒ ‒ ‒
117 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Gottist nur allein der Schöpfer sei
ner selbst in allem was da „ist”, und alles
wahrhaft „Seiende” ist Sein von seinem
Sein! ‒ ‒ ‒
.Gott” ist allein der Zeuger seiner selbst
und nicht, in eurem Sinn, der Menschen
und der Dinge Schaffer! ‒ ‒ ‒
.Aller Sonnen und Welten gestaltende
Kräfte sind Formen des Geistes, ‒ Ur
seinselemente, ‒ die sich in Zeit und
Raum erleben und so in Zeit und Raum
zeiträumliche Formen kristallisieren, ‒
zeitweilig nur Erscheinung, und je‐
weils bedingt durch den Raum...
.Urseinselemente aber werden immer
dar aus dem Ursein ausgeschleudert
und kehren immerdar zu ihm zurück.
.So war es von Ewigkeit her, und so
wird es in Ewigkeit bleiben!
118 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Stetig die Wirkung wechselnd, bezeu
gen sich Urseinselemente: ‒ bald Erschei
nung, bald der Erscheinung Zerstörung
bewirkend.
.Sie selbst aber „sind” von Ewigkeit zu
Ewigkeit, wie immer sie auch ihre Wir
kungsweise wechseln, und sie werden
von keinem „gewirkt”...
.Es hat nie einen „Anfang” gegeben,
und nie kann ein Ende dieses urewigen Le
bens sein!
.Das ganze, weite, formengeschwängerte
Universum, mit aller seiner Sichtbarkeit und
seinem dir Unsichtbaren, ‒ ist nur der
Wogenspiegel eines ewigen, geistigen
Meeres”, aus dem sich in eigener Kraft
die Wolke der Gottheit erhebt! ‒ ‒
.„Gott” bedingt das Universum, und
das Universum bedingtGott”!
119 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Das „Perpetuum mobile”, das Weise
und Narren zu erfinden hofften, ist be
reits vorhanden und kann nicht ein zwei
tesmal „erfunden” werden...
.Alle, die nach seiner „Er-findung” streb‐
ten, ahnten nur, ‒ wenn auch pygmäenhaft
verkleinert, ‒ das Sein des unermeßli
chenGanzen”, ‒ ‒ das Sein dessen, das
da „istaus sich selbst, ohneAnfang
und ohneEnde”, das ewige „Leben”,
im Kreislauf des Seins! ‒ ‒ ‒
120 Das Buch vom Lebendigen Gott
VOM SUCHEN NACH GOTT
.Du suchst noch einen Gott in unbe
grenzten Fernen. ‒ ‒
.Siehe aber, ich sage dir:
.Bevor dein Gott in dirgeboren
ist, wie du in ihm, wirst du ihn nir
gends finden!
.Ehedenn dein Gott dir „geboren” ward,
wirst du vergeblich alle unendlichen Räume
durch deinen tiefsten Schrei nach Gott erbe‐
ben lassen...
.Man sagte dir, der Erdenmensch sei ein
verhüllter „Gott”, und müsse nur zu der Er‐
kenntnis seiner selbst gelangen, um sich für
alle Ewigkeit als „Gott” zu finden.
123 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Die also zu dir sprachen, waren wahrlich,
weiter als sie wußten, fern von Gott!
.Nicht du bist Gott, jedoch in dir allein
auf dieser Erde, kann sich dein Gott gestal
ten, und dann bist du mit deinem Gotte so
verbunden, wie Wort und Sinn im Lied
vereinigt sind! ‒ ‒
.Nichts wird alsdann dich je von deinem
Gotte trennen können!
.In aller Ewigkeit wird er in dirleben
dig” sein! ‒ ‒ ‒
.Darum suche Gott nicht mehr in un
endlichen Weiten, und nicht in einer
unnahbaren Welt, hoch über allen Ster
nen! ‒
.Solange du Gott noch suchst, ist dir dein
Gott noch nichtgestaltet”!
.Sobald er dir einmal „geboren” wurde,
kannst du ihn nicht mehr suchen. ‒
124 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Nichts ist weniger vonnöten, als das
Suchen nach Gott”!
.Aber suche in dir den Weg zu finden,
auf dem dir Gott entgegenkommen kann!
.Suche dann alles in dir zu bereiten, da‐
mit dein Gott sich dir vereinen kann!
.Siehe, der Wille des ewigen, allumfassen‐
den Geistes „will” dich und „lebt” in dir,
auf daß er einst in dir sich selbst als dein
Gott „gebären” könne! ‒
.Advent”, ‒ die Zeit der Vorberei
tung, ‒ sei hinfort in deiner Seele, denn
siehe: du bist „Bethlehem”, und in dir soll
dein König erscheinen, der dich erlösen
kann, ‒ ‒ der allein dich er-lösen kann!
‒ ‒ ‒
125 Das Buch vom Lebendigen Gott
VON TAT UND WIRKEN
.Tätig sollst du sein und wirken auf
deinem Wege, wo immer zu Tat und Wir‐
ken Kraft und Begabung sich in dir finden.
.Wenn du dereinst mit deinem Gott in
dir vereinigt bist, wird all dein Leben
nur ein Tun und Wirken, ‒ ja du selber
wirst nur Tun und Wirken sein! ‒ ‒
.Gottist ein lebendiges Feuer!
.In ihm wird alles zerstört, was tatlos
fault und erstarrt. ‒ ‒
.Der Wille des Geistes kann sich in dir
nicht als dein Gott „gebären”, wenn du
nicht tätig bist, als wäre dein Gott schon
vereint mit dir...
129 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Dein Gott wird ein Gott der Kraft
und der Wagnisse sein, und nicht ein
Dämon der kraftlosen Wünsche, der zeh‐
renden Ängste! ‒ ‒ ‒
.Tätiges Wirken möge deine Liebe
finden zu jeder Zeit, wie auch der Geist in
Ewigkeit sich selber wirkt in steter Tat!
.Wie willst du hoffen, deinem Gott dich
zu vereinen, solange deine Liebe sich von
ihm entfernt?! ‒ ‒
.Du kannst nur zu dir selbst gelangen
in deinem Gott, wenn du bereit bist, wir
kend deinem Gott dich zu vereinen, denn
der lebendige Gott ist nicht ein Gott
der Träumer und Phantasten!
.Nur in erwachten Seelen kann er sich
„gebären”...
.Sein Licht ist viel zu hell, als daß es
Dämmerseelen je vertragen hätten. ‒ ‒
130 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Einige deiner Seele Kräfte zu ho
hem Tun!
.Vollende, was immer du auf Erden hier
vollenden kannst, und wirke, soweit du es
vermagst!
.So wirst du deinem Gott in dir, ‒ dei‐
nem lebendigen Gott, ‒ von Furcht be‐
freit, dereinst begegnen können.
.Du wärest nicht im Leben, wäre „Leben”
nicht als „Tat” des Geistes in dir wirkend...
.Ewig” ist dein Leben nur, weil alle
Tat” des ewigen Geistes ewig, wie er sel
ber ist. ‒
.Zeitlich aber bist du als die zeitliche
Erscheinung dieser Erdenwelt, und also
ist es Erdenpflicht für dich, allhier im
Zeitlichen das Zeitliche zu wirken, so wie
131 Das Buch vom Lebendigen Gott
du selbst im Ewigen gewirkt wirst ewiglich
durch Ewiges! ‒ ‒ ‒
.Nur im steten Wirken kannst du dich
als bewährt erweisen, und in der Tat mußt
du dich selbst bereitet haben, wie es hohe
Führung von dir fordert, soll dein Gott
sich in dir selbst „gebären” können.
132 Das Buch vom Lebendigen Gott
VON HEILIGKEIT UND SÜNDE
.Die von den letzten Dingen wirklich
wußten, haben noch allezeit den „Hei
ligen” in seiner Eitelkeit und falschen
Demut lächelnd verachtet, aber sie wissen
auch zu sondern zwischen eitlen Tugend‐
bolden und den wahren Großbeseelten,
die man zuweilen „heilig” sprach...
.Stolze Menschen wollen sie finden, die
erhobenen Hauptes zu leben wissen, ‒
nicht dürftige Bettler vor den Toren
göttlicher Herrlichkeit, ‒ nicht jäm
merliche Büßerseelen!
.Menschen wollen sie finden, die das
Leben zum Kunstwerk zu gestalten wissen,
nicht solche, die sich dem Leben
beugen, wie das Lasttier seiner Last!
‒ ‒
135 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wen Schuld und Sünde aus seiner
Bahn zu werfen fähig sind, der ist nicht
wert, den Preis des Siegers zu erringen! ‒
.Wer den großen Sieg erkämpfen will,
der darf sich nicht mit Sorge plagen, weil
der Staub des Alltags dabei sein Gewand
beschmutzt...
.Wer stets bestrebt ist, Flecken aus
seinem Mantel zu putzen, der wird sein
höchstes Ziel gar bald aus dem Auge
verloren haben...
.Ich rate gewißlich keinem, sich im
Schmutz zu wälzen, ‒ aber ein jeder, der
zum Ziele will, muß achtlos werden gegen
den Staub des Alltags und die kleinen
Flecken, womit er sein Gewand auf seiner
Wanderung bedeckt.
.Dein Fuß wird ständig an der gleichen
Stelle kleben, und niemals wirst du deinem
Schritt vertrauen, läßt du dich durch die
136 Das Buch vom Lebendigen Gott
Fehler, die du niemals ganz vermeiden
kannst, auf deinem Wege stören. ‒
.Der „Heilige” aber ist einem Menschen
gleich, der sich selbst die Sehnen durch‐
schnitt, und nun als ein Lahmer am Wege
liegt, jedoch mit offenen Augen träumt: ‒
zu fliegen. ‒
.Ach, daß du mir lieber noch in Schuld
und Sünde bis an die Schultern waten möch‐
test, als daß ich je dich in Gefahr erblicken
müßte, zu einem solchen „Heiligen” zu
werden! ‒ ‒
.All deine beste Kraft geht dir ver
loren, willst du dem „Heiligen” gleichtun,
und vor allem dich „von Fehlern frei
zu halten suchen...
.Du kannst deine Kräfte nicht gebrau‐
chen, wenn es deine stete Sorge ist, jeden
Fehler zu vermeiden, denn wo immer du
137 Das Buch vom Lebendigen Gott
wahrhaft tätig bist, wirst du zugleich auch
in Fehler und Sünde fallen, ohne es zu
wollen. ‒ ‒
.Wie aber der Marmorstaub in des Bild
hauers Werkstatt gewiß nicht seines Bild
werks Wert verringert, so wird auch dein
Ich”, das du aus „rohem Stein” hervor
zu formen suchst, auf keinen Fall an Wert
verlieren durch den „Staub” und „Schutt”,
der ringsum liegen bleibt, bis endlich deine
klare Form herausgemeißelt ist.
.Vergiß der Werkstatt „Staub” und
Schutt” und denke stets nur an das
Werk”, das du aus deinem Dasein formen
sollst, zu hoher Schönheit und zu ewigem
Bestand! ‒ ‒
.Und bist du tief gefallen, wo du nicht
fallen wolltest, so erhebe dich eilends
und vergiß, daß du jemals zu Fall gekommen
warst!
138 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Aber selbst dann auch, wenn dein
Wille dich zu Falle brachte, sollst du keine
andere Sorge kennen, als dich augenblick
lich wieder zu erheben!
.Unnütz ist deine „Reue” nach dem Fall,
‒ aber dein kraftvolles Erheben kann dir
zu dauernder Sicherheit verhelfen, die
den neuen Fall vermeiden lehrt...
.Wahrlich, besser schreitet der voran, der
die Kraft zur Erhebung nach dem Falle
in sich weiß, als jener, der, in steter Ängst
lichkeit, jedes Straucheln achtsam ver
meiden möchte! ‒ ‒
.Dir kann auf deinem Wege nichts zum
Schaden gereichen, außer der Furcht vor
den hemmenden Kräften der Schuld, ‒ und
diese hemmenden Kräfte wieder, werden
allein aus deiner Furcht geboren. ‒ ‒
.In Liebe schreite dahin, und frei von
Furcht, ‒ doch möge deine Liebe nie die
139 Das Buch vom Lebendigen Gott
Kräfte untergraben, die du zum Wider
stande brauchst!
.Sei immerdar gütig gegen alles was lebt,
aber ‒ „Gütegegen den Tiger ist ein
wohlgezielter Schuß, denn auch, was du
vernichten mußt, sollst du nicht leiden
machen! ‒ ‒ ‒
.Frei muß auch deine Güte und Liebe
sein, oder sie wird dir zum Laster werden!
‒ ‒
.Frei ist nur, wer sich selbst befreit!
.Kein äußerer „Gott”, wie du ihn über
Sternen dir erträumst, kann jemals dich be‐
freien! ‒ ‒
.Doch: ‒ hilfst du dir selbst, so hilft
dir auch dein Gott, ‒ ‒ dein Gott, der
in dir selber sich dereinst „gebären” will! ‒
‒ ‒
140 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Du hast dir selber deine Gespenster
geschaffen, und nur du selbst wirst sie ver
nichten können!
.Vieles gilt dir noch als „Schuld” und
Sünde”, was solche Lästerung wahrlich
nicht verdient, ‒ und manches nimmst du
leicht, und siehst darin gar deineTu
gend”, obwohl es dir Versuchung zum
Verderben ist...
.Du sollst „Versuchung” niemals suchen,
aber du sollst auch nicht, dem „Heiligen
gleich, dein Auge also bannen, daß es aller‐
orten nurVersuchung” sieht. ‒ ‒
.Erhobenen Hauptes gehe deinen Weg,
und wisse: ‒ daß du am besten stets be‐
hütet bist, wenn du dir selbst vertrauen
kannst! ‒ ‒ ‒
.KeinFall” und „Fehler” kann dich
dann in deinem Schreiten hindern, bis du
141 Das Buch vom Lebendigen Gott
dereinst, mit hoher Kraft gestärkt, dein
Ziel, das in dir selber ist, erreichen wirst!
.Aber ich warne dich, und rate dir: ‒
.Eher noch suche Schuld und Sünde, ‒
doch hüte dich vor dem Willen zur
Heiligkeit”!
142 Das Buch vom Lebendigen Gott
DIE „OKKULTE WELT”
.Bisher wurde in den Worten dieses Bu‐
ches fast nur von jenem „Unsichtbaren” ge‐
sprochen, das deine Seele ist und in deinen
Seelenkräften sich entfaltet, sowie von jener
hohen Geisteswelt, der du entstammst,
und die du wiederfinden mußt, willst du
zu Gott gelangen und den Frieden finden,
den dir die Außenwelt nicht geben kann. ‒
.Es ist aber noch von einem anderen
„Unsichtbaren” zu reden: ‒ von einem Un‐
sichtbaren, das dich von außen her umgibt,
wie alle Dinge und Gestalten materieller
Sichtbarkeit...
.Dieses „Unsichtbare” ist ein gar wenig
gekannter Teil dieser physisch-materiel
len Welt, und ist zugleich der unvergleich‐
bar größere Teil...
145 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Über dieses „Unsichtbare” muß zuerst
auch der geistige Führer schreiten, wie
über eine Brücke, wenn er dich, den annoch
Unbereiteten erreichen will, denn noch
bist du nicht fähig, ihn aus der Einheit
deiner Seelenkräfte zu vernehmen, so, wie
du später ihn erkennen sollst, ‒ in Gott.
‒ ‒
.Er kann vorerst allein von diesem „un
sichtbaren Außen” her dein Inneres er‐
reichen!
.Es gab jederzeit Menschen, die dieses
unsichtbare Außen” mit aller Sicherheit
erkannten.
.Für die Erreichung ihres höchsten
Zieles war und ist solches Erkennen ohne
jeden Wert.
.Sie „sehen” mehr wie Andere, ‒ so wie
du, wenn du durch ein Fernrohr blickst,
146 Das Buch vom Lebendigen Gott
die „Ringe” und die „Monde” ferner Sterne
sehen kannst, derweil ein Mensch, der nur
mit bloßem Auge sieht, nichts anderes ge‐
wahrt als einen hellen Punkt...
.Ihr „Sehen” ist an einen physischen Or‐
ganismus gebunden, der im Menschen der
Gegenwart nur selten so „entwicklungsfähig”
ist, daß ihn der Mensch gebrauchen kann.
.In Menschen alter Zeiten war dieser Or‐
ganismus oft weit stärker ausgebildet, und
auch in späteren Menschen wird er wieder
sich entfalten, nachdem sie selbst Gewähr zu
schaffen wußten, daß er ihnen nicht mehr
zum Verhängnis wird...
.Die Entwicklung solcher, dem Alltags‐
leben nicht notwendigen, physischen Or‐
gane vollzieht sich, nach Art der Wellenbe
wegung, bald mit größerer, bald mit gerin‐
gerer Intensität, innerhalb der gesamten Art.
.So erlischt auch die Fähigkeit, das Un‐
sichtbare dieser physisch-materiellen Welt
147 Das Buch vom Lebendigen Gott
mit Sicherheit zu erkennen, oft bis zum letz‐
ten Rest, um dann, zu anderen Zeiten, wieder
allenthalben in Erscheinung zu treten.
.Es handelt sich um rudimentäre Or
gane des Menschentieres der Urzeit, die
nur denen zum Segen gereichen, die see
lisch vorbereitet sind, von der damit ge‐
gebenen Fähigkeit den rechten Gebrauch
zu machen.
.Die Menschen, in denen der Organis‐
mus für die Wahrnehmung des äußeren
Unsichtbaren völlig entwickelt ist, sind
daher immer auch begabt mit gleichsam „er
fahreneren” Seelenkräften, die schon in
vielen Menschen der Vorzeit wirksam waren.
.Wo immer mit diesem „Sehenkönnen
im physischen Unsichtbaren zugleich der
Drang nach höherer Erkenntnis sich ver‐
bunden zeigt, dort wird der also Begabte
auch in diesem unsichtbaren Teil der irdi‐
148 Das Buch vom Lebendigen Gott
schen Welt nicht zur Beute des Irrtums
werden, sondern gütige Berater und be
sorgte Helfer aus dem Reiche wesenhaften
Geistes finden, die ihm das Verstehen des‐
sen, was er wahrnimmt, erleichtern.
.Ist er erst völlig „wach” geworden, dann
kann es selbst möglich sein, daß er durch
höhere „Erwachte” Macht über Kräfte
dieser unsichtbaren Welt erhält, um mit
zuwirken am Entwicklungsplan der Erden‐
menschheit, wie er seit Jahrtausenden von
des Urlichtes Leuchtenden gefördert wird.
.Meist werden nur wenige unter den
„Kundigen des Unsichtbaren” gefunden, die
solcherart „brauchbar” sind.
.Es wäre aber zu wünschen, daß alle Men‐
schen, die den Organismus zum Erfahren
des physisch Unsichtbaren irgendwie, ‒ sei
es schwach oder stärker, ‒ in sich fühlen,
ihn sorglichst beobachten und vor allem Miß‐
brauch bewahren wollten...
149 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Vielleicht könnte mancher Keim unter
sicherer Pflege zum Gedeihen gebracht, und
segensreich wirksam werden. ‒
.Es sind viele „Arbeiter im Weinberg
nötig, und die Menschheit dieser Tage würde
vieles gewinnen, wenn ihr wieder kundige
Helfer und Lehrer erstehen könnten, die
auch im Unsichtbaren dieser physischen
Welt auf sicheren Wegen zu wandeln
wüßten...
.Nicht das „Experiment” mit Medien
und Somnambulen bringt hier Aufschluß,
sondern nur die Eigenerfahrung der or
ganisch Befähigten! ‒
.Alle Ehre wissenschaftlichem Forschungs‐
eifer, ‒ allein durch die sogenannten „meta‐
psychischen” Experimente, die, wie schon
ihre Kennzeichnung sagt, von falscher Vor
aus-setzung, ‒ irrigem Vor-Urteil aus‐
gehen, ‒ zieht man nur die Schmarotzer
kräfte des physischen Unsichtbaren heran.
150 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Diese „Schmarotzerkräfte” des unsicht‐
baren Teiles der physischen Welt, sind We‐
sen, die, dem Anschein nach, den Kräften,
aus denen sich die Seele auferbaut, sehr
ähnlich sind, jedoch beileibe nicht etwa mit
„Seelenkräften” verwechselt werden dürfen.
.Es wäre die gleiche Verwechslung, wie
wenn man die Grimassen der Affen an
den Gitterstäben ihres Käfigs, mit der geist‐
voll durchgebildeten Darstellungskunst
großer Menschendarsteller auf der
Schaubühne verwechseln wollte...
.Die Wesen des unsichtbaren Teiles der
physischen Welt, mit denen man es zu tun
hat bei „metapsychisch” genannten Experi‐
menten, wie nicht anders dort, wo man in
weihevoller Stimmung glaubt, mit abgeschie‐
denen Menschenseelen zu verkehren, sind
gewiß nicht ohne eine Art „Bewußtsein”,
und sie „wissen” oft mehr als ihre Be
frager, ‒ aber nur dunkel und traumhaft sind
sie ihrer selbst bewußt, so daß sie kaum, nach
151 Das Buch vom Lebendigen Gott
menschlicher Art, moralisch zu verurteilen
sind, wenn sie sich jeweils für das ausgeben,
was man in ihnen zu sehen vermeint, was
man in ihnen zu finden glaubt. ‒ ‒
.Sie wollen vor allem Bestätigung ihres
Daseins finden, und um diese zu erlangen,
sind sie zu allem bereit, was ihre Macht
nicht übersteigt, gehen aber auch weiter und
suchen Macht noch vorzutäuschen, wo ihre
Macht zu Ende ist...
.Es bindet sie keinePflicht” und kein
Gewissen”!
.Dein Untergang bereitet ihnen gleiche
Lust, wie dein Erstarken, wenn sie ihr
Dasein nur, durch ihre Einwirkung auf
dich, an dir bestätigt finden. ‒
.Wehe dem Menschen, den diese We
sen bereitsbesitzen”!
.Sie saugen ihm das Mark des Lebens aus
wie Vampire, denn sie müssen sich von
seinen Kräften „nähren”, wenn sie ihm zu
Diensten stehen sollen. ‒
152 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wenn er nicht selbst sie von sich schüt
teln kann, wird er der Sklave ihrer dunk‐
len Triebe werden, bis seine Seele selbst da‐
bei „erstirbt”, da ihre Kräfte nach und nach
von ihm sich lösen, ‒ wonach dann, wenn
der Erdenkörper sich zum letzten Schlafe
niederlegt, sein einstiges Bewußtsein in Ver
nichtung endet, ‒ ‒ dem einzigen wah
ren, weil ewigen „Tode”, der dem Erden‐
menschen wirklich drohen kann. ‒ ‒ ‒
.Die wenigsten Menschen wissen mit
Gewißheit um die truggeschwängerte Na‐
tur dieser Wesen, die man schwer benen
nen kann, da in der Sichtbarkeit sich kein
Vergleichsbild findet.
.Es sind die unsichtbaren Wesen, durch
deren Kraft der Fakir seine „Wunder
wirkt, ‒ und da man sie nicht kennt,
staunt man den Fakir an, wenn je ein
echter, dieser Unterweltverhafteten, sich
zeigt...
153 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Diese Wesen „können” vieles, was dem
Menschen auf der Erde niemals möglich
sein wird, solange er allein aus eigenen
Kräften wirkt.
.Siesehendeine Gedanken, besser,
als du selbst sie kennst, ‒ und deine
verborgensten Vorstellungsbilder kön‐
nen sie vor deinem Auge sichtbar werden
lassen...
.Sie können, vorübergehend, Formen
und Stoffe bilden, so greifbar wie jedes
andere Erdending, wie jeder dir be
kannte Stoff, ‒ denn diese Wesen sind die
unsichtbaren Wirkweber der physischen Ge‐
staltung, die aller sichtbaren Erscheinung
unsichtbare Fäden knüpfen...
.Sie können sich in Menschenformen
hüllen, von Menschen, die schon längst nicht
mehr auf Erden leben, ‒ denn jede Form,
die hier auf Erden einmal „wurde” ist in
der Sphäre dieser Wesen so erhalten, wie ‒
154 Das Buch vom Lebendigen Gott
beispielsweise, wenn der Vergleich auch hinkt
‒ etwa die galvanische Matrize, aus der man
jederzeit einen neuen Abguß nehmen kann.
.In Wirklichkeit ist die „Matrize” hier
ein unsichtbares, hauchzartes Gebilde:
‒ ein Lamellensystem, das die mathematisch
genaue Wiedergabe sämtlicher inneren und
äußeren Formen darstellt, die einst einen
Menschenkörper bildeten.
.Dieses, für gewöhnlich auf engsten Raum
in sich selbst zusammengezogene Gebilde
wird unter entsprechenden Bedingungen
gleichsam „aufgefüllt” mit den physischen
Kräften, die normalerweise den Erdenkör‐
per des „Mediums” erhalten.
.Das „Medium” muß während der Zeit
einer solchen Manifestation in jenem bewußt‐
losen Zustand verbleiben, den man unter
dem Namen „Trance” kennt.
.Der entstandene Scheinkörper ist wäh‐
rend seiner, auch im allergünstigsten Falle
überaus kurzen Darstellungszeit, das Wir‐
155 Das Buch vom Lebendigen Gott
kungsfeld der Tierseele des bewußtlosen
Mediums”, wobei diese Tierseele zugleich
unter einer Art Hypnose gehalten wird
durch jene unsichtbaren Wesen der physi‐
schen Welt, die sich in dem erzeugten
Scheinkörper manifestieren.
.Wenn ein solches Phantom sogar zu spre
chen vermag und ganz in der Weise seines
verstorbenen Urbildes spricht, so ist das um
nichts verwunderlicher als das Sprechenkön‐
nen eines auf normale Art inkarnierten Men‐
schen, denn auch in dem Scheinkörper sind
für die Dauer seines Bestehens alle Organe
in solcher Form wieder physisch dargestellt,
wie sie voreinst in seinem Urbilde in Er‐
scheinung waren, ‒ genau, selbst in Bezug auf
etwaige Deformierungen oder sonstige Mängel.
.Es wird, so hoffe ich, wohl kaum nötig
sein, hier noch zu sagen, daß diese zurück
bleibende Form im unsichtbaren Phy
sischen, mit dem sie ehemals bestimmen‐
den Menschen nicht mehr zu tun hat, als
156 Das Buch vom Lebendigen Gott
die abgeworfene Schlangenhaut mit dem
Reptil, das ihrer sich entledigte. ‒
.Nicht umsonst bin ich hier auf Vor‐
gänge eingegangen, deren bloße Darle
gung mir schon widerwärtig ist. ‒ ‒
.Ich will dich in der Lage sehen, Vor‐
gänge, die dich verwirren könnten, selbst
überprüfen zu können!
.Du sollst, wenn sich Erstaunliches vor dir
ereignen mag, dich nicht aus Unkenntnis
düpieren lassen!
.Nicht, was dir in den hier bezeichneten
Bezirken an Betrug begegnen kann, ist als
„Gefahr” zu werten...
.Das Echte dieser Art allein birgt wirk
liche Gefahr! ‒ ‒
.Ich warne dich hier aus gesicherten Grün‐
den! ‒
157 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Auch in dir können jene Wesen, wenn
du je ihre Auswirkung kennenlernen solltest,
eine Beute wittern...
.Sie finden, ‒ allzuoft nur, ‒ solche
Beute an denen, die, statt ihren Höhenweg
zur Einigung der Seelenkräfte und zu
ihrem Gotte zu beschreiten, nach „okkul
tenKräften streben, ohne jenen Grad der
Einsicht schon erlangt zu haben, der nötig
ist, damit ein wahrer Geistgeeinter unter
ihren Menschenbrüdern sie in langen
Jahren strengster Vorbereitung lehren
könne, die hier gemeinten Wesen und ihre
unheimlichen Kräfte zu bemeistern.
.Selbst dann noch schwebt jeder, der sie
ohne Not erregt und nützt, in ständiger
Gefahr, ‒ und keiner derer, die einst zur
Erprobung ihrer Kräfte dieses Reich des un‐
sichtbaren Physischen bezwingen lernen
mußten, wird jemals länger in ihm ver‐
weilen, als es der bittere Zwang einer
Aufgabe” von ihm erheischt. ‒ ‒ ‒
158 Das Buch vom Lebendigen Gott
DER VERBORGENE TEMPEL
.Alle, die den hier in diesem Buche von
mir aufgezeigten Höhenweg betreten haben
und betreten werden, stehen in ihrem Inner‐
sten alsobald in naher Verbindung, auch
wenn in der Außenwelt sie Tausende von
Meilen trennen sollten...
.Solche „Verbindung” kommt auf zwiefa‐
che Weise zuwege: ‒ Zuerst durch gegen‐
seitige Anziehung der Strahlungen, die durch
in sich bestimmte, menschliche Willens‐
zentren als Strahlen-„Wirbel” in gewissen,
höheren Regionen des unsichtbaren Phy
sischen, ungewollt und unbewußt, erzeugt
werden, und dort alles Gleichartige in
Konnex bringen.
.Dann aber durch direkte Influenz
wirkung der Seelenkräfte, die nur der
161 Das Buch vom Lebendigen Gott
Gleichrichtung der in ihnen gegebenen
Willens-Strebungen bedürfen um sogleich,
und praktisch unabhängig von Raum und
Zeit, miteinander verbunden zu sein.
.Doch, es ist menschliche Art, sich auch im
Reiche der äußeren Erden-Sinne erkenn‐
bar und nahe sein zu wollen, sobald man
durch Einstellung auf das gleiche Ziel sich
einander zugehörig fühlt...
.Vielen stärkt es auch Mut und Glauben,
wenn sie auf dem „Wege” von Zeit zu Zeit
mit Weg-Genossen reden können...
.Und es gibt auch noch Gründe höherer
Art, die oft Gemeinsamkeit in sichtbarer
Nähe recht wünschbar machen. ‒
.Der Weg zum geistigen Leben will oftmals
leichter sich erschließen, wenn zwei, die ihn
betreten haben, auch im Äußeren verbun‐
den sind, und so ihn miteinander wandern
können.
162 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Darum wird jeder, der zur Belehrung in
diesen Dingen das Recht und die Kraft er‐
hielt, das Wort des hohen Meisters von Na‐
zareth wiederholen müssen: ‒
.„Wo zwei oder drei in meinem 'Namen'
versammelt sind, dort bin ich mitten unter
ihnen!”‐
.Doch niemals seien es mehr als „zwei
oder drei”, die sich, zum gemeinsamen
Austausch ihrer seelischen Erfahrun
gen durch das Wort der äußeren Sprache,
jeweils zusammenfinden!
.Aus guten Gründen wird diese kleine
Zahl gefordert!
.Jede größere Gruppe seelisch Verbun‐
dener kann nur dann zu segensreicher Wir‐
kung kommen, wenn sie, ‒ was Redeaus
tausch über seelische Erfahrung anbe‐
trifft, ‒ in sich gegliedert bleibt als eine
163 Das Buch vom Lebendigen Gott
vielfacheZwei- und Dreisamkeit”, und
jede solche „Zelle”, gebildet aus Zweien
oder Dreien, darf stets nur aus dem distink
testen Gefühl persönlicher Zusammen
gehörigkeit sich bilden, so daß ‒ auch ohne
besonderen „Schwur” ‒ ihre Unzerstör
barkeit von Anfang an gesichert ist. ‒ ‒ ‒
.Die Suchenden sollen sich jedoch niemals
zu einer „Gemeinde” zusammenschließen,
denn keine Gemeinde ist möglich ohne Glau
bens-Zwang, und nichts verträgt die see‐
lische Entfaltung weniger, als irgend einen
äußeren Zwang. ‒ ‒
.Eine jedeGemeindebildet nur
den Leichenzug ihres toten Glaubens!
.Solange der Glaube lebendig und wirkend
schafft, erduldet er für bemessene Zeit auch
noch die nagende Krankheit einer „gläubi
gen Gemeinde”, ‒ aber dann wird er, welk
wie eine Blume über die der Meltau kam,
in sich zusammensinken, und die ihn als
164 Das Buch vom Lebendigen Gott
„Gemeinde” am Leben zu erhalten meinten,
werden selbst sein Grab ergraben haben. ‒
‒ ‒
.Es wird aber vielen von hohem Nutzen
sein, wenn sie, sei es einzeln oder im Anschluß
an gleichgerichtete Gruppen, jeweils zu
Zellenvon Zweien oder Dreien ver
eint, von jenen Dingen miteinander reden
können, die sie auf ihrem Wege zum Lichte
erleben oder erschauen.
.Wenn es sich fügen läßt, dann sollen diese
zwei- oder dreisam Vereinten möglichst im
mer zur gleichen Stunde zusammenkom‐
men um ihre innere Erkenntnis miteinander
zu teilen!
.Es liegen auch in tiefsten Geistestiefen
gewiß keine Gründe, die ein „Verbot” be‐
gründen könnten, daß viele solcher Zwei
oder Dreiglieder-Zellen untereinander in
äußerer Verbundenheit stehen, solange
nur solche Verbundenheit nicht zur „Ge
meindebildung” mit ihrem Glaubens
165 Das Buch vom Lebendigen Gott
zwang und ihren Glaubensartikeln ent‐
artet. ‒ ‒
.Dann erst würde äußere Vereinigung
die innere zerschneiden!
.Ob du aber nun ein-sam deinen Weg
durchwandern willst, oder mit einem, und
auch zwei Weggefährten, ‒ stets sollst du
wissen, daß ein verborgener Tempel dich
mit allen vereint, die ihren Weg wie du be‐
reits beschritten haben. ‒ ‒ ‒
.Die Leuchtenden des Urlichts sind
dieses Tempels wahrhaftige „Priester”, und
jeder Suchende, der seinen „Weg” in sich
verfolgt, steht unter ihrer sicheren Führung,
auch wenn sein Inneres noch vorerst ohne
eigene Leuchte ist, und er die ihn leitende
Hand noch nicht erkennt...
.Es wird hier kein Glaube von dir ge‐
fordert an eine Hilfe, die du nicht erpro
ben könntest.
166 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wir fordern nur: ‒ den Glauben an
dich selbst, weil er auf deinem Wege dir
unerläßlich ist...
.Wenn du diesen Glauben dir errungen
hast, und stetig auf dem Wege neu erringst,
dann wirst du gar bald meiner Worte Wahr
heit in dir selbst erfühlen!
.Die Entdecker neuer Erdteile glaubten
in ihren Herzen, die gesuchten Lande hinter
weitgebreiteten Meeren zu finden, und sie
fanden das, woran sie glaubten. ‒
.So auch sollst du von dir selber glau
ben, daß du die Kräfte in dir trägst, die
dich einst befähigen werden, die heiligen Wun‐
der des verborgenen Tempels auf dieser
Erde staunend in dir selber zu erleben...
.Es ist dir vonnöten, an deine eigenen
Kräfte zu glauben, weil dein Glaube eben‐
diese Kräfte in dir selbst ent-binden, aber
auch in Fesseln schlagen kann...
167 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wozu du dich nicht vorher fähig glaubst,
das wirst du nachmals schwerlich können! ‒
.So auch wirst du aller Hilfe aus dem un
sichtbaren Tempel unerreichbar bleiben
bis zu jenem Tage, der den felsenfesten Glau
ben in dir findet, daß du die Kräfte in dir
trägst, diese Hilfe zu erlangen. ‒ ‒ ‒
168 Das Buch vom Lebendigen Gott
KARMA
.In beiden Reichen dieser physischen Welt:
‒ dem sichtbaren, wie dem unsichtbaren, ‒
trägt jede Tat auch ihre sichtbaren wie ihre
unsichtbaren Folgen. ‒ ‒
.Jeder Willens-Impuls, jeder Gedanke
und jedes Wort ist hier als „Tat” zu werten....
.Du bleibst verhaftet an die Folgen
deiner Tat, bis du deiner Seele Kräfte ge
eint, und dich mit ihnen Gott vereinigt ha‐
ben wirst. ‒ ‒
.Dann erst wirst du deiner Taten Folge
vernichten können, soweit du sie vernich‐
ten willst.
.Vor undenklichen Zeiten warst du einst
mit deinem Gott vereinigt, als ein rein gei
171 Das Buch vom Lebendigen Gott
stiger „Mensch” in geistiger Gestaltung,
einverwoben dem All-Leben wesenhaften,
substantiellen „Geistes”.
.Auch alle die weiten Reiche des unsicht
baren Teiles der physischen Welt, ‒ ein
unermeßliches Gebiet des Universums, ‒
waren dazumal deinem wirkenden Willen
erschlossen, und du warst ihr Beherrscher...
.Ein Feld des Wirkens war dir offen, das
vom reinsten Geistigen hinaus in immer
dichtere Gestaltung reichte.
.So bist du bis an die Grenze gelangt, wo
unsichtbares Physisches sich zu erdensinn
lich sichtbarem Materiellen verdichtet.
.Du hast die schreckenerregenden
Mächte des ewigen Chaos am Wirken ge‐
sehen, ‒ die Rückprallkräfte des abso
luten, starren und lavadichtenNichts”,
‒ und bist ihrem Groll gegen allesSei
ende” erlegen...
172 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Niemals hättest du ihnen aber erliegen
müssen, wärest du nicht vorher, im Taumel
deiner Macht, von deinem Gotteab
gefallen. ‒ ‒
.So warst du hilflos geworden und hattest
deine höchste Macht verloren.
.Nun mußtest du zur Beute der niederen
Kräfte werden, die, ‒ stets in den Bereich der
Rückprallwirkungen des absoluten „Nichts
gebannt, ‒ in steter „Feindschaft” alles zu
ver-nichten, alles demNichtsgemäß
zu wandeln suchen, was aus den Sphären ewig
reinen Seins zu ihnen eindringt: ‒ in ihre
dunkle Wirkungs-Zone „fällt”. ‒ ‒ ‒
.Auch die Kräfte, die du ehedem be
meistern konntest, und mit denen du gar
leicht die dir nun „feindlichen” Gewalten so
bezwungen hättest, daß sie sich zu ehrer
bietigen Dienern deines Willens umgewan‐
delt hätten, waren dir zu groß, zu vielver
mögend geworden...
173 Das Buch vom Lebendigen Gott
.So überkam dich Furcht vor deinen ei
genen, einst beherrschten Kräften, und
aus der Furcht vor ihnen kam dir das Ver‐
langen nach einem neuen, anderen Leben,
in den Reichen materieller Greifbarkeit,
den Reichen dieses, physischen Sinnen faß‐
baren Universums, das jene ängstigenden
Mächte dem, der nicht die hier gezogene
Schranke bricht, verhüllt. ‒ ‒ ‒
.Dein Wille war aus dem hohen Leuch
ten gefallen, und wollte nun mit dir in die
Welt der physischen Materie...
.Du warst in der „Welt der Ursachen
heimisch, ‒ doch deine Furcht trieb dich in
die „Welt der Wirkungen” hinaus. ‒ ‒ ‒
.Das ist die Wahrheit in den Sagen von
einem „Paradiese”, und vom „Sturze” des
Menschen durch einen „Sündenfall”! ‒
‒ ‒
.Vor diesem Sturze hast du dir bereits dein
Karma”, wie der Orient den Ursachen
174 Das Buch vom Lebendigen Gott
stammbaum eines jeden Erdenmenschen‐
schicksals nennt, ‒ geschaffen, durch den
GraddeinerAbkehrvon deinem
Gott, ‒ durch den „Grad” deines tollen
Taumels, der dich in dir selbst einen „Gott
sehen lehren wollte. ‒ ‒
.Eritis sicut Deus..... ”
.Die Zeit, da du in diese Erdenwelt ge‐
boren werden solltest, sowie die Abstam
mungslinie in der es geschah, und deines
Erdenlebens Schicksalswege, hast du dir
selbst bestimmt, als du aus einem Herr
scher durch deines Gottes Kraft in der
Geisteswelt, zum Sklaven niederer Ge
walten wurdest, in einer Welt, die jeder Tat
auch ihre „Folge” gibt und geben muß, da
sie selbst nur Wirkens-Wiederspiegelung
ist, und ohne Macht, die Kette des Gesche‐
hens in ihrem Bereiche willentlich zu be‐
enden.
.Auch daß du auf diesem Planeten hier
geboren wurdest, ist Folge der Artung deiner
175 Das Buch vom Lebendigen Gott
ersten Tat in dem Bereich der Zwanges
folge, ‒ denn wahrlich: ‒ es gibt un
zählige, von „Menschen” und auch äußer
lich dem Erdenmenschtiere ähnlichen We‐
sen, bewohnte Planeten im unermeßlichen
Raum, und du hättest auch auf einem an
deren dieser Weltkörper deinen Tierleib fin‐
den können.
.Alle die Menschenwesen auf den bewohn‐
ten Planeten anderer Sonnensysteme sind in
gleicher Weise einst aus dem Leuchten „ge‐
fallen”, wie du!
.Es gibt weitaus glücklichere und tief
unglücklichere unter deinen fernen, ma‐
teriell verkörperten Gefährten...
.Du darfst sie dir freilich nicht in mon
strösen Gestalten vorstellen, denn die Form
des Erdenmenschtierleibes ist nicht aus
einer Willkürwirkung nur auf unserem
kleinen Sonnentrabanten entstanden, sondern
durch gesetzliche Gegebenheiten bestimmt,
176 Das Buch vom Lebendigen Gott
die für das ganze, unermeßliche, physisch‐
materielle Universum gelten, und letzten En‐
des ‒ geistigen Ursprungs sind...
.Der „Falldes Menschengeistes aus rei‐
ner, substantieller Geisteswelt in die Einwir‐
kungszone des absoluten „Nichts”, geschah
nicht etwa nur in einer fernen Urzeit, son‐
dern ereignet sich immerdar seit Ewigkei‐
ten und in alle Ewigkeit, wie denn auch der
physisch materielle Kosmos in all seinem ste‐
ten Werden und Vergehen dennoch als Gan
zes urewig, zugleich mit dem Reiche ewi
gen Geistes als dessen ‒ „äußerste Gegen
wirkung” besteht und bestehen wird...
.Immerdar aber gibt es auch einige wenige
Geistmenschwesen, die dem „Falle” nicht
erliegen und ihren Gott in sich nicht „ver‐
lieren”.
.Ich sprach schon von ihnen, als von den
Ältesten”, oder den hohen „Vätern” der
Leuchtenden des Urlichts, und du sollst nun
177 Das Buch vom Lebendigen Gott
hier wissen, was dir zwar auch schon dein
eigenes Ahnen sagen könnte: ‒ daß sich das
geistige Mühen dieser Nichtgefallenen, wie
ihrer durch sie erzogenen „Söhne” und „Brü‐
der” um die Er-lösung der in Tierheit
verstrickten, dem Lichtkreis der Geistes‐
welt Ent-fallenen durchaus nicht etwa auf
unsere Erdenmenschheit allein erstreckt...
.Auf allen bewohnten Planeten des uner‐
meßlichen Universums sind diese im bewuß‐
ten Leben des substantiellen Geistes verblie‐
benen Helfer zu finden, und für jede dieser
Welten erziehen sie sich aus den jeweils Ge‐
fallenen ihre geistigen „Söhne” und „Brü‐
der”, durch die sie auch hier auf dieser Erde
dich nun zu erreichen suchen und aus deinen
Nöten ziehen wollen.
.Dein Ziel ist keineswegs, einer ihrer
„Söhne” und „Brüder” zu werden, denn da‐
zu wäre es jetzt zu spät, da solche Eignung
sich schon alsbald nach geschehenem
Fall, nur durch freien Willens-Impuls
178 Das Buch vom Lebendigen Gott
der Einzelnen ergibt, und alsdann „Erzie‐
hung” durch Jahrtausende erfordert, bei
ebensolanger Zurückhaltung vor der Ein
körperung in einen physisch-materiellen
Menschtierkörper...
.Man will nichts anderes von dir, als daß du
heute, an deinem Erdentage, zur Erkenntnis
kommen mögest, woher du ausgegangen
bist und wohin du zurückkehren kannst.
‒ ‒
.Man will dir den „Weg” zu dieser Rück‐
kehr zeigen.
.Man will dich zurück zu deinem Gotte
führen, mit dem du dich erneut vereinen
sollst. ‒ ‒
.So tief du auch gefallen bist, so sind doch
jene Kräfte, aus denen sich, ‒ von ihrer
chaotischen Wirkungsform bis zu ihrer
höchsten Darstellungsart, ‒ unablässig
die Gottheit selbst gestaltet, in einer
sehr hohen Wirkungsform in dir am Werke..
179 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Immer noch blieb auch ein „Funke” gei
stigen Bewußtseins, wenn auch deinem Ge‐
hirnbewußtsein noch nicht verschmolzen, in
dir verborgen zurück, als hoher Lenker die‐
ser Kräfte, ‒ und: ‒ als deinGewissen”...
.Du kannst diesenFunkennie ver
lieren, wie tief du auch noch in deinem
Erdenleben sinken könntest!
.Selbst wenn du seelisch ihm „erstor
ben” bist, muß er verhüllt dennoch in dir
verharren, bis zu deinem letzten Atemzug...
.Er ist es auch, und nur er allein, der dein
Karma” kennt...
.Du kannst dieses „Karma” verbessern
oder verschlechtern, ‒ nur ‒ auslö
schen kannst du es nicht eher, als bis du
die vielen Willen in dir geeinigt hast, die
jetzt noch in dir chaotisch nebeneinander
wirken. ‒ ‒
180 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wenn sie sich alle in dem Funkenlichte
geistigen Bewußtseins, das dein wahrer, sub‐
stantieller, ewiger „Menschengeist” in dir
ist, ‒ vereinen, dann wird dein Gott aus
Geist in dir „geboren”, und dann bist end‐
lich du befreit von deinem „Karma”, ‒
von deiner Urtat Folgenkette, ‒ als ein
neu zurückgekehrter Mensch der Ewig
keit. ‒ ‒ ‒
.Wohl dir, wenn dies hier auf Erden
schon dir gelingt!
.Gelingt es dir nicht, dann wirst du, auch
nach dem Ablegen dieses Erdenkörpers,
nicht eher zu dir selbst in deine „Ruhe
kommen, als bis du deine Ruhe in deinem
Gott gefunden hast, geeinter Seelenkräfte
bewußt und ihr all-einiger Wille gewor‐
den...
.Dort” aber kann es gar lange währen,
bevor du soweit bist, denn alsdann kannst du
dein „Karma” nicht mehr verändern, nicht
181 Das Buch vom Lebendigen Gott
verbessern, ‒ und eher wirst du keines
falls dann ewiges Licht in dir erleben, als
bis auch die letzte Folge deiner Ur-Tat
sich erschöpfen konnte. ‒ ‒ ‒
.Indische Weisheit warnt den Menschen,
keinneues Karmazu schaffen, ‒ und
wahrlich ist solche Warnung wahrer Er
kenntnis Frucht!
.Du sollst nur wissen, daß die Mahnung
dich allein vor üblem Karma warnen will! ‒
.Nicht eher kannst du im Reiche des sub‐
stantiellen Geistes deine Er-lösung finden,
als bis der letzte erdverhaftete Impuls der
einstmals von dir ausging, sich erschöpfte.
‒ ‒
.So suche denn mit allen deinen Kräften
dich noch während deines Erdenlebens
deinem Gotte zu vereinen, um aus sei
ner Kraft die Kette deines „Karma” zu
durchschneiden, damit sie nicht einst
durch Aeonen dich gebunden hält...
182 Das Buch vom Lebendigen Gott
KRIEG UND FRIEDEN
.Wer die gestaltenden Kräfte in dieser
Erscheinungswelt der physischen Materie ein‐
mal in ihrer furchtbaren Macht und in
der unfaßbaren Einfachheit ihres uner‐
bittlichen Willensstrebens erkannte, ‒ den
flieht allsobald die Oberflächentäu
schung, als ob das sinnlich faßbare All nur
die Harmonie des Geistes” sichtbarlich
verkörpere. ‒ ‒
.Betrachte die Schlupfwespe, die ihre
Eier in den Leib der lebenden Raupe
legen muß, damit die jungen Wespen durch
den qualvollen Tod der Raupe zum Leben
kommen, ‒ und du wirst für alle Zeit geheilt
sein von solchem Täuschungsglauben! ‒
.Die Sinnenwelt ist Wirkung geistiger
Urkraft in der geistigen Welt.
185 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Um aber als geistige Welt in geistige
Erscheinung zu treten muß die eine ewige
Urkraft sich in unendlichfältigen Aspekten
ihrer selbst in sich reflektieren, und, in
jedem solchen Aspekt als Urseins-Element
erstanden, sich jeweils in ihm solcherart be
haupten, daß jedes eine Element nur sich
selber auszuwirken sucht, so daß ihm alle
anderen Urseinselemente gleichsam leere
Formen sind, weil es sich selbst als Urkraft
nur in sich selber kennt.
.Jeder Aspekt der geistigen Urkraft: ‒ je‐
des „Urseinselement”, ‒ wird somit Ur
sache, daß auch die Erscheinungsform seiner
Auswirkung in der physischen Region
den Trieb erhält, nur für sich selber zu
leben und alle andere Erscheinungsform zur
Erhaltung eigenen Daseins zu verbrauchen.
.In jedem Urseinselement ist Urkraft un
zerteilt, möge es Ursache niederster oder
höchster Erscheinungsform in seiner Aus
wirkung sein.
186 Das Buch vom Lebendigen Gott
.So kommt es, daß auch jede physische
Kraft, jede physische Erscheinungsform
sich zu behaupten sucht, als sei nur ihre
eigene und keine andere Existenz gewollt.
.Die winzige Zelle behauptet nur sich
selbst, auch wenn sie zeitweilig gezwun
gen ist, mit Milliarden ihrer Art gemeinsam
einem höheren Formwillen dienstbar zu
sein, dem ihr Dasein wieder nur insofern
von Wert ist, als er sie braucht und ver
braucht zur Behauptung seiner selbst.
‒ ‒
.Das physisch-sinnlich sichtbare Univer‐
sum ist der äußerste Gegenpol geistigen
Seins.
.Das „Lebendes Geistes bedingt un‐
endlichfältige geistige Gestaltung in ihm
selbst, in Urseinselementen, und deren
Auswirkung wieder bedingt zuletzt die
gleichsam „erstarrte” physische Erschei‐
187 Das Buch vom Lebendigen Gott
nungsform: ‒ unendlich „ausgedehnte
Geisteskraft in einem Zustand des Gebannt
seins, der relativen Ohnmacht, des Ge
bundenseins in starr bestimmten Form
willen...
.Aus dieser ihnen ungemäßesten Form
der Ausdehnung und starren Gebannt
heit in äußerste Spannung aber erheben
sich diese Geistkräfte wieder infolge mäch‐
tigster Anziehung aus der Region höchster
Geist-Seinsform zu neuen, weniger dichten
und starren Formen, bis sie, in unzählbaren
Wandlungen, immer freier werden von Aus‐
dehnungsspannung und schließlich sich em‐
porgerissen fühlen in ihren Ursprungs
zustand im innersten Geistesleben...
.Was wir aber physisch-sinnlich wahr
zunehmen vermögen, sind nicht die Zu‐
standsformen der Urseinselemente, sondern
nur die durch sie erzeugten Kraftwir
kungsresultate...
188 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Innerlich wahrnehmbar jedoch werden
uns die Urseinselemente in einer sehr
hohen Zustandsform, als ‒ unsere „Seelen
kräfte”...
.Dies ist der ewige, ‒ ewig sich er
neuende ‒ Kreislauf des „Lebens” im sub‐
stantiellen, aus sich selbst „seienden” Geiste!
.Sich selbst zur „Nahrung” werdend, senkt
er sich in sich hernieder, um sich wieder zu
erheben und aufzunehmen in seine höchste,
jeder starren Formspannung freie Wesen‐
heit. ‒ ‒
.Nur durch dieses „ewige Lebenkann
sich „Gott” im Geiste gestalten, ‒ im gei
stigenMenschen”. ‒ ‒ ‒
.Wäre der Grashalm am Wege nicht,
und nicht der Wurm, der an des Grases
Wurzel frißt, so wärest auch du nicht, und
es wäre der Geist nicht und nicht Gott im
Geiste!!
189 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wäre die Mikrobe nicht, die vielleicht
morgen beginnen mag, deinen Körper zu
zerstören, ‒ dann wäre auch dein Körper
nicht, und nicht deine Seele, und nicht der
Geistesfunke, der sich in dir erlebt!!
.Dann aber wäre auch nicht der Wille des
Geistes, der einst in deinem Geiste als dein
Gott gestaltet war und nun aufs neue sich
zu deinem Gott in dir „gebären” will!!
.Doch so sehr auch die Kräfte im physi‐
schen Universum gegeneinanderwüten in
ihrem Selbstbehauptungsdrang, so kennt Na‐
tur doch keinen „Haß”. ‒
.Es ist töricht, den menschlichen Haß dem
Instinkte der Tiere zu vergleichen, die andere
Tiere zu vernichten streben, weil sie, ‒ wie
jede Form in deren Darstellung sich Ur‐
seinselemente erleben, ‒ allein nur sich
selbst behaupten wollen.
190 Das Buch vom Lebendigen Gott
.„Haß” dagegen ist eine Äußerung mensch
licher hilfloser Ohnmacht!
.Nur in Übertragung menschlicher
Empfindungsweise lassen sich Äußerungs‐
formen des Angriffstriebes gereizter Tiere
mit dem Namen „Haß” belegen, und un‐
schwer läßt sich erkennen, daß jeder im Irr‐
tum ist, der die gleiche Empfindung, die man
beim Menschen Haß nennt, etwa bei Tieren
zu finden glaubt.
.Selbst in die unsichtbaren Bereiche
der physischen Welt hat der Mensch den
Haß gebracht, denn auch seine ärgsten an‐
deren Feinde im physischen Unsichtbaren
vermögen nicht das Gefühl des Hasses zu
empfinden, und ihr dem Menschen feind‐
liches Bestreben geht aus sehr wesentlich
anderen Motiven hervor...
.Die furchtbarsten Unholde im physi‐
schen Unsichtbaren waren ehedem Erden
191 Das Buch vom Lebendigen Gott
menschen, die sich durch ihr Erdenleben
selbstgerichtet” haben.
.So hoch sie ehedem sich geistig erhoben
hatten, so tief sind sie unter den Erbärm‐
lichsten der Erdenmenschen nun gesunken.
.Aeonen können vergehen bevor sie end‐
lich in Vernichtung enden dürfen, ‒ doch
vorher suchen sie zu sich herabzuziehen,
was immer ihrem Haß erreichbar wird...
.Auch diese unsichtbaren Selbstgerich
teten werden nur durch das Empfinden
ihrer Ohnmacht zu ihrem grauenvollen Haß
erregt: ‒
.Macht aber ist die erhabenste Besiege
rin des Hasses...
.Der Mächtige und seiner Macht Bewuß
te, liebt seine Macht, und sie macht ihn all‐
mählich auch zu einem Liebenden.
.Liebe aber duldet keinen Haß!
192 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Je mehr die Menschheit in ihren Einzel‐
gruppen die man „Völker” und „Nationen”
nennt, zum Bewußtsein ihrer Geistesmacht
erwachen wird, desto mehr wird auch der
Haß verschwinden, denn der seiner Macht
Bewußte, beneidet keinen anderen Mäch‐
tigen um seine Macht, ‒ Neid aber ist nur
allzuoft des Hasses höllischer Erwecker...
.Alle Kriege haben den Haß zum Vater,
und der taugt nicht zum Krieger, der nicht
zu hassen weiß. ‒ ‒
.Ihr ruft noch: „Krieg dem Kriege!” ‒
‒ doch ich rate euch, lieber zu rufen:
.Verachtet sei hinfort der Haß!”
.Nur wenn der Haß verächtlich wird,
kommt auch die Zeit, die euch den Krieg
verachten lehrt! ‒ ‒ ‒
.Erst wenn euch Jeglicher verächtlich
ist, der noch durch Menschen-Massen
193 Das Buch vom Lebendigen Gott
mord entscheiden lassen will, was Grund
und Gegengrund vor dem Verstand der
Rechtlichen entscheiden sollte, ‒ erst dann
wird sich der Mensch der Erde seiner „Men
schenwürde” rühmen dürfen!
.Wohl werden in den Meinungen der Men‐
schen immer Gegensätze sich ergeben, denn
auch hier steht Wille gegen Wille, und je
der Wille will allein sich selbst behaupten.
.Aber im Menschengeiste ist der Wille
fähig, sich auch im anderen Willen wieder
zuerkennen, und somit kann der Mensch
bewußt den Ausgleich suchen, der den
Frieden wahrt durch Zucht des Willens,
der dann nicht mehr sich allein nur, son‐
dern auch den anderen Willen will. ‒ ‒ ‒
.Bevor jedoch nicht jeder Einzelne den
Haß in sich vertilgte, wird dieser Weg der
Willenszucht der Menschheit immer nur auf
kurze Strecken gangbar bleiben. ‒
194 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Die Folge werden immer wieder Kriege
sein, bis auch die letzte Spur des Hasses
keine Stätte mehr in einem Menschen
herzen findet. ‒ ‒
.Alle anderen Triebe zum Kriege lassen
sich bei gutem Willen überwinden, die
Wogen des Hasses aber werden auch den
besten Willen in ihre Strudel und Abgründe
reißen...
.Gegensätze und Wettkämpfe zwi
schen Grund und Gegengrund ent‐
wickeln mancherlei Kräfte und fördern flies‐
sendes Leben, ‒ doch müssen sie wahrlich
nicht zum Kriege führen, so wenig wie je‐
mals der Sieger im Spiel seinen überwun‐
denen Gegner erschlagen muß. ‒ ‒
.Ein jeder Erdenmensch aber, der den Haß
in sich zu vernichten sucht, führt damit den
einzigen „gerechten” Krieg, ‒ den Krieg
der Menschenmordkriege einst unmög
lich machen wird! ‒ ‒ ‒
195 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Doch auch der Mordkriege endliche
Überwindung durch den Menschengeist kann
nicht bewirken, daß sich die Gegenkräfte,
die in aller physischen Natur am Werke
sind, zu gleicher Strebensrichtung einen
könnten, denn solche Einung wäre die Ver
nichtung dieses ganzen äußeren Uni
versums...
.Das Reich des „ewigen Friedens”, das
so viele edle Menschen in der Zeiten Folge
heiß ersehnten, wird uns Menschengeistern
erst beschieden sein, wenn wir, ‒ nach die‐
sem Erdenleben, ‒ uns erneut in jenem
Lichte finden, das alles ewig in sich eint,
was einst mit ihm vereinigt war. ‒ ‒ ‒
196 Das Buch vom Lebendigen Gott
DIE EINHEIT DER RELIGIONEN
.In allen religiösen Lehren der Welt fin‐
det sich im Kern: ‒ die letzte Wahrheit,
‒ wenn dieser Kern auch oft gar wunder‐
liche Hüllen trägt...
.Müßig, eitel und belanglos ist es, dar‐
über zu streiten, wo etwa die Wahrheit noch
am reinsten sich erkennen lasse.
.Wer alle Hüllen sorglich zu entfernen
weiß, der wird in allen echten „Religionen”
zuletzt die große Lehre finden vom ewigen
Geistesmenschen, der einst mit seinem
Gott vereinigt war und von ihm ab-ge
fallen ist, weil er in seinemIchvon
seinem Gott sich löste. ‒
.Ein „Weg” wird ihm verkündet, der ihn
wieder aufwärts führt, um schließlich
199 Das Buch vom Lebendigen Gott
seinen Gott aufs neue wieder zu erlan
gen, in sich selbst, im eigenen „Ich”. ‒ ‒
.Da diese Lehre aber viel zu geistig und
viel zu einfach ist, als daß sie dem in kom‐
plizierten Sinnenkult versunkenen Menschen
leichthin faßbar wäre, so band er selbst die
wunderlichsten Ranken um diese letzte, tief‐
ste Wahrheit und Erlösungslehre, bis er vor
lauter Rankenwerk, voll von Früchten ange‐
maßter Wichtigkeit, zuletzt die Wahrheits
lehre selbst nicht mehr zu finden wußte.
‒ ‒
.Er ahnt zwar noch, daß hinter diesem
Rankenwerk und seinen aufgeblähten Früch‐
ten voreinst einmal die Wahrheit sichtbar
war, und darum hängt er noch mit zähem
Eigensinn, den er „seinen Glauben
nennt, an all den Rankenformen, mit de‐
nen er die Wahrheit vormaleinst verhüllte,
‒ von denen er sie völlig überwuchern
ließ...
200 Das Buch vom Lebendigen Gott
.In vielen hohen Lehren alter Religio‐
nen wird man auch immer wieder auf gar
mancherlei Weise verhüllte Kunde finden,
von einigen Geistesmenschen, die nicht
dem Fall ins Finstere erlegen sind, und ir‐
gendwie auf dieser Erde wirken, als hohe
Helfer ihrer Brüder in der Finsternis, um
sie aus ihrer Erdentierheitsfessel wieder zu
er-lösen...
.Die alten religiösen Sagen wissen zu be‐
richten, wie diese Geisteshelfer ihrer Men‐
schenbrüder dann und wann auch sichtbar
in Erscheinung traten, oder wie sie unter
den „Gerechten” ihre Abgesandten wählten,
die ihrerseits in ihrem Erdenumkreis dann
das „Licht” verbreiten sollten unter denen,
die in Finsternis sich ängsteten...
.Es fällt gar oft das Wort von einem
Heiligtum auf hohen Bergen, ‒ vom
Berge des Heils, und von den „heiligen
Bergen, von denen her Hilfe komme...
201 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wohl sind nun zwar solche und noch gar
manche andere hochbedeutsamen Worte in
den heiligen Büchern aller alten Religionen
zu finden, allein man weiß nicht mehr
was sie uns sagen wollen, faßt sie als alle
gorische Redebilder, oder bestenfalls als
symbolisch gemeint, und deutet so das Deut
liche zu selbsterzeugtem Irrtum aus. ‒ ‒
.Aber die Weisheit aller alten Religionen
entstammte ursprünglich nur der Beleh‐
rung des Menschen durch seine geist
verbliebenen hohen Brüder im ewigen
Lichte”...
.Ihre, aus Erdenmenschen erwählten
„Söhne” und „Brüder” im Geiste haben
die eine Wahrheit voreinst in den ver
schiedensten Formen zu fassen gesucht,
um jeder Sonderart des Erdenmenschen in
der ihr gemäßen Weise das „Licht” zu
bringen...
.Ihre helfende Kraft hat alle diese Ver‐
kündungen getragen...
202 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Hier ist die eine „Urquelle” aufgedeckt,
aus der alle alten, echten Religionen der
Erdenmenschheit stammen! ‒ ‒ ‒
.Wo aber sind dieser Religionen heutige
Lehrer, die noch wissen, was sie mit den
Worten alter Texte sagen??! ‒ ‒
.Aber auch heute noch leben wie ehedem
die hohen Geisteshelfer: ‒ unsere nicht‐
gefallenen Brüder, ‒ auf der Erde, geist
gestaltet in urewiger Geistsubstanz,
und auch heute weihen sie wie vor alten
Zeiten in die Dinge geistigen Geschehens
und in die letzte urgegebene Wahrheit ein,
wen sie nach seinem Falle aus dem Lichte
alsbald willens fanden, ihnen „Sohn” und
„Bruder” dereinst zu werden in der Sicht‐
barkeit...
.Der Erdenmensch ist viel zu tief gefal‐
len, als daß er ohne Zwischenstufe den
höchsten, nie gefallenen Geisteshelfern
noch erreichbar wäre. ‒ ‒
203 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Darum vor-bereiten sie die Menschen‐
geister, die ihnen nach der irdischen Geburt,
im Erdenleib verkörpert, solche „Zwischen‐
stufe” bilden können...
.In ihnen und durch sie wirken jene
höchsten Helfer, damit die Menschheit die‐
ser Erde niemals ohne ihre Hilfe bleibe. ‒
‒ ‒
.Es hat keine Zeit gegeben, in der solche
helfende, wirkende Brüder im irdischen
Leibe nicht vorhanden gewesen wären.
.In allen Völkern waren sie zu finden.
.Wer Ohren hat, zu hören, der wird so
manches Wort aus allen Zeiten vernehmen,
das „Fleisch und Blut” nicht hätte offen‐
baren können...
.Wer zur Wahrheit gelangen will, höre
auf solche Worte!
204 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Sie werden ihm manches Geheimnis deu‐
ten, ‒ und manche Hülle entfernen, die sei‐
nem Erkennen noch letzte Weisheit verbarg.
‒ ‒
.Es kostet auch wenig Scharfsinn nur, die
falschen Propheten, die auf den Märkten
schreien und doch so kläglich Weniges zu
sagen haben, von den stillen Wirkenden,
den Brüdern der Leuchtenden des Urlichts,
zu unterscheiden.
.Wo eine neue Sekte, die sich auch stolz
eine neue „Religion” nennen mag, auf ir‐
gendwelchen alten Tempeltrümmern aufge‐
richtet wird, dort dürft ihr wahrlich nie
mals wähnen, die Leuchtenden des Ur
lichts könnten hinter solchem Tun verbor‐
gen sein! ‒
.Weit eher könnt ihr die Fürsten des Ab‐
grunds im Unsichtbaren dieser physischen
Welt: ‒ die Hörigen und Vasallen des „Für‐
205 Das Buch vom Lebendigen Gott
sten der Finsternis”, bei solchen Gründun‐
gen am Werke glauben, auch wenn eitel
Liebe” gepredigt wird und viele salbungs‐
volle, „große” Worte weithin schallen...
.Was aber die Wirkenden des Lichtes
euch zu geben haben, kommt heute, da ihr
euch vor „Religionen” und vor alledem, was
ihr so nennt, kaum mehr erretten könnt,
gewiß nicht als „neue Religion” zu euch!
.Es ist jedoch die gleiche Wahrheit, die
in dem tiefsten Kern der alten, echten Re‐
ligionen schlummert. ‒ ‒ ‒
.Man schält euch nur die Hüllen ab von
diesem Kern, und zeigt euch, was ihr längst
als „Religion” nicht mehr zu deuten wißt,
in neuen, deutbar klaren, eurer und der
Folgezeit gemäßen Bildern, so daß ihr
wieder euch in Ehrfurcht neigen könnt, vor
dem, was alle echten Religionen in sich
bergen. ‒ ‒
206 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Die „nackteWahrheit kann euch auch
kein Leuchtender des Urlichts zeigen!
.Die müßt ihr selbst enthüllen in der
Stille, ‒ in euch selbst. ‒ ‒ ‒
.Nur in euch selbst kann höchstes Wun‐
der sich in Wirklichkeit bezeugen!
.Nur im eigenen „Ich” könnt ihr einst
wiederfinden, was ihr vor eurer Erdenzeit
verloren habt! ‒ ‒ ‒
.Ihr seid nicht nur die mit höherer In‐
telligenz begabten Tiere dieser Erde, als die
ihr euch betrachtet nach eurer äußeren Na‐
tur und eurer Geschichte. ‒ ‒
.In euch ist Tieferes und Höheres ver‐
borgen. ‒
.Ihr seid gewohnt, euch selbst zu meinen
in dem Wörtchen „Ich”.
207 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Noch aber wißt ihr nicht, wasIchist
in euch selbst, ‒ ‒ denn „Ich” ist unend
lich und in unzählbaren Stufen wachen
Seins erlebbar...
.Jede solche „Stufe” wird in aller Ewig
keit stets eine neue, höhere Erlebnisstufe
über sich gewahren...
.Jede solche „Stufe” sieht unzählbar viele
Stufen unter sich, hinab, in tiefste Tiefen
eingebaut...
.Ihr aber lebt noch wie die Tiere, die
dasIchnicht in sich tragen, ‒ wenn
auch euer Leben wohl mit „Wissenschaft
und „Kunst” verbrämt, und euer Dasein
mit Genuß schon reichlich übersättigt ist.
.Wenn ihr euch selbst einmal erkennen
werdet, dann könnt ihr nur mit Grauen und
mit Schaudern noch der Tage euch erin‐
nern, die ihr heute arglos und gar leichten
Sinnes lebt, als ob in ihnen alles Sein für
euch allein beschlossen wäre...
208 Das Buch vom Lebendigen Gott
DER WILLE ZUM LICHT
.Ich weiß, daß Viele diese Worte lesen
werden, denen eine Welt darin sich offenbart,
die ihnen allzufremd erscheint, und die ihr
eigenes, mit Scharfsinn aus-gedachtes, oder
eigensinnig wahr-„geglaubtes” Weltbild
stört, so daß sie feindlich von sich weisen,
was ‒ „nicht ganz von ohngefähr” ‒ sie hier
erreicht.
.Daß sie ihr feindlich gegenübertreten
mögen, wird jedoch die Wirklichkeit wohl
schwerlich hindern, so zu bleiben, wie
sie einmal ist und immer war und sein
muß. ‒ ‒
.Man möge sich nicht täuschen!
.Hier redet kein Phantast, der seine Eksta‐
senträume schildert!
211 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Hier redet kein Poet, der seine Gesichte
beschreiben will!
.Was hier gegeben wird, ist sichere Füh
rung, und jedes Wort ist in tiefster Wirk
lichkeit gegründet!
.Wer diese Wirklichkeit bislang noch nicht
erkennen konnte, kann sie erkennen ler
nen, und der „Weg” zu solcher, alles an
dere „Erkennen” weithin überragenden
und in sich einbeziehenden Erkenntnis
ist ihm hier gezeigt. ‒
.Jeder aber wird guttun, von allem An‐
fang an damit zu rechnen, daß die in diesem
Buche von so mancher Seite her durchlich‐
teten Urdinge geistigen Geschehens, Wirk
lichkeiten sind, ‒ vielwirklicher” als
alles, was der Sprachgebrauch des Alltags
„wirklich” nennt, ‒ und daß sie ihre Wir‐
kung ständig üben, auch wenn der Erden‐
mensch noch nichts von ihnen weiß, ‒
auch wenn er nicht ihr Wirken anerkennen
möchte...
212 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Gewiß wird das für manchen, der hier
nun von diesen Dingen hört, auch Konse
quenzen nach sich ziehen, allein, er nutzt
ja nur sich selber, wenn er die „Wirklich‐
keit” an sich erkennen lernt und daraufhin
gewiß nicht mehr im Zweifel bleibt, daß das,
was er bisher sein „Weltbild” nannte, eben
nur ein Trugbild war, auch wenn es ihm
sehr „wahr” erschien, da er dem Außen
Schein vertraute, ‒ auch wenn er seines
Denkens Spiegelungen schon vom Inner
sten heraus erleuchtet glaubte. ‒ ‒ ‒
.Stillstand ist Rückschritt” sagt ein
Sprichwort, ‒ aber in Wahrheit ist Stillstand
viel schlimmer als Rückschritt, denn auch
Rückwärtsschreiten kann zu neuen Wer
ten führen, die niemals der erlangt, der zu
gemächlich oder auch zu eigensinnig ist, sei‐
nen „Standpunkt” aufzugeben um des Su‐
chens willen, ‒ ‒
213 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wer aber den Rückschritt fürchtet, hat
zugleich auch allen Grund, dem Fortschritt
nur mit einigem Argwohn zu vertrauen...
.Es gibt keinen unbegrenzten Fort
schritt hier auf Erden!
.Alle menschliche Entfaltung ist dem
Gesetze der Wellenbewegung unterwor‐
fen! ‒
.Die Menschen dieser heutigen Tage haben
vieles Wissen und Können verloren, das
einst ihre fernen Vorahnen „unverlierbar
glaubten, ‒ und dort, wo jene Ahnen nur
sehr weniges wußten, nur sehr weniges
konnten, hat man heute hohes Wissen und
Können erreicht.
.Nur duldet die Natur kein Stille
stehen!
.„O, daß du warm wärest, oder kalt
Da du aber lau bist, will ich dich ausspeien
aus meinem Munde!”
214 Das Buch vom Lebendigen Gott
.So hat das ewige „Gesetz” noch zu allen
Zeiten gesprochen, und auch heute hat es seine
Worte nicht geändert...
.Wer geistig im Dunkel bleibt, der hat
noch nicht den Willen zum Licht!
.Er „möchte” wohl im Lichte sein, von
dem er Andere reden hört, ‒ allein er will
noch nicht!
.Sobald er wahrhaft will, ist auch der
„Weg” bereits beschritten, der zum Lich‐
te führt! ‒
.Ist dir des Geistes Licht ein „Wert” für
den du alle deine Kraft zum Einsatz brin‐
gen willst, dann wirst du sicher auch dem
Lichte dereinst nahen können!
.Solange freilich noch dein geistiges Auge
unter einer dichten Decke liegt, wirst du un‐
möglich „sehen” können!
215 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Dein Wille nur, ‒ nicht dein
Wunsch”, ‒ kann diese dicke Decke ent
fernen! ‒ ‒
.Wenn du den Willen zum Lichte in dir
trägst, wirst du gewiß zum Lichte gelangen,
‒ ob du ihm nun als Mensch der kühlen
Vorsicht, oder als ein heiß Erglühender dich
nahen magst. ‒ ‒
.Nur halbes Wollen führt dich nicht
zum Ziel!
.Es ist in allen Weltenräumen und über
allen Sternen kein äußerer Gott für dich
erreichbar, der deine lahmen Bitten hören
würde...
.Du mußt dir selber helfen wollen,
willst du, daß dein Gott, der nur in dir
selber dir erreichbar ist, dir hohe Hilfe
sende, nach der urbestimmten Ordnung die
in ihm geordnet ist! ‒
216 Das Buch vom Lebendigen Gott
.In deinem „Ich” ist alles Sein beschlos‐
sen, und allen Schein erschaffst du dir nur
selbst und unbewußt aus Kräften deines
Ich”. ‒ ‒ ‒
.Du hast dich selbst vor deiner Erdenzeit
von deinem Gott getrennt, als du ihn nicht
mehr in deinem „Ich” erkanntest, weil du
dich selber suchtest, wo ‒ dein Gott allein
zu finden war...
.So wurde „Gott” dir ein „Anderer
und du ihm „fremd”. ‒ ‒ ‒
.Nun spaltest du dein „Ich” für deine
Vorstellung, und es scheint dir ein „höhe
res” wie ein „niederes” „Ich” in dir ver‐
borgen, da du den Umfang deines ungeteil‐
ten, unteilbaren einen „Ich” nicht kennst. ‒
.Es ist jedoch keinhöheres” und kein
niederes” Ich in dir, aber in deinem einen
„Ich” ist alle Unendlichkeit verborgen,
und es umfängt die tiefste Tiefe, wie die
höchste Höhe in der Geisteswelt...
217 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Du selbst mußt wählen, ‒ und du
wählst” hier nur durch Tat, ‒ was du
dir selber offenbaren willst in deinem
Ich”...
.In deiner eigenen Unendlichkeit, ‒ im
Mittelpunkte des von deinem „Ich” um‐
faßten Seins, ‒ wird dir aufs neue dann
dein Gott „geboren” werden! ‒ ‒ ‒
.Auch dann wirst du zuerst ihn noch als
anderes Sein empfinden, bis du sodann er‐
kennst, daß er dich selbst in deinem
ganzen ungeteiltenIchumfaßt. ‒
‒ ‒
218 Das Buch vom Lebendigen Gott
DIE HOHEN KRÄFTE DES ERKENNENS
.Ihr glaubt an euren „Fortschritt” und
bemerkt nicht, daß ihr euch zumeist im
Kreise dreht. ‒ ‒
.Ruhelos seid ihr bestrebt, alles zu zer
fasern, alles zu zersplittern, alles zu zer
spalten, ‒ und da sich gewiß nicht leug‐
nen läßt, daß ihr auf solche Weise manches
Wissen euch erworben habt, so scheint es
euch gewiß zu sein, daß euer Tun dereinst
zur Lösung aller Rätsel dieser sinnlich faß‐
baren Natur euch führen müsse.
.Aber: ‒ alles Zerspaltene wird sich ins
Unendliche weiter zerspalten, alles Zersplit‐
terte ins Unendliche weiter zersplittern las‐
sen, und immer wieder werdet ihr entdecken,
daß sich aus dem, was ihr in seine letzte Fase‐
rung zerfasert glaubt, noch neue Fasern lö‐
sen lassen...
221 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Hier ist die Grenze eures Forschens nur
durch erdenhaft bedingtes Unvermögen, wei
ter zu zerspalten, weiter zu zersplittern, wei
ter zu zerfasern, festgesetzt. ‒
.Der Zwang des Aufhörenmüssens be
stimmt eure Forschungsresultate!
.Ich weiß wahrhaftig, was die Menschheit
solcher Art des Forschens dankt, und ferne
liegt es mir, die Weise eures Denkens hier
etwa zu schmähen.
.Allein, ‒ ich sehe auch die Schatten
seite solchen Tuns und sehe, daß ihr euch
durch eure Forschungsresultate blenden
laßt, wodurch ihr einer anderen und wahr‐
lich wichtigeren Art des Forschens mehr
und mehr euch selbst entrückt...
.Ihr habt auf eure Weise Staunenswertes
schon entdeckt, Bewunderungswürdiges er
funden.
.Das aber sollte euch nun nicht verführen
zu dem allzusicheren Überglauben, daß
222 Das Buch vom Lebendigen Gott
sich so auch einstens zur Erkenntnis kom‐
men lasse, in Bereichen die für alle Ewig
keit mechanischer Zerlegung spotten
und mit keinem Instrument zu fassen
sind. ‒ ‒
.Wenn euch die kleinsten Teilchen eines
physischen Gebildes endlich faßbar wurden,
so ist gewiß die Möglichkeit errungen, daß
der Verstand nun aus mechanischen Gege‐
benheiten seine Schlüsse ziehen, und daß so
letzten Endes sich Bedeutsames für unser
äußeres Erdenleben finden, entdecken und
er-finden lassen kann.
.Jedoch des so enträtselten Gebildes ur
sprünglichste Wesenheit ist euch so fremd
geblieben wie zuvor. ‒ ‒
.Alle Anerkennung eurer Arbeit und den
Resultaten, die sie reifen lassen kann; allein
‒ dem „Ding an sich” seid ihr nicht nä
her, auch wenn ihr alle Dinge dieser Sicht‐
barkeit in ihren allerkleinsten Teilchen,
223 Das Buch vom Lebendigen Gott
und dieser Teilchen wundersame Anord
nung erkennt, ‒ wenn ihr um jede Wir
kungsweise dieser Teilchen wißt und ihre
Kräfte so zu dirigieren lernt, daß sie nach
eurem Willen wirken müssen...
.Nicht unter dem Mikroskop ist das „Ding
an sich” zu finden, und niemals wird ein
Fernrohr euch verraten, was ein fernes Welt‐
gebilde „in sich selbst zusammenhält”. ‒
‒ ‒
.Der Trieb zum Forschen ist euch einge‐
boren und erheischt Befriedigung.
.Ihr habt jedoch nur das feinereTier
an euch mit der Arbeit des Forschens be‐
traut, und laßt die hohen Kräfte eurer
Seele, die euch hier dienen könnten, acht‐
los in euch im Dämmerdunkel, ohne sie zu
entwickeln...
.So baut sich das „feinere Tier” nun seine
Denkvehikel und sichtbaren Instrumente,
224 Das Buch vom Lebendigen Gott
um euer Denken und Forschen ins Unend‐
liche zu verbreitern, ‒ doch eure Resul‐
tate führen nur zu neuen Fragen, vor denen
ihr dann ratlos stehenbleiben müßt...
.Wohl aber gab es in der Vorzeit Men‐
schen, denen eure Art zu forschen nur als
Torheit galt, und die mit ihren höchsten
und in sich geeinten Seelenkräften, ohne
euren Apparat die letzten, tiefsten Fragen
lösten. ‒ ‒
.Sie fanden hin zum Grunde aller
Gründe, ‒ doch ihrverbreitert nur
die Oberfläche. ‒ ‒ ‒
.Ihr wißt von allen Dingen klug zu sagen,
wieso sie also sind wie sie sich zeigen, wes
halb ihr Wirken einmal sich ergibt, ein
andermal versagt, und manches Andere
mehr, ‒ doch niemals dringt ihr zu den
letzten Gründen vor, denn was ihr „Gründe”
nennt, sind immer nur die Wirkungen von
225 Das Buch vom Lebendigen Gott
Ursachen, und hinter diesen liegen erst
die wahren Gründe, die keiner von euch
aus Erfahrung kennt...
.Die Kräfte der Seele aber, ‒ wenn ihr
sie aus eurem „Ich” heraus beherrschen
lerntet, wie sie beherrscht sein wollen, ‒
werden euch auch die letzten Gründe er‐
hellen, denn sie sind mit ihnen gleicher
Art, wenn auch nicht gleicher Wirkungs
form...
.Erweisbar wird diese Art von „Grün‐
den” freilich jenen nur, die selbst bereits
der Seele Kräfte zu gebrauchen wissen, ‒
während eure Beweise immerhin leichter
zu erlangen sind, obwohl sie auch nur dem
verstehbar werden, der die Voraussetzungen
sich erworben hat, auf denen die Beweise
eurer Art beruhen.
.Jede Kraft wird nur entwickelt durch
Betätigung.
226 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wenn ihr daher eurer Seele Kräfte nicht
schon in kleinen Dingen anfangs zu benüt
zen wißt, werden sie niemals so erstarken,
daß sie euch ihre hohen Wunder offenbaren
können.
.Es gibt hier vieles zu erkennen, was
wahrlich lohnen würde, daß ein Mensch sein
Leben lang, und wenn es hundert Jahre hier
auf dieser Erde währen sollte, darum dient...
.Doch müßt ihr erst einfach werden wie
die letzten Dinge selbst es sind, bevor sich
das Einfachste euch entschleiert...
.Ihr seid im Denken viel zu kompli
ziert geworden, als daß ihr ohne „umzu‐
lernen”, Wirkliches im tiefsten Sinn er
fassen könntet. ‒ ‒ ‒
.Hier möge euch die allen zugängliche ir‐
dische Erfahrung Belehrung bieten:
.Vieles erschien euch vor noch nicht lan‐
ger Zeit als „wüster Aberglaube”, ‒ bis
227 Das Buch vom Lebendigen Gott
euer eigenes Forschen euch erkennen ließ,
daß solchem Aberglauben doch ein Erken
nen zugrunde lag, das euch vorher ver
schlossen war, während sehr einfach
denkende Gehirne es zu erreichen wuß‐
ten. ‒ ‒
.Jeder wird Beispiele genug zur Verfügung
haben, so daß ich es wohl unterlassen kann,
hier solche aufzuführen.
.So ist auch vieles heute noch in Sage
und Mythe, im Glauben der Völker, und
selbst in manchem ausgesprochenen „Aber
glauben” des Volkes verborgen, was einer
späteren Zeit dermaleinst als reifste Er
kenntnis zutagetreten wird. ‒
.Daß es heute noch nicht von denen er‐
kannt wird, die es „wissenschaftlich” auf
ganz anderen Wegen suchen, liegt an der
ungeheuerlichen Kompliziertheit unse‐
res landläufigen, „berufsmäßigen” Denkens,
das sich zu einfachen Vorstellungen nicht
228 Das Buch vom Lebendigen Gott
mehr bequemen will, weil es sich nicht mehr
dazu bequemen kann, ohne den allergröß
ten Teil seiner einstigen Schulung, ‒ und
sei sie auf einer „Volksschule” nur erfolgt,
‒ zu vergessen. ‒ ‒ ‒
.So sind denn viele Dinge äußerem For‐
schen oft wie „versiegelt”, und mühsam
nur wird weniges davon erkannt. ‒
.Den Kräften der Seele aber, sofern sie
genugsam entwickelt sind, kann nichts
von alledem verborgen bleiben.
.Es steht bei euch, ob eure Enkel erst in
späteren Tagen, und gezwungen sich den
Tatsachen die ihr erkennen könntet, beu‐
gen sollen, oder ob ihr ein Wissen ihnen
hinterlassen wollt, das sie nicht erst berich
tigen müssen...
.Auch jede, in Sage und Aberglaube
versunkene Wahrheitskunde stammte in
ihrem Ursprung einst von Menschen, die
229 Das Buch vom Lebendigen Gott
ihrer Seele Kräfte zu gebrauchen wußten,
aber das innere Dunkel in denen, die nach
ihnen kamen, ließ diese nicht mehr erfas
sen, was gegeben war, so daß die ursprüng‐
liche Wahrheit bald mit wildem Unkraut
wirrer Tagesträume überwuchert war, und
nun kaum noch aus der Überwachsung rein
hervorzulösen ist. ‒
.Beharrliches und vertrauensvolles Suchen
in der Seele wird aber jedem Suchenden den
gleichen Brunnen öffnen, aus dem einst die
Weisen ferner Vorzeit in sich schöpften,
so daß er alsdann mit aller Klarheit in sich
besitzt, was unter der Überwucherung des
Aberglaubens kaum noch zu erkennen ist,
was ihm aber dann, aus eigenem Wissen her
erkennbar wird. ‒ ‒
.Doch, ohne beharrliches Suchen im eige‐
nen Innern, ‒ mit gleichem Mute und
gleicher Ausdauer geführt, wie ihr heute
noch nach Außen sucht, ‒ wird euch nie
mals offenbar werden können, was jene
230 Das Buch vom Lebendigen Gott
Kräfte vermögen, die in euch selbst ver‐
borgen sind. ‒ ‒
.Ihr seid Bewahrer höchster „Wunder
kräfte”, ‒ derweil ihr euch im Äußeren
bemüht um dürftigen Gewinn!
.Die hohen Kräfte des Erkennens, auf die
ich hier den Sinn zu lenken suche, sind in
jedem Menschen, ‒ allein sie schlafen einen
tiefen Schlaf, bis sie der Eigner in sich selbst
erweckt und seinem Willen eint...
.Die meisten Menschen rüsten sich zum
letzten Schlafe, ohne je auch nur geahnt zu
haben, welche Schätze ihre Seele ihnen
bot...
.Wohl dem, der ihre Kräfte des Erkennens
noch zur rechten Zeit in sich zu wecken weiß!
.Er wird sein wahres Leben hier schon
auf der Erde finden und sein Unsterb
liches schon hier im Sterblichen erken
nen. ‒ ‒ ‒
231 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Das aber ist aller geistigen Belehrung
Endzweck, denn was sollte es nutzen, hier
von Geistigem zu reden, das uns ewiglich
erhalten bleibt, ‒ wäre dieses Geistige der
inneren Erlebensfähigkeit des Erdenmen‐
schen so entrückt, daß er es während seines
Erdenlebens doch nicht fassen könnte! ‒ ‒
.Nur das, was hier im Irdischen uns
schon Erlebnis wurde, kann uns geleiten,
und uns neues Leben deuten, wenn wir dieses
Irdische dereinst verlassen werden!
232 Das Buch vom Lebendigen Gott
VOM TODE
.Wir stehen hier vor dem dunklen Tore,
durch das die Menschen schreiten müssen,
wenn sie dauernd von der Erde scheiden.
.Vieles wurde dir verheißen, und vieles
wurde dir angedroht, was hinter diesem
Tore liegen soll.
.Ich weiß nicht, welcher dieser Lehren
du deinen Glauben schenken magst?
.Alle aber werden, ‒ durch alltägliche Er‐
fahrung gezwungen, ‒ in dem einen Punkte
einig sein, daß niemals du in diesem dei
nem heutigen Erdenkörper wiederkehren
kannst, sobald du ihn einmal verlassen hast. ‒
.Viele sagen dir, du würdest wiederkom
men in einem neuen Leibe, zu einer spä
235 Das Buch vom Lebendigen Gott
teren Zeit, und sie haben sich herrliche „Re‐
geln” erdacht, nach denen sich die Zeit
deiner Wiederkehr in einen Erdenleib be‐
stimmen soll.
.Andere lassen dich mit dem Tode deines
Erdenleibes auf immer vernichtet sein, da
sie dem Augen-Schein allein vertrauen, der
ihnen nach dem Tode eines Erdenmenschen
nur eine starre „Leiche” zeigt, und daneben
nichts aus dem sie schließen könnten, daß
dieser Mensch noch irgendwie im Leben sei.
.Es irren beide Glaubensweisen!
.Du selbst kehrst schwerlich wieder, aber
niemand weiß, wie viele deiner Seelenkräfte
du dereinst, mit dir vereinigt, dir erhal
ten kannst, wenn du aus diesem Erdendasein
scheidest.
.Die du hier dir nicht geeinigt hast, wirst
du verlassen müssen, gleich dem Körper
dieser Erde, und so wie dieses Erdenleibes
236 Das Buch vom Lebendigen Gott
dann aus ihrer zeitweiligen Form gelösten
Kräfte alsbald in andere Lebensformen über‐
gehen, so werden auch die von dir zurückge‐
lassenen Seelenkräfte sich einen anderen
Bereich ihrer Wirksamkeit suchen in einem
Erdenmenschen.
.Auch in dir sind heute viele Seelenkräfte
am Werke, die einst in anderen Menschen,
vor deiner Erdenzeit, wirkten.
.So könnte man die Erdenmenschen mit
Fug und Recht unterscheiden, in „seelisch
Jüngere” und „seelisch Ältere”, je nach
der Zeitdauer, die ihre Seelenkräfte bereits
in früheren Menschen am Werke sah...
.Unter den Menschen, die heute zu glei‐
cher Zeit auf Erden leben und die gleiche
Anzahl Jahre zählen seit ihrer irdischen Ge‐
burt, gibt es viele mit weit „jüngeren
Seelenkräften als sie der Mehrzahl eigen sind,
und ebenso nicht wenige mit weitaus „älte
ren” Seelenkräften...
237 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Jeden dieser Sonderfälle wird man schon
im äußeren Leben daran erkennen können,
daß der betreffende Mensch überraschend
anderes empfindet als die größte Zahl seiner
Mitmenschen und Altersgenossen, ‒ daß er
gleichsam aus seiner Zeit „herausfällt”,
und entweder Neigungen zeigt, die einer
kaum vergangenen Zeit entsprochen haben
würden, oder solche, die einer lange zu
rückliegenden Kulturepoche gemäß sich
auszuwirken suchen, was nicht ausschließt,
daß beide Arten in der ihrem Erdenleben
gegebenen Zeit durchaus dieser Zeit gemäß
zu wirken, und ihr oft hohe Werte zu ver‐
mitteln wissen...
.Die Fülle der Kräfte, die jeweils deine
„Seele” bilden, wechselt immerdar, solange
du im Erdenleibe lebst.
.Bald sind es mehr, bald weniger See‐
lenkräfte, die in dir wirken...
238 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Du wirst auch kaum einen von dir als
seelisch nahestehend” empfundenen
Menschen durch den Tod für diese Erden‐
zeit verlieren, ohne ein „Erbe” seiner See‐
lenkräfte zu empfangen, ‒ denn außeror
dentlich selten sind jene Menschen, die
alles, was sie an Seelenkräften in sich zur
Wirkung kommen sahen, in sich geeint,
und selbst vereint mit ihrem Gott, in ihr
nachirdisches Leben mit „hinüberneh‐
men” können...
.Die meisten, der Erde „Sterbenden”,
lassen ein reichliches „Erbe” zurück. ‒
.r das geistige Auge ist deine „Seele”
eine leuchtende, lebendigeWolke”,
aus unzählbaren strahlendenPunk
ten”: ‒ deinen Seelen-Kräften, ‒ gebildet,
und diese Lichtwolke ist in steter Verände
rung, solange du auf Erden lebst...
.Aber nicht die gewaltige Fülle deiner
Seelenkräfte macht den „Reichtum” deiner
239 Das Buch vom Lebendigen Gott
Seele aus, sondern die Einigung der in dir
tätigen Seelenkräfte in deinem „Ich”, in
deinem geistgezeugten Willen. ‒ ‒
.Du wirst dir nur jene Seelenkräfte zu
dauerndem Besitz erhalten, die du in dir
geeinigt haben wirst, wenn deine Stunde
des Abschiedes von diesem Erdenleben
kommt...
.Hast du dich nicht auf Erden hier mit
deinem Gott vereinigt, dann wirst du auch
nach deines Erdenkörpers Tod noch
nicht mit ihm vereinigt sein!
.Du wirst dann als „Ich” im allumfassen‐
den Geiste leben, in deiner substantiellen
geistigen Form, und je nach dem, was du
im Erdenkörperleben dir an Geistigem er‐
wirktest, wird diese Form gebildet sein, und
wirst du Macht besitzen, in ihr dich auszu‐
wirken...
240 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Unter hoher Leitung wirst du weiter‐
schreiten auf deinem „Wege”, bis sich der‐
einst dein Gott in dir gestalten kann...
.Aber es wird alsdann die Zeit bis zu die‐
ser Vereinigung wie eine „Ewigkeit” er‐
scheinen, denn auch im geistigen, erdenkör
perfreien Sein gibt es ein Entsprechendes,
wie hier die Empfindung des Raumes und der
Zeit...
.Es fehlt dir dann jedoch die Macht, dein
dir verbliebenes Seelenkräftereich, in dem,
und durch dessen Auswirkungsgegebenheiten
allein dein geistiges Erleben möglich wird, ‒
weiterhin nach deinem Willen zu wandeln..
.Du mußt mit dem, was du dir während
deines Erdenlebens an Seelenkräften zu ei
nen wußtest, nun ewig dich bescheiden...
.Dennoch wird niemals ein menschliches
Ich”, auch wenn es noch so arm an See
lenkräften einging in das Leben des Gei
stes, um in ihm seinen „Weg” zu Gott zu
241 Das Buch vom Lebendigen Gott
vollenden, auch nur die leisesteSehn
suchtempfinden, wieder zurückkehren
zu können in das Erdenkörperleben, ‒
einerlei, was es in ihm zurücklassen mußte...
.Aber es gibt ein solches, verändertes
Wiederkommen, ‒ jedoch nur in drei be‐
sonderen Fällen:
.Für jene, die es als Folge ihres üblen
Wirkens im Erdenleibe zu erdulden ha‐
ben...
.Für solche, die ihren Erdenleib am
Weiterleben und Erleben hinderten, da
sie vermeinten, durch den Tod sich einer un‐
ertragbar erscheinenden Qual, oder irgend‐
welchen Nöten, entziehen zu können...
.Und endlich für solche, deren Erden‐
lebenszeit zu kurz war, als daß sie schon ir‐
gendwelche Seelenkräfte sich im Willen hät‐
ten vereinen können, so daß sie unfähig
bleiben müßten, geistiges Erleben zu er‐
reichen, würde ihnen die Möglichkeit zur
242 Das Buch vom Lebendigen Gott
Erlangung von Seelenkräften, wie sie das
Erdenleben allein zu bieten hat, nicht ein
zweitesmal geboten...
.Der gleiche Grund ist auch entscheidend
für die beiden ersten Kategorien, allwo
entweder ein „Ich” in Frage kommt, das
auch in ausreichendem Erdenleben kei
nerlei Seelenkräfte sich zu einen vermochte,
da das Tierhafte seines Trägers auf Erden
solchen Willen erstickte, ‒ oder ein „Ich”,
das alle, ihm schon geeinten Seelenkräfte
preisgab in dem Moment, in dem es dem
Gedankenzwang erlag, seinen irdischen
Träger, als seinen, ihm zur Zeit gegebenen
Selbstdarstellungs-Organismus, vernichten
zu müssen...
.Den Menschen, für die ich diese Beleh‐
rungen hier niedergeschrieben habe, mag es
genügen, nun zu wissen, daß sie nur durch
eigene Schuld dahin gelangen können, die
Nöte des Lebens im tierhaften, allen phy‐
sisch-materiellen Einwirkungen ausgesetzten
243 Das Buch vom Lebendigen Gott
Erdenleibe ein zweitesmal erdulden zu
müssen...
.Daß aber die allzufrüh durch unerbitt‐
liche physische Gesetze um ihren irdischen
Selbstdarstellungs-Organismus gebrach‐
ten Menschengeister ihn ein zweitesmal,
‒ und wenn auch dies durch physische Ge‐
setzauswirkungen umsonst gewesen wäre,
selbst mehreremale wiedererlangen kön‐
nen, was gegebenenfalls auch für die bei
den ersten Kategorien zutrifft, ‒ wird je‐
der, der nun zu ahnen beginnt, was das Er‐
denleben für die „Rückkehr” des einst „ge‐
fallenen” Menschengeistes bedeutet, nur als
die notwendige Auswirkung der Liebe, die
alles Geistige, auch wenn es tief gefallen
ist, umfaßt, in seinem Herzen voll Dank
empfinden können...
.Möge jeder, der diese Worte liest, sie in
sich bewahren, und stets mehr und mehr
alsdann erkennen lernen, daß ihm sein Er
dendasein die unerhörte Macht verleiht,
244 Das Buch vom Lebendigen Gott
sein weiteres Schicksal selbst zu be
stimmen!
.Wie diese Macht auf rechte Weise zu ge‐
brauchen ist, wird in diesem Buche gezeigt.
.Es sorge sich aber keiner um die der Erde
Gestorbenen, die „hinübergingen” ohne be‐
reits in ihrem Erdenleben soweit gelangt zu
sein, daß sich ihr Gott in ihnen „gebären”,
‒ daß sie sich mit den ihrem „Ich” geein‐
ten Seelenkräften ihrem Gotte vereinen
konnten!
.Auch sie umfaßt wahrlich die ewige
Liebe!
.Sie finden an allen, die jemals zur Ver‐
einigung mit ihrem Gott gelangten, ihre
getreuesten Helfer, denn alle Seelenkräfte
„berühren” sich im Reiche des substantiellen
Geistes, und was die Geeinten in Gott auf
Erden schon erlangten, und was sie im
Geiste erlangen, das „leiten” diese Kräfte
weiter auch zu ihnen, denen ihr Gott noch
nicht im „Ich” „geboren” ward! ‒ ‒ ‒
245 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Zugleich aber wird diese Hilfe geleitet
durch die Niegefallenen, die im Reiche
des Geistes in gleicher Weise die einst ge‐
fallenen Menschengeister zurück ins Ur
licht führen, wie schon hier auf Erden,
wo immer sie dem Willen zur Rückkehr
begegnen...
.Strebe du danach, dein höchstes Ziel
schon hier auf Erden zu erreichen, aber
ängstige dich nicht um jene, die es hier
noch nicht erreichen konnten!
.Du kannst ihnen jedoch auch deine Hilfe
bieten, wenn du voll lebendiger Liebe
ihrer gedenkst! ‒ ‒ ‒
.Sie alle werden einst in ihrem Gott mit
dir vereinigt sein....
.In dir wirst du, ‒ vereint mit
deinem Gott, ‒ einst allen bewußt ver
einigt sein, die du umfassen kannst in
deiner Liebe! ‒ ‒ ‒
246 Das Buch vom Lebendigen Gott
VOM GEISTE
.Ihr lebt in einer Welt, der „Geistiges”:
Verstandesarbeit ist.
.Was diese Welt als „Geist” bezeichnet,
ist Begriff und Denken, ‒ oder gar: ‒
die Virtuosität, durch schnell gefundenen
Gedanken das Entlegene in frappierenden Zu‐
sammenhang zu bringen. ‒
.Dem „Geiste” aber, der als substantielle
Wirklichkeit die Welt durchleuchtet, ist
alles, was die Menschen dieser Tage „Geist”
benennen, ‒ nur bloßes Werkzeug irdisch‐
allzuirdischen Erkennens...
.Die Welt in der ihr lebt, weiß nur noch
von dem „Werkzeug”, und glaubt in ihm
das „Werk” zu haben. ‒ ‒
249 Das Buch vom Lebendigen Gott
.So wurde euch der „Geist der Welt
zum Blender eures „Seelen-Auges”!
.Es wird schwer sein, ihm, der euch nun‐
mehr beherrscht, und hinführt, wohin er
euch führen will, noch Widerstand zu lei‐
sten! ‒ ‒
.Der Geist, der selbstbewußt in seinem
eigenen Lichte lebt, ist nichts Verschweben‐
des, nichts, was sich nur im frommen Glauben
fühlen läßt.
.Er ist nicht nur so „wirklich”, wie ein
Baum, ein Stein, ein Berg, ‒ ein Blitz, der
aus der Wolke niederfährt, sondern in ihm
allein kann unser irdischer Begriff der
Wirklichkeit” erst seine irdisch nicht
zu findende vollkommene Entsprechung
fassen...
.Wenn schon kein Ding von relativer
Wirklichkeit durch eines Menschenhirnes
Vorstellung von ihm an sich verändert
250 Das Buch vom Lebendigen Gott
wird, ‒ wie wollt ihr wähnen, daß die ab
solute Wirklichkeit nach eurem Wahn sich
wandeln könne!?!
.Die Bilder eurer Vorstellung berühren
nicht einmal das kleinste Erdending im
Grunde seines Daseins, und so auch läßt
der Geist der Ewigkeit sich wahrlich nicht
von dem berühren, was ihr als „Geistbe
nennen möget, solange ihr sein substan
tielles Sein noch nicht in euch erfassen
könnt...
.Ihr werdet nun heute vielleicht und in
dieser Stunde die Wahrheit meiner Worte
zu erkennen glauben, ‒ morgen aber schon
betört euch wohl aufs neue der „Geist” die
ser Welt. ‒
.Ihr werdet ihm, heute entrinnen wol‐
len, um den wirklichen Geist zu suchen,
aber ich fürchte, ‒ morgen schon werdet
ihr wieder vom „Geistder Gehirne ge‐
blendet sein. ‒ ‒
251 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Ihr werdet heute wohl vom Sein des
substantiellen Geistes etwas zu erahnen
glauben, ‒ aber schon morgen befällt euch
doch wieder Kleinmut und Zweifel, und
ihr gebt die Mühe auf, zu suchen, was ihr
heute fast schon „greifbar” glaubtet. ‒ ‒
.Noch immer habt ihr so gehandelt,
wenn einer euch vom Geiste sprach, der
von dem Geiste, der das All durchleuch
tet, reden durfte, da er in ihm lebte, und
der daher aus eigenem Erfahren ihn
bezeugen konnte. ‒
.Vielleicht aber, ‒ gibt es doch einige
unter euch, die ernstlich bereit sind, alle
ihre Kräfte einzusetzen, um eines Tages
selbst die Wirklichkeit von der ich rede,
in ihrer unsagbar erhabenen und gewaltigen
Einfachheit zu erfassen?! ‒
.Zu denen will ich mich wenden, denn nur
ihnen können meine Worte von Nutzen
sein. ‒
252 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Euch, die ihr entschlossen seid, dem
„Geiste” der Gehirne fürderhin nur noch
zu geben was das Seine ist, damit er nicht
um das Erkennen urewigen, wesenhaf
ten Geistes euch betrügen könne, ‒
euch sage ich nun hier erneut, damit ihr es
in eure Herzen hämmert:
.Geist ist nichts Erdachtes!
.Geist ist nicht die Kraft des Denkens!
.Geist ist substantielles, aus sich sel
ber seiendes, lebendiges Licht!
.Alle Unendlichkeiten sind erfüllt von
diesem Geiste und alles lebt aus ihm, aber
der Erdenmensch kann ihn nirgends finden,
außer: ‒ in sich selbst. ‒ ‒ ‒
.In euch selbst ist und lebt er, seiner selbst
bewußt, wie er im unendlichen All seiner
selbst bewußt das All durchlebt!
.Er ist nicht in euren Gehirnen allein,
oder nur in eurenHerzen”!
253 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Der Körper des Erdenmenschen ist zwar
tierischer Art, aber dieses Tierische birgt
geheimnisvoll in sich einen geistigen Or‐
ganismus...
.Ihr selbst seid „Tempel” des Geistes, und
in jedem Glied an euch, wie in jedem
inneren Organ steht ihm ein heiliger
Schrein auf unsichtbarem Altar...
.Bevor ihr daher nicht im ganzen Kör
per, von den Zehen bis zum Scheitel, euch
selbst empfindet, werdet ihr niemals den
Geist empfinden können, nie vermögen, mit
eurem Gotte euch zu einen!
.Dieses Selbstempfinden, durch den gan‐
zen Körper, der in sich ein Heiligtum des
Geistes birgt, muß eure vornehmlichste Auf‐
gabe sein, und sie ist bereits in allem einbe‐
griffen, was ich bisher zu sagen hatte, wenn
auch in anderer Weise davon die Rede
war. ‒ ‒
254 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Hier will ich im besonderen davon
sprechen!
.Ihr müßt bewußt zu werden trachten,
nicht nur im Gehirn, ‒ nicht nur im
Herzen”!
.Bewußtsein lebt in euch vom Inner
sten bis zum Äußersten eures Körpers, ‒
ja selbst in jeder seiner Zellen, ‒ allein es
ist noch nicht vereint mit eurem Selbst-Be‐
wußtsein...
.Doch wenn ihr wollt, und standhaft
bleibt in eurem Streben, dann könnt ihr nach
und nach in jedem Teil des Erdenleibes das
ihm eigene Bewußtsein finden und eurem Ich‐
Bewußtsein so vereinen, daß ihr dann nicht
mehr ‒ nur im Kopfe, und da selbst
doch nur im Gehirn, ein wenig um euch
selber wißt. ‒ ‒ ‒
.Hütet euch aber, eure Nerven zu er‐
regen und zu überreizen, ‒ denn diese Art
255 Das Buch vom Lebendigen Gott
„Bewußtsein” eures ganzen Leibes kennt ihr
alle längst schon viel zu gut! ‒
.Wer nicht bei jedem Fortschritt auf dem
Wege seelisch ruhiger und klarer wird,
der geht nicht den richtigen Weg! ‒ ‒
.Wollt ihr zum Ziele kommen, dann müßt
ihr in völliger Ruhe des Körpers und
der Seele, der Nerven und der Gedan
ken, ‒ euch in jedem Atom eures Körpers
in eurer Seelen-Natur, als „Seele” dieses
Atoms zu empfinden trachten, um die Ur
Seelenkraft euch zu einen, die in und mit
ihm euch gegeben ist...
.Es sind keine seltsamen „Übungen” zu
verrichten und keine gewaltsamen Anstren‐
gungen sind hier nötig, oder gar nützlich!
.Ruhiges Empfinden durch den gan
zen Leib, so oft ihr dazu Neigung fühlt,
und eure Zeit es euch erlaubt, euch solchem
Empfinden ungestört hinzugeben, wird euch
256 Das Buch vom Lebendigen Gott
nach Wochen oder Monaten die ersten Früchte
zeigen.
.Vergeßt aber nicht, daß ihr nur euch
selbst in jedem Körperglied, und nicht
etwa das Glied als solches empfinden ler‐
nen sollt! ‒ ‒
.Wenn ihr euch so dann von innen und
außen, von unten bis oben, „selbstempfin
den” könnt, dann werdet ihr staunen, und
mit Dankbarkeit in hoher Freude in euch
fühlen, was dieses Erdenleben ist, das euch
bis heute noch so „unvollkommen” er‐
scheint...
.Euer ganzer Leib aber wird eine uner‐
ahnte Erneuerung dabei erfahren.
.Wem Glieder seines Leibes fehlen, der
wisse, daß jedes Glied in geistiger Substanz
vorhanden ist, auch wenn es nie im Äußeren
vorhanden war, ‒ und daß in gleicher Weise
jedes Glied in seiner geistigen Gestalt vor‐
257 Das Buch vom Lebendigen Gott
handen bleibt, auch wenn es im Äußeren
vom Körper abgetrennt wurde.
.Im geistigen „Leibe” gibt es keine Ver‐
stümmelung!
.Im geistigen „Leibe” ist jeder Menschen‐
geist Sammelpunkt aller Schönheit, die er
seiner „Seele” geben kann, in der sich der
Geistesleib „erlebt”, ‒ und die im Geiste
zu „sehen” vermögen, erschauen in ihm nur
das, was durch Seelenkräfte Gestalt ge
wonnen hat, nicht aber irgend einen Mangel
der physisch sichtbaren, durch materielle
Einwirkung bestimmten Erscheinungsform...
.Seid ihr nun an diesem Punkte angelangt,
und empfindet ihr euch selbst im Ganzen
eures Leibes als ein Ganzes, dann werdet
ihr wahrhaftig auch den Leib zu ehren wissen,
als das Äußere des „Tempels”, der in sich
das allem Außensinn verhüllte heilige Myste‐
rium geistigen Lebens birgt, wie es allein
258 Das Buch vom Lebendigen Gott
der Menschengeist auf seiner Rückkehr
in das Licht aus dem er einst sich löste, er
langen und erleben kann...
.Nun aber muß es sich dennoch erst zeigen,
ob schon die Seele jene Reife erlangte, die
es dem geistig „älteren” Bruder, der sie er‐
schaut, auch möglich macht, ihr zum Leiter
und Führer zu dienen. ‒
.Ohne ihn würde schwerlich einer aus
euch hier im Erdenleben schon zum Be
wußtsein im allumfassenden Geiste ge
langen, auch wenn schon der „Leib” des
Geistes im Erdenkörper bewußt empfunden
wird!
.Keine eurer Mühen geht verloren,
aber aller Mühen Siegespreis wird euch
erst dann zuteil, wenn ihr den Höhenweg
beendet habt, der euch nur findbar ist
unter innerer geistiger Führung...
.Immerhin aber wird euch vieles schon
auch durch die eigene Beharrlichkeit
allein erreichbar.
259 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Sobald ihr euch durch den ganzen Erden‐
leib in eurem geistigen Leibe empfinden
lerntet, beginnt ihr, ohne daß es eines be‐
sonderen Wollens bedürfte, den Geist in
euch und im ganzen All ‒ zu „atmen”, und
vielen ward damit schon solches Glück zu‐
teil, daß sie für lange Zeit dabei verweilten,
erkennend, daß sie höherem Erleben vor‐
erst noch nicht gewachsen waren...
.Nehmet aber unbesorgt, was man euch
geben wird und vertrauet dem Gesetz des
Geistes, das keine Willkür kennt und stets
nur euer Bestes bewirkt!
.Der Weg zum „innersten Osten” liegt
gangbar vor euch hingebreitet, und euer wa
ches Wollen nur bestimmt, ob man euch
bald auf ihm gewahren wird...
.Die Lande des „innersten Ostens” aber
umfassen viele Wohnstätten, und jedem
ernstlich Suchenden wird dort seine Wohn‐
statt zuteil, ‒ niemals eines Anderen Stätte..
260 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Hier herrschen nicht minder bestimmte
Gesetze des Geschehens, wie in der Außen‐
welt. ‒ ‒
.Auch kein Leuchtender des Urlichts
kann sie beugen!
.Er kennt nur ihre Art und Wirksamkeit,
und all sein Trachten ist, die Menschen, die
zu seiner Zeit der Erdball trägt, wie die einst
kommenden Geschlechter, zu ihrem Glück
‒ zu ihrem höchsten Ziel zu führen. ‒
‒ ‒
.Dazu dient seine Verkündigung!
.Dazu hilft ihm das geistige Gesetz, dem
er aus allen seinen Kräften dient...
.Er wirkt aus dem Geiste, der das Ur
Seiende ist, und er wirkt nur aus der Kraft
des Geistes...
.Aus dem ewigen substantiellen Geiste
aber gestaltet sich „Gott”, ‒ wie ein „De‐
261 Das Buch vom Lebendigen Gott
stillat” des Geistes, ‒ in jedem Menschen,
der mit Inbrunst seinem Gott entgegenstrebt,
und in Geduld den Tag erwartet, der ihn so
vorbereitet findet, daß sein Gott sich in ihm
selbst „gebären” kann. ‒ ‒ ‒
.Gott ist Geist, ‒ jedoch: ‒ des Gei
stes höchste Selbstformung! ‒
.Sich selber formend aus sich selbst,
offenbart sich des Geistes höchste Seins
form ‒ als „Gott”! ‒ ‒ ‒
262 Das Buch vom Lebendigen Gott
DER PFAD DER VOLLENDUNG
.Wähle du, o Suchender, für deine
ersten Schritte schon den Pfad des wahr
haften Lichtes, sonst wirst du dereinst dich
leicht verleiten lassen, den schlimmen Pfad
der schillernden Schlange zu betreten,
wenn du an den Fuß des „großen Gebirges”
gelangst, dahin man zur Not auch auf
Schleichpfaden kommen kann, statt auf
dem Pfade, den die Leuchtenden des Ur
lichts durch die Wüste bahnten. ‒ ‒
.Du kannst diesen Pfad des wahrhaften
Lichtes gleich zu Anfang wählen, wenn du
alle niederenWünsche” von deinem
großen und reinen Wollen zu entfernen
weißt. ‒
.Wirst du aber „den edlen Pfad der
Weisheit”, der dich hinauf zu den hellen
265 Das Buch vom Lebendigen Gott
Firnen führen soll, auch dann noch „wäh‐
len” können, wenn du, mit „Wünschen
beladen, am Ende des Weges durch die Wüste,
steile Felsenhöhen vor dir siehst, und nun
keuchend nach dem letzten Ziele spähst?? ‒ ‒
.Wisse, daß dann das Licht der Wahrheit vor
dem Auge deiner Seele nur wie ein fernes
Leuchten durch den Nebel dringt, und daß
dir der Höhenpfad zu diesem Lichte alsdann
unendlich” erscheinen wird!
.Nebenan aber führt der „Pfad des Irr
tums” zu einem flimmernden, gleißenden
Lichte in nächster Nähe.
.Dieses „Licht” aber ist der trughafte
Glanz derSchlange”, deren Leib, ‒ in
vielen Farben schillernd, ‒ den Erdball
umspannt...
.Wehe, wenn du ihr verfällst!
.Sie wird dich locken durch das verführen‐
de, ununterbrochene Zucken der schimmern‐
266 Das Buch vom Lebendigen Gott
den Schuppen ihres Hauptes, und wenn du,
wißbegierig, nahe genug in ihren Bereich
gelangtest, wirst du ihr Beute zum Fraße
werden. ‒ ‒ ‒
.Kannst du, mein Freund, die Wahrheit
ahnen, die hier, als Symbol verschleiert sich
dir nahen will?!
.Wohl dir, wenn du Symbole wahrhaft
deuten” lernst!
.Sie werden dir tiefe Dinge sagen!
.Dinge, die sonst meist unsagbar bleiben
müßten!
.Dinge, die niemals sich in ihrer Nackt
heit zeigen würden! ‒ ‒
.Ich will es aber versuchen, hier auch Jene
zu erreichen, denen Symbole annoch „dun‐
kel” sind.
.So höre denn andere Worte, aber wisse,
daß sie gleiche Wahrheit meinen!
267 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wenn du, o Suchender, zum erstenmale
den Drang in dir empfindest, die Schleier zu
lüften, hinter denen du ahnend die Wahrheit
fühlst, dann wird dir immer ein „Führer”
nahe sein aus jener Welt des Lichtes, die ewig
deine Heimat werden soll.
.Du wirst die Nähe dieses Führers fühlen,
ohne recht zu wissen, was dein Gefühl be‐
wegt...
.Unwillkürlich wirst du dem Führer fol
gen. ‒
.Du bist dann auf dem „Pfade”, der durch
die „Wüste” führt..
.Die „Wüste” aber wird aus den Sand‐
körnern gebildet, die das äußere Schein-Er‐
kennen der Erdenmenschenhirne schuf. ‒ ‒
.Jahrtausende schufen daran!
.Mitten durch diese „Wüste” haben hohe
Meister, ‒ kundige Wegebauer, ‒ einen fe‐
268 Das Buch vom Lebendigen Gott
sten Damm gebaut auf dem sich sicher schrei‐
ten läßt...
.Ringsumher lagern die allzeit veränder‐
lichen Sanddünen äußerlichen Gehirn-Er‐
kennens: ‒ stets wechselnd in ihren Linien,
‒ unsicherer Grund dem Fuße, der sie be‐
tritt...
.Der Pfad aber auf dem Damme, den die
„Leuchtenden” der Seele schufen, ‒ ist Fels. ‒
.Du fühlst Sicherheit!
.Mutvoll schreitest du voran.
.Lange Zeit wirst du geduldig weiter‐
schreiten müssen, bis du an jene bedeutsame
Stelle gelangst, allwo der Felsdamm durch
der „Wüste” Sand dann das „große Gebirge”
erreicht und damit zu Ende ist...
.Nun mußt du dich entscheiden, denn
vor dir liegen zwei Pfade, die du zuerst nicht
recht zu trennen wissen wirst.
269 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Bald wirst du dem einen, bald dem an‐
deren dich anvertrauen wollen. ‒ ‒
.Der eine aber führt zu den Gipfeln,
der andere ‒ in die abgründigen
Schluchten und verborgenen Klüfte
der Berge...
.Du allein hast die Wahl, wohin du
dich wenden willst!
.Sicherlich aber wirst du sogleich den
Pfad zu den Gipfeln vom Pfade des
Abgrunds unterscheiden können, wenn
deine Füße vorher schon gewohnt waren,
festen „Fels” unter sich zu fühlen, denn
schlüpfrig und ohne Fußruhe ist der
Pfad zur Unterwelt...
.Schon auf dem Pfade über den Felsen‐
damm, werden unsichtbare Dinge dir ihr Da‐
sein zu erweisen suchen.
.Noch aber kannst du nicht unterscheiden,
wer da Lenker ist, der Kräfte, deren Wir‐
kung du erkennst. ‒
270 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Noch glaubst du hinter allen unsichtba‐
ren Kräften gleichen Willen. ‒ ‒
.Wisse aber, daß die niederen Reiche
des Unsichtbaren auch niedere Lenker
haben!
.Wisse, daß Meer und Land nicht so scharf
geschieden sind, wie die niederen erdensinn‐
lich nicht faßbaren Kräfte, die an der „Welt
der Materie” gestaltend und zerstörend wir‐
ken, von den hohen, im höchsten Lichte
erkennenden Mächten des Geistes!
.Die Lenker in den niederen unsicht‐
baren Reichen sind die furchtbarsten Feinde
deiner Seele.
.Nicht weil ihr Wille deiner Seele scha
den will, gleich dem haßerfüllten Willen der
Vernichtungsverdammten, die einst Erden‐
menschen voll höchster Erkenntnis waren
und erneut dem „Fall” ins Finstere erlagen,
‒ sondern nur durch Kräfte der An
ziehung, denen du schwer widerstehen
271 Das Buch vom Lebendigen Gott
kannst, wenn dich nicht hohe Geistesmächte
wirksam isolieren. ‒ ‒
.Wenn du Bereiche streifen wirst, die der
niederen Lenker Einwirkung erfahren,
dann wird sich zeigen wer du bist. ‒
.Suchst du allein nach höchster, ewiger
Klarheit, dann wird dich der Führer, der
ja ein Lenker höchster Kräfte des Geistes
ist, schützend isolieren können.
.Du wirst unter solchem Schutz dann auch
mit Sicherheit den Pfad zu wählen wissen,
der dich zu reinster Lichterkenntnis führt.
.Du wirst dann zum Leben im ewigen
Lichte der hohen Firnen des Geistes ge‐
langen. ‒ ‒
.War es dir aber um niedere Künste zu
tun, ‒ wolltest du nur „Okkultes” erfor‐
schen, um deinen Wünschen neue Kräfte
zu Dienern zu geben, dann wirst du unver‐
merkt der Hand des Führers entgleiten...
272 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Allein gelassen mit deiner schwachen
Kraft, wirst du eine Beute der Anziehungs‐
kräfte werden, die auf dich einwirken aus
dem Bereiche der niederen Lenker in den
dunklen Abgründen der ewigen Geburt der
Materie. ‒
.Du wirst ‒ vielleicht ‒ „okkulte
Kräfte” erlangen, besonders wenn du
strenge sexuelle Abstinenz zu üben weißt und
nur von Vegetabilien lebst, aber wehe dir
und allen die dir verfallen, ‒ wenn du
solche Kräfte erlangst! ‒ ‒
.Jene niederen Lenker sind die „Schaf
fenden des Grundes”, und die Zerstörer
alles dessen, was sich über den Grund, den
sie festigen, frei erheben will.
.Wähne nicht, daß sie dich die Geheim‐
nisse des Schaffens lehren könnten, wie so
mancher törichte „Zauberlehrling” es erwar‐
tet! ‒ ‒
273 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Sie werden sich nur gierig deines Wil
lens bemächtigen, denn alle Gewalten im un‐
sichtbaren Kosmos brauchen menschliche
Agenten, wenn sie auf menschliche in‐
karnierte Willenszentren wirken wollen,
‒ ‒ und nur als Zerstörender wirst du
ihnen dienen, auch wenn du aufzubauen
meinst.
.Die hohen Lenker können die Seele des
Erdenmenschen ebensowenig mit ihrer Ein‐
wirkung erreichen, wie die niedersten,
wenn ihnen nicht menschlich inkarnierte
Willenseinheiten dazu die „Brücke” schla‐
gen...
.Vielleicht ahnst du hier, was die Lehre
von dem „Sohne Gottes” besagen will, der
Mensch werden” mußte, um seine Men‐
schenbrüder „erlösen” zu können?! ‒ ‒ ‒
.Die Wirkungsweise geistiger Gewalten,
‒ sei ihre Wirkung nun von den höchsten
274 Das Buch vom Lebendigen Gott
oder den niedersten unsichtbaren Lenkern
ausgelöst und in ihrer Art bestimmt, ‒
kennt kein zeitliches, kein örtliches
Hindernis.
.Heute noch wirken durch hohe wie
durch niedere Lenker einst ausgelöste und
bestimmte Gewalten in der Seelenwelt des
Erdenmenschen, obwohl diese Gewalten
schon vor vielen Hunderten, ja Tau
senden von Erdenjahren, den Weg zu
den Herzen fanden, ‒ durch einen mensch‐
lichen Agenten...
.Wo auch ein solcher lebt oder lebte: ‒
die geistige Gewalt, die durch ihn zur Wir‐
kung kam, wird alle erreichen, die in ihr
ähnlichen Schwingungen vibrieren, mögen
die solcherart Prädisponierten auch auf des
Erdballs anderer Seite wohnen, oder erst in
einer zukünftigen Generation geboren wer‐
den...
.Während es aber ein sicheres Kennzei‐
chen hoher geistiger Lenkung ist, daß die
275 Das Buch vom Lebendigen Gott
durch sie erregten geistigen Gewalten nur
unter sorglichster Wahrung der Freiheit
im Menschen wirken, ‒ wie sie ja auch den
Erdenmenschen, der als „Brücke” dient,
zum freien Herrn der Kräfte, die durch ihn
wirken, vollendet, ‒ so kann man die nie
deren Lenker stets daran erkennen, daß
alles was durch sie zur Wirkung kommt,
den Beeindruckten zu binden sucht, so daß
er zum Sklaven dieser niederen Lenker
wird, auch wenn sie ihn im Wahn erhalten,
„Herr” der durch sie erregten Gewalten zu
sein...
.Das Ende dessen, der ihnen als „Brücke”
dient, ist „Auflösung” in qualvoller Nacht! ‒
.Die aber „Brücken” der hohen Geistes
lenker sind, bilden eine ewige, königliche
Gemeinschaft des Lichtes im Geiste, denn
in jedem aus ihnen ist ein „Stern” entzün‐
det worden, der, aus reinster Lichtkraft des
Geistes gebildet, ewig den Seelen der Erden‐
menschen leuchtet...
276 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Eine eitle, erklügelte Lehre, die dich zum
Glauben verleiten will, daß der Mensch in
ungezählten Erdenleben sich immer hö‐
her entfalte, weiß dir auch zu sagen, daß die
„Brücken”, die sich selbst erbauen, da‐
mit die höchsten Geisteslenker über sie hin
zum Erdenmenschen gelangen, nichts anderes
seien, als Menschen, die unzähligemale schon
das Erdenleben erlebten, nur jetzt am höch
sten Ziele ihrer Entfaltung angelangt, das
einst auch jeder andere Mensch der Erde
einmal erreichen müsse.
.Glaube nicht solchen törichten Worten!
.Du könntest sonst nur allzuleicht ein
Opfer der Täuschung werden, ‒ und aus
einem vermeintlichen, „zukünftigen Meister”
würde dann ein armer betrogener Sklave
seiner Eitelkeit! ‒ ‒
.Nicht jedem Erdenmenschen ist die
Bürde auferlegt, die nur die Wenigen tra‐
277 Das Buch vom Lebendigen Gott
gen müssen, die voreinst, bald nach ihrem
Fall aus hohem Leuchten, voll Erbarmen für
die Mitgefallenen, sich dargeboten haben,
Mithelfer hoher Geisteslenker zu werden, ‒
„Brücken” und Brückenbauer zugleich, ‒ im
Dienste ewiger Liebe..
.Nur der kann hier die „Meister”-Prüfung
bestehen, der schon des Brückenbaues Mei‐
ster war im Geistigen, und lange schon vor
seiner Inkarnierung in den Erdentieres‐
körper...
.Wissend wird er „Brücke” und des
Brückenbaues Meister dann als Mensch der
Erde erst an jenem Tage, an dem er der
leuchtenden Gemeinschaft seiner geistigen
Brüder nahen darf ‒ als einer, der auch
hier im Irdischen seine „Meisterprüfung”
bestanden hat. ‒ ‒ ‒
.Dann ist der „Sohn” der hohen geistigen
Väter” zu ihrem angenommenen geistigen
Bruder” geworden, als ein Leuchtender
des Urlichts...
278 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Aber ein jeder Erdenmensch, wer es
auch sei, kann „leuchtend” werden im
geistigen Licht, in ewiger Freiheit, ‒
auch wenn er das Licht empfängt, wie ein
Planet der eine Sonne umkreist.
.Im Reiche des Lichtes „neidet” keiner
dem anderen seinen Wirkungskreis, den ihm
der eine, ewigeMeisteraller Meister
schaft vertraute...
.Jeder, der in dieses Reich gelangt, ist ein
Vollendeter, frei in sich selbst, ‒ und je‐
der weiß, daß ihm Vollendung nur erreichbar
war in seiner Eigenform. ‒ ‒ ‒
.Es ist nur Folge deiner erdgezeugten
Nichterkenntnis, wenn du etwa nach
einer Form der geistigen Vollendung strebst,
die nicht aus deiner Individualität heraus
gefordert ist...
.Was soll es dir nutzen, eine Art der Vol‐
lendung zu erreichen, die einem Anderen
vorbehalten bleiben muß?! ‒ ‒
279 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Auch wenn du die höchste Form der
Vollendung fändest, die ein Erdenmensch
erlangen kann, und es wäre die deine
nicht, so hättest du umsonst gestrebt, dich
zu vollenden...
.Nur als Vollender dessen, was nur dir
allein gegeben ist: ‒ nur als Vollender
deiner selbst, gelangst du einst in jenes
ewigliche Licht, aus dem du ewig leuchten
sollst! ‒ ‒ ‒
280 Das Buch vom Lebendigen Gott
VOM EWIGEN LEBEN
.Hier will ich vom lebendigen „Lichte
reden: ‒ dem ewig unertötbaren „Leben”,
das alles Menschensein durchflutet!
.Ich will das Licht der Herzen euch
zeigen, das in euch lebt und euch erleuchten
kann! ‒ ‒
.Ihr alle, die ihr des Lebens Sinn erfassen
möchtet, wart auf den Wegen die zum Irrtum
führen, zu lange schon „Suchende”. ‒
.Ihr sollt zu „Findern” werden, wenn ihr
dem Worte eines Finders vertraut! ‒
.Ihr seid Könige, die ihr Reich nicht
kennen! ‒ ‒
.In euch selbst ist dieses „Reich”, das
eure Augen stets vergeblich zu erspähen
suchen, wenn ihr es außen sucht! ‒ ‒ ‒
283 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Ihr fragt ohne Antwort, und dennoch
fragt ihr immer wieder: ‒ „Wo ist das
Land, das uns verheißen wurde?!”
.„Sind wir zu Ende, wenn es hier zu
Ende geht, oder kann nach diesem Ende
unser Selbstsein weiterleben?! ‒ ”
.Sehet: ‒ die vor euch also fragten, sind
in euch, in eurem inneren „Reiche”, und
könnten euch da Antwort geben, wenn ihr
nicht taub geworden wäret im Lärm der
Außenwelt. ‒ ‒ ‒
.Eure eigene Seele ist das „Reich der
Geister”, die ewig mit und in euch leben
werden! ‒ ‒ ‒
.In euch selbst umfaßt ihr die Un
endlichkeit...
.In euch lebt, was war, was ist, und was
werden wird...
284 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Allgegenwart ist euer Sein, ‒ ‒ doch
ihr seid an das „Da-Sein” noch verhaftet, und
gegenwärtig nur, wo ihr dem niemals
Kommenden entgegen wartet! ‒ ‒
.Ihr glaubt noch, das Reich des Friedens
sei ein fernes Land in Sternenweite, derweil
es in euch lebt und ihr in ihm...
.Jeder, der dieses Reich in sich er-langte,
ist für ewig dieses Reiches „König”! ‒ ‒
.So, wie ihr alles Menschenwesen in
seinem ewigen Geistesleben dort finden
werdet, so werdet ihr selbst dort gefun
den, in allen, die dieses Reich in sich er
langten.
.Es ist ein einziges Reich der Geister,
aber jedem, der Unzähligen, die es in sich
fanden, „gehört” dieses Reich als unge‐
schmälerter Besitz, ‒ jeder ist dieses Rei‐
ches ungehinderter „König”, und sein Reich
285 Das Buch vom Lebendigen Gott
ist „Ewigkeit”, ‒ nicht anders, als ob er,
aus allen Unzählbaren, allein des Reiches
„König” wäre, das jeder nur als „das Reich”
seiner Seele besitzt...
.Ihr könnt das Reich der Geister nicht
er-langen, außer euch selbst! ‒
.In euch ist es allein für euch erreich
bar. ‒ ‒
.Wollt ihr „außen” suchen, so müßt ihr
der Täuschung verfallen, denn alles, was außer
der Ewigkeitswelt des innersten „Ich” sich
finden läßt, ist nur ‒ vergängliches „Bild”:
zeitweiliges Erleben, ‒ wie das Erleben
dieses todbegrenzten Erdenlebens...
.Dort, wo die Seele bei sich selber ist,
im „Ich” geeint und von ihm geleitet, wird
erst das „Reich”, das ewig währt, gefunden.
‒ ‒
.Dort gibt es keine Täuschung mehr!
.Dort nur allein ist „Ewigkeit” Besitz! ‒
286 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Euer „Ich” allein ist dieses „Reiches”
unbeschränkter Besitzer! ‒ ‒ ‒
.Unendlich an Zahl sind die „Könige”
dieses Reiches, und jeder, dem es „König‐
reich” geworden, ist in sich vereint mit al
len anderen die hier wohlberechtigt ihre
Krone tragen, ist der Eine, in dem Alle
herrschen...
.Nicht nebeneinander, sondern mit
einander, in-einander leben alle, die hier
ewig leben!
.So, wie ihr auf Erden von einem Menschen
sagt, er „lebe” sein Leben, wenn er es, gut
oder ungut, tätig genießt, ‒ so ist denn auch
hier alles „leben” ein Tun, und „Leben”
nicht nur Bezeichnung eines Seins-Zu
standes. ‒ ‒
.Hier ist „Leben”: ‒ das „Licht”, aus
dem der Geistige leuchtet, ‒ aus dem er
lebt”! ‒ ‒ ‒
287 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Ihr selbst seid „eingewoben” der ewi‐
gen Welt der Geister, und euch durchflutet
aller ewigen Geister „Leben”, ohne daß ihr
darum wißt! ‒ ‒ ‒
.Ihr fühlt euch noch in eurem „Ich”, ‒
als das ihr vorerst nur imHirnreflex
euch spiegelhaft empfindet, ‒ als unver‐
bundenes „Einzelsein”. ‒
.Lebendiges” jedoch ist stets vereint
mit allem Leben!
.Es gibt auf Erden nichts, und nichts
im ganzen All, und nichts im Geiste, was
sein „Leben” hätte, was zuleben” fähig
wäre, ‒ nur für sich allein! ‒ ‒
.Ein jedesEinzelsein” ist letzten En‐
des wahrhaft alles Sein! ‒ ‒
.Auch wenn es nicht erkenntnisfähig ist,
darum zu wissen! ‒
288 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Er-lösungkann ein Einzel-Sein nur
finden, wenn es im All-Sein sich erlebt, er
löst von allem anderen „Einzel-Sein”.
.Er-lösung” wird euch darum nur, wenn
ihr in eurem „Ich”; ‒ im „Ich” das ewig
euch erhalten bleiben soll, ‒ empfinden
lernt, daß alles „Ich” sich nur in diesem,
eurem „Ich” euch gibt, ‒ euch ewiglich sich
selbst ergibt: ‒ sich selbst vereint!
.In euch: ‒ im „Ich” der Ewigkeit, ‒
ist alles „Leben”, und in diesem Leben
findet ihr allein die wahrhaft „Ewigen”:
‒ die ewig Lebenden! ‒ ‒ ‒
.Längst hättet ihr sie schon gefunden,
wenn ihr nicht immer, eigensinnig und be‐
tört, nur dort nach ihnen suchen würdet,
wo sie nimmermehr zu finden sind!
.Umsonst sucht ihr euch einzudrängen
in die unsichtbaren Reiche dieser Außen
welt! ‒
289 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Noch eher könnte einer derer, die im
Ewigen leben, euch in der Sichtbarkeit,
bei hellem Sonnenlicht, „erscheinen”, als
daß er euch im unsichtbaren Physischen
begegnen könnte...
.In das, was in euch selber „ewig” ist,
müßt ihr euch zu versenken wissen, wollt
ihr denen euch bewußt vereinen, die be‐
reits im ewigen Leben sind! ‒ ‒ ‒
290 Das Buch vom Lebendigen Gott
IM OSTEN WOHNT DAS LICHT
.Nur wenige Menschen des „Westens”
ahnen die Wahrheit, wenn sie von den
weisen Männern des Ostens” hören, von
denen alte Überlieferung in stillen Kreisen
edler Wahrheitssucher spricht, ‒ und unter
denen, die hier dunkel ahnen um was es sich
handelt, sind wieder nur Allzuwenige, die
sich törichter Vorstellungen enthalten
können, sobald sie ihrer „Ahnung” bild
hafte Gestalt zu geben suchen. ‒ ‒
.Im Osten, im Herzen Asiens, wurde das
Messer des Gedankens am schärfsten ge‐
schliffen.
.Hier aber waren auch schon vor Jahr‐
tausenden die Großen, die über allem Den‐
ken den klaren Weg zur Wahrheit fan‐
den, der Wahrheit, die nichts anderes als
absolute Wirklichkeit ist, und nichts zu
293 Das Buch vom Lebendigen Gott
tun hat mit gedanklichen Erkenntnisbildern,
in denen man gemeinhin das, was man „die
Wahrheit” nennt, zu haben glaubt.
.Unter hoher Leitung fanden jene er‐
sten der „Brüder auf Erden” Weg und
Ziel...
.Seitdem unterweisen sie und ihre Nach‐
folger die Suchenden, die dazu „reif” be‐
funden werden, im Geiste durch den
Geist.
.Sie haben „den heiligen Schutzwall
des Schweigens” um ihre Vereinung ge‐
zogen, und nur der findet „Zutritt” zu ihnen,
den sie im Geiste als „reif” erkennen, ein
Erkennender im Geiste zu werden.
.Sie wissen, daß ihre Gabe denen nur von
Nutzen ist, die das Ende ihrer Mühen auf
dem „Pfade” nahe vor sich haben. ‒
.Allen aber senden sie aus ihrer Mitte
helfende Lehrer, und sie sandten sie zu
aller Zeit...
294 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Im Westen wie im Osten fanden sich stets
solche „wirkende Brüder”.
.An keinem äußeren Zeichen sind die
Glieder der hohen Vereinung erkennbar.
.Sie allein nur erkennen, wer zu ihnen
gehört. ‒
.Ihr geistiges Wesen ist tief verborgen vor
den Augen der Menschen.
.Keiner der hier Gemeinten wird jemals
versuchen, eine Gemeinde um sich zu
scharen.
.Keiner hat jemals solche Gemeinden be‐
gründet oder „gestiftet”!
.Was als „Gemeinde” in der Welt entstand
und sich auf die Stimme der „Brüder auf
Erden” oder gar ihrer hohen „Väter” im
Lichte berufen hat, war immer nur das Werk
noch ungereifter Seelen, die durch zu
295 Das Buch vom Lebendigen Gott
früh entfaltete innere Sinne fähig wurden,
einiges aus dem Kreise des innersten „Ostens”
zu vernehmen, wie Lauscher, die an
Schlüssellöchern horchen, und ohne daß
ihnen die Kräfte gegeben waren, auch das
Erlauschte nun in rechter Art zu deuten. ‒
.Sehr selten nur trat einer der Brüder
persönlich und mit klarem Bekenntnis seiner
Artung vor seine Mitmenschen im Getriebe
äußerer Welt, und für jeden der es tat, wurde
dieser Schritt zu einem bitteren Opfer..
.Wo solche Opfer nicht unbedingt von‐
nöten sind, sollen sie vermieden werden.
.Daher die Verborgenheit, aus der heraus
die „weisen Männer des Ostens” wirken. ‒ ‒
.Daher die Verschwiegenheit in die sich
jedes Glied dieses Kreises hüllt, solange seine
Aufgabe ihm nicht den Zwang auferlegt, sei
es in symbolischer Umschreibung, sei es in
deutlicheren Worten, seine geistige Art zu
296 Das Buch vom Lebendigen Gott
bekennen, die auch wahrlich nicht leicht
sich bekennen läßt...
.Die hohe Gemeinschaft der Leuchten‐
den, von der uralte Tradition ehrfürchtiger
Wahrheitssucher als den „weisen Männern
des Ostens” spricht, ist allein durch geisti
ges Gesetz gebunden.
.Ihre Glieder kennen keine Gelübde der
Askese und keine „Ordens”-Schwüre.
.Die Entfaltung der geistigen Kräfte hängt
nicht von solchen Dingen ab.
.Was aber durch das „Gesetz” verlangt
wird, dem diese Kräfte gehorchen, das ist
weit mehr als härteste Askese und das
strengste Büßerleben...
.Es müssen viele Vorstellungen aufgege‐
ben werden, die zwar auf an sich richtigen
Prämissen beruhen, aber nur die niederen
297 Das Buch vom Lebendigen Gott
Kräfte am Menschen berühren, wenn man
wissen will, was ein „Eingeweihter” dieser
Vereinung in Wahrheit ist. ‒
.Jeder aber, der es ist, wird euch erken‐
nen, unbeirrt durch eure irrtümlichen Vor‐
stellungen.
.Sein „Lehren” tönt auch nicht eurem
äußeren Ohr, ‒ selbst wenn ihr ihn „per‐
sönlich” kennen solltet. ‒
.Die Mitteilungen, die ein Geistgeeinter
etwa in der Sprache seines Landes gibt, ma‐
chen nicht sein „Lehren” aus...
.Sie sollen euch nur „Fingerzeige” sein,
damit ihr ihn, oder was seiner Art ist, wieder‐
findet in euch selbst: ‒ in eurem Inner
sten.
.Auch seine äußeren Worte aber wollen
empfunden, nicht „erklärt”, nicht gedank‐
lich zerfasert werden!
298 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wenn ihr jedoch zu seinen „Jüngern”
werden könnt, dann wird er in eurem eige
nen Herzen zu euch „reden”...
.Er wird aber niemals eure Sinne durch
die Reize schwüler Ekstase zu umnebeln su‐
chen, ‒ sondern neben euren irdischen
Sinnen wird er neue, geistige Sinne in euch
eröffnen.
.Ihr werdet zuerst sein „Lehren” verneh‐
men, ohne zu wissen, ob es der Freund und
Führer eurer Seele ist, oder ob ihr selbst das
seid, was in euch „spricht”. ‒ ‒
.Ein gewisses, reines, neues Fühlen jedoch,
das sein „Lehren” begleitet, wird euch aber
in Bälde sagen, daß mit „geweihter” Stimme
in euch „gesprochen” wird: ‒ durch un
mittelbares Erzeugen innerer Klarheit,
ohne Worte der Sprache des Mundes. ‒
‒ ‒
.Dieses, oft ganz unvermutete, ganz
unerwartete Empfangen eines klaren inne‐
299 Das Buch vom Lebendigen Gott
ren Erhellens geistiger Dinge, ‒ das so sehr
alles überstrahlt, was logisches Denken
sonst gewohntermaßen uns an „Klarheit”
bringt, ‒ mag euch immer ein sicheres Zei‐
chen sein, daß echtes geistiges „Lehren” sich
in euch bezeugt...
.GeistigesLehren” ist kein „Überzeu‐
genwollen”, sondern ein unmittelbares
Aufhellen dessen, was vorher im Dunkel
lag. ‒ ‒ ‒
.Ein Menschenbruder „spricht” so in euch,
der nicht mehr die Schallwellen der
Luft dem Ohre des Leibes senden muß,
wenn er empfängliche offene Herzen, die ihm
vertrauen, „lehrend” erreichen will...
.Vielleicht werdet ihr im Anfang noch
nicht alles „verstehen” können, was auf
diese Weise sich in euch ereignet, denn man
kann sehr wohl etwas in absoluter Klarheit
erkennen, ohne imstande zu sein, das Er‐
300 Das Buch vom Lebendigen Gott
kannte vor sich selbst gedanklich aufzu
lösen. ‒
.Bleibet ruhig in solchem Falle und „zer‐
grübelt” euch das Klare nicht!
.Lernet vor allem die Stimme, die in euch
„spricht” unterscheiden von den falschen
„Stimmen” eurer aufgeregten Phantasie! ‒
.Bleibet nüchtern und still, als ob es gel‐
ten würde, Längstgewohntes in euch zu
beobachten!
.Die Stimme des „Lehrenden” ist im Be‐
ginn der „Führung” so leise, wie ein ganz
zarter Gedanke, ein kaum wahrnehmbares
Fühlen.
.Aber der Führer im Geiste spricht kein
„Wort” in seiner geistigen „Sprache”, von dem
nicht ein sehr präzise unterscheidbares „Ge
fühlder Gewißheit ausginge, das schwer
beschreibbar ist, aber mit aller Sicherheit
301 Das Buch vom Lebendigen Gott
von jedem sofort erkannt wird, der es auch
nur ein einzigesmal erlebte...
.Kein eigener „Gedanke”, und sei er noch
so hoher Art, kann jemals dieses „Fühlen”
erzeugen, das der Geist erzeugt, in dem und
durch den der geistig Lehrende wirkt...
.Je mehr die Sicherheit wächst, mit der
ihr seine „Stimme” unterscheiden lernt
von allem was nicht seines Wesens ist, desto
klarer wird sie in euch „sprechen” können.
.Dann wird eines Tages „die große Stun
de” kommen, in der auch euer letzter,
leiser Zweifel euch verlassen haben wird!
.Werdet aber nicht ungeduldig, wenn ihr
nicht gleich das erste der Ziele in euch er‐
reichen könnt!
.Ihr wißt nicht, ob ihr schon „reif” genug
wurdet, um die „Lehre” mit Nutzen zu emp‐
302 Das Buch vom Lebendigen Gott
fangen, und hier trägt derLehrendeal
lein Verantwortung für alles was er gibt...
.Manchem wird die Gewißheit eher, man‐
chem später kommen, jedoch sie kommt ge
wiß, wenn ihr in Ruhe euch dem geistig
„Lehrenden” vertraut!
.Vergeßt auch nicht, daß wahre „Weisheit”:
Wirklichkeitserkenntnis ist, und daß
sich der wahren Weisheit Lehrer nur der
Wirklichkeit bedienen, wenn sie lehren, ‒
der Wirklichkeit, die nicht etwa das Kom
plizierteste im Sein, sondern an sich das
Allereinfachste ist! ‒ ‒ ‒
.Es gibt Gedankenkräfte, die stets zu
täuschen suchen, da sie selber nur aus Täu‐
schung leben...
.Der geistig Lehrende ist ferne ihren
Regionen!
.Nie wird er auch von Anderem euch zeu‐
gen, als von Dingen des Geistes, Dingen
der Seele, Dingen der Ewigkeit...
303 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Ihr werdet durch ihn erkennen, wer ihr
seid, und was der Mensch „an sich”, ‒ in
Wirklichkeit, ‒ im Kosmos bedeutet!
.Ihr werdet, wenn ihr dem vertraut, der
euch in euch „belehrt”, sicher werden wie
er selber sicher ist!
.Seine eigene Sicherheit wird er, der
Sichere, euch überlassen. ‒ ‒ ‒
.Ihr sollt aber niemals innerliche Fragen
stellen, bevordie große Stunde der Ge
wißheit” kam.
.Tut ihr es dennoch, so werdet ihr sicher
jenen täuschenden Gedankenkräften er‐
liegen. ‒ ‒
.Macht euch auch keine Vorstellung von
der Gestalt und Art des Menschen, in der
euer geistiger Lehrer hier auf Erden leben
mag, und wenn ihr einen Menschen kennt,
von dem ihr wißt: ‒ er ist ein Geistgeeinter,
304 Das Buch vom Lebendigen Gott
so hütet euch, nun allsogleich zu glauben,
es müsse nur dieser, euch bekannte Geist‐
geeinte, nun auch euer geistiger Lehrer sein!
‒ ‒
.Ihr braucht nicht zu wissen, wer aus dem
Kreis der Leuchtenden des Urlichts euch
geistig lehrt, und die es wissen, werden es
euch nicht sagen...
.Gebietet eurer Phantasie, damit sie euch
nicht bei wachen Augen am Gängelbande
irrer Träume führe! ‒ ‒
.Das außenmenschliche Leben des geistig
Lehrenden ist seine eigene Angelegenheit,
und er will nicht, daß man den Geist in
dem er wirkt, mit seiner erdenhaften Er
scheinung verwechsle. ‒
.Er will nicht, daß seine „Schüler” der
Persönlichkeit” Verehrung zollen, die
nur der Geisteskraft gebührt, aus der sie
wirkt. ‒ ‒
305 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Er „lehrt” allein die „Weisheit”, die
man „Wahrheit” nennt, und die in Wirk
lichkeiten sich dem „Schüler” offenbart...
.Er „lehrt” sie nur im Geiste, ‒ durch
die Kraft des Geistes.
.Dabei ist jedem, der auf solche Weise
lehren darf, zugleich bewußt und nur zu
sehr empfindbar, daß allein die Unvoll
kommenheit der Darstellung des Ewig‐
Wirklichen als Werk des Erdenmenschen
sich erweist, ‒ und jeder Leuchtende im Ur‐
licht wird die Ehrung, die man etwa seiner
irdischen Persönlichkeit entgegenbringen
mag, alsbald „verbrennen” auf dem ewigen
Altar, dem er als einer der berufenen Prie‐
ster dient. ‒ ‒
306 Das Buch vom Lebendigen Gott
GLAUBE,
TALISMAN UND GÖTTERBILD
.Einfach wie der Urgrund sind die letz‐
ten Geheimnisse der Natur.
.Trenne nicht durch die Willkür deiner
Gedanken, was aus der gleichen Wurzel
keimt, und du wirst allenthalben die glei
chen Gesetze finden...
.Man lehrte dich aber eine zweite Welt
erbauen, eine Welt ohne Grund und Ursache,
und dieses Erbauen des Nichtseienden
aus dem Nichts nannten deine Lehrer: ‒
Glauben”. ‒ ‒
.Nicht von dieser Art „Glauben” soll hier
die Rede sein, wenn ich dir vom Glauben
spreche! ‒
.Nicht dieser Glaube ist nötig zur Selig‐
keit deiner Seele! ‒ ‒
309 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wir wollen aber dein Empfinden öffnen
für eine ewige Kraft, die in dir lebt, und
stetig in lebendiger Bewegung, stetig
schaffend, deines Willens Kräfte in ge‐
formte Wirkung faßt. ‒
.Glaube ist Gestaltungskraft im Geiste!
.Glaube schafft die Form, durch die das
Wirken deines Willens sich bestimmt!
.Glaube ist die Wirkungsform des
Willens!
.Du kannst nicht wahrhaft wollen, ohne
zu glauben, ‒ denn ungeformter Wille
ist eine zerfließende Kraft und wird als
solche ohne Wirkung vergeudet. ‒ ‒
.Sobald du aber deinem Willen eine feste
Form durch deinen Glauben schaffst,
wird er zur mächtigen Gewalt und wan‐
delt selbst die scheinbar festgefügten Ketten‐
310 Das Buch vom Lebendigen Gott
glieder äußeren Geschehens derart um, daß
sie wie Wachs sich ändern nach deiner
Glaubensform...
.Deine Seele schmachtet, solange du
nicht glauben kannst, und sie wird dich
selbst zum Aberglauben verführen in ihrer
Not! ‒ ‒
.Deiner Seele „Leben” ist Wille, und
aller Wille will seine feste Form gewin
nen, in der er zur Wirkung kommen kann.
‒ ‒
.Wenn du erst fühlen wirst, was „Glaube”
wirklich ist, dann wirst du wahrlich glau‐
ben können...
.Dein Glaube ist das Modell, nach dem das
flüssige Erz deines Schicksals sich formt. ‒
.Dein Glaube braucht absolute Freiheit!
.Du selbst allein bist deines Glaubens
Norm! ‒ ‒ ‒
311 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Dir zum Bilde formt dein Glaube dei‐
nen Gott, wie er deine Götter formte...
.Ungeformt ist Göttliches in seinem un
ergründbaren Sein...
.Geformt nur wird es dir ergründbar.
‒ ‒
.Dir offenbart es sich in dir nur in
deiner Form!
.Darum kannst du deinen Gott nicht
deinem Bruder zeigen, denn er kann dei
nen Gott in Ewigkeit nicht schauen...
.Er sieht die gleiche Gottheit, aber ge‐
formt nach seinem Bilde...
.Du glaubst noch, deinen Bruder zu dei
nem Gott ver-führen zu können, aber wenn
er sich verführen läßt, wird er „ein Bild
anbeten und seinem Gotte entfremdet
werden. ‒ ‒ ‒
312 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Unendlichfältig offenbart sich der
Eine, und wehe denen, die Ihm auch nur
eine einzige Seiner Formen streitig machen
wollen!
.Im gleichen Augenblick, in dem du dei
nes Gottes inneres Bild einem anderen
Menschen schamlos enthüllst, hast du dei‐
nen Gott verloren! ‒
.Glaube nicht, daß unter allen Tausenden,
die sich um einen von ihnen allen hochge‐
lobten Gottesnamen scharen, auch nur
zwei wahrhaft Gläubige sind, die in diesem
Namen Gleiches glauben! ‒ ‒
.Der Glaube selbst aber kann sich eines
jeden Gottes- oder Teufels- Namens be‐
dienen...
.Die formende Kraft des Glaubens,
die deinen Willen bestimmt, ist die allei‐
nige Ursache aller „magischenWirkung.
.Weiße” und „schwarze” Magie grün‐
den in der gleichen Kraft!
313 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wie die Weltkraft, die der Blitz dir
kündet, dem Menschen dienstbar wird, sobald
er sie in Form zu bannen weiß, ‒ wie sie
sich binden läßt und aufbewahren in Metallen
und Gefäßen, ‒ so läßt sich auch die Kraft
des Willens, der durch den Glauben seine
Formung fand, in Gebilde der Materie
binden...
.In allen Kulten und bei allen Völkern
findest du den Glauben an „geweihte” Dinge,
denen hohe Kräfte eigen seien.
.Du spottest dieses Glaubens und nennst
ihn „Aberglauben”.
.Wenn du nur die Fabeln damit treffen
willst, die sich um solche Dinge wie ein wu‐
cherndes Geranke schlingen, dann bist du
wohl im Recht, ‒ doch hüte dich, die Wirk
lichkeit, die hier verhüllt ist, zu mißachten!
‒ ‒ ‒
.Ein jeder Gegenstand, den du mit
deinem, durch den Glauben klar geformten
Willen selbst „geladen” hast, ist ein „Ta
314 Das Buch vom Lebendigen Gott
lisman”, und solcher „Talismane” Wir
kung hast du oft genug erfahren, auch
wenn dir niemals zu Bewußtsein kam, was
Ursache der Wirkung war, und du im Traum
nicht daran dachtest, daß du dich selbst
mitTalismanenrings umgeben hast...
.Der Gegenstand ist freilich nur der
Träger und Bewahrer einer an sich freien,
‒ nun in ihn gebannten Kraft. ‒ ‒ ‒
.Ihm eignet sie nicht selbst!
.Dein Glaube formte deine Willenskraft
und lenkte sie, meist ohne dein Verstandes‐
wissen, hin auf jenen „Träger”, der sie nun
bewahrt, bis sie sich ausgegeben hat. ‒ ‒ ‒
.Dein neuer Glaube aber „lädt” erneut
den „Talisman”, auch wenn du ihn als sol‐
chen nicht betrachtest...
.Ein jedes Ding, das du gebrauchst, damit
dir dies und das gelinge, obwohl das Ding
zu deinem Tun nicht unbedingt vonnöten
wäre, ‒ ist einTalisman”, auch wenn du,
315 Das Buch vom Lebendigen Gott
„aufgeklärt” des „Aberglaubens” spottest,
hörst du von Menschen, die dergleichen Dinge
vollbewußt und steter Wirkung sicher, zu
gebrauchen pflegen. ‒ ‒
.Du ‒ bist nur unbedacht, ‒ doch Jene
wissen”!
.Ein Gleiches sind die Götterbilder!
.Der Fetisch in der Hütte eines Wilden,
wie das hohe Kultbild der Athena. ‒
.Das Bild des Heiligen im hohen Dom,
wie auch das „Gnadenbild” der alten Klo‐
sterkirche. ‒
.Sie alle sind „Träger” konzentrierter
Willenskräfte von gar vielen Menschen,
die durch den Glauben ihren Willen
formten und in das Bildwerk einzusen
ken wußten, ‒ ja auch in arme materielle
Überreste, die in Wahrheit, oder nur ver‐
meint, von einem „heiligen” Menschen stam‐
men. ‒ ‒ ‒
316 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Der Glaube derer, die vor diesen Din‐
gen beten, ist es wieder, der die hier gebun‐
denen Kräfte „löst”. ‒
.Darum kann keiner diese Kräfte lösen,
der nicht an sie glaubt, ‒ denn nur der
Glaube schafft die hohe Spannung dei‐
ner Willensströme, die jene gehäuften, und
im Glauben klar geformten Willenskräfte
zwingt, in deinen Willen einzuströmen und
mit ihm vereint, nach deinem Wunsch zu
wirken. ‒ ‒ ‒
.Wir aber wollen nun dich nicht etwa ver‐
führen, die „Talismane” aller Kulte zu ge‐
brauchen.
.Wir wollen dir nicht etwa nahelegen, daß
du die hohe Kraft der Götter- oder „Gnaden‐
bilder” an dir selbst erproben sollst, ‒ ob‐
wohl du diese Dinge frei erhalten mußt von
deinem Spott, wenn du in Wahrheit das
Gesetz erkennen willst, dem sie Verehrung
danken. ‒
317 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Dieses „Gesetz” allein sollst du erken‐
nen, und was es dir an Möglichkeiten bietet,
sollst du deinem Leben dienstbar machen
lernen. ‒ ‒
.Du bist nicht jederzeit in gleicher
Willenskraft, ‒ doch, wenn du in den Zeiten
deiner Stärke dir Bewahrer deiner Kräfte
schaffst, dann wirst du in der Zeit der
Schwäche wahre „Wunder” an dir selbst
erleben...
.Ein jedes Ding, das du zu gebrauchen
liebst, oder das dich Tag für Tag umgibt
kann dir zum Träger und Verstärker
deiner Willenskräfte werden, und du ver‐
magst es dann, in Stunden, die dich nicht
auf deiner Höhe finden, die Kräfteauszu
lösen” aus dem selbstgeschaffenen Bewahrer,
die du zu solchen Stunden brauchst...
.Vorzüglich aber eignen sich die Dinge
hoher Schönheit als Bewahrer!
318 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Was schon sein eigenes Dasein hoher
Formkraft dankt, wird dir am besten ei
gene geformte Kraft in sich erhalten. ‒ ‒
.Umgib dich mit solchen Dingen, die
du täglich neu in hohen Stunden füllen und
erfüllen magst mit jener Art geformter Wil‐
lenskraft, die dir vonnöten ist in Stunden
deiner Schwäche!
.Trage solche Dinge immer bei dir, wo‐
hin du dich auch begibst! ‒
.Glaube, daß du deine beste Kraft
diesen Dingen übertragen kannst, und
daß du sie wieder von ihnen zurückerlangst,
sobald du sie benötigst!
.Wahrlich, ‒ solcher Glaube ist kein
Überglaube”!
.Du ahnst noch nicht, wie „wirklich
deine Willenskräfte sind, und welche
Macht du in den Händen hast, wenn du den
319 Das Buch vom Lebendigen Gott
Willen durch den Glauben „formen
lerntest! ‒ ‒
.Zerstöre aber deinen Glauben nicht durch
eitle Reflexionen: ‒ wie dergleichen „psy‐
chologisch zu erklären” sei?! ‒ ‒
.Wenn einer dir von „Autosuggestion
hier reden mag, so lass' dich nicht betören!
.Mit solchen Worten ist hier nichts „er‐
klärt”!
.Man setzt da nur ein neues Wort, und
kann die Wirkung, die auf hohen Kräften
ruht, damit gewiß nicht fassen. ‒ ‒
.Natur wirkt ihrer Art gemäß und wartet
nicht, ob du ihr Wirken auch „erklären
kannst! ‒ ‒ ‒
.Wie wir die Dinge sehen, erfährst du in
diesen, meinen Worten.
.Ob wir die Wahrheit reden, kannst du
nur erfahren, wenn du selbst die Probe
unternehmen willst. ‒ ‒ ‒
320 Das Buch vom Lebendigen Gott
DIE MAGIE DES WORTES
.Wisse, o Suchender, daß für ein jedes
Zeitalter andere „magische” Kräfte notwen‐
dig sind, und lasse dich nicht beirren, wenn
du nicht zu jeder Zeit die gleichen, wunder‐
samen Kräftewirkungen gewahrst!
.Die hier zu „ordnen” haben, was zu ord‐
nen ist, lenken den „Strom” jeweils in jene
Kanäle, die das Land dort, wo es am dürr
sten ist, befruchten...
.In diesen Tagen sollst du daher keine
andere „magische” Wirkung erwarten, als
die „Magie” des Wortes. ‒ ‒ ‒
.Das Wort, im „magischen” Sinne aufge‐
faßt, ist aber die höchste der „magischen”
Kräfte...
323 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Es werden Zeiten kommen, da man, ‒
durch die Kraft des Wortes allein, ‒ Dinge
verrichten wird, die an „Wunder” grenzen...
.Ja: ‒ „Wunderwird man im Worte
wirken! ‒ ‒ ‒
.„Wunder”, viel wunderbarer als alles,
was die alten Zeiten „Wunder” nannten!
.Es werden Tage erscheinen, an denen man
Werke durch das Wort zu wirken wissen
wird, zu deren Gestaltung heute noch tausend
Hände und gewaltige Maschinen nötig sind...
.Noch sind die Menschen ferne diesen
kommenden Gezeiten. ‒
.Noch weiß man das Wort nicht zuspre
chen”! ‒ ‒ ‒
.Dennoch regt sich auch in dieser dunklen
Zeit bereits das Wort, denn des Menschen
Bahn ist an der Schwelle eines jener „lichten
Höfe” angelangt, die auch in tiefster Nacht
zuzeiten Hoffnung geben...
324 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Sieh um dich, und wohin du auch blickst,
wirst du die magische Kraft des Wortes in
ihren Vorboten, ‒ in ihren Zerrbildern
sogar, ‒ erblicken!
.Es zeigt sich so dem Menschen, daß das
Wort denn doch noch anderes vermag, als
nur Verständigung von Hirn zu Hirn zu brin‐
gen. ‒
.Wenn du weise bist, dann achtest du
auf solche Zeichen!
.Achte auf das Wort! ‒ ‒ ‒
.Man lehrte dich lange schon das Wort
verachten.
.Nur den Sinn solltest du zu ergründen
suchen.
.So hat man dich daran gewöhnt, vor allem
verstehen” zu wollen, ‒ du aber hast die
kostbarste Gabe des Herzens: ‒ deinen ein‐
zigen „okkulten” geistigen „Sinn”, ‒ das
Fühlenkönnen der Dinge dabei verloren...
325 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wenn du diesen „okkulten” Geistes-Sinn
wiedererlangen möchtest, dann bereite
dich, Worte nicht nur ihrem „Inhalt” nach
zu verstehen, sondern suche Worte, Wort‐
klang und Formung stets zu erfühlen! ‒ ‒
.Siehe, es ist Gesetz, und nicht Willkür,
was Worte zu magischen Kräften werden
läßt, ‒ was höchstemagischeKraft
in die Form des Wortes, in die Elemente
der Worte band, so daß es Worte: ‒ Worte
menschlicher Sprachen, ‒ gibt, die ei
nen Berg ins Wanken bringen könnten,
würde die in ihnen gebundene Kraft be
freit...
.Es gibt Worte, denen dein „Verstehen”
machtlos gegenübertritt, und dennoch
sprichst du sie nicht aus, ohne daß sie „ma‐
gisch”, deine Seele formen, obwohl du sie
keineswegs zu „sprechen” weißt in jener
Weise, in der sie alle ihre Kraft aus sich
befreit sehen würden...
326 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Ich könnte dir wundersame Dinge von
solchen Worten sagen, aber du würdest mir
unmöglich glauben können.
.Gläubig wirst du hier nur durch Er
fahrung werden! ‒
.Bedenke, mein Freund: ‒ Alles im
Kosmos hat seinen Rhythmus und seine
Zahl! ‒ ‒
.Auf Zahl und Rhythmus gründet sich
alle „Magie”! ‒
.Wer diese beiden finden kann, der hat
selbst den „Schlüssel”, der diese Pforte
öffnet...
.Für ihn schreibe ich nicht.
.Es ist aber auch keine Gefahr vorhanden,
daß ein solcher diese Worte zu Gesicht be‐
kommen würde.
.Zu wenige sind es, die den „Schlüssel”
fanden, und diese Wenigen lesen nur ein
327 Das Buch vom Lebendigen Gott
einziges, ewiges Buch, dessen „Worte”:
Leben, dessen „Sätze”: Geschehen sind.
‒ ‒ ‒
.Ich kann dir auch niemals Rhythmus
und Zahl des Kosmos „erklären”.
.Ich will dich nur lehren, des Wortes zu
achten, damit du im Worte finden mögest,
was du zu dieser Zeit vergeblich in anderer
Form zu finden trachten würdest.
.Achte genugsam auf das Wort, und du
wirst in Bälde Wahres von Falschem unter‐
scheiden, soweit es die Dinge des Geistes
betrifft.
.Alle geistige Weisheit schreitet dir ent‐
gegen im Rhythmus der Ewigkeit.
.Alle letzten Dinge tragen kosmische
Zahlen an der Stirnbinde, wenn sie im Ge‐
wande des Wortes erscheinen. ‒ ‒ ‒
.Die da vermeinen, daß der „Sinn” eines
„heiligen” Buches, ‒ eines Buches, das ein
328 Das Buch vom Lebendigen Gott
Wissender” schrieb, ‒ dir schon sein
Letztes, Tiefstes und Un-erhörtestes
enthülle, ‒ ‒ sie irren sehr...
.Mag dir der „Sinn” auch Tiefen des
ewigen Grundes erhellen, ‒ die letzten
Dinge, und ihr verborgenstes Geheimnis
mußt du aus der Art, der Form, dem Klang,
der Geltung der Worte „erfühlen”...
.Glaube nicht, daß es jemals auch nur
einem, der „Rhythmus und Zahl” beherrsch‐
te, gleichgültig war, auf welche Weise er
das Wort zu Worten stellte! ‒ ‒ ‒
.Dichter mögen allein nach Schönheit
streben, ‒ Seher geben den Worten ewigen
Klang! ‒ ‒ ‒
.Der „Seher” ist auch dann noch zu
erkennen, wenn er Dichter ist, und in dem
Dichter kann der „Seher” nicht verborgen
bleiben, ist er hinter Dichtungsworten im
Versteck. ‒ ‒ ‒
329 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wenn du nun Worte erfühlen lernen
willst, dann kann dir jedes Wort deiner
Sprache zum Lehrer werden...
.Suche aber nicht nach „Bedeutung”,
wenn du diesen Weg beschreiten willst!
.„Bedeutung” läßt sich nicht lange ver‐
hüllen, ‒ sie will sich dir zeigen. ‒ ‒
.Höre” in dir die Worte, von denen du
lernen willst!
.Du wirst alsbald sie „hören”, als ob sie
ein Anderer spräche, und das soll dir das
erste Zeichen sein, daß du auf sicherem Wege
bist, ‒ das Sprechen der Worte selbst
in dir vernehmen zu lernen, denn das Wort
hat wahrhaftig die Kraft, sich selbst zu
sprechen...
.Auch das Wort der Ewigkeit „erklärt”
sich selbst, wenn du es „hören” lerntest,
in dir! ‒ ‒ ‒
330 Das Buch vom Lebendigen Gott
.So scharf auch dein Verstand „ver‐
stehen” kann, ‒ du darfst ihn dennoch nie‐
mals in des Wortes Rede mischen. ‒
.Du sollst das Wort der Ewigkeit in dir
lebendig werden lassen, auf daß es so dir
seine letzte Weisheit zeige...
.Doch glaube nicht, ein Spiel zu treiben,
dessen man sich freut am ersten Tage, und
das man dann gelangweilt unterläßt! ‒ ‒
.Soll dir die Lehre wirklich nützen, dann
mußt du jeden Tag beharrlich üben, bis der‐
einst der Tag erscheint, an dem das Wort in
tiefsten Schauern sich selbst in dir erlebt...
.Dann wirst du erst durch die Erfahrung
wissen, was das Wort zu sagen hat! ‒ ‒ ‒
.Dann werden sich dir viele Tore öffnen,
vor denen du jetzt fragend, ohne Einlaß ste‐
hen magst. ‒ ‒
331 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Dann wirst du manches Buch „verstehen”,
das heute dir noch dunkle Rätsel birgt. ‒ ‒
.Ich sage dir nicht zuviel...
.Gehe zielsicher ans Werk!
.Die Zeit ist diesem Werke günstig! ‒ ‒
.Du kannst vieles erlangen, wenn du ohne
zu fragen ein weniges wagen willst. ‒ ‒ ‒
.Doch vergiß nicht: Du treibst kein
müßiges Spiel!
.Nur deine stete Beharrlichkeit wird
dich zum Siege führen! ‒ ‒ ‒
332 Das Buch vom Lebendigen Gott
EIN RUF AUS HIMAVAT
.Es geht eine Sehnsucht durch die Welt,
‒ ein zehrendes Verlangen, ‒ und eine
jede Seele, die nicht gänzlich verhärtet und
des Keimens unfähig geworden ist, fühlt sich
ergriffen.
.In Strömen heißen Menschenblutes ver‐
sank jene müde Skepsis, die ehedem zum
„guten Tone” zu gehören schien.
.Man „darf” wieder an Dinge glauben, die
nicht durch „Experimente” zu erweisen
sind, und wird nicht mehr verlacht, wenn
man zur Einsicht kam, daß Unsichtbares uns
umgibt und auf uns einwirkt, auch wenn
wir es noch nicht enträtselt haben...
.Das „Wunder” will wieder Wirklichkeit
werden, und das Reich des Glaubens weitet
seine Grenzen.
335 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Menschen, die, gleich seelischen Verstei‐
nerungen, regungslos blieben allem Geisti‐
gen gegenüber, wurden unter den dröhnen‐
den Hammerschlägen wutverzerrter Dämo‐
nen zu wahrhaft „Lebendigen”, und die
Masse der träge Schlafenden ist bereits un‐
ruhig geworden. ‒
.Jeder neue Tag darf ihr seelisches Er‐
wachen näher glauben...
.Die Erwachten aber werden Antwort
heischen von denen, die sie so lange im
Schlafe hielten, und sich verächtlich von
jenen „Führern” wenden, die ihren Fragen
frömmelnd „Grenzen” ziehen wollen, weil
ihre eigene Antwortfähigkeit versagt. ‒ ‒
.Die Menschheit ist bereit geworden, end‐
lich sich als Teil der Erde zu erkennen...
.Sie mag nicht mehr von Wolkensitzen
ihrer Götter träumen, und es naht der junge
Tag, an dem sie, ‒ wohl zum erstenmale,
336 Das Buch vom Lebendigen Gott
‒ den Sinn der Worte in sich selbst emp‐
finden wird, die einst ein Gottmensch zu
ihr sprach:
.„Das Reich der Himmel ist nahe herbei
gekommen.” ‒ ‒ ‒
.Denen, die sich des Gesalbten „Diener”
nennen, gefiel es jedoch, eine Mauer auf‐
zurichten, ‒ wie sie meinten: ‒ „zum
Schutze” derer, die nach des hohen Mei‐
sters Wort, das Reich der Himmel in sich
selber tragen...
.Menschen, die niemals das hier so klar
verheißene „Reich” in sich erlangten, warfen
sich auf Grund geglaubter Zaubervollmacht,
die ihren Machtwahn vor dem eigenen Ge‐
wissen sanktionieren mußte, zu Beherrschern
der Seelen ihrer Mitbrüder auf.
.Sie verbauten ihnen das Tor des Himmels,
wie es in ihnen selbst vermauert war, und
schufen alles, was auf Wirkliches zielte, be‐
flissen um, so daß nur Symbole und For
337 Das Buch vom Lebendigen Gott
meln übrigblieben, bei denen sich vom Reich
der Himmel träumen läßt, ‒ denn sie wuß‐
ten gar wohl, daß man ihrer nicht bedürfe,
um das „Reich” zu finden.
.Töricht sind alle, die da hoffen, die Mauer
seelischer Einkerkerung würde doch dereinst
dem Ansturm der Seelen weichen müssen!
.Zu fest ist diese Mauer durch den Mörtel
menschlicher Machtsucht in sich verbunden!
.Zu viele werden auch jederzeit die Mauer
um sich fühlen wollen, als daß sie jemals
ihnen genommen werden dürfte. ‒ ‒
.Zu lange schon an Sklaverei gewohnt,
würden sie untergehen als Freie! ‒
.Wohl werden sich im Laufe der Jahrtau‐
sende die Formeln und Symbole ändern,
die vor der Mauer aufgerichtet sind, damit
sie denen, die von ihr umschlossen wohnen,
nicht als Kerkermauer zu Bewußtsein kom‐
me, ‒ allein, die Mauer selbst wird blei
ben, solange auf der Erde noch die Macht
338 Das Buch vom Lebendigen Gott
begier im Menschen auf die Seelenangst im
Nebenmenschen rechnen kann, ‒ und an
diesem Bollwerk, fest gefügt aus Drohung
und Versprechen, zerschellt ein jeder, der
es vor der Zeit von innen oder außen her
durchbrechen möchte...
.Aber es gibt eine Möglichkeit, ohne
die Mauer zu durchbrechen, ihrem starren
Zwang zu entrinnen...
.Denen, die dem Erwachen nahe sind,
werden Flügel wachsen, und sie werden sich
hoch erheben über den Bannkreis der
Mächte, die sie so gerne in Schlaf und Traum
erhalten hätten...
.Wir sehen die Zeit des Erwachens nahe!
.An uns ist es, den Flug der zur Freiheit
Erhobenen zu lenken, bis er die schnee‐
bedeckten, im Sonnenglanze erstrahlenden
Höhen des „Himavat”, ‒ des „großen Ge‐
birges”, ‒ erreicht. ‒ ‒ ‒
339 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Es ist jedoch viele Hilfe nötig, denn es
wird ein großes Erwachen kommen.
.Wir wollen, daß auch kein einziger
der Erhobenen sich verfliege und endlich
todesmatt in einer Wüste niederfalle...
.Wir selbst aber können nur den großen
Flug des ganzen Zuges der Befreiten len‐
ken, und die uns helfen wollen, sollen die
Verflogenen suchen, damit sie nicht, von
trügerischen Zielen geblendet, die Rich
tung des Fluges dauernd verlieren. ‒ ‒
.An alle, die selbstlos helfen wollen,
ergeht der Ruf!
.Wer uns in seinem Herzen sich ver
pflichten will, die Irrenden zurückzuleiten,
der kann und darf uns Helfer sein.
.Es ist jedoch nur weise, liebereiche
Hilfe nötig, und keiner kann uns als Helfer
dienen, der sich den Irrenden aufdrängt
mit seiner Hilfe. ‒ ‒
340 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Auf rechte Weise helfen, heißt: dem
Irrenden voranzufliegen, so daß er ohne
Überredung, durch sein eigenes Erkennen,
wieder seine rechte Richtung finde! ‒
.Eure Hilfe mag wenig „zu sehen” sein,
‒ aber ein jeder aus euch zahlt eine
Schuld von Äonen her zurück, wenn auch
nur eine Seele durch ihn zum Ziele ge‐
leitet wird. ‒ ‒ ‒
.Ferne aber mögen uns alle bleiben, die
mit Emphase ihre Hilfe anbieten um sich
selbst dadurch in Wert und Rang vermeint‐
lich über andere zu erheben!
.Ferne mögen uns auch alle aufdring
lichen Wichtigtuer bleiben!
.Wer hier Helfer sein will, muß frei sein
von jeder Selbstgefälligkeit!
.Er muß seine Hilfe darbieten wo sie von‐
nöten ist, ohne von seiner Hilfeleistung zu
reden...
341 Das Buch vom Lebendigen Gott
.Wir wollen weder seinen Namen wissen,
noch von seiner Hilfe hören!
.Im Reiche des Geistes allein soll die
hilfreiche Tat gewertet werden, und nur im
Geistigen soll man den Helfer „kennen”!
‒ ‒
342 Das Buch vom Lebendigen Gott
EUCHARISTIE
Einmal wie tausendmal
schenkt sich der Eine,
der ewig Schenkende,
und bleibt doch immer
Sich Selber Besitz. ‒
Er ist nicht teilbar,
der Ewig Eine!
Wenn Er sich schenken will,
schenkt Er sich ganz. ‒
So oft Er auch immer
Sich Selbst verschenken mag,
so oft hat Er restlos
Sich Selber verschenkt
und bleibt doch
Sein eigen;
denn nicht nur einmal
besitzt der Eine,
345 Das Buch vom Lebendigen Gott
der ewig Schenkende,
Sich Selbst. ‒ ‒
Unendlichfach Einer
besitzt Er sich Selber
unendlichfältig. ‒
So wie Er einig ist
stets in sich Selber,
unendlichfältig
und doch stets Einer ‒,
so sind wir „Leuchtenden”
in Seinem „Lichte”
alle vereinigt:
als Vielheit nur Eins.
Großer Schenkender ‒,
des Lichtes Ursprung ‒,
Du selbst das „Licht”!
Du kennst keine „Sünde”
außer der einen:
Deines Willens,
der allzeit schenken will,
nicht achten.
346 Das Buch vom Lebendigen Gott
Du willst nur
offene Hände;
empfangsbereite,
offene Herzen;
Hände,
die freudig nehmen;
Herzen,
die deine Gaben
willig empfangen.
Du gibst dem Einen
und gibst dem Andern
unendlichen Reichtum,
und Keinem mangelt
des Andern Geschenk.
Wer Dich erkannte,
Du Großer Schenkender,
der weiß nichts von Neid.
Mehr als er tragen kann,
hast Du zu schenken,
und niemals endet
Dein ewiger Reichtum. ‒
347 Das Buch vom Lebendigen Gott
Wer nie genug hat
an Deinem Geschenke,
der ist Dir am liebsten ‒;
ihm schenkst Du
Dich selbst.
Du kannst ja schenken,
allen schenken,
und niemals
wirst Du ärmer sein
für Den,
der Dein Geschenk
verlangt. ‒ ‒ ‒
Ewiger!
Großer Schenkender!
348 Das Buch vom Lebendigen Gott
EPILOG
.Vor nunmehr neun Jahren erschien „Das
Buch vom lebendigen Gott” zum ersten‐
male im Druck und hat sich seit dieser Zeit
zahllose Freunde, die dankbare Schüler sei‐
ner Lehren wurden, in aller Welt erworben.
.Hier liegt nun der Neudruck vor, be‐
sorgt nach einer neuen Niederschrift.
.Der Inhalt der ersten Fassung blieb
unverändert.
.Für vieles aber wurde neue Form der
Darstellung gewählt, da sich allmählich zeigte,
daß dieses oder jenes Wort der ersten Fas‐
sung eine Deutung zuließ, die ihm ferne
bleiben muß.
.Anderes erwies sich mit der Zeit als all
zuknapp umrissen, so daß die weitere
Ausführung des Aufgezeigten angebracht
erschien, ‒ und endlich wurde jedes Wort
351 Das Buch vom Lebendigen Gott
erneuter Prüfung unterzogen, um jede
Möglichkeit zu irrigem Verstehen aus
zuschließen.
.Der innere Zusammenklang des Gan‐
zen erheischte ferner eine Änderung der
Reihenfolge der Kapitel, und eine Satz‐
anordnung, die das Wesentliche einpräg
samer für das Auge macht, da ich in allen
meinen Schriften geistig zu dem Leser
spreche”, und daher auf typographische
Behelfe sinnen muß, die ihm den Klang
der Rede innerlich erwecken können. ‒
.Ich danke allen, die mir zeigten, was
noch der Verdeutlichung bedürftig war,
denn ‒ anders wird ein Satz empfunden,
kennt man das, was er besagen will aus
eigener Erfahrung, als wenn das Mitge‐
teilte nacherlebend vorzustellen ist in
einer Seele, der noch die Erfahrung mangelt.
.Die aber glauben, ihren Scharfsinn auf‐
bieten zu müssen, um in meinen Worten
etwa „Widersprüche” zu entdecken, mö‐
352 Das Buch vom Lebendigen Gott
gen lieber bedenken, daß doch auch mir
wohl nicht entgangen sein dürfte, was ihnen
als so gewichtiger Fund erscheint. ‒ ‒
.Heilsamer dürfte es für sie sein, das, was
sie als „Widerspruch” empfinden, für sich
selber aufzulösen, aus der Erwägung her‐
aus, daß ich doch wahrlich meine Gründe
dafür haben mußte, wenn ich zuweilen Worte
stehen ließ, aus denen scheinbar Widerspre‐
chendes sich leichthin konstruieren läßt,
solange man noch nicht erfaßt, was man er‐
fassen sollte...
.Ausdrücklich aber sei nun hier auch aus‐
gesprochen, daß ich die neue Nieder
schrift, die hier gegeben ist, nunmehr der
ersten Fassung dieses Buches übergeord
net sehen will, da diese neue Fassung sich
zur früheren etwa verhält, wie ein in allen
seinen Teilen ausgebauter Dom zu seinem
Rohbau, dem noch die gemalten Fenster und
die Statuen der Altäre fehlten...
353 Das Buch vom Lebendigen Gott
.So wird nun „Das Buch vom leben
digen Gott” in seiner vervollkommneten
Form und neuen Gewandung gewiß auch
allen denen noch Bereicherung zu bieten
haben, die es längst schon in seiner ersten
Fassung kennen.
.Daß hier ein Buch gegeben wird, wie es
die Welt in diesen Tagen wahrlich braucht,
bezeugen heute dankbar viele Tausende,
die durch seinen Inhalt Kraft und Hilfe
fanden...
.Segen, Licht und Gewißheit wird es
Allen bringen, die es ohne Vor-Urteil zu
lesen wissen, und in sich aufzunehmen
willens sind!
.Im Spätherbst 1927.
 Signatur
354 Das Buch vom Lebendigen Gott
ENDE
LEBEN
IM
LICHT
Verlagslogo
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASEL
UM DEN FORDERUNGEN DES URHEBERRECHTES
ZU ENTSPRECHEN, SEI HIER VERMERKT, DASS
ICH IM ZEITBEDINGTEN LEBEN DEN NAMEN
JOSEPH ANTON SCHNEIDERFRANKEN FÜHRE,
WIE ICH IN MEINEM EWIGEN GEISTIGEN SEIN
URBEDINGT BIN IN DEN DREI SILBEN:
BÔ YIN RÂ
BASEL 1934
COPYRIGHT BY
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
INHALT Seite
Bekenntnis 5
Wesentlich 9
Frage und Antwort 13
Vereinung 17
Drei in Einem 21
Inkommensurabel 25
Identisch 29
Bestimmung 33
Soll ich euch „Weg” sein 37
Notgedrungen 41
Gott 45
Ewige Ehe 49
Ineinanderverschmolzen 53
Unendlichfältige Einheit 57
Allmacht 61
Sinnfällig 65
Übersinnlich 69
Geistiges Erfahren 73
Unerläßlich 77
Angst 81
Ausgleich 85
Undarstellbar 89
Erhellung 93
Leben im Licht 97
Selbstverwandlung 101
Die Seele 105
Und abermals 109
Die Erdentrückten 113
Die Harrenden 117
Unbeschreiblich nah' 121
Ewiges Leben 125
Vollendung 129
Originalscan1  Originalscan2
BEKENNTNIS
Mich selber zu mir selber
Zu bekennen: ‒
Hier mit mir Lebenden zu sagen,
Daß ich anders bin als sie: ‒
Zu sagen, daß ich bin
Was ich nun einmal bin
Seit Ewigkeiten,
Und aus dem Ewigen zu zeugen
Für des Menschen Ewigkeit, ‒
Vermochte ich erst dann,
Als ich, gedrungen,
Den Widerspruch des Irdischen
In mir bezwungen.
Nachdem ich harte Jahre
Mit mir selbst gerungen,
Ist endlich Überwindung
Mir gelungen,
Und mußte mir gelingen,
Sollte ich mein Werk vollenden,
Noch ehe es der Zeit gelang,
Mein Irdisches zu enden.
*
7 Leben im Licht
WESENTLICH
Ich erhebe nicht „Anspruch”
Zu sein, was ich bin,
Denn ich bin es!
Unabhängig von meinem Meinen, ‒
Unabhängig von anderer Meinung.
Aber das, was ich bin,
Könnte ich nicht sein
Wenn ich nicht allen Geltungsdrang
Des Irdischen an mir
Dem Ewigen dahingegeben hätte.
Was ich bin, kann keiner sein,
Der noch etwas „sein” will
Vor sich selbst und denen,
Die mit ihm die Zeit erfahren.
Ver-west sein muß der Wahn,
Wo der Wahrhaftige, Urewige
Sich selbst im Erdenmenschen
Wesenhaft erfahren lassen soll.
*
11 Leben im Licht
FRAGE
UND
ANTWORT
Bist du der Wiedergekehrte?”
Nein!
Ich bin der Erstmalsgekommene.
Kein Lichtbringender kehrt wieder,
Auch wenn im Irdischen er
Seine Wiederkehr wähnen würde.
Was wiederkehrt wechselnden Welten
Ist einzig das Urwort,
Das im Urlicht
Aus dem Ursein strahlt.
Das Urwort,
In dem alle „Worte” wesen
Die es ewig aus dem Ewigen
Sich selbst zu „Söhnen” zeugt: ‒
Als „Vater” ewig ihnen geeint, ‒
Ewiges Leben zeugend den Gezeugten.
So nur wird es in Irdischen
Die sich vor Ewigkeiten dargeboten,
Erdenhafte Offenbarung, ‒
Faßbar Kommenden und Zeitvereinten.
*
15 Leben im Licht
VEREINUNG
Ich weiß euch nicht zu sagen,
Wann es war, ‒
Und wüßte ich es euch zu künden,
Würde irdischer Begriff versagen,
Dieser Zeitbestimmung
Sich noch zu verbünden.
Ich weiß euch nur zu sagen
Daß im Weltenraum kein Stern ist,
Der zu jener Weltenzeit bestand,
In der sich meine Seele mir,
Dem ewig Leuchtenden, verband,
Mit dem sie heute sich vereinigt findet,
So, daß ein Leben, Fühlen und Erfahren
Mich, den Irdischen, und meine Seele
Nun mit mir, dem Ewigkeitsgezeugten,
Unlösbar vereint im Geistigen verbindet.
Nur was an mir
Aus Irdischem entstanden,
Bleibt in der Erde Bann
Und der Verwesung Banden.
*
19 Leben im Licht
DREI
IN
EINEM
Ich bin in mir stets Einer
Und doch Zwei, ‒
Und, einsgeworden,
Sind wir Beide Drei, ‒
Denn jeder ist: er selbst
Und der, dem er geeint,
Und allzugleich auch der,
Der Beide in sich eint.
Im Irdischen
Kann dort, wo Einer ist
Nicht auch ein Zweiter sein, ‒
In jedem Leuchtenden jedoch
Schließt Einer in sich selbst
Nicht nur den Anderen,
Sondern in gleicher Weise
Beide in der eigenen
Einheit ein.
*
23 Leben im Licht
INKOMMENSURABEL
Ich bin kein „Seher”,
Der an seine „Schauung” glaubt,
Und kein Verzückter,
Dem sein Nervenrausch
Das Urteil raubt.
Ich bin kein Dichter,
Der ‒ zu nichts verpflichtet ‒
Sich eine „Überwelt”
Nach Lust und Kunst errichtet.
Ich bin kein Denker,
Der sich eine Welt erdenkt,
Wie sie sich denkgerecht
Erdachter Meinung schenkt.
Ich stehe immerdar
Im ewigen Erleben,
Und meine Worte wollen Kunde geben,
Von Wahrheit, die nur Ewig-Wirkliches ge‐
. staltet: ‒
Und Wahrheit bleibt,
Wenn auch der Leib erkaltet,
Wenn kein Gedanke mehr das Hirn bewegt,
27 Leben im Licht
Das solcher Wahrheit Wissen
Liebend einst gehegt.
*
28 Leben im Licht
IDENTISCH
Wenn ich hier zu euch spreche,
Spricht zu euch
Der Geistgezeugte,
Und Künder ist ihm hier
Der Erdgebeugte,
In dem die Seele sich
Allhier gefunden,
Die sich vor Ewigkeiten
Mir im Geist verbunden.
Doch sind nun ewiger
Und erdenhafter Offenbarer
Hier nicht mehr zu trennen,
Wo sich in gleichem
Liebenden Erkennen
Urirdisches der Seele,
Und die Seele Göttlichem vereint,
Und Beides ewigliche Einheit meint.
So, wie seit aller Ewigkeit
Der Geistgezeugte,
So bin ich heute in der Zeit,
Der Erdgebeugte.
*
31 Leben im Licht
BESTIMMUNG
Ich bin nicht „Weg” euch, wie der Strom,
Der aus den Bergen drängt
Und Weg wird allen Schiffen,
Die das Meer erreichen wollen!
Ich ward euch Weg
Aus Erde und aus Stein, ‒
Doch denen nur erkennbar,
Die aus sich allein
In sich, zu ihrer Zeit,
Als Weg mich finden sollen.
So ist mir selber
Keine Wahl gelassen: ‒
Ich kann nur Weiser ihrer Schritte
Werden, jenen Suchenden
Die in sich selber mich
Als ihren Weg erkennen,
Und lichtbereiten Herzens
Meine Worte fassen.
*
35 Leben im Licht
SOLL ICH EUCH
„WEG”
SEIN
Soll ich euch „Weg” sein,
Muß ich seelisches Erleben
Urtief in eurem Innersten
Bewegen, und zu Ewigem erheben.
Soll ich euch „Weg” sein,
Müßt ihr selbst euch
An mir „finden” lernen,
Und dürft euch
Von euch selber
Dennoch nicht entfernen.
Soll ich euch „Weg” sein,
Müßt ihr selber „gehen”,
Wie ich euch gehen lehren muß,
Will ich im Licht euch sehen.
Soll ich euch „Weg” sein,
Muß ich euch indessen
Von Herzen bitten,
Niemals zu vergessen: ‒
Daß es so töricht wäre,
39 Leben im Licht
Wie im Maß ver-messen,
Wenn ihr erwarten wolltet,
Hier schon zu erleben,
Was nur dem Leuchtenden
Im Licht gegeben,
Um alle, die sein Wort erreicht,
Erneut zum Ewigen
An sich emporzuheben!
*
40 Leben im Licht
NOTGEDRUNGEN
Nicht um im Wahn euch zu erhalten,
Als könne Worte-Wissen Sein gestalten, ‒
Nicht um Bekenntnistafeln aufzurichten,
Und nicht um flacher Neugier zu berichten, ‒
Bin ich berufen, euch im Geisteslicht zu
.zeigen:
Die ewige Gestaltung Gottes,
Die nur dann erfaßbar wird,
Wenn ihr die Seele ehrerbietig
Naht im tiefsten Schweigen.
Mein Wort will euer Fühlen
Wahr empfinden lehren,
Und als ein Wahrbild
Göttlicher Entfaltung,
Falscher Gottesdeutung wehren.
Was ich im Ewigen
In Gott erfahren,
Soll euch vor Götzendienst
Und Schuld bewahren. ‒
43 Leben im Licht
GOTT
In allen Formen
Former und Gestaltung,
In allem Leben
Zeugung und Erhaltung,
In Einheit bergend
Aller Zahlen Fülle
Ist Gott sich selber Inhalt
Und des Inhalts Hülle.
Der Ewig-Eine
Setzt sich selbst
Im „Raum” die „Zeit”,
Und bleibt doch ewig
Selbst die Ewigkeit.
*
47 Leben im Licht
EWIGE EHE
Ursein
Ist Weib-Sein
Und Mann-Sein.
Weib-Sein
Und Mann-Sein
Ist alles
Aus Ursein Seiende
In myriadenfach
Verschiedener Vermischung.
In Gott
Nur Mann-Sein glauben
Ist wahrheitsferner Glaube!
Gott ist Weib-Sein
Wie Mann-Sein!
Der „Vater”
Ist Vater
Als weibliche
Wie männliche
Urewigliche Selbstgestaltung:
Beider Pole ewige Einung.
*
51 Leben im Licht
INEINANDERVERSCHMOLZEN
Der „Vater”
Ist im „Ursein” einbeschlossen,
Das sich als „Urlicht”
In das „Urwort” ausgegossen,
Aus dem der Vater,
Selbstgezeugt, sich selber lebt,
Und jeden in ihm „Leuchtenden”
Zum Urlicht in sich selbst erhebt.
In gleicher Weise
Leben alle ineinander,
Die im Vater
Aus dem Vater leben,
Und allen ist im Vater
Sein, und Licht, und Wort gegeben.
*
55 Leben im Licht
UNENDLICHFÄLTIGE
EINHEIT
Ewig Einer
In sich selber
Ist der Vater!
Doch faßt er zwiefach sich:
Denn er ist „Weib” in sich und „Mann”, ‒
Und allzugleich ist er, ‒
Als „Sein” und „Licht” und „Wort”, ‒
In dreigestaltiger Entfaltung
Selbst sich selber eigen.
So ist er gleicherweise auch
Die großen Vier:
Die viergestaltig gleichen
„Lenker” geistiger Impulse,
Geistigen Geschehens, ‒
Gleichwie er zehnfach in sich selbst
Die aus ihm wirkenden
Urgeistigen „Gewalten” ist,
Die aller Formung Former sind, ‒
Und zwölf der „Väter”:
Aller Offenbarung Gründer,
Deren jeder in der Einheit
59 Leben im Licht
Selbst der Vater bleibt, ‒
Sich selbst ‒ dem Ewig-Einen ‒
Eigenhafte Selbstbezeugung,
Und in geistiger Gestaltung
Geistig leibhaft „einverleibt”.
Aus dieser Selbstbezeugung aber
Gehen alle „Leuchtenden” hervor,
Die in der Zeiten Folge,
Folgend ihrem „Lenker”,
Zu den Menschen dieser Erde finden,
Und hier die Lichtbestimmten
Wieder mit dem Licht verbinden.
So findet Vielheit
Sich zurück zum Ewig-Einen
Der alle Zahl setzt in sich selber,
Um unendlichfältig, ‒
Ewig in Erneuung, ‒
Brennend in den höchsten Liebesgluten,
Selbst sich selber zu vereinen.
*
60 Leben im Licht
ALLMACHT
Sich selbst Gesetz
Und nur sich selbst verpflichtet, ‒
Als „Ur-Sein”: dunkeltiefste Nacht,
Die sich als „Ur-Licht” lichtet, ‒
Als „Ur-Sein”: hartes Schweigen,
Das als „Ur-Wort” von sich selbst berichtet, ‒
Hält in sich selbst der Ewig-Eine
Alle Macht umschlossen,
Und hegt in sich
Was ihr in Ihm entflossen.
Wo sich jedoch das Innere
Erstarrt nach außen kehrt,
Hat Gottes Allmacht selbst
Sich manche Macht verwehrt, ‒
Im Reiche irdischer Gestaltung,
Und in irdischem Geschehen,
Muß diese Macht nun Irdischem erstehen.
In allem urgesetzten Werden und Vergehen
Lenkt die im All versenkte, allgeschenkte Macht
Der körperhaften Formen Trieb und Streben,
Und sie allein gebietet über Tod und Leben.
*
63 Leben im Licht
SINNFÄLLIG
Die sich verwegen
„Wissend” nannten,
Wußten euch zu sagen,
Daß dieser Erde
Zeitlich wechselnde Gestaltung
Wahn der Wähnenden:
Trugbild der Sinne sei.
Wer aus der Sinne Macht
Sich nicht befreien könne,
Werde nie und nimmer
Von der selbsterzeugten
Erdbedingten Täuschung frei.
Die solches lehrten,
Waren wahrlich ihrer Sinne Sklaven!
Denn, wer noch Furcht hegt
Vor der Sinne Macht,
Ist seiner Sinne noch nicht
Wahrhaft mächtig
Und gewiß noch nicht
Im Über-Sinnlichen erwacht.
*
67 Leben im Licht
ÜBERSINNLICH
Mit gutem Recht
Wird Wirkliches,
Das Erdensinnen nicht erfaßbar ist,
Als „Übersinnliches” bezeichnet.
Doch darf man,
Will man sich nicht täuschen,
Auch nicht etwa glauben:
Was Körpersinne nicht erfassen können,
Könne ohne sinnesgleiche Fähigkeiten
Geistig wahrgenommen werden!
Mit gutem Rechte
Dürfte man von „Übersinnen” sprechen,
Spricht man von jenen geistigen Organen,
Die im ewiglichen Geiste
Gleiches wirken,
Wie körperhafte Erdensinne
Hier in irdischen Bezirken.
*
71 Leben im Licht
GEISTIGES
ERFAHREN
Allem irdisch-sinnlichen Erfahren
Setzt das Vorstellungsvermögen
Des Erfahrenden die Grenzen.
Grenzen, die keiner überschreitet,
Der sie in seiner Vorstellung
Sich selber zog.
Die Sinne können ihm nur geben,
Was der selbstgefügten Vorstellung
Entsprechend sich erweist,
Und füglich ihr sich fügt.
Ihr Fremdes bleibt ihr unerkennbar,
Und alle Kraft der Erdensinne
Bringt es dem Erfahrenden nicht nah'.
So auch im Geistigen!
Auch da kann übererdenhafter Sinne Kraft
Die Grenzen niemals überschreiten,
Die ihr jeweilen Vorstellungen setzen,
Und immer wird die Seele nur erfahren,
Was sich den Vorstellungen fügen kann,
Die sie sich selber voreinst fügte.
Alles Andere nimmt sie nicht wahr.
75 Leben im Licht
Im Geiste weiterschreiten
Heißt: ‒ der Seele Vorstellungen wandeln,
Und die sie wandeln wollen,
Wissen hier zu handeln, ‒
Wissen die dunklen Mächte zu bezwingen,
Die in der Seele um die Seele ringen.
Wer in sich selbst
Um Hilfe bittet,
Wird sie in sich selbst erlangen,
Und in der Seele
Vorstellung um Vorstellung empfangen,
Bis seine geistgewirkten „Sinne”
Nicht mehr Hinderung
In ihm erfahren,
Und endlich in ihm selbst
Das Ewig-Wirkliche gewahren.
*
76 Leben im Licht
UNERLÄSSLICH
Auch mit dem besten Willen
Wißt ihr nicht mehr
Gott zu finden,
Weil euren Sinn
Die selbstgezeugten
Wie die nachgeformten
Vorstellungen binden.
Nur allzuviele Menschen
Haben solcherart verlernt,
Gott in sich selbst zu suchen,
Derweilen andere schon lange
Allem Suchen fluchen.
Ihr müßt die Vorstellungen,
Die euch binden,
In euch selber überwinden, ‒
Nicht eher dürft ihr hoffen,
Gott in euch zu finden!
*
79 Leben im Licht
ANGST
Viele, die Gott erfragten,
Hätten Ihn längst gefunden,
Wären die arg Verzagten
Nicht durch die Angst gebunden.
Sie hörten stets verkünden,
Den „Rächer” aller Sünden,
Und wissen doch beladen
Sich selbst mit Sündenschaden.
Sie glauben sich verloren
Und zum Verderb geboren.
Sie fürchten sich gerichtet
Durch Den, der alles sichtet.
So flehen nun die Armen
Für sich nur um „Erbarmen”,
Und wagen nicht zum Leben
In Gott sich zu erheben.
Erst muß der Angstfluch schwinden
Ehdenn sie endlich finden:
Den, der die Liebe selber ist
Und keinen Liebenden vergißt...
*
83 Leben im Licht
AUSGLEICH
Gott findest du erst dann
In dir,
Wenn du dich vordem
Selbst in Gott verloren...
Bevor dir solches
Wach in Gott geschah,
Bleiben der Seele „Sinne”
Noch dem Traum verschworen.
Erst dann vermag dein Gott
Sich in dich einzusenken,
Wenn es dir selbst gelang,
Dich selber ihm zu schenken.
Hast du dich dargebracht
Und dich in Gott verloren, ‒
Dann wird in heiliger Nacht
Dein Gott in dir „geboren”.
*
87 Leben im Licht
UNDARSTELLBAR
Wie wir im Irdischen
Den Raum
Nur in der Zeit erfahren,
So wird im Ewigen
Dem liebenden Gewahren
Das zu Erkennende allraumhaft kund.
Raumhaft ist jedes Wort aus Gottes Mund!
Auch alle „Zeit”
Ist hier im Raum gebunden
Und wird von aller Seele
Raumumfaßt empfunden.
Doch läßt sich ewiges Erfahren
Nicht in Worten
Einer Erdensprache schildern,
Und die es dennoch
Darzustellen suchten,
Konnten nur in Bildern
Und dunklen Zeichen
Anzudeuten trachten,
Was die allein erfahren,
Die in Gott erwachten.
*
91 Leben im Licht
ERHELLUNG
Wie irdisches Erkennen uns erwächst
Aus der Beobachtung durch Körpersinne, ‒
Aus Gedankenschlüssen,
Die in Gleichungsworten und Begriffen
.    gründen, ‒
So wird im Ewigen urgründende Erkenntnis
Ewiglich erlangt als raumhafte Erfüllung
Lichtbereiten Seelenraumes.
Doch solche Offenbarung wird erst Seelen,
Die den Erdenleib verlassen haben.
Auf Erden wird sie nur den Geistgezeugten,
Die, gleich mir, zwar hier im Erdenleben
.    stehen,
Aber dennoch hier, als ihrer Artung Folge,
So wie ich, das Ewige, Unendliche
Im eigenen Seelenraum,
Im eigenen Liebeslichte sehen.
Euch aber, ‒ denen ich hier niederschreibe,
Was euch und Kommenden als Erbe bleibe, ‒
Ist geistig andere Erfahrungsweise zugeteilt,
Solange ihr noch hier im Irdischen verweilt!
*
95 Leben im Licht
LEBEN
IM
LICHT
Leben im Licht
Läßt sich nur in Bezirken,
Die Licht-erzeugt
Und Licht-gestaltet sind,
Erwirken.
Hier hält der „Raum
In sich die „Zeit” umschlossen,
Und alle Zeit
Ist in den Raum ergossen.
Und aller Raum
Ist ungetrenntes Leben
Im Licht gelebt:
Ihm liebend hingegeben.
Erfahrung und Erkenntnis
Einen sich im Sein
Und gehen raumgestaltet
In die Seele ein,
Die selber Raum ist,
Der in sich
Die Zeit verwahrt,
In der das Licht sich, ‒
Raumgestaltet, ‒ offenbart.
*
99 Leben im Licht
SELBSTVERWANDLUNG
Im „Licht”
Das aus dem Urlicht quillt
Und wie das Urlicht,
„Raum” ist als Gestaltung,
Wandeln alle seelischen Impulse
Allsogleich sich selbst zu krafterfüllten
Lichtbelebten Raumgebilden,
Die in gegenseitigem Durchdringen
Ineinanderwirken:
Sich erkennen und erfahren,
Und dennoch ihrer Formen
Sprechende Gestalt bewahren.
Hier sind nicht mehr
Gehirngedankenformen aufzufinden,
Wie sie das irdische Erkennen braucht
Um das Erkannte im „Begriff” zu binden.
Hier wandelt sich die Seele selbst
In das Erkannte,
Das vordem sie auf Erden
Zu erkennen meinte,
Wenn sie einen Namen nannte...
*
103 Leben im Licht
DIE SEELE
Die Seele kann ein Meer sein,
Aber auch ‒ ein Tümpel,
Verjaucht, und angefüllt
Mit irdischem Gerümpel...
Ist sie ein Meer,
So hält sie, gleich den Meeren,
Sich selber immerfort bewegt und rein.
Ist sie ein See,
So wird in gleicher Weise
Sie selbst sich Klärung
Durch lebendige Bewegung sein.
Und auch als Teich
Kann sie sich selber klären,
Mag das nach Stürmen
Auch recht lange währen.
Ist sie jedoch ein Tümpel,
Gibt sie allem Abfall Raum,
Verwest als trüber Pfuhl
Und ‒ fühlt es kaum.
*
107 Leben im Licht
UND
ABERMALS
Die Seele kann ein Dom sein,
Aber auch ‒ ein Stall, ‒
Ein enger Pferch ‒
Und auch ‒ ein Weltenall...
Durch alles, was sie geben kann,
Und was sie nimmt,
Wird ihr die innere Gestalt,
Und wird ihr Fassungsraum bestimmt.
Was ihrem Raume nicht entspricht,
Muß sie gelassen lassen, ‒
Nur was er in sich faßt,
Kann sie in Wahrheit „fassen”.
Zum Segen aber wird der Seele
Alles, was den Raum ihr weitet,
Und wieder Segen
Durch sie selbst verbreitet.
Doch muß sie ständig auf der Hut
Vor Neid und Haß und Härte sein,
Denn Neid, wie Haß und liebelose Härte
Engt jeder Seele Raum bis zur Vernichtung ein.
*
111 Leben im Licht
DIE
ERDENTRÜCKTEN
Sie sind gegangen,
Wie sie gekommen.
Hatten gegeben,
Hatten genommen,
Und konnten doch
Nichts Erdgehöriges behalten,
Wenn sich im mählig wachsenden Erkalten
Der Erdenleib selbst irdisch Seelischem
Nunmehr verwehrte,
Das vordem ihn gestaltet und erhalten,
Und sein irdisches Erfahren mehrte.
Nur was der geistgezeugten
Seele sie allhier gewonnen,
Ist ihnen nicht
Im Todeslicht zerronnen,
Und was aus ihrer Zeit
Sie mitgenommen haben,
Ist die Gestaltung
Die sie selbst der Seele gaben.
*
115 Leben im Licht
DIE
HARRENDEN
Die ‒ erdentrückt ‒
Doch noch in „Zeit”-bedingten Banden,
Die seelische Erlösung
Noch nicht in sich fanden,
Sind keineswegs in sich
Auf gleicher Stufe,
Und keineswegs erreichbar
Gleichem Rufe.
Die einen sind auch weiterhin
Verloren im Erleben ihrer Erdenzeit,
Die anderen, ‒ dem Lichte näher, ‒
Finden sich schon weit
Von alledem entfernt,
Was sie einst irdisch lebten,
Und ferne allen Zielen,
Die sie einst erstrebten.
Sind so die einen
Nah' dem reinen Lichte,
So sind die anderen
Noch in der Erde Dichte!
*
119 Leben im Licht
UNBESCHREIBLICH NAH
Die, deren sichtbare Gestaltung ‒
Durch jeder Erdenzeugung zubestimmte
Wandlung alles Wandelbaren ‒
Nun nicht mehr sichtbar,
Nicht mehr körpersinnlich fühlbar ist,
Sind dennoch, seelenraumhaft,
Uns, die wir sie wahrhaft lieben,
Weit näher als sie waren,
In der Seele Raum verblieben.
Selbst, wenn sie auch zuerst,
In anderseitigem Erfahren,
An erdenhaften Irrtum,
Erdenhaften Tagestraum gebunden,
Noch nicht zu ihrer wahrhaften
Erlösung aus dem ihnen nun
Nicht mehr Gemäßen hingefunden,
So lehrt sie doch alsbald
Das raumhafte Erleben ihrer Seelen,
Alles Seelische das noch im Erdenleibe
Lebt, nun ‒ in sich selber ‒ finden,
Und sich den in der „Zeit” Gefesselten
In deren Seelenraum verbinden.
*
123 Leben im Licht
EWIGES LEBEN
Nicht das Erleben
Einer gleichsam zeitentrückten „Zeit”
Ist Ewigkeitserleben!
„Ewiges Leben” ist:
Das auch in jeglicher Sekunde ‒
Wollte man zeithaft deuten ‒
Ewigkeitserfüllte Leben
Geistgezeugter Geisteswirklichkeit.
Gar viele sind den gleichen Weg gegangen
Um durch das Tor der „Zeit”
In raumhaftes Erleben zu gelangen,
Und dennoch waren sie
Noch lange nicht bereit,
Sich an der Hand der Helfer zu erheben,
„Ewiges Leben” zu empfangen
Und fortan zu leben...
Erst als sie alle Erdenziele aufgegeben,
Fanden auch sie an ihrer Helfer Hand
„Ewiges Leben”.
*
127 Leben im Licht
VOLLENDUNG
Erst, wenn die erdentrückte Seele
Nichts mehr in sich findet,
Das sie ‒ im Bösen wie im Guten ‒
Noch an irdisches Erleben bindet,
Vermag sie sich zum Lichte zu erheben
Und sieht im Ewigen
Ihr erdgelebtes Leben
Nun lichtgelöst,
Und frei von erdenhaftem Streben,
Als klares Wahrbild
Sich zurückgegeben.
Hier erst geschieht
Geheimnisreiche Wendung: ‒
Hier offenbart sich jeder Seele
Ihre geistgelenkte Sendung...
In lichtdurchlohtem Seelenraum
Erlebt die Seele hier,
Nun aus der Liebe leuchtend,
Ihre ewige Vollendung.
*
131 Leben im Licht
ENDE
DAS BUCH
DER
LIEBE
Verlagslogo
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASEL-LEIPZIG 1931
COPYRIGHT BY
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHANDLUNG
BASLE 1931
BUCHDRUCKEREI WERNER-RIEHM IN BASEL
Dieses Buch erschien in seiner ersten Ausgabe
bereits im Jahre 1922.
INHALT Seite
Einführungsworte 5
Der größte Liebende 17
Vom Urfeuer der Liebe 61
Erlösungslicht 91
Die Schöpferkraft der Liebe 109
Originalscan
EINFÜHRUNGSWORTE
.In einer Zeit, in der des Hasses schlamm‐
durchwühlende Wellen aller Menschheit Flu‐
ren schänden, soll dieses Buch dir von der
Liebe reden!
.Du, der sich selbst erleben will, sollst
hier die höchste Freiheit finden!
.Die Freiheit, die deine Seele braucht,
wie deine Lungen Luft zum Atmen brau‐
chen, kann dir nur die Liebe geben, und
ohne Liebe stirbt in dir der Lebenskeim,
aus dem du dir erstehen sollst zu einem
Wachstum, das in sich kein Ende kennt. ‒
.Hier wird die Rede sein von einer
Kraft, die geistig alle Kräfte dieser Erde
meistert, ‒ von einer Kraft, die nur die
wenigsten in sich erleben, da sie zwar vieles
7 Das Buch der Liebe
kennen, was sie „Liebe” nennen, jedoch,
zu leicht befriedigt, sich damit begnügen,
ohne ihre eigene tiefste Tiefe zu ergründen,
in der sich erst die Kraft der Liebe ihnen
offenbaren könnte.
.Nur der aber, der in sich selbst seine
tiefste Tiefe ergründet, wird dort auch die
Be-gründung jener weisen Liebeslehren
finden, die ihm der heiligen Bücher alte
Texte aufbewahren, ‒ wie sie wohl jeder
„kennt”, soweit die Worte dieser Bücher
ihn erreichten, doch die nur selten einer
im Geiste erfaßt, da keiner ahnt, daß ein
Gesetz in diesen Lehren Offenbarung wird,
dem auch der Mächtigste sich beugen muß,
will er trotz aller Macht, nicht früher oder
später ‒ an sich selbst ‒ zerschellen. ‒
.Wüßte man, was die Liebe in Wahrheit
ist, dann hätte längst das Antlitz dieser
Erde sich gewandelt, und alles Leben
hätte längst sich stets erneuter Qual ent‐
wunden. ‒ ‒ ‒
8 Das Buch der Liebe
.Die Worte göttlicher Weisheit, die
von dieser Liebe handeln, sind heute noch,
wie ehedem, verhüllt in dichte Schleier,
und selten nur gelang es einem Seltenen,
für sein Erkennen diese Hüllen aufzuheben.
.Was er erkannte, war dann nicht mehr
jene „Liebe”, die er vordem zu erkennen
glaubte, denn er gewahrte eine Urgewalt,
die ihre Schauer ihm durch Mark und Kno‐
chen sandte, ‒ die ihn erbeben ließ in
innerstem Erleben und ihn zum Herrscher
machte, wo er vordem Sklave war! ‒
.Von solcher Liebe soll dieses Buch dir
Kunde bringen!
.Zu dieser Liebe soll es deine Seele
leiten!
.Aus dieser Liebe lebt, der hier zu dir
von dieser Liebe spricht!
9 Das Buch der Liebe
.Nur wer aus dieser Liebe lebt, der
Liebe kundig aus Erleben und Erfah
rung, sollte von der Liebe Zeugnis geben
dürfen...
.Nur er kann wirklich von der unerfaß‐
lich hohen Kraft, um die es sich hier han‐
delt, reden.
.Es gab so manchen, der sich in der
Liebe glaubte, weil er nicht hassen konnte.
.Doch dieses Unvermögen ist noch lange
nicht Gewähr dafür, daß man die Liebe
kennt!
.Haß ist der Gegenpol der Liebe, ist
die gleiche Kraft in ihrer Umkehr, ‒
und wer nicht fähig ist, zu hassen, obwohl
er längst erkannte, daß nur Torheit sich
dem Haß ergibt, der wird auch niemals
diese Liebe in sich finden, von der Paulus,
wahrhaftig ein Liebender, zu sagen wußte:
.Wenn ich mit Menschen- und
Engelszungen redete, und hätte die
10 Das Buch der Liebe
Liebe nicht, so wäre ich gleich einem
tönenden Erz oder einer klingenden
Schelle.” ‒ ‒ ‒
.Er wird auch gewiß den Sinn jener Sage
nicht begreifen, die von dem Shakya
Muni, dem indischen Buddha, zu erzählen
weiß, daß einst ein Feind des Weisen einen
wutentbrannten Elefanten seinem Weg ent‐
gegenjagte, worauf der Erleuchtete, zu aller
Staunen, jenes Tier bezwang, so daß es zit‐
ternd vor ihm niederkniete, da er der Liebe
Kräfte ihm entgegensandte, die er in sich
trug...
.Sowohl die indische Sage, wie das Wort
des den Christus Jesus predigenden „Völker‐
lehrers” Paulus läßt den Tieferschürfenden
erahnen, daß wahrlich hier doch nicht nur
von Gefühlstrunkenheit die Kunde geht,
‒ daß hier vielmehr die hohe Kraft allein
verherrlicht werden soll, die, wie ich ein‐
gangs sagte: ‒ aller Erdenkräfte geistige
Herrin ist! ‒
11 Das Buch der Liebe
.Verschieden ist die Form der Offen‐
barung dieser Kraft im Erdenleben.
.Du findest sie in jeder Pflanze, jedem
Tier, und aller Gattungstrieb ist ihrer All‐
gewalt Bezeugung...
.Doch findest du sie so erst auf der tief
sten Stufe ihres Wirkens und du wirst
hier gewiß nicht auch zugleich ihre höchste
Wirkungsart erkennen, obwohl auch hier
schon weitaus mehr zutage tritt, als du bis‐
her vielleicht erspähen konntest. ‒ ‒ ‒
.ttest du jemals, obwohl es dir wahr‐
lich nahe liegen müßte, ‒ in dieser tief
sten Form der Liebe schon die Schöpfungs
schauer entflammter Gattungstriebe dir zum
Zeugnis dienen lassen, dann wärest du längst
schon zu der Erkenntnis gelangt, daß solche
Urgewalt gewiß auch mehr vermag, als
aus dem Irdischen das Irdische zu zeugen! ‒
.Du hättest längst zugleich erkannt, daß
diese Schöpfungsschauer auch der höch
12 Das Buch der Liebe
sten Form der Liebe eignen müssen, und
wärest wohl gewiß dem holden Irrtum nicht
erlegen, der da bewirkt, daß dir ein sänftig‐
lich Gefühl der Zuneigung und from
mer Weichheit schon zu genügen scheint,
um, nach dem Worte jenes Liebenden, keine
„klingende Schelle” und kein „tönendes
Erz” zu sein. ‒
.All das, was der hier bezeichnete wahre
Liebende noch weiter von der Liebe Be
kundungsweise sagt, sind nur die Zei
chen, die der Liebe folgen werden, dort,
wo sie in höchster Form sich offenbart. ‒
.Du aber hast diese Zeichen für die
Liebe selbst gehalten und mühst dich nun,
die Zeichen hervorzubringen, die dir von
selbst zu eigen werden würden, hättest du
die Liebe! ‒ ‒ ‒
.Ich werde dich von manchem Irrtum
heilen müssen, will ich dich der Liebe fähig
machen...
13 Das Buch der Liebe
.Noch bist du verstrickt, von früher Ju‐
gend an, in tausendjährigen Wahn!
.Die dich einst lehren sollten, hatten
selbst es nicht anders gehört als sie es dir
weitergaben.
.Es wäre arge Torheit, wolltest du ihnen
zürnen!
.Sie gaben dir, was man ihnen gegeben
hatte, so wie nun ich dir gebe, was man
mir einst gab, bevor ich selbst zu schöpfen
wußte mit mir zugehörigem Gefäß.
.Vielleicht wirst du erkennen, daß es aber
doch nicht gleichen Wertes ist, aus wel
chen Brunnen die Becher der Lehrenden
schöpfen! ‒
.Wenn du die Lehren, denen ich in mei‐
nen anderen Büchern Formung schaffen
durfte, bereits kennst, dann wirst du wis‐
sen, daß mir tiefste Felsenquellen
fließen, aus denen noch alle geistige Weis‐
14 Das Buch der Liebe
heit quoll, die jemals diese Erde befruchtet
hat.
.Wohl dir, wenn die „lebendigen
Wasser dieser Quellen dich erquicken
werden!
.Wohl dir, wenn du nicht „Ärgernis”
nimmst an meinen Worten, obwohl ich ge‐
zwungen sein werde, dir zu zeigen, daß
wahrhafte Geistes-Offenbarung ewig währt,
und sich zu jeder Zeit den Offenbarenden
zu schaffen weiß!
.Ich wäre gewiß nicht, der ich bin, wollte
ich zu entwerten suchen, was in den reli‐
giösen Lehren der Vorzeit von Meines‐
gleichen stammt.
.Und alles in allen diesen Lehren der
ferneren und näheren östlichen Welt, was
wirklich das Kennmal des Geistes der
Ewigkeit aufweist, ward voreinst gegeben
durch die Offenbarung Derer, von deren
Art ich bin.
15 Das Buch der Liebe
.Meine „Abstammungsreihe” reicht frei‐
lich beträchtlich weiter als die biologische
Ahnentafel des Erdenmenschen, der mir als
Instrument: ‒ als irdisch nötiges Vehikel
dient...
.Und ich rufe dich nur auf, hinfort zu
sondern, was Geistesgut ist, wie es die
Geistgeeinten, die nur zu seltenen Zeiten
dieser Welt sich offenbaren, allein zu geben
wissen, ‒ und was steriler, hirngeblähter
Menschenmeinung zugehört in jenen
alten Schriften alter Völker, deren Worte
dir in Bausch und Bogen als geheimnisvoll
verehrungswürdig gelten.
.Wie du die alten Worte unterscheiden
lernen kannst, sollst du durch mich erfahren!
.Ich lehre dich hier als der einzige aller
mir Gleichgearteten, der heute in der Öffent‐
lichkeit wirkt, ‒ und als der einzige Erden‐
mensch, der heute von sich sagen darf, daß
er nur ewigkeitsgezeugtem Geistesgut das
Behältnis des Wortes formt.
16 Das Buch der Liebe
DER GRÖSSTE LIEBENDE
.Wenn hier der Liebe Lichtkraft deinem
Schauen sich enthüllen soll, so ziemt es sich
mit Fug und Recht, daß wir zuerst des
größten Liebenden gedenken, unter allen,
die auf Erden jemals Menschenantlitz trugen.
.Du magst dich selber zu ihm bekennen,
oder jenen Glaubensformen fernestehen,
die auf seiner Lehre Grund im Laufe der
Jahrhunderte erwachsen sind und Spuren
seiner Lehre oft nur noch in widerspruchs
erfüllten Lehrgebilden aus den Trüm
mern alter Tempel bergen; ‒ doch wirst
du schwerlich teilnahmslos an ihm vorüber‐
gehen können, wo immer seines Lebens
Bild dir seine Lehre offenbaren mag.
.Gewiß, ‒ die Kunde seines Lebens ist
gar mannigfach verschüttet und du wirst
wenige Worte heute noch in ihrer Rein
19 Das Buch der Liebe
heit dort zu finden hoffen dürfen, so, wie
sie einst der hohe Meister zu den Seinen
sprach.
.Doch, selbst in der Verschüttung
leuchtet noch genug des Echten auf, und
wenn du innerlich dich selbst bereitet hast
zur Fähigkeit, das Echte auszusondern,
wird der Schutt der alten heidnischen
Kulte, wird das Meinungswerk der alten
Schreiber der Berichte, gewiß nicht mehr
das wahre Bild des Meisters dir verfälschen
können.
.Du mußt nur unbefangen prüfen lernen,
was man dir darzubieten pflegt als schein‐
bar „gleichzeitliche” Bezeugung eines Men‐
schenlebens, das seiner Mit- und Nach‐
menschheit ein Rätsel blieb bis auf den
heutigen Tag...
.Da man nicht wagte, die alte Kunde
anzutasten, in der die Lehre, die des Meisters
Mund einst gab, schon in den allerersten
20 Das Buch der Liebe
Zeiten fremde Formung fand, war allem
Glaubenswahn, der diese Lehre sich in sei
ner Weise deuten wollte, freie Bahn ge‐
geben, so daß es heute ein vergeblich Mühen
ist, die Glaubensmeinungen, die so ent‐
standen, um dieser Lehre letzte Wahrheit
zu befragen.
.Du wirst hier tiefer schürfen müssen,
wenn du finden willst, und wenn du dann
gefunden haben wirst, kannst du auch
wirklich der vertrauten Glaubensmeinung,
die von früher Jugend an dich führte,
erst jene Tiefe geben, die Be-gründung
bietet.
.Es sei mir ferne, dir zu raten, deinem
Glaubenskreise zu entfliehen, und irrig
würdest du die Lehre deuten, die ich künde,
wenn du etwa vermeinen solltest, daß ich
einen neuen Glaubenskreis zu stiften wil‐
lens sei!
.Es mangelt uns wahrlich nicht an guten
Glaubensformen, so sehr es auch an
21 Das Buch der Liebe
wahrhaft „Gläubigen der Tat” in den
heutigen Tagen mangeln mag!
.Nichts liegt mir ferner, als der töricht‐
eitle Wunsch, die alten Glaubensformen
nun um eine neue noch zu mehren!
.Ich will, und muß jedoch nach binden‐
der urgeistiger Verpflichtung, allem Glau‐
ben die Ver-tiefung bringen, deren er be‐
darf, mag er des eigenen Wertes noch so
sicher, sich auch den „einzig wahren
Glauben nennen...
.Was die durch mich geformte Lehre dir
zu geben hat, wirst du im Grunde aller
Religionen wiederfinden, wenn du einmal
es erkanntest, ‒ ‒ dort, wo deines
religiösen Glaubens Formen dir altver
traute Helfer sind!
.Uralte Weisheit gibt sich so dir kund,
und aller „Glaubensgründe” tiefster Ur
grund wird dir offenbar. ‒
22 Das Buch der Liebe
.In ihm ist jede Glaubensform verwur‐
zelt, aus welchem alten oder neueren Mythos
sie sich auch ihre Symbole formen mag!
.Sei nicht vorschnell zufrieden in einem
Urteil, das dir von anderen ein-gegeben
ward, so daß es dir nun als aus dir selbst
erstanden erscheint!
.Vertraue dir selbst, wenn du hier zur
Urteils-Fähigkeit erwachen willst! ‒
.Nicht was andere sagten, darf dich irren,
wenn du selbst der Wahrheit nahen
möchtest!
.Nur in deiner eigenen Wahrheit kannst
du das Licht der Wahrheit unterscheiden
von Truglicht und Täuschungswahn! ‒
.So laß uns denn nach dem Bilde des
Meisters suchen, soweit es jene Kunde noch
enthüllen kann, die, „menschlich-allzu‐
23 Das Buch der Liebe
menschlich”, Heiligstes mit eigener Meinung
mischte!
.Jehoschuah, der Meister von Nazareth,
will sich selbst hier durch mein Wort dir
offenbaren...
.Suche, unbeirrt durch Vorurteile oder
fremde Meinung, zu erfühlen, was ich dar‐
zustellen habe!
.Der weise Lehrer, der da sein Land
durchzieht, ist Jude und will zuerst nur
von Juden verstanden sein. An dieser Wahr‐
heit kann auch manisch-irrer Rassenhaß in
aller Ewigkeit nichts ändern, wie immer
man versuchen mag, den größten Sohn des
Judenvolkes seinem Stamme abzusprechen!
.Er muß, als Jude, aus dem Geistes‐
schatze seines Volkes schöpfen, soll das
Gut uralter Weisheit faßbar werden für
die Menschen, denen er zum Lehrer wer‐
den wollte. „Den Kindern Israels” fühlt er
24 Das Buch der Liebe
sich ursprünglich allein gesandt, und in den
Synagogen sucht er seiner Lehre Wahrheit
zu erweisen „durch die Schrift”: ‒ die alten
religiösen Bücher orthodoxen Judentums.
.So aber war schon, ‒ notgedrungen, ‒
eines ersten Irrtums Keim gelegt, indem
die Hörer ihn als Lehrer ihres Glaubens
zu verstehen suchten und jedes Wort, das
aufrecht und gerade sie erreichte, sich
nach den eigenen verschlungenen Auffassun‐
gen ihres Väterglaubens bogen.
.In stetem Mühen sucht er solchem Irr‐
tum zu begegnen, doch ist er selbst in
seinem geistigen Erleben viel zu fern
schon ihrer Enge, als daß er noch den Grad
der „Taubheit” seiner Hörer fassen könnte.
.Die Klage, daß dieses Volk ihn nicht zu
„hören” wisse, ist gar oft in seiner Rede.
.Er flucht dem Volke, das nur „Ohren
hat um nicht zu hören”, damit es selbst
in sein Verderben renne.
25 Das Buch der Liebe
.Und als das Ende seines Lebens, ‒ lang
schon vorgeahnt, ‒ ihm wirklich naht, bricht
all sein hoher Mut zusammen in bitterer
Klage, und er ‒ beweint Jerusalem, da es
in seinen Tagen nicht erkannte, was er
seinem Volke bringen wollte...
.Die Wenigen, die er sich dennoch aus‐
erlesen hat, müssen oftmals harte Worte
hören um ihrer Herzensenge willen, und
selten nur vertraut er ihrer Fassungskraft.
.Mitunter möchte er sich selbst bereden,
als ob die äußerlich so treu Ergebenen ihn
doch nun wahrlich recht verstanden haben
müßten, um dann, erfüllt von Schmerz und
Mitleid, wiederum zu sehen, wie weit
entfernt von seiner Lehre diese Herzen
waren. ‒
.So zieht er durch die Gaue Palästinas,
‒ redet in den „Schulen”, ‒ den ländlichen
Synagogen, ‒ um die Spur der Weisheit in
26 Das Buch der Liebe
den alten Schriften aufzuzeigen, ‒ redet
vor dem Volke in des Volkes Sprache, um
die Herzen zu erwecken, vertraut den
Freunden das Geheimnis seiner Sendung
an, das sie nicht deuten können, weil sie
viel zu sehr befangen sind in völkischen
Messiasträumen ‒ und wird von allen,
außer jenem, „den er liebte” ‒ nicht ver‐
standen.
.Er spricht von seinem „Vater”, und sie
glauben, daß er von ihrem Stammesgotte
rede, obwohl er diesem „Gott der Rache”,
der „zu den Alten” sprach, mit aller Deut‐
lichkeit den Dienst verweigert, ja dessen
vermeintliches „Gebot” aus Geisteskraft
vernichtend, lehrt: ‒ „Ich aber sage
euch...”
.Er spricht von seiner hohen Sendung,
und sie wähnen, er wolle ihres Erden‐
reiches äußere Herrschaft neu errichten,
obwohl er ihnen längst verkündet hatte,
daß er eines Reiches König sei, das „nicht
27 Das Buch der Liebe
von dieser Erde” Macht seinen ewigen Be‐
stand empfange.
.Er spricht von dem, was in ihm „Fleisch
und Blut” geworden war und lehrt Ver
körperung des Geistes, ‒ doch sie ver‐
stehen, daß sein Leib, den ihm die Erde
einst gegeben hatte, ihre Erdenspeise
werden müsse.
.Jene Armen, die er von Gebresten heilen
konnte, aus der Heilungskraft, die seinem
Erdenkörper eigen war und kaum die
Geistigkeit berührte, die er als sein wesen
haftes Sein erkannte, ‒ vertrauten ihm
als ihrem Helfer, doch sie ahnten nicht,
daß er die gleiche physische Hilfe hätte
spenden können, auch wenn er geistig nicht
gewesen wäre, der er war...
.Will man es ihm verdenken, wenn sein
Erdenhaftes einer schwachen Stunde Beute
wurde, so daß er den Hosannahrufen
traute, die ihm Erdenmacht versprachen,
28 Das Buch der Liebe
‒ daß ihm solche Macht verlockend nahe
schien, auch wenn er sie nur den Seelen
nutzbar machen wollte?! ‒
.Hier ist die kurze Schuldverstrickung,
der selbst dieses Leben nicht entgehen
konnte, denn keiner, den die Erde je ge‐
tragen hat, bleibt frei von Schuld!
.Wohl suchte er geradezu, um seiner
höchsten geistigen Aufgabe willen, den Tod
durch Menschenhand, weil er in sol
chem Tode nur das Letzte geben konnte,
was nur er zu geben hatte; ‒ doch wahr‐
lich war ihm dieser Tod zu früh gekom‐
men und es bedurfte höchster Kraft, ihn
willig hinzunehmen, so daß er aus tiefster
Seele seinen „Vater” bitten konnte, er möge
noch das Schicksal anders wenden, ‒ „wenn
es möglich” sei. ‒
.„Vieles” glaubte er seinen Schülern einst
noch sagen zu können, was sie zu jener Zeit,
wie er deutlich sah, „noch nicht tragen”
konnten...
29 Das Buch der Liebe
.Als aber ein Bote der Lichtgemein
schaft, der er angehörte, in jener angst‐
erfüllten Nacht zu Gethsemane ihm endlich
zeigte, daß sein Weg, so wie er ihn sich
selbst gestaltet hatte, auch durch den
Vater” aller derer, die in dieser Licht‐
gemeinschaft wirken, nicht mehr abzulenken
sei, ‒ da kehrt er in sich selbst zurück um
sich im Priesterkönigtum des Leuch
tenden zu finden, und geht als Held den
letzten, schweren Gang, belastet mit dem
Holz des Kreuzesgalgens. ‒
.An diesem Martergalgen, der dann später
einem uralt-heiligen Zeichen längst ver‐
gangener ehrwürdiger Kulte neue Deutung
gab, erfüllte er das letzte Liebeswerk ‒
Geheimnis allen, die ihn dort umstanden,
‒ und noch Geheimnis allen, außer selte‐
nen Sehern, bis auf den heutigen Tag!
— — — — — — — — — — — — —
30 Das Buch der Liebe
.Möge keiner wähnen, daß dieser Tod
an sich dieses letzten Liebeswerkes In
halt war!
.Hier ist ein Mysterium, das ich an anderer
Stelle schon, mit Scheu nur, zu enthüllen
wagte, ‒ und nur, weil Pflicht es mir ge‐
bot...
.Wer es erfassen kann, der fasse es!
.Hier ward ein Geisteskraftstrom allem
Menschengeist erschlossen durch die Liebe,
die dieses Buch dir kündet, ein Kraftstrom,
der nur durch das Opfer eines allgewaltig
Liebenden erschließbar war. ‒
.Hier wurde der „Gott” der Rache, ‒
der ärgste Dämon der Unsichtbaren im
physischen Kosmos, ‒ von einem Erden‐
menschen überwunden durch die absolute
Austilgung jeglicher Racheregung: ‒
ein Werk, das nur der höchsten Form ur‐
geistiger Liebe möglich werden konnte...
31 Das Buch der Liebe
.Was dir die alte Kunde noch berichtet
von dem, was nach dem Tode des größten
Liebenden sich dann ereignet haben soll,
ist, wenn du es geschichtlich fassen woll‐
test: ‒ Mythe, doch diese Mythe schließt
in sich die tiefste Wahrheit ein.
.Wohl ist der Meister aus dem Grabe
auferstanden”; ‒ es hätte ihm dabei
sein Erdenleib jedoch wahrhaftig nichts
mehr nützen können. ‒
.Wohl war der „Jüngling in weißem
Gewande” keine Täuschung schreckerfüll‐
ter Frauen, ‒ jedoch beachte auch die weiter
weisende Spur der Wahrheit, die der Schrei‐
ber jener alten Kunde nicht vertilgen konnte,
‒ die ihm sichtlich unerkennbar und un‐
verständlich war, ‒ und die er dennoch
gegen seinen Willen niederschreiben mußte,
so sehr er sich auch dann bemüht, sie wie‐
der zu verwischen: ‒
.Zwar waren es nicht die Schüler des
hohen Meisters, die den Erdenleichnam
32 Das Buch der Liebe
holten, so daß mit gutem Grunde der
Chronist behaupten konnte, hier sei ein
irriges „Gerücht” erhalten.
.Allein der Meister war in seinen Erden‐
tagen oftmals, fern von anderen Menschen,
in der Einsamkeit der Berge auch noch
anderen begegnet, die nicht aus seinem
Volke, aber Seinesgleichen waren, vereint
mit ihm in jener Lichtgemeinschaft, der
er Bruder, ‒ der er geistig einverwoben
war...
.Als er die drei aus seinen Zwölfen einst‐
mals mit sich nahm auf den Berg, wo er
zu „beten” pflegte, und sie ihn dann in
der „Verklärung” seiner Geistgestalt er‐
blicken durften, da glaubten die Getreuen,
als sie zwei Männer in weißen Gewändern
neben ihrem Meister sahen, dies müßten
sicher zwei der alten Propheten sein, ‒
„Moses” und „Elias”, ‒ so daß der Meister,
als er voll Enttäuschung ihren Irrtum sah, ‒
verbot, den anderen davon zu reden. ‒ ‒ ‒
33 Das Buch der Liebe
.Er sah, daß all sein Lehren nicht ver‐
mochte, sie aus der Enge ihres Stammes
glaubens zu befreien, und daß es nur Ver‐
wirrung stiften würde, wollte er den Irrtum
klären. ‒
.Doch, jene „Männer in weißen Gewän‐
dern” und der „Jüngling”, den die Frauen
noch im Grabe fanden, waren sich nicht
fremd, und da sie keinen Kultus um des
hohen Bruders Leichnam entstehen sehen
wollten, so taten sie, was man nach ihres
Landes Sitte mit dem Erdenüberrest des
Menschen auch noch heute zu tun pflegt:
‒ ‒ sie übergaben ihn der verzehrenden
Flamme, nachdem sie alles dafür an wohl‐
gewählter, vor aller Störung geschützter
Stelle vorbereitet hatten...
.Ich spreche hier, belehrt von dem, der
von sich wahrlich sagen durfte, daß er bei
den Menschen bleibe, „bis an das Ende der
Welt”, ‒ belehrt von jenen, die ich meine
34 Das Buch der Liebe
hohen Brüder nennen darf, und die in jener
Nacht einst selbst die Wächter tief in
starren Schlaf versenkten, um des Bruders
eigenem Willen, der zugleich der ihre war,
mit Umsicht zu entsprechen. ‒
.Wohl weiß ich, daß mich viele hier der
Selbsttäuschung zeihen werden, ja daß noch
Schlimmeres von „blinden Blindenleitern”
meinen Worten selbstgerecht als Anwurf
werden mag.
.Es ist das Kennmal verkrüppelter Seelen,
jede Lebensbekundung zu verneinen, zu
deren Aufnahme ihnen die geistigen Organe
fehlen!
.Wohl weiß ich, daß ich hier an Dinge
rühre, die gar manchem als „unantastbar
gelten, ‒ allein des größten Liebenden Er‐
lösungslehre wird durch die Wahrheit
wahrlich mehr verklärt, als durch den älte‐
sten, gewohnheitsmäßig weiterüberlieferten,
unbewußten frommen Trug, ‒ der über‐
dies nicht mehr länger Trug bleibt, sobald
35 Das Buch der Liebe
man ihn als Dichtung wertet, die nur
der Wahrheit ein symbolisches Gewand zu
weben suchte...
.Auch jene Massenerweckung, die
dann am „Pfingstfest der Juden” zu Jeru‐
salem sich ereignete, war nicht imstande,
alle Hüllen von den Seelen derer zu ent‐
fernen, die nun an den Meister glaubten,
da sie ihn nach seinem Erdentode wieder‐
holt „gesehen” hatten.
.Zu enge Bindung war um diese Seelen,
als daß der „Geist der Wahrheit”, den
der Meister einst verheißen hatte, sie aus
sich vollenden konnte.
.So hatte Paulus, dieser wahrhaft Lie
bende, den man den „Heidenapostel” und
„Völkerlehrer” nennt, gar harten Stand, als
er, der wirklich einst in tiefsten Schauern
den „Geist der Wahrheit” in sich erlebte,
und dann wußte, wer der hohe Meister
war, ‒ jenen allzu eng Gebundenen be‐
36 Das Buch der Liebe
gegnete, die sich die Schüler des „Gesalb‐
ten” nennen durften! ‒
.Und doch war auch der zum Christus‐
verkünder gewordene frühere Pharisäer‐
schüler nicht von allem Vor-Urteil frei ge‐
worden und mengte guten Glaubens manches
Alte, ihm Vertraute, in der Folgezeit des
Meisters Lehre bei, obwohl er weitaus
klarer sah als jene andern, die sich die
„Boten” einer Lehre nannten, von der einst
der Meister selbst als von der „frohen
Botschaft” sprach. ‒
.Recht unfroh ist leider die Lehre aus‐
gefallen, die im Laufe der Jahrhunderte
zur Macht über die Seelen gelangte, auf
das Meisterwort von der „frohen Botschaft”
gar selbstgerecht gestützt! ‒ ‒
.Johannes aber, den der Meister nach
dem Wort der alten Kunde „liebte”, hielt
sich in der Stille und die Stillen hielten
sich zu ihm.
37 Das Buch der Liebe
.Nur er besaß, was einst der Meister
selbst mit eigener Hand ihm nieder
schrieb, und spät erst ließ er Wenige,
die ihm würdig schienen, davon Abschrift
nehmen.
.Hätte Jesus wirklich, wie man gemein‐
hin glaubt, nur mündlich gelehrt und
nichts niedergeschrieben, so wäre wahrlich
auch nicht ein einziges von ihm ge‐
formte Wort auf uns gekommen! ‒ ‒
.Die Urschrift wie das Nachgeschriebene
sind dann, wie ich schon anderen Ortes sagte,
durch jene selbst vernichtet worden, die
in diesen Meisterschriften ihren höch‐
sten Schatz besaßen, aus Furcht, das Heilige
könne dereinst Entweihung finden.
.Auch dieses Faktum ist mir nur er‐
wiesen, durch die mir im Urlicht geistig
Vereinten, die allein hier „wissen” kön‐
nen, doch mag es sein, daß spätere Ge‐
schlechter hier auch noch auf textliche und
andere Spuren stoßen, die dann auch äußer
38 Das Buch der Liebe
lich die Wahrheit meiner Worte offenbaren
werden, denn in geistigem Schauen sehe ich
solche Fragmente und Textstücke noch im
Bereiche der Erde, wenn ich auch nicht den
Ort, an dem sie ruhen, zu bestimmen weiß...
.Gewisse Spuren sind ja für alle weit‐
hin sichtbar in jenem Teil der alten Kunde,
der eben jenem Einen zugeschrieben wird,
den einst der Meister „liebte”. ‒
.Die Unzulänglichkeiten dieses Teils der
alten Kunde werden leicht verstehbar, wenn
man weiß, daß ihr Verfasser, der dem Schüler‐
kreis des Johannes nahestand, auf den „Mei‐
sterschriften” fußte, und nur damit ver
binden wollte, was er sonst noch an Über‐
liefertem und Legendärem, bruchstückhaft,
besaß.
.Von dem, was man dem Schüler zu
schreibt, den der Meister „liebte”, ist
freilich nichts von dessen Hand geschrie‐
ben, allein die Art der Schriften, die man
seinen Namen tragen ließ, ist nicht gar
39 Das Buch der Liebe
weit von dem entfernt, was er geschrieben
haben könnte, ‒ hätte er geschrieben.
.Doch, alle diese Fragen sind nur denen
wichtig, die von außen her erfassen möchten,
was sich nur im Innersten erfassen läßt. ‒
.Diese allein auch sind es, die danach
fragen, wer einst dem hohen Meister Lehre
gab, und die mit willigem Gehör so manche
Mär beachten, die zu erzählen weiß, daß
Jesus in der Zeit, von der die Kunde
schweigt, in Indien gewesen sei, ‒ und
anders wieder: daß er in Ägypten sich
vollendet habe.
.Nichts von dem ist wahr!
.Wohl suchte einst sein irdischer Vater
in Ägypten, wo man dazumal das Hand‐
werk lohnte, Arbeit, um die Seinen zu er‐
halten und mit dem übrigen Erlös zurück‐
zukehren in die Heimat, so wie dies heute
noch die Handwerker Italiens und anderer
40 Das Buch der Liebe
Länder halten, jedoch zu jener Zeit war
der, dem später seine Lichtnatur sich
zeigte, noch ein Kind, und wirklich noch
nicht reif, um die Vollendung seines Irdi‐
schen zu finden, wie sie Vorbedingung ist
für jeden, der sein Leuchten im Urlicht
irdisch bewußt erleben soll.
.Nach Indien aber brauchte er seine
Schritte wahrlich nicht zu lenken, denn was
aus Indien” ihm kommen mußte, kam
zu ihm, und jenes wundervolle Bild der
„Weisen aus dem Morgenlande”, der Prie
sterkönige, die „seinen Stern” erblickten
und ihm ihre Gaben brachten, ‒ ward nur
zurückdatiert in frühe Kindheit, weil hier
den Schreibern selbst nur dunkle Kunde
wurde, und weil es so dem Wunderbaren,
das sie mit des Meisters erster Kindheit
schon vermählen wollten, besser diente.
.Daß Geistiges aber nur im Geiste
faßbar werden kann, war den frommen
alten Chronisten ein eben so ferner Ge‐
41 Das Buch der Liebe
danke, wie den Wundersüchtigen unserer
Zeit, obwohl doch der Meister Gott nur „im
Geiste” suchen hieß. ‒
.Im Äußeren war naturnotwendig in des
Meisters Kinderjahren nicht das mindeste
des „Wunderbaren”.
.Er war ein Kind wie seine Spielgenos‐
sen, und als er Kraft genug besaß um bei
dem schweren Handwerk seines Vaters mit‐
zuhelfen, lernte er das Handwerk, so wie
jeder Zimmermann, dem in jener Zeit
außer dem Hausbau auch noch mancherlei
andere Holzbearbeitung oblag.
.Die innere Entfaltung aber blieb
geheim, wie sie bei jedem bleibt, der
gleicher Geistesartung ist, und was diese
geistige Entfaltung für sich verlangte, hin‐
derte in keiner Weise äußeres Tun.
.Der so als Erdenmensch seine Geistes
macht erfassen lernte, die längst vollendet
war, bevor ihm seiner Mutter Leib das Kleid
42 Das Buch der Liebe
der Erde geben konnte, war auch kein Ab‐
seitssteher wo das Leben rief, denn nie‐
mals hätte er sein hohes Ziel erreicht, wenn
er dem Leben fremd geblieben wäre.
.Er war ein Handwerksmann, bis ihm
die Stunde kam, die ihn zu anderem rief,
wo er alsdann erweisen konnte, daß er
besser als die „Schrift-Gelehrten” in der
„Schrift” zu „lesen” wußte, ‒ ohne sie,
wie jene, einst „gelernt” zu haben.
.Die Fakirwunder, die ihm die Chronisten
überbürdet haben, hat er nie gewirkt, ‒
jedoch ist manches „Wunder”, das ihm zu‐
„geschrieben” wurde, ein tief gehaltvolles
Symbol, und so: voll Wahrheit, während
seine angeborene Kraft der Kranken
heilung ihn zu mancher Tat befähigte,
die wohl für seine Umwelt großes „Wun
der” war, aber nicht das mindeste zu tun
hatte mit seiner geistigen Sendung.
.Daß er sich selbst auf seine „Wunder‐
zeichen” je berufen hätte, um so den Glauben
43 Das Buch der Liebe
an sein Wort zu fordern, ‒ heißt ihn, der
wirklich wußte, was des Körpers, was des
Geistes ist, in unerhörter Weise schmä
hen, ‒ ‒ und nur naive Nichterkenntnis
konnte jene Worte, in denen er angeblich
auf seine Wunder verwies, ihm zu eigen
geben, in der Erwartung, dadurch der Lehre
des Meisters äußerliche Bestätigung zu ver‐
schaffen.
.Es wurde so unsäglich an seiner Lehre
gesündigt um des Menschenfischfangs
willen, und noch heute wirken diese Sünden
törichter Verbreiter der arg entstellten Lehre
fort, und ist kein Ende dieser Irreführung
abzusehen!
.Möge es mir gelingen, hier doch ein
Weniges aufzuhellen, für alle, die noch
guten Willens” sind!
.Die Glaubensnot der vielen, die des
Meisters Lehre nur in der Entstellung
kennen und durch die neuere äußere Er‐
forschung jener alten Kunden stets auf neue
44 Das Buch der Liebe
Zweifel hingeleitet werden, ist wahrlich
längst in solchem Maße unerträglich, daß
endlich eine Klärung nötig wird, die nur
von denen zu erwarten war, die selbst
den Künder dieser Lehre, lebend ihrem
Kreise einverwoben, ‒ kennen, dem
Kreise, von dem er ausging: gesandt vom
Vater”, und dem er wiederkehrte, als
sein Erdenwerk vollbracht erschien!
.Von hier aus nur kann der Gegen
wart und der Zukunft manchen „Rätsels”
Lösung werden, und auch die Wissenschaft
wird in solcher Einstellung ihres Suchens
einst zu finden wissen, was sie finden
kann, um solche Lösung denen dann ge‐
recht zu machen, die nur erfassen können,
was sich „greifen” läßt. ‒
.Alle über das bloße irdische Tierdasein
des Menschen hinausreichenden Fragen der
suchenden Menschheit werden dereinst ihre
Antwort finden, nachdem man mehr und
mehr das Wirken der geistigen Hierarchie
45 Das Buch der Liebe
erkennen lernte, deren bedeutendster und
wichtigster Abgesandter der Meister von
Nazareth war...
.Wie fälschlich sind doch alle beraten,
die in dieses Weisen hoher Lehre das
schwächliche Gefühl empfohlen glauben,
das man so gemeinhin „Menschenliebe
nennt! ‒ ‒
.Ihren Beratern ward es oftmals schwer,
des Meisters Handeln, wie es die Berichte
künden, so zu deuten, daß die Deutung,
ihrer Meinung nach, zu Recht bestehen
konnte. ‒
.Da gibt es Dinge, die nicht recht pas
sen wollen, will man den sanften Säusel‐
bold, den fromme Kanzelrede schuf, in die
Berichte strecken...
.Der Krafterfüllte, der, trotz aller Ver‐
schüttung reiner Kunde, dort noch lebt,
will sich gar schwer den süßlichen Bildern
46 Das Buch der Liebe
ähnlich finden lassen, die dünner Glaube
sich nach eigenem Ausmaß, hold und
schwächlich ausersann...
.So manches Wort der „Schrift” läßt sich
mit solchen Bildern nur vereinen, wenn
ausgeweitetes Gewissen dieses „Schriftwort”
sich nach eigenem Bedürfnis in „Er
klärung” umfälscht, bis selbst das Wenige
geschwunden ist, das die Verschüttung frü‐
her Zeit noch übrig ließ. ‒
.Blasphemisch würde solchem süßen
„Schrift”-Erklärer der Gedanke dünken, der
hohe Meister könne je in seinem Leben
jene Kraft der Liebe in sich selbst emp‐
funden haben, die zwar sein „Diener”, mag
sie ihm nach seines Glaubens Meinung nun
„erlaubt” sein oder nicht, sehr wohl im
eigenen Fleische fühlt, ‒ doch „sündhaft”
nennen muß, da er von ihrer Göttlich
keit nichts ahnt!
.Blasphemisch dünkt es ihm, daß diese
Form der Liebe gleicher Kraft entströmen
47 Das Buch der Liebe
soll, die jene höchste Form der Liebe
schafft, wie sie in des hohen Meisters Leben
Lehre ward und Tat, ‒ die ihn zu jener
Liebestat erkraften konnte, durch die der
Priesterkönig, der er war, am Kreuzes
galgen alle Menschheit krönte!
.Und doch, mein Freund, wirst du die
Liebe, die der Meister kannte, nimmer
finden, wenn du in dir nur süßliche Ge
fühle weckst und deine Menschenfreund
lichkeit gepaart mit Mitleid, ‒ „Liebe”
nennst! ‒ ‒
.Schlecht paßt zu diesem Schwächebild
vermeinter „Liebe”: der von Verachtung
des Verächtlichen erfüllte Meister, der sich
im Gefolge der Seinen Stricke dreht, das
Händlervolk der Tempelschänder aus
zutreiben, ‒ der für der Wechsler
Gold nur einen Fußtritt hat, und der
die Priester seines Volkes jene bösen
Worte hören läßt, die sie in ihrer Rach
sucht nimmermehr vergeben konnten!
48 Das Buch der Liebe
.Um solches Tun der eigenen Unbe
rufung anzuähneln, mußte das Wort vom
„göttlichen Zorn” erfunden werden, und
man entblödete sich nicht, dem „Vater im
Himmel” des hohen Meisters jene Laster
anzudichten, die, verängstigender alter Prie‐
sterlehre nach, einen düsteren Stammes
gott erfüllten, den einst der hohe Meister
geistig niederschlug mit seinem gewaltigen
Wort:
.Ich aber sage euch...!”
.Ach nein, ‒ wenn du die Liebe in dir
Wirklichkeit und Leben zeugen sehen
willst, dann mußt du wahrlich andere
Wege gehen, als jene, die man dir zu zeigen
wußte!
.Kannst du denn nicht verstehen, daß
die Kraft der Liebe sich auf ihrer höch
sten Stufe keineswegs in schwächerer Be‐
kundung zeigen wird, als dort, wo sie in
49 Das Buch der Liebe
niederer Form schon all dein Sinnen,
Tun und Trachten steigert, so daß du oft
Fesseln sprengst, die vorher nie dir lösbar
schienen?!? ‒
.Nur, wenn du etwas in dir suchst, das
auch in höchster Geistigkeit die gleichen
Kräfte weckt, und alles meistert, was
dich sonst in Banden hält, wirst du die
Liebe, die der Meister lebte, in dir finden
können! ‒ ‒
.Dann erst wirst du die Freiheit der
Kinder des Lichtes” erlangen und jenen
Frieden, den die Welt nicht geben
kann”!
.Du darfst in den Worten der alten Kunde
auch nicht neue „Gebote” sehen!
.Glaube mir und lasse dich nicht durch
Verschüttung täuschen: ‒ der Meister hat
niemals das Wort „Gebot” gebraucht,
und niemals hat er „Gebote” gegeben!
50 Das Buch der Liebe
.Selbst das „Gebot” der Liebe, das die
Kunde meldet, hat er nie geformt!
.Allenfalls hat er gelegentlich aus der
„Schrift” zitiert:... „Du sollst deinen
Nächsten lieben, wie dich selbst!” ‒ wenn
er orthodoxen Fanatikern seines Volkes
zeigen wollte, daß auch er ihr „Gesetz”
sehr wohl kenne...
.Seiner Schüler gewohnte Bindung durch
Gebote” und „Gebote halten”, hat die
Umformung seiner Räte in Gebote bewirkt!
Nicht anders konnten sie seine Räte ver
stehen, es sei denn als „Gebote”!
.Sie brauchten, alter Observanz des Juden‐
tums getreu, Gebot, ‒ ‒ und Strafan
drohung für Verletzung des Gebots! ‒
.Wenn der Meister nun vom Seligwer
den sprach, so formten sie sich frei nach
seiner Rede ein „Rezept” zum Selig‐
werden! Man brauchte, ihrer engen Mei‐
nung nach, nur die „Gebote” zu halten, um
51 Das Buch der Liebe
des Erfolges „in jener Welt” dereinst sicher
sein zu dürfen.
.Nicht anders, wie heute unklare Köpfe
glauben, Licht und Sicherheit des Erken‐
nens sei durch irgendwelche mysteriöse
Übungen” erlangbar, die in bedenk‐
lichen Traktätchen immer wieder angeprie‐
sen werden.
.Was nun jene alte Kunde aber auch
schon in ihrer allerersten Niederschrift
an Echtem allein enthielt, war doch nur
Nachklang von des Meisters Lehre, und
allerbestenfalls Erinnerungsbericht aus da‐
mals schon jahrzehntelang vergangenen
Tagen...
.Es ist wahrhaftig lästerliches Unter‐
fangen, den Geist der Ewigkeit für solche
Aufzeichnung verantwortlich zu machen,
bei der die Schreiber selbst, in alter
Götterlehren Wahn, der ihre Zeit in
neuer Abart durchschwirrte, schon be
52 Das Buch der Liebe
fangen, und längst noch nicht gelöst
von eines argen Stammesgottes Hörig
keit, des Meisters schwach noch in Er‐
innerung zurückgerufene Lehre aus eigener
verschwommener Erkenntnis neu zu for
men suchten, und gar nicht merken konn‐
ten, wie sie fälschten! ‒ ‒
.Niemals hat der hohe Meister seinen
Schülern „Gebote” gegeben, sonst wäre er
nicht der hohe Leuchtende gewesen, der
er war und ist und ewig bleiben wird!
.Seine Lehre war ein „Wohl dir!” und
Wehe dir!” ‒ wie aller Lehre, die seine
Brüder: ‒ seine im Reiche des Geistes ihm
geeinten Mitarbeiter sind...
.Er wußte seligzupreisen und wußte
zu verdammen, aber ferne lag es ihm,
jemals zu „gebieten”!
.Dazu wußte er, als ein Leuchtender
des Urlichtes, denn doch wahrlich viel zu
gewiß, daß durch „Gebote” niemals Segen
53 Das Buch der Liebe
werden kann, ‒ und daß das Heil nur zu
erlangen ist, wenn man aus freier Wahl
danach verlangt.
— — — — — — — — — — — — —
.Wirst du so des Meisters Lehre aus der
alten Kunde dir zu retten suchen, dann
wirst du freilich vieles streichen müssen,
was dir lieb und wert geworden war von
Jugend auf! Manches andere wirst du dir
dennoch wohl verwahren können, gerade
weil du es als fremde Zutat erkanntest.
.Hüte dich, damit du nicht Allzuvieles
als irrig tilgen wirst!
.Du darfst beileibe nicht etwa modernen
Rationalismus als Probierstein wählen!
.Warte erst eine gute Weile, bis dir der
wahre Sinn meiner Worte eigene Be
stätigung weckte!
.Ich gab dir alle Kriterien der echten
„Worte des Herrn”!
54 Das Buch der Liebe
.So höre auch weiter noch das Folgende:
.Kyrios” = „Herr”, redet man auch
noch heute allerorten, so man griechisch
spricht, jeden Menschen an, der nicht ge‐
rade ein Bettler ist!
.Kyrie eleyson” fleht der Bettler, der
an der Straße sitzt, zu dem Vorübergehen‐
den hinauf.
.Das möge dich belehren, damit du nicht
aus falscher Scheu das Wort: „Der Herr”,
in jener alten Kunde, irrig deutest und ihm
einen Sinn gibst, den es erst lange nach
des Meisters Tod im werdenden neuen Kult
erhielt.
.Rabbi” sagten seine Schüler zu dem
Meister, und auch dieses Wort könnte irrige
Deutung bewirken, führt diesen Titel in
der Öffentlichkeit doch heute nur einer, der
wohlbestallter Prediger einer Synagoge ist.
.Ich darf dir aber sagen, daß man auch
heute noch dem frommen Schriftbewan‐
55 Das Buch der Liebe
derten in der jüdischen Gemeinde, mag er
auch im Alltag Handel oder Handwerk
treiben, den Ehrennamen „Rabbi” gibt!
.Nicht anders führte ihn der Zimmer
mann, der den Seinen „die Schrift auf‐
schloß”, da er ein Meister des hohen
Leuchtens war, ein Glied der Licht
gemeinde hier auf Erden, von der dir
wohl auch Kunde ward als von der „Weißen
Loge”, ‒ eine Bezeichnung, die erst in
neuerer Zeit entstand, und von mir nur
beibehalten wird, da sie bildhaft brauch‐
bar ist!
.Die seine Brüder sind, ‒ ihm völlig
geeint in Geistvereinigung wie er ihnen, ‒
nennen ihn: „den großen Liebenden”,
da keiner vor ihm jene große Liebestat
vollbrachte, der er aus freiem Willen sich
zum Opfer weihte, ‒ da keiner nach ihm
jemals eine Tat vollbringen kann, die nur
vergleichbar seinem Liebeswerke wäre,
durch das die Geistes-„Aura” dieser Erde
56 Das Buch der Liebe
sich verwandelte für alle Zeiten und für
alle Erdenmenschen, so daß seitdem allen
Menschen geistige Regionen zugänglich wur‐
den, die vorher nur wenige Einzelne in
unerhörter Selbstbezwingung erreichten.
.Ich bin mir wohl bewußt, daß meine
Worte dir nicht sagen können, was die
Liebe ist, die Leben wurde in dem größ
ten Liebenden, den je die Erde trug...
.Ich kann dir nur zeigen, wie du die
Spur dieses Lebens finden kannst, trotz
aller Verschüttung, unter der die Kunde
liegt, die von diesem Leben dir berichten
will.
.Möchtest du dieses Lebens Lehre rein
in deinem Innersten empfinden, wo sie
allein in ihrer Kraft empfangen werden
kann, damit der Meister in dir einen würdi‐
gen Schüler fände!
.Aber wisse, daß auch alles, was ich dir
hier geben darf, der gleichen Quelle ent‐
57 Das Buch der Liebe
stammt, aus der einst Jehoschuah, als
Leuchtender des Urlichts, schöpfte!
.Es gibt kein Wort, das der „große
Liebende” von sich einst sprach, das ich
nicht in gleicher Weise von mir sagen
dürfte, wenn es nötig wäre...
.In einem nur muß auch ich vor ihm
voll Bewunderung mich beugen, und wie
ich wahrlich um dieses eine weiß, so weiß
ich auch, daß keiner meiner Brüder ist,
der hier nicht ehrfurchtsvoll vor ihm sich
neigen müßte.
.Dieses Eine aber ist das Maß der Liebe,
die in ihm und seinem Wirken zur leben‐
digen Entäußerung kam!
.Aus seiner Liebe wird auch dir das
Leben werden, wenn du erfassen kannst,
was ich in allen meinen Schriften dir zu
künden komme!
.Wohl dir, wenn du an meinen Worten
dich nicht „ärgerst”, da der Mann, von
58 Das Buch der Liebe
dem ich hier rede, vielleicht auch dir zum
Gotte” ward, wie er es Unzähligen in
ihrer eigenen oder von anderen vermittel‐
ten Vorstellung wurde, obwohl ihm in seinen
Erdentagen kein Wort scharf genug gewesen
wäre, um solche Vergötterung von sich weg‐
zuweisen! ‒ ‒
.Ich rede aber hier nicht etwa von dei‐
nem, durch die erdenhaften, hirnerzeugten
Meinungen Unzähliger in den letzten zwei
Jahrtausenden aufgerichteten „Gotte”, dem
du den Namen des großen Liebenden gibst,
wie deine blickbeschränkten, angstgetriebe‐
nen Lehrer dich geheißen haben.
.Ich rede allein von dem geistgeeinten
Erdenmenschen, der nach seines Erden‐
leibes Marter und Tod, entgegen seinem
Willen, solcher allzumenschlich begrenzten
Gottgestaltung gesuchtes Vorbild wurde...
.Bis in seine tiefsten Wurzeln ist mir das
menschliche Drängen vertraut, sich Götter
59 Das Buch der Liebe
zu gestalten nach Menschenebenbild, und
ich ehre gewiß mit dir die hohen Menschen‐
formen, die im Verlaufe der Jahrhunderte,
deinem glaubenstreu, nach menschlichem
Ermessen dargestellten Anbetungsbilde die‐
nen mußten.
.Allein: ‒ ich bin auch untrennbar ver‐
eint mit der Geisteswesenheit des histori‐
schen Menschen, der so ungewollt Ursache
wurde, daß dieses Anbetungsbild in seinem
Namen aufgerichtet werden konnte.
.Dieser Geisteswesenheit Stimme und
Zeugnis zu geben, ist mir geboten durch
die geistige Struktur des Lebens, das mich
aus sich gebar wie es sie einst in einem
Menschenleib geboren hatte...
.Ich kann die Zeit erwarten, der diese
Worte weder als Vermessenheit, noch als Aus‐
druck psychischer Trübung gelten werden!
60 Das Buch der Liebe
VOM URFEUER DER LIEBE
.Sage nicht, du habest die Liebe, so‐
lange du noch Sorge trägst um dich selbst!
.Den „Lilien des Feldes”, ‒ die im Orient
wild über weite Strecken wachsen, ‒ und
den „Vögeln des Himmels” gleich, darfst du
die Sorge um dich selbst nicht mehr
kennen, wenn du der Liebe fähig werden
willst, in ihrer höchsten Form!
.Solange dich noch die gemeine angst‐
genährte Sorge um dich und dein Erden
schicksal quält, ‒ die nichts anderes als
offenkundiger Mangel an Vertrauen zum
Ewigen ist, ‒ weißt du wahrlich noch nichts
von der Liebe, die einst der hohe Meister
lehrte, ‒ der Liebe, die allein dir die Frei
heit geben kann. ‒ ‒
.Du versklavst dich selbst deiner Sorge
und kannst doch bei allem Sorgen nichts
dadurch gewinnen!
63 Das Buch der Liebe
.Die göttlichste Kraft aber ruht un
genutzt in dir, da du sie nicht zu ge
brauchen weißt!
.Du „liebst” vielleicht „aus ganzem
Herzen” alle, die dir „teuer” sind, die du
nie in diesem Erdenleben verlieren möch‐
test, und du hast dich wohl gar zu einer
„allgemeinen Menschenliebe” überredet, ‒
ja du „liebst” die Tiere und die Pflan
zen, „liebst” alles, was du erblicken magst?
.Du wirst erstaunt sein, wenn ich dir
sage, daß du trotz alldem, schwerlich schon
in der Liebe lebst!
.Die Sprache deines Landes kann dich
hier belehren, denn du pflegst von einem,
den du auf deine Weise „liebst” zu sagen:
Ich habe ihn gern.” ‒
.Auf das „Haben” kommt es dir bei
deiner „Liebe” an und auf ein Wohl
gefühl bei diesem „Haben”, ‒ sei es auch
64 Das Buch der Liebe
nur ein „Haben” durch Sehen und Hören,
oder durch bloßes Bewußtsein, daß ein
nahe oder ferne weilender Mitmensch dir
zugehöre! ‒ ‒
.Die Liebe aber, von der des „großen
Liebenden” Lehre redet, die Liebe, von der
dieses Buch hier dir künden soll, ist eine
geistige und zugleich auch irdisch, allem
Leben einverwobene urweltliche Kraft, die
dich so durchströmen muß, wie dich die
niedere Form der gleichen Kraft durch‐
strömt in alles überwindendem Erschauern,
wenn du die Liebesflammen deiner Erden
tierheit in dir brennen fühlst! ‒
.In dieser „irdischen” Liebe begehrst
du noch, denn hier will die Liebe den
Gegenstand der Liebe; ‒ in ihrer „himm‐
lischen” Form aber wird sie sich selbst
zum Gegenstand, so daß hier jedes Be
gehren dich verläßt! ‒
.In der „irdischen” Form der Liebe
ist stets ein Ver-langen, ein Daneben
65 Das Buch der Liebe
langen, ‒ ein Greifen nach außen und
ein Heranziehen; ‒ in ihrer „himm‐
lischen” Form jedoch wird sie inneres
Leuchten, ein Strahlen und Wärme
geben, ‒ ein Überströmen aus dem In
nern über alles Äußere...
.Diese hohe Form der Liebe erst wirkt
alle wahren Geisteswunder innerer Er
weckung, läßt alles das „von selbst” in
dir werden, um das du dich noch mühst,
es zu erlangen, im Glauben, irgend eine
mysteriöse Methode, irgend ein „Training”
könne es dir eines Tages bringen!
.Deine Menschenfreundlichkeit aber,
und dein geistiges Besitzverlangen, das
du „Liebe” nennst, können dir freilich
niemals die Kraft zu eigen werden lassen,
die in wörtlichster Wahrheit „stärker ist
als der Tod”! ‒ ‒
.Alles, was du bis jetzt mit dem Worte
„Liebe” zu bezeichnen pflegtest, wenn du
66 Das Buch der Liebe
nicht nur an die tiefere Stufe der Liebe
dachtest, in der sich die Leiber begehren,
‒ alles das wird erst wahrhaft vollendet
werden, wenn du selbst erfüllt bist von
der Urfeuerkraft der Liebe!
.Deinem ganzen Sein wird alsdann ent
strömen, was du jetzt noch mit mancher
Mühe zu verwirklichen suchst! ‒
.Was dir heute noch „Pflicht” und
Tugend” heißt, wird dann die selbstver‐
ständlichste Erfüllung deines Daseins
werden! ‒
.Du kannst auch die Urfeuerkraft der
Liebe nicht in dir entflammen, ohne in
einemfort ihre Strahlen aus dir zu er
gießen, und alles, was dir nahekommt,
wird dieses stete Strahlen empfinden.
.Was ehedem nur Widerstand oder An‐
griff war, wenn es dir begegnete, wird dann
dir entgegenkommen, um sich mit dir aus
freien Stücken zu verbünden!
67 Das Buch der Liebe
.Eine innere Umkehr aber wird von dir
verlangt, willst du zu einem Sonnenfeuer
höchster Liebeskraft entbrennen. ‒
.Ohne diese bewußte Umkehr, ohne solche
dauernd festgehaltene neue Einstellung dei‐
nes Strebens, wirst du gewiß nicht in die
Liebe gelangen!
.Du wirst dich wandeln wollen müssen,
willst du dich verwandelt sehen! ‒ ‒
.Bisher warst du auch im Geistigen
ein Verlangender, ‒ aber man kann dir
hier nur geben, was du noch nicht be
sitzest, einerlei, um was immer du bitten
magst, und ob du um deinen geistigen
Besitzstand weißt, oder nicht. ‒
.Du aber besitzest bereits, wenn auch
ohne dein Wissen, in dir die hohe Kraft
der Liebe, von der ich rede, so daß man
sie dir nicht erst zu geben braucht, und
es kommt nur auf dich an, ob du sie
68 Das Buch der Liebe
gebrauchen willst, damit sie sich dir offen‐
bare! ‒
.Du mußt zur „Sonne” werden wollen, ‒
zur „Sonne”, die aus sich selber leuchtet,
‒ ‒ und sobald du diesen Willen dauernd
hegst, wirst du mehr und mehr im Feuer
höchster Wirkungsweise der Liebe erglühen!
.Noch hast du zu viel Furcht vor diesem
Entbrennen!
.Deine törichte Angst, dich etwa zu ver‐
lieren, hält dich von dem Wagnis zurück,
das du wagen solltest!
.Du fühlst in dir wohl eine mäßige
Wärme, nennst sie „die Liebe”, und läßt
dir gerne daran genügen, ‒ nur wunderst
du dich dann, daß dieser schwachen Wärme
Strahlen nichts in dir und nichts nach
außen hin vermögen, ja daß sie auch in
deinem Erdenschicksal völlig machtlos
bleiben! ‒
.Du ahnst noch nicht, zu welcher Strah
lungskraft du gelangen könntest, wenn
69 Das Buch der Liebe
du dich selbst zur „Sonne” wandeln woll‐
test, statt träge nur von anderen Sonnen
erwärmende oder stärkende geistige Strahlen
zu erwarten!
.Alles in dir muß fortan geben wollen,
wenn du das Höchste, das in dir selber
ist, aus dir empfangen willst! ‒ ‒
.Mag dir auch nur ärmlich wenig schei‐
nen, was du vorerst zu geben hast, so
wird doch selbst dieses Wenige schon völlig
genügen, um dich zum „Strahlen” zu
bringen, wenn nur dein Wille intakt bleibt,
mehr geben zu wollen als von anderen
zu erwarten!
.Von einem indischen Fürsten wird
berichtet, daß er einst einen Yogi fragte,
welches die Empfindungen eines Vollende‐
ten seien? Der Yogi aber sagte darauf, man
habe ihn ebenso einst nach den Gefühlen
eines Liebenden gefragt und er habe nur
antworten können:
70 Das Buch der Liebe
.Wenn du ein Liebender bist, wirst
du es wissen.” ‒
.So kann auch ich hier von der höch
sten Form der Liebe, als einer ewigen,
urweltlichen Kraft nur immer in Bildern
reden, denn ich kann dir ebensowenig diese
himmlische” Liebe in Worten erklären,
wie ich dir jene andere Form der Liebe
in Worten faßbar machen könnte, die man,
da sie nur allein im Erdendasein sich
auswirkt, die „irdische” Liebe nennt. ‒
.Du mußt in beiden Fällen dich von der
Liebe entflammen lassen, wenn du wissen
willst, was die Liebe in ihrer ans Physi
sche gebundenen, oder in ihrer höchsten
geistigen Form in Wirklichkeit ist!
.Wie du als ein erdenhaft Liebender die
irdische” Form der Liebe in dir trägst,
auch dann, wenn ihre Glut zur Zeit dich
nicht entbrennen läßt, so ist auch jeder
zeit, obwohl sie dir noch nicht bewußt
ward, zugleich die „himmlische” Form
71 Das Buch der Liebe
der gleichen Kraft in dir, die über dieses
Erdendasein weit hinaus in Wirkung tritt,
und dir auf Erden eine Götterfreiheit
gibt, weil alles sich ihr beugen muß, was
dir begegnen kann. ‒ ‒
.Von solcher Liebe und ihrer Allgewalt
sprach einst der hohe Meister aus Nazareth,
und er selbst nahm alle seine Kraft aus
dieser Liebe...
.Von solcher Liebe sprach jener Liebende,
der des Meisters Lehre größter Verkünder
ward, wenn er von sich selbst sagt: „Hätte
ich die Liebe nicht, so wäre ich tönendes
Erz nur, oder gleich einer klingenden
Schelle!” ‒ Beides gibt wohl Klang,
wenn es von außen angestoßen wird, doch
fehlt ihm inneres Leben, das den Klang
aus sich heraus erzeugen könnte. ‒
.Die Liebe, von der wir hier reden, aber
wirkt stets aus sich selber, ohne Anstoß
von außenher!
72 Das Buch der Liebe
.Wie lange noch soll sich der Mensch der
Erde dieser Liebe verschließen?! ‒
.Wenige nur haben um sie gewußt, ‒
wenige nur wurden ihr zum Gefäße, ‒ aus
all den Geschlechtern, die je dieser Erden‐
sonne Licht empfingen.
.Die Kräfte der äußeren Erdnatur
lernten längst den Menschen als Herrscher
kennen, jedoch in seinem inneren Bereich
begnügt er sich in schwächlichen Versuchen,
mit seinen Kräften zu paktieren, da er die
hohe Kraft in sich nicht kennt, durch die
er nicht nur Herr der Innenkräfte sei
ner physischen Natur geworden wäre,
‒ sondern auch nach außen hin der höch‐
sten Wirkung mächtig, ‒ würde auch nur
ein größerer Teil der Erdenmenschheit ge‐
meinsam sich in dieser Kraft ver-einen...
.Wo jemals Seelen aus dem Dunkel
fanden, wo jemals hohe Tat geschah, um
durch Jahrhunderte zu leuchten, wo je das
Tier im Menschen sich dem Geistesmen
73 Das Buch der Liebe
schen unterwerfen mußte, dort war diese
hohe Kraft im Einzelnen erwacht und
konnte in die Vielen überströmen um sie
zu entflammen. ‒
.Immer wieder aber haben die so Ent‐
flammten alsbald das himmlische Feuer wie‐
der erlöschen lassen, weil sie zu träge
wurden, ihm aus Eigenem neue Nahrung
darzubieten...
.Auch diesen dunklen Tagen irren Hasses,
die den „Gott der Rache” wieder mächtig
werden ließen, dem der große Liebende
aus Nazareth einst seine Macht entwin
den lehrte, ‒ diesen Tagen babylonischer
Verwirrung der Gehirne, ‒ tarantel‐
süchtiger Vernichtungswut aus Schöpfer
wille, ‒ diesen Tagen, die wie Hammer
schläge einer Hölle irrer Teufel auf die
arme Menschheit niederfallen, um in Bar
barenchaos, um in Unrathaufen zu ver‐
wandeln, was einst Geisteslicht im Siege
über Tierheitsdumpfheit auferbaute, wird
74 Das Buch der Liebe
erst ein Ende angesetzt, wenn die Gewalt
der Liebe dieses Ende bringt. ‒ ‒
.Der schwelende Brand, der heute seine
schwarzen Schwaden erstickenden Gift‐
rauches über Länder und Meere schickt, ist
nicht mit den Schlagwörter-Wasserfällen
großgebärdiger Sprecher zu löschen! ‒
.Das grüne Laub, das nun verschwelt,
wollte Sonnenwärme, ‒ doch da es keine
Sonne” fand in diesen Tagen, ward es in
seinem Sehnen nach Licht und Wärme
unterirdischer Feuerbrände Beute.
.Wohl dem, der hier nicht vor sich selbst
bekennen muß: ‒ „Auch ich war einst
mals einer derer, durch die der junge
Wald, der hier in einem Welt-Wald
brand vernichtet wird, um seine Son
nenwärme sich betrogen fühlte!”...
.Hier ist nicht zu „löschen” mehr, was
in sich selbst verglimmen muß; ‒ aber
man täusche sich nicht: ‒ ‒ die Sehn
75 Das Buch der Liebe
sucht nach Licht und Wärme wird auch
die Herzen derer nicht verlassen, die die‐
sem Brande nicht zum Opfer fallen, denn
ihr ward urgrundtiefer Wille Wecker,
und keine Macht der Erde wird verhindern,
daß sie sich erfüllt!
.Diese Sehnsucht verlangt nach strahlen‐
den „Sonnen”, die im Erwärmen und Leuch‐
ten nicht müde werden. ‒
.Sie wird zu unterscheiden wissen, und
alles ablehnen, was nicht aus der Liebe
strahlt!
.Was jetzt verschwelt, ist gewiß ver
loren, und mit ihm teures Gut, das einst
der Menschheit eigen war, allein das wieder
neu ersprossende junge Grün der Erde wird
nicht ein zweites Mal vernichtet werden,
wird nicht aufs neue unter-irdischen
Feuers lüstern erlangter, leckerer Fraß!
.Auch hier sind wahrlich hohe Hüter
am Werk, auch wenn sie nicht verhindern
76 Das Buch der Liebe
durften, daß Vernichtung fand, was in
sich selbst den Willen zur Vernichtung
trug, ohne darum zu wissen...
.Die hohen Hüter, die hier wirken, wer‐
den weislich jedes neue junge Grün vor der
Vernichtung Feuer zu bewahren wissen,
und werden, als des Menschen wahre Freunde,
voll Verstehen und voll Rat, die knochen‐
klappernden Gerippe, die gleich ungeheuren
Fledermäusen, in faltenweiten Mänteln vor
der Sonne schwirren, mitleiderfüllt zurück
in ihre Gräber senden, so daß das Licht
der Ur-Sonne ewigen Geistes endlich alle
Wärme seiner Strahlen allem Leben
spenden kann. ‒
.Aus dieser Ursonne nur strömt alle
Strahlungskraft den einzelnen geistigen
„Sonnen” zu, die diese Erdenmenschheit
braucht, wie die Schwärme der Wandelsterne
des Firmamentes ihre Myriaden Sonnen‐
feuer brauchen, um in geordneter Bahn
sich selbst zu erhalten...
77 Das Buch der Liebe
.Nicht vor dem „Untergang” des Abend‐
landes ist die Menschheit angelangt, wie
manche wähnen, sondern sein späterer höch‐
ster Aufstieg fordert die Opfer, die der
wache Mensch des Abendlandes heute zu
beklagen hat!!!
.Wer Ohren hat zu hören, ‒ höre!”
— — — — — — — — — — — — —
.Die Zeichen dieser Zeit sind wahrlich
anders zu deuten, als klügelnde Skepsis,
akrobatengleich mit Gedankenkugeln jon‐
glierend und der Menge Beifall heischend,
sich erträumen läßt!!!
.Hier ist „Geduld und Glaube der Heili‐
gen” vonnöten!
.Nicht solcher, die sich „heilig” dünken,
weil sie nach Art der schleichenden Ge‐
würme sich aus jeder Schuldverstrickung
wanden, sondern jener, wahrhaft das Heil
erahnenden Erdenhaften, die noch zu
aller Zeit das „Salz der Erde” waren! ‒
78 Das Buch der Liebe
.Schon unsere Enkel werden diese Tage
der Wahnverblendung, die sich ihrem
Ende zuneigen, mag auch das endliche
Ende noch gar fern erscheinen, nicht mehr
kennen.
.Sie werden kaum in sich noch ein Ver
stehen finden für den Krankheitszustand
der Gehirne, die heute toller Tänze Tanz‐
plan sind, weil sie in der Verstrickung
dunkler Mächte, denen sie sich selbst er‐
gaben, der Torheit Tür und Tore offen
ließen, als sei „der Mensch” nur das arme
Erdentier, ‒ viel ärmer noch, als alle
andern Tiere dieser Erde, ‒ als das er sich
empfindet, solange er nicht weiß, daß er
des Geistesmenschen Pforte zur Erlösung
darstellt.
.Erst dieses Wissen aber bringt Gewiß‐
heit, daß ihm die höchste Form der Liebe
allein die unerhörte Macht verleihen kann,
dieser Erde Angesicht derart zu verwan
deln, daß alle Trübsal, die der Mensch auf
79 Das Buch der Liebe
Erden fand, ‒ daß Krankheit, Not und
Jammer von der Erde schwinden muß,
wie jene Ungeheuer schwanden, die einst
das frühe Menschentier erst floh und dann
besiegen lernte! ‒ ‒
.Wir alle, die wir heute dieser dunklen
Tage Todesschatten über unsern Häuptern
lasten fühlen, sind die Totengräber einer
alten Zeit und sind zugleich die Zeugen
den des neuen Lebens, das diese Erde
einst be-leben soll! ‒ ‒ ‒
.Von uns allen wird alle Menschheit, die
noch dieser Erdball tragen soll, Verant
wortung verlangen, wenn jenes kosmische:
Es ist vollbracht!”
durch alle jene Sphären tönen wird, die Zu‐
fluchtsort dem Geistesmenschen wurden,
nachdem er selbst sich einstens aus der
Gottheit losgelöst, und ungeahntem
Schicksal sich als edles Treibgut über‐
geben hatte! ‒
80 Das Buch der Liebe
.Wir alle sind es, die der Erde Antlitz
wandeln werden, oder seiner Wandlung
Hemmung bleiben, wenngleich erst spä
tere Geschlechter Frucht erernten können,
die der Saat entspricht, die wir der Erde
anvertrauten! ‒ ‒
.Doch glaube nicht, daß wir nicht selbst
schon unsrer Tat Erfüllung sehen könn‐
ten, auch wenn nur Blühen uns erst wer‐
den mag, wo Spätere die Früchte ernten
werden!
.Je eher wir uns selbst zu wacher Tat
ermannen, desto gewisser werden wir aus
dieser Tat, die eine Tat des Herzens ist,
die Blütenknospen sich erschließen sehen,
die einst den Nachgeborenen zu Früchten
werden!
.Ein unerfaßlich Großes hat das Schick‐
sal unserm Willen anvertraut in diesen
ernsten Tagen, und ‒ wahrlich: „es ist
eine Lust, zu leben” in solcher Zeit, ‒
81 Das Buch der Liebe
für jeden, der seines Eigenlebens Wert
für alle Zukunft kommender Geschlechter,
in Wachheit und Verantwortung zu wer
ten weiß!
.Wo sind sie denn, die Toren, die
einst glaubten, ihrer Hirne Werk erhalte
ewigen Bestand!?! ‒
.Dahingeschwunden wie der letzte
Bettler, dessen Namen keine Kunde meldet,
erstirbt ihr Werk in einer neuen Zeit,
die sie, bei aller Trunkenheit des Wissens,
nicht erahnen konnten, die sie nicht kom‐
men sehen konnten, weil sie glaubten, ihres
Denkens Helle leuchte allen kommenden
Geschlechtern. ‒
.So sind auch heute unter uns noch gar
manche eitle Toren, die sich weise wähnen
und in der großen Geste weiser Wissender
ihr Wohlgefallen finden.
.Nicht alle wissen, daß sie täuschen, und
mancher glaubt, er sei der Wahrheit Die‐
82 Das Buch der Liebe
ner, ‒ jedoch gebar die Zeit in diesen
Tagen der Entwertung aller Werte allzu‐
viele, die kein „Gewissen” mehr zu hin‐
dern weiß, wo ihres Wähnens Wahn sie
selbst erfaßte, so daß sie Tausende durch
ihre Lehre ins Verderben ziehen, berauscht
durch ihre Macht, die Seelen zu ver
wirren, und eitelkeitumnebelt durch
die Zahl der Hörigen, die ihren Fahnen
folgen. ‒
.„Es werden aber falsche Gesalbte und
falsche Propheten kommen...”
.Achtet auf solche Zeichen der Zeit und
rettet euch selbst vor der Verstrickung in
teuflische Netze, aus denen nur selten einer
wieder entfliehen kann!
.So wie du dich keinem Quacksalber
anvertrauen wirst, wenn es um deines
Erdenleibes Leben geht, so darfst du dich
auch nicht jedem mit der Seele übergeben,
83 Das Buch der Liebe
der dir sagen mag, er wisse deiner Seele
Leben zu erhalten!
.Wenn du auch nur in wenigem dich
sicher fühlst, so trägst du doch in dir be‐
stimmt eine Sicherheit, Gefahr zu wittern,
die nie dich verlassen wird, sobald es dei
nes armen Erdenleibes Erhaltung gilt!
.Die gleiche Sicherheit besitzest du zwar
auch, wo es sich um deiner Seele Leben
handelt, doch da du deine Seele verlieren
kannst, ohne des Erdenleibes Leben ein‐
zubüßen, so achtest du kaum mehr der War‐
nungszeichen, die dir im Innern werden,
wenn der Seele Leben in Gefahr zu kom‐
men droht! ‒
.So wie jedoch, wenn du auch nur leid‐
lich urteilsfähig bist, in dir alsobald ein
Mißtrauen sich aufbäumt, falls dir in des
Leibes Not ein Unberufener sich naht,
so wirst du in gleicher Weise „Warnung”
fühlen, wird dir in deiner Seelennot ein
Lehrer sich erbieten, der selbst der Lehre
84 Das Buch der Liebe
wahrlich bedürftiger sein mag als du, der
ihn zu Hilfe rief, da du von keiner anderen
Hilfe wußtest! ‒ ‒
.Du bist darum mitnichten etwa ent
schuldigt, wenn du dich irrenden Leh‐
rern anvertraust, denn dir gab Urnatur in
deinem Gefühlsvermögen die Kraft der
Unterscheidung, und es ist nur deine
eigene Lässigkeit, wenn du nicht alsbald
erkennst, daß du einer „Seelenführung
dich ergabst, die selbst zu-recht geführt zu
werden nötig hätte! ‒
.Du mußt in diesen ernsten Tagen dop‐
pelt Vorsicht walten lassen, da du nun
durch meine Worte weißt, daß ungezählte
kommende Geschlechter durch dich ge
fördert, aber auch ‒ gehindert werden
können!
.Das Urfeuer der Liebe will in dir
Leben werden, damit sein Leben, aus dir
weiterzeugend, neues Leben einst gestalte,
85 Das Buch der Liebe
‒ hier, in den Herzen der auf dieser
Erde sich ihre ewige Form erkämpfenden
Menschen.
.Wenn du nicht selbst aus der Liebe
zu Leben wurdest, wie willst du neuen
Lebens Ursprung werden? ‒
.Darum mußte ich dir, soweit das Worte
vermögen, hier zeigen, was die Liebe ist, ‒
die Liebe, von der alte Kunde redet, die
dir von Liebenden im höchsten göttlichen
Sinne, zu berichten weiß. ‒
.Darum mußte ich dir jenes „größten
Liebenden” Leben enthüllen, der einst die
gewaltigste Tat der Liebe zu vollbringen
wußte.
.In seiner Liebe letzter Vollendung löste
siegessicher er jene starre Fessel, die, seit der
Bindung durch die allererste Einkehr gei
stesmenschlicher Gestaltung in die Form
des Erdentieres, alles Menschsein hier auf
Erden eisenstark umwunden hielt! ‒
86 Das Buch der Liebe
.Er aber gab auch die Lehre:
.Wer mein Schüler sein will, der
folge mir nach.” ‒
.Lächerlich töricht sind jene Träumer,
die da glauben, sie brauchten nur in äußeren
Allüren dieses Urgewaltigen vermeint‐
liche Gebärde nachzuahmen, um sich als
seine Jünger, seine „Schüler”, wie die Schrift
in Wahrheit sagt, von ihm erkannt zu wissen.
.Würden sie ahnen, wer er war und ist,
dann würden sie wahrhaftig ihre Torheit
fahren lassen. ‒
.Du aber, zu dem ich hier rede, ‒ sei du
nicht auch eines solchen Wahns gehorsamer
Höriger!
.Du bist nun wahrlich genugsam belehrt!
.Wenn du des Zimmermanns, der des
Urlichts Leuchtender war, wie der, dem
diese Worte Formung danken, dich wahr‐
haft würdig willst erweisen, dann sei bereit,
87 Das Buch der Liebe
die hohe Liebe in dir zu erwecken, die
dich verzehren muß, will sie dich selbst
zu einem neuen Sein verwandeln!
.Dann erst wirst du wahrhaft sein
Schüler, sein Jünger sein!
.Dann erst wird er dich in seiner Liebe
wissen, so wie er sich selbst in seines
Vaters” Liebe wußte! ‒
.Dann erst wird er dich als einen derer
anerkennen können, die der „Vater” liebt,
weil sie in des Vaters „Sohn” Vollendung
fanden...
.Dann erst wird Jehoschuah, der Zim
mermann aus Nazareth, von dem die alte
Kunde dir erzählt, und der dir entfremdet
ward durch alter Göttersagen Hörige, ‒ die
ihn der Menschheit viel zu nahe gewahr‐
ten, so daß sie ihn mit ihrem Götterwahn
drapierten, ‒ ‒ dann erst wird er dir nahe
kommen, und dann erst wirst du in Wahr
heit sagen dürfen:
88 Das Buch der Liebe
.Ich weiß, daß mein Erlöser lebt!”
‒ ‒ des Menschen-„Sohn”, der einst den
Seinen bestätigen durfte, daß er bei ihnen
bleibe „bis ans Ende der Welt”!
— — — — — — — — — — — — —
.Aus der Urfeuerkraft der Liebe allein
ist es möglich, ein solches Versprechen
auch einzuhalten! ‒
.Wohl ist es dem in sich Vollendeten
ein unbeschreiblich hartes, dauernd dar‐
gebrachtes Opfer, sich nach dem Tode des
Erdenkörpers in einem Zustande zu erhal‐
ten, in dem er irdisch-eingeengtem mensch‐
lichem Erfühlen noch erreichbar bleibt...
.Aber man darf sich unter diesem, mir
und den mir Artgemeinsamen wohlbekann‐
ten Verharren im Fühlfelde erdenmensch‐
licher Bewußtseinsreichweite gewiß nicht
ein mysteriös umwittertes „Wunder” vor‐
zustellen suchen!
89 Das Buch der Liebe
.Es handelt sich um nichts anderes, als
um eine geistgesetzlich genau begründete Be
wußtseinsfixierung, ‒ weit über die Ver‐
brauchsdauer des irdischen Menschenkörpers
hinaus, ‒ bis zum letzten Vibrieren seeli‐
schen Suchens im Bereiche dieses Planeten.
.Daß hier kein geringes Opfer gebracht
wird, ergibt sich schon aus der Notwendig‐
keit, in einem selbstgestalteten, zwar erden‐
sinnlich unwahrnehmbaren, und doch der
unsichtbaren physischen Welt noch ein‐
geordneten Körper ‒ als dem Bewußtseins‐
träger ‒ zu verbleiben...
.Solcher Bewußtseinsfixierung aber ist zu‐
gleich naturgeboten: alles seelische Leid
der ganzen Menschheit mitempfinden zu
müssen, und nur die Urfeuerkraft der Liebe
vermag es, solches Miterleiden allen mensch‐
lichen Leides dem selbstgebundenen Bewußt‐
sein des Leuchtenden ertragbar zu machen,
bis auch der letzte seiner irdischen Menschen‐
brüder einging ins Licht
90 Das Buch der Liebe
ERLÖSUNGSLICHT
.Die in der heutigen Zeit diese Worte
lesen, sind sehr verschiedener Glaubens
lehren Kinder, und schwer sind ihre Herzen
jenem einen Hochziel zuzulenken, aus
dem der Liebe lösend lichte Strahlen ewig
sich ergießen in die Welt der Seelen, ‒ be
freiend was gebunden war, um dann zu‐
rückzukehren in den Urborn aller Liebe,
der Liebe spendet, da er selbst nur Liebe
ist. ‒
.So mancher selbstgerechte „Gläubige
mag sich finden, der, lächelnd, solcher Lehre
sich hoch enthoben dünkt, in seiner hyp‐
notischen Selbstberuhigung, daß nur sein
Herdenglaube allein „der wahre Glaube”
sei...
.Und andere, die längst kein Glaubens‐
band mehr bindet, werden gegen blinden
Argwohn sich zu wehren haben, als sei die
93 Das Buch der Liebe
Lehre, die mein Wort hier kündet, nur Auf
erstehung alten Menschheits-Wähnens,
umgeformt in neuen Glaubenswahn, der, ‒
wenn es also wäre, ‒ gewiß nur neues
Dunkel um die Seelen breiten würde.
.Ich aber gebe hier dem einen wie dem
andern nur die Be-gründung seines eige
nen Erkennens, ‒ denn letzter Grund
fehlt allem Glauben, der seiner Lehren
tiefste Fundamente nicht erreicht, und
alles Wissen ist nur dann gegründet,
wenn es in Felsentiefen ankert, die der
Ewigkeit ihr Dasein danken...
.Erlösungslicht ist jene hohe Liebe,
die mein Wort in dir entzünden will, ob du
nun gläubig fromm nach alter Satzung
leben magst, oder selbst dir deine Satzung
setzest! ‒
.Und wenn von jenem „großen Lieben
den” ich zeuge, den eine enge Glaubens‐
meinung sich allein erstanden glaubt, trotz‐
94 Das Buch der Liebe
dem in ihren Taten oft genug sein Bild als
Schild des Hasses diente, so ist mein Zeug‐
nis seines eigenen Willens Werk, da er in
letzter Liebestat vor seinem Erdentode alle
Menschheit weihte, und allen zum „Er‐
löser” ward aus einer Bindung, die nur ein
Liebender zu lösen wußte, der alle, die
auf Erden in der Liebe lebten, übertraf,
an Liebesfeuerkraftentfaltung! ‒
.Er, der sich selbst in Lichtvollendung
einst der ganzen Menschheit gab, nach‐
dem er vorher nur dem Volke, dem sein
Erdenleib entstammte, die Erfüllung brin‐
gen wollte, ist allen, die ihn rufen, nah,
und läßt sich finden, wenn du ihn in seiner
Liebe suchst, ‒ magst du die alten For
men üben, die so manche hohe Weisheit
in sich bergen, der du wahrlich, wenn dein
Geist sie dir enthüllt, Verehrung zollen
darfst, ‒ ‒ magst du, nach deiner Artung,
solchen Formen fremd dich fühlen und
nur aus deines Herzens Grund in deiner
Weise ihn zu rufen wissen! ‒
95 Das Buch der Liebe
.Mit denen, deren Lichtkreis er ver
eint war, ehe ihm der Erde Leib einst
wurde, lebt er im geistigen Bereich der
Erde in aller Wirklichkeit der geistigen
Gestaltung, die ihm ward, als seine Seele
sich zurück in seines „Vaters” Hände gab!
— — — — — — — — — — — — —
.Ich sagte dir auch schon, soweit es sag‐
bar wird, in einem anderen Buche, daß
dieser „Vateraller Leuchtenden des Ur‐
lichts, der ewig aus dem Urwort licht‐
gezeugte Geistmensch ist, selbst „Wort”
im „Wort” und „Gott bei Gott” ‒ der
große „Alte”, der im „Anfang” ist, ‒
der selbst des Urworts erste Selbstgestal
tung darstellt, der „Mensch der Ewig
keitin seiner ersten Zeugung ewig
lich verharrend.
.In alter Lehre wird er als der höchste
aller „Engel” aufgefaßt, ‒ die „Krone
jener Hierarchie der Geister, die in den
96 Das Buch der Liebe
Leuchtenden des Urlichts hier auf Erden
sich die „Brückenbauer” schuf für jene
„große Brücke”, die den Erdenmenschen
aus dem Reich des Tieres leitet, so daß er
seine Geistesheimat wiederfinden kann,
der er sich vor Aeonen einst entwand! ‒
.In jedem Leuchtenden des Urlichts ist
dieser „Vater”, ewig weiterzeugend seinen
Sohn”, den Leuchtenden, ‒ in Wahrheit
eines Wesens mit dessen Lichtnatur, der
dieser Erde Leib nur äußeres Vehikel ist,
um erdenhaft zu wirken, was der Erde For
mung braucht, soll es im Erdenmenschen‐
leben in Erscheinung treten! ‒
.So konnte in Wahrheit der Meister von
Nazareth seinen Schülern sagen: „Wer mich
sieht, der sieht auch den Vater”, ‒ und
Niemand kommt zum 'Vater' denn
durch mich”: ‒ durch das, was in mir
Leben ist, als des „Vaters” geistgezeugter
„Sohn”...
.Hilfreiche Helfer sind dir so in dein
Erdendasein gegeben, ‒ stets deinem Geiste
97 Das Buch der Liebe
nah, wenn du sie geistig in der Tat zu
„rufen” weißt! ‒ ‒
.„Nicht wer: Herr, Herr! zu mir sagt,
wird in das Reich der Himmel aufgenom‐
men, sondern wer den Willen meines
Vaters tut,” ‒ wer diesen Willen in sich
fühlt, und ihn in seiner Tat erfüllt! ‒
.Dein bloßer Wunsch wird dir nichts
nützen; ‒ du wirst durch dein ganzes Ver
halten in deinem Leben, durch dein Tun
und Wirken „rufen” müssen, und mancher
arme Unbeachtete, der nur in Treue seiner
Hände Werk verrichtete, hat oftmals besser
„gerufen” als so mancher Erhabene, der
alle tiefen Schriften kannte und sich längst
für würdig hielt, daß ihm ein Helfer nahen
„müsse”, damit er so vor sich und anderen
noch mehr „Erhabenheit” erhalte! ‒ ‒
.Des Menschen Verstand hat ein Fern
rohr ersonnen, in dem ein System ver‐
schiedener Gläser und Spiegel verborgen ist,
98 Das Buch der Liebe
die allesamt in ihrer weisen Anordnung
bewirken, daß weiteste Weite dem Auge
ganz nahe und körperhaft erscheint.
.Wenn du ein solches Fernrohr benützen
willst, dann wirst du durch die kleine Linse
allein zu blicken haben, die der Verfertiger
dafür bestimmte, daß sie zunächst deinem
Auge sei.
.Du wirst dann die Strahlen des Lichtes
der Außenwelt in solcher Art erhalten,
daß das Ferne dir nahe kommt, und du
unterscheiden kannst, was dein bloßes Auge
niemals unterschieden hätte.
.So auch kannst du im Geistigen allein
das Göttliche erfassen, wenn du dich zu‐
nächst an jene wendest, die ewiges Urlicht
selbst dazu bereitet hat, dir seine Strah‐
len zu vermitteln! ‒
.Du wirst dann in dem Leuchtenden nur
das Göttliche zu sehen bekommen, und
er selbst wird dabei verschwinden, so
99 Das Buch der Liebe
wie du ja auch, wenn du durch jenes Fern‐
rohr blickst, gewiß die Linse an sich nicht
siehst, sondern den Gegenstand der Ferne,
den du suchst. ‒
.So wie dir aber die Linse des Fernrohrs,
die deinem Auge am nächsten ist, für sich
allein gewiß nicht viel helfen könnte, wären
nicht in dem Fernrohr andere Gläser und
gewisse Spiegelsysteme enthalten, so würde
auch der Leuchtende dir nicht helfen
können, wäre nicht jene hohe Hierarchie
des Geistes noch zwischen ihm und dem
innersten Ursein Gottes, das es zu fassen
gilt! ‒
.Du blickst gleichsam durch alle Reiche
dieser geistigen Hierarchie hindurch in die
innerste Gottheit hinein, wenn dir ein
Leuchtender des Urlichts sich aus seinem
Geistigen heraus offenbart. ‒
.In diesem Bilde kann dir manches Wort
des Meisters aus Nazareth verstehbarer wer‐
den und du wirst auch so unterscheiden
100 Das Buch der Liebe
lernen, was er von sich aus, als Erden
mensch seiner Zeit, einst sprach, ‒ oder
wo er in anderen Momenten völlig ver
schwindet und dich nur das Innerste
der Gottheit, das Ur-Wort hören lassen
will, ‒ ‒ denn was in dem obigen Bilde
nur vom Sehen gilt, kannst du dir leicht
auch aufs Hören übertragen denken...
.Und nun ein anderes Bild, um dir
Anderes zu klären:
.So wie aus einem Brunnen mit vielen
Ausflußröhren stets aus jeder Röhre das
gleichgeartete Wasser der einen Quelle
quillt, die er umfaßt, wie aber die eine
Röhre, durch ihre Form bedingt, dem
Wasserstrahl eine andere Formung mit‐
geben kann, als die andere, die wieder an
dere Form erteilt aus ihrer Eigenformung
her, so wird dir auch jeder Einzelne die‐
ser Lichtgemeinschaft, aus der ich rede,
stets die gleiche Weisheit, die gleiche
101 Das Buch der Liebe
Lehre geben, auch wenn sie äußerlich, der
Eigenart des Lehrenden entsprechend, sehr
verschiedene Formung zeigen mag.
.Dies zu beachten wird dir sehr nötig
sein, damit du auch in der verschieden
sten äußeren Formung stets die eine ewige
Wahrheit finden lernst, die sich in jede
Eigenart des Formers fügen kann, und
dennoch niemals ihre Art verändert. ‒ ‒
.So wird dir denn in aller Lehre, der ich
Wort verleihen darf, gewiß nichts anderes
zuteil, als was der Lehre des Jehoschuah,
des „großen Liebenden”, entströmte, und
du wirst hier verschiedene Art zu lehren, aus
gleicher Quelle Speisung finden sehen...
.Ja du wirst dieses „großen Liebenden
gewaltig Wort, so wie es dir, selbst noch
aus der Verschüttung, leuchtet, erst wahr‐
haft deuten lernen, wenn du meine Lehre
kennst, und meine Lehre wirst du in den
letzten Tiefen erst verstehen, wenn seine
Art dir so erkennbar wurde, wie du sie
102 Das Buch der Liebe
erkennen mußt, willst du sein Bild dir
nicht durch alter Zeiten Zutat so entstellen
lassen, daß wenig übrigbleibt, was noch an
ihn, so wie er war und ist, erinnert! ‒
.Es ist dem Menschen dieser Zeit, als
der ich heute hier zu wirken habe, wahr‐
lich schwer, der Wahrheit eine Gasse zu
bereiten und tausendjährige Verdunke
lung zu lichten, ‒ doch schwerer wird es
mir wahrhaftig, alle äußere schützende Um‐
hüllung zu lösen und meines Geistes
lebens Sein in nackter Nüchternheit den
Geierblicken darzubieten, die unabwendbar
sind, wo Wahrheit sich enthüllt auf dieser
Erde, bevor die hohe Liebe alle Seelen in
wahrer Liebeslichtglut hell erstrahlen
läßt. ‒ ‒
.Die allerbitterste und schwerste Pflicht
ward hier erfüllt, und keiner kann die
Kämpfe ahnen, in denen Innerstes hier
mit dem Außenmenschen, als der ich hier
103 Das Buch der Liebe
auf Erden lebe, ringen mußte, um das Be‐
kenntnis zu sich selbst ihm abzuzwingen. ‒
.Gewiß wäre die Lehre, die durch mich
der Menschheit werden sollte, in keinem
Punkte weniger der Wahrheit Zeugnis,
wenn ich von mir, als einem Zugehöri
gen der geistigen Vieleinheit, aus der auch
einst der „große Liebende” die Lehre
nahm, mit keinem Wort gesprochen hätte.
.Doch heischte hier Notwendigkeit Er‐
füllung, und wahrlich wäre auch ein steter
Eiertanz und ein Versteckenspiel entstanden,
hätte ich sagen wollen, was ich sagen mußte,
ohne dabei der eigenen Urteilsmöglich
keit, ‒ des urgewissen Wissens aus mir
selbst, ‒ als der gegebenen Vorbedingung
meiner Lehre zu erwähnen.
.Es wird zu viel des Dunkels, das die
Seelen lange irrte, durch dieses Bekennt‐
nis licht und klar, als daß hier meinem
Wunsche Entsprechung hätte werden dürfen,
104 Das Buch der Liebe
sorglichst meiner eigenen Art Geheimnis zu
verbergen.
.So mußte ich hier innerster Verpflich‐
tung dienen, die mir nicht abgenommen
werden konnte.
.Jedoch nicht allen meinen Brüdern ist
solche Selbsteröffnung Pflicht, und nur wo
Liebe es erheischt, unzähligen Mitmen‐
schen dadurch zu dienen, wird solche Pflicht
dem Bruder auferlegt.
.Wer würde denn auch, und sei es um
alle Schätze der Erde, sich jemals bereit fin‐
den lassen, dieserart sein Allerinnerstes dar‐
zubringen, ohne härteste, unabänderliche
Geistespflicht!? ‒
.Was ich in meiner Schriften Wort der
Welt zu geben habe, wird noch fernsten
Zeiten leuchten, da längst in sich erschöpft
sein wird, was heute sich gefährdet sieht
durch solche Lehre, oder aber sich im Rechte
105 Das Buch der Liebe
glaubt, sich selbst ihren Forderungen ent‐
ziehen zu dürfen!
.Wie jener „große Liebende” so muß
auch ich bekennen: ‒ ich lehre wahrlich
nicht „aus mir selbst”, ‒ aus meiner
irdischen Erschauung, sondern was der
Vater”, dem ich in der Liebe diene, mir
übergeben hat, das gebe ich euch! ‒
.Was ich lehre, ist nur in Worte gefaßte
Darstellung ewigen und ewiggültigen Ge‐
schehens, das mir jederzeit, sobald ich mich
in ihm bewußt finden will, gegenwärtig ist...
.Die Fähigkeit, das einzige Urgewisse
solcherart zu erfassen, ist das heilige Erb‐
gut aller derer, die des „Vaters” licht‐
gezeugte „Söhne” sind!
.So lehre ich euch aus der Fülle des
Wortes”, wie mich der „Vater” lehren
heißt und verkünde euch Erlösung in der
höchsten Liebe!
.Wohl denen, die meine Lehre nicht nur
lesen, sondern sie in sich zur Auswir
106 Das Buch der Liebe
kung gelangen lassen, so daß sie ihres
Lebens Sinn erhellen und ihre Tat be
fruchten kann!
.Sie werden aus Leben und geistiger Tat
alsbald auch in die Liebe gelangen, und
in der Liebe entbrannt, dereinst zu ewigem
Leuchten!
.Dieses Leuchten aber aus dem Urlicht,
ist dein unvergängliches Ziel, und damit
du es dereinst erreichen wirst, suche ich
allen Schutt, der dich noch anfüllt und im
Dunkel hält, aus deinem Innern zu ent‐
fernen...
.Glaube mir, oder glaube mir nicht, ‒
nur handle nach meinen Worten und ver
halte dich folgerichtig ihrem Sinne
gemäß, damit du in dir selbst zu geistiger
Erfahrung kommst und dann nicht mehr
abhängig bist von der Bestätigung oder
dem Zweifel deiner selbstgesponnenen Ge‐
danken!
107 Das Buch der Liebe
.Es ist wahrhaftig nicht Überheblichkeit,
wenn ich dir sagen muß, daß mir so wenig
an deiner Zustimmung liegt...
.Wie du jetzt, ‒ bevor du zu geistiger
Erfahrung kamst, ‒ über die hier durch
mich vermittelte Lehre urteilen magst, hat
nur insofern Bedeutung, als dein Urteil
dich zum Handeln nach meinen Anweisun‐
gen bewegen, aber auch ‒ davon abhalten
kann.
.Der Wahrheit meiner Worte aber kann
dein Urteil weder etwas zufügen, noch etwas
nehmen.
.Nicht dein Verstandesurteil, sondern nur
deine Liebe kann diese Wahrheit dir er‐
reichbar werden lassen! ‒
108 Das Buch der Liebe
DIE SCHÖPFERKRAFT
DER LIEBE
.In urgewaltigem Drang offenbart sich
Liebe schon in ihrer irdisch niederen
Form, und hier schon zeigt sie sich als
Schöpferkraft, so daß älteste Kulte be‐
reits in dieser niederen Form der Liebe
letztes Geheimnis zu finden hofften. ‒
.Bis auf die heutige Zeit sind solche Kul‐
te erhalten, und irreleitende Lehren haben
das verderblichste Wähnen asiatischer Ge‐
heimsekten auf düsteren Wegen neuerdings
aufgegriffen, damit es auch im Abendlande
Verbreitung fände. Leider hat es weitere
Verbreitung gefunden, als die „aufgeklärte”
Öffentlichkeit der westlichen Weltstädte heute
noch ahnt! ‒
.Verhängnisvolle Zerstörungskräfte,
ausgesandt aus nachtschwarzen Tempelgrüf‐
ten teuflisch fanatisierter Asiaten, suchen
so ihre Opfer in der weißen Rasse!
111 Das Buch der Liebe
.Das törichte Verlangen nach „geheimen
Kräften” und verborgener Macht über die
nicht in gleicher Art „eingeweihten” Neben‐
menschen, ist dabei der beste Kuppler.
.Die armen Betörten aber fühlen weder,
daß sie an unsichtbaren Gängelbanden
hängen, noch ahnen sie, daß sie ihr Tun
einem Ziele zutreibt, das sie wahrhaftig
nicht erstreben möchten, würden sie es
kennen.
.Sie glauben der Lösung des Rätsels
aller Rätsel auf der Spur zu sein, und
lassen sich von selbstbetrogenen „Adepten”
sagen, auf diesem Wege werde göttliche
Freiheit winken, während sie nur der Schar
der höllischen „Hunde des Abgrundes
harmlos entgegenlaufen, denen schon die
Lefzen triefen vor Gier, ihre Seelen zerreißen
zu können, so wie sie jene bereits zerrissen
haben, die diesen Arglosen heute als macht‐
erfüllte Meister ihres teuflisch verwirrten
Glaubens dünken. ‒
112 Das Buch der Liebe
.Wohl waren Phallus und Yoni seit ur‐
alten Zeiten heilige Symbole, und beide
Gegenpole bilden der tiefsten Mysterien hei‐
lige Anker im Erdenleben, doch ‒ wer hier
suchen möchte, bevor man ihn sucht, der
hüte sich wohl, daß er nicht die Wirkungs‐
region verwechsle, und statt der „heiligen
Anker”: schlüpfrige Schlangen aus der
Tiefe hole!
.Es gibt wahrlich kein Gebiet okkulter
Kräfte, das so der Täuschung Raum ge‐
währt, wie der Bereich des Sexualmyste
riums!
—  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —  —
.Wehe denen, die hier zu finden glau‐
ben was sie suchen! ‒
.Sie werden im besten Fall ihre som
nambulen Kräfte wecken, die ihnen jedes
Trugbild gerne gewähren, das ihr Wähnen
nährt, bis sie, in solcher Verstrickung sich
wie die Götter” wähnend, zu spät, und
113 Das Buch der Liebe
unerlösbar geworden, einst in Verzweiflung
entdecken, daß sie der „Schlange des Pa
radieses” Gehör gegeben hatten. ‒
.Wer auf diesen Wegen sich weiß, der
reiße sich eilends los von allem, was
ihn an diese Wege binden mag, denn die
Gefahr ist unnennbar groß! ‒
.Wer aber nicht alles, was ihm lieb war,
nötigenfalls verlassen kann um des „Him
melreichs” willen, der ist wahrhaftig des
„Reiches” nicht wert, und wird nicht hin‐
dern können, daß er hinausgeschleudert wird
in die äußerste Finsternis”, ‒ wenn
nicht zu dauernder Vernichtung, so doch
zu äonenlanger dumpfer Qual im Wissen
um die eigene Schuld!
.Alles, was hohe und oft dunkle Worte
von jenem Geheimnis sagen, das irdische
Zeugungskraft und ihre Organe umgibt,
wird erst dann in Wahrheit erfaßt, wenn
man weiß, daß die hier verborgenen Kräfte
sich in ihrer segenbringenden Form nur
114 Das Buch der Liebe
dem Vollendeten des Urlichts ergeben,
und nur als ungesuchte Folge der Vollen‐
dung!
.Allerdings verhält sich die dem wahr‐
haft Berufenen mögliche geistige Lösung die‐
ser Kräfte zu dem, was da in gewissen „eso‐
terischen” Zirkeln vorgeht, wie höchstent‐
wickelte Chemie zu dem absurden Treiben
wahnwitziger Sudelköche. ‒
.Wer nicht zu den geistig Vollendeten
gehört, die, ehe sie auf Erden geboren
wurden, höchste „Meisterschaft” erlangten,
der bleibe hier allem Suchen fern, denn
was er zu finden vermeint, wird er hier
niemals finden, und was er finden kann,
würde ihn nur zur Beute dunkler Ge
walten werden lassen, der seit der Urzeit
Tausende und Abertausende in die Netze
gerieten, oft noch für geraume Zeit in die‐
sem Erdenleben angestaunt als wahre „Adep‐
ten”, und ihren Vernichtern so als Köder
dienend für weitere Vernichtungsopfer! ‒
115 Das Buch der Liebe
.Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß
ich hier alle geheimgehaltenen „Methoden”
kenne, die solche vermeintliche „Geistes‐
kräfte” entfesseln können.
.Ich kenne jedoch auch das Schicksal
derer, die sie entfesselt haben, und darum
wird mir die Pflicht der Warnung, ‒ für
alle, die sich warnen lassen wollen. ‒ ‒
.Wer Ohren hat zu hören, der höre!”
.Die es angeht, werden kaum den Vor‐
wurf erheben dürfen, ich hätte nicht deut
lich genug bezeichnet, was ich lieber nicht
deutlicher noch bezeichnen will. ‒
.Euch allen aber, die ihr nach Licht und
Erleuchtung sucht, und nicht euch trü‐
gerischen Täuschungskräften übergeben
möchtet, denen nichts anderes zugänglich
wird, als was in eurer Körperzellen
Ahnenreihe aufgespeichert wurde, ‒
euch allen will ich hier der Liebe Schöpfer
116 Das Buch der Liebe
kräfte am Werke zeigen, so wie sie euch
zuteil werden können ohne jegliche Gefahr:
‒ in jener hohen „himmlischen” Bekundung
ewiger Liebe, die lebendes Licht in euch
gießt und leuchtendes Sonnenfeuer,
gleichwie sie in „irdischer” niederer Form
nur den Brand der Sinne entfacht, um eure
Art zu erhalten und euch ahnen zu las‐
sen in dieser Glut, daß sie auch wahrlich
Höheres vermag. ‒ ‒
.Auch in der niederen Form der Liebe
ist wahrhaft Göttliches zu finden, für alle,
die bereits erkannten, daß diese und die
höchste Form der Liebe eines Wesens
sind und nur in ihrer Wirkungsart ver‐
schieden...
.„Okkulte Kräfte” werden allerdings in
der „irdischen” Liebe nicht von solchen
gesucht, ‒ wohl aber können sie in ihr,
wenn seelisches Empfinden leibliche Ver‐
einung überhöht, die ersten Ahnungs
schauer finden, die sie empor zu höchster
117 Das Buch der Liebe
Form der Liebe leiten, ‒ dorthin, wo sie
himmlisch” wird, da sich ihr Wirken über
dieses Erdenleben hoch hinauferhebt, über
die fernsten Sterne hoch empor, bis in
das reine Lichtreich ewiger Gestaltung, das
nur denen sich erschließt, die „reinen Her
zens” sind.
— — — — — — — — — — — — —
.Doch muß dir nicht auf Erden „irdi
sche” Liebe werden, um zu der höchsten
„himmlischen” Form der gleichen Kraft
zu gelangen!
.Wohl sollst du gewiß die „irdische
Form nicht fliehen, wenn sie dir nahen will
in seelischer Überhöhung, ‒ in wahr‐
haft heilig gehaltener Ehe, ‒ doch wenn
du sie nur als bloße Befriedigung leibli
chen Begehrens finden könntest, dann rate
auch ich dir zur Enthaltung, obwohl ich
wahrhaftig weit, weit von jenem Wahn mich
weiß, als sei Enthaltung von „irdischer”
118 Das Buch der Liebe
Liebe der geforderte Preis für höchste see‐
lische Entfaltung. ‒
.Lieber aber noch sollst du mit wachem
Willen auf eine Erdenglückesmöglich
keit verzichten, als daß du in tierhafter
Brunst das heilige Feuer entweihst. ‒ ‒
.Die höchste, „himmlische” Form der
Liebe kann sich dir enthüllen, selbst in
deinem nüchternsten Tagewerk, und gar
mancher saß schon am Webstuhl oder ging
hinter dem Pfluge her, dem sie in all seiner
Einfalt zu eigen ward, während andere sie
auf hohen Kanzeln verkünden konnten
ihr Leben lang, ohne sie jemals in sich
selbst zu finden. ‒ ‒
.Selbst dort, wo du wahrhaftig nur in
Mühsal werkeltäglich Tun zu treiben
glaubst, kann sie in dir sich schöpferisch
entfalten...
.Weit stärker noch empfindet sie wohl ein
jeder am Werke, der sich zu schöpferischem
119 Das Buch der Liebe
Tun berufen weiß: ‒ der selbst gestaltend
formt, wozu der Geist ihn treibt.
.Kein großes Werk echter Kunst ist hier
auf Erden je entstanden, ohne die Schöpfer
kraft der Liebe, die den Formenden er‐
füllte!
.Doch wäre es wahrlich ein enger Irrtum,
wollte der Künstler allein sich solcherart
begnadet wähnen!
.Es gibt gar vieles Tun in diesem Erden‐
leben, bei dem in anderer Art, auf weniger
sichtbare Weise, der Liebe Schöpferkraft
den Wirkenden erfüllen muß, soll seines
Lebens Werk die höchste Weihe tragen!
.So manches Tun, das recht ferne dem
Bereich der hohen Kunst sich auswirkt,
kann in höherer Betrachtungsweise der glei
chen Urgesetze Offenbarung zeigen, und
den gleichen schöpferischen Drang ver‐
langen, der sich im Werk des Künstlers
nur in augenfälligerer Art bekundet.
120 Das Buch der Liebe
.Es gibt kein Erdenwirken für den Men‐
schen, das nicht der Liebe hohe Schöpfer
kraft aus seiner Enge Fessel lösen könnte!
.Doch, willst du die Schöpferkraft der
„himmlischen” Liebe in ihrer wundersam
sten Auswirkung erkennen, dann mußt du
selbst dich ihr als Material der Formung
überlassen!
.Vergeblich wirst du aus dir selbst
heraus versuchen, deine höchste Form
zu finden, solange du nicht willig durch der
Liebe Schöpferkraft dich wandeln lassen
willst!
.Vergeblich wirst du Tag um Tag an dir
zu feilen und zu schleifen suchen, solange
du die Schöpferkraft der „himmlischen
Form der Liebe hinderst, aus dir selbst
das Götterbild zu formen, das den Geist
in dir verkörpert zeigen soll!
.Aus deiner Formkraft Auswirkung al
lein kann es sich nie gestalten, so sehr
121 Das Buch der Liebe
auch die ewige Schöpferkraft der Liebe
deines Wirkens Kräfte, die sie selbst dir
gab, zu ihrem Werk bedarf! ‒
.Du sollst gewiß nicht müßig sein, und
deine Eigenkräfte können nur durch stete
Übung so erstarken, daß sie der hohen
Schöpferkraft der Liebe wahrhaft Werk
zeug werden bei der Formung deiner selbst;
‒ allein du wirst das Werkzeug nur der
geistigen Meisterschaft höchster Liebe an‐
vertrauen dürfen, willst du dich selbst in
höchster Form erstehen sehen!
— — — — — — — — — — — — —
.Auch dann noch wird, solange du auf
Erden leben magst, gar manches Äußere
der höchsten Formung sich nicht stetig
gen wollen und du wirst immerfort das
Werkzeug tauglich halten müssen, damit
die hohe Form, die dir verliehen ward, nicht
wieder schwindet, und nur ein Torso übrig
bleibt, der schmerzvoll ahnen läßt, was
hier einst schon gestaltet war...
122 Das Buch der Liebe
.Noch ward auf dieser Erde keiner je
vollendet durch die Schöpferkraft der
Liebe, dem nicht des Erdenlebens nimmer
ruhende Zerstörungskräfte seine hohe Form
bedrohten, und wenn du etwa glaubst, die
Leuchtenden des Urlichts seien hier wohl
aller Sorge ledig, ‒ so lasse dir sagen, daß
auch sie, wie jeder, der des Tieres Leben
seinem Ewigen zu einen sucht, sich stünd‐
lich wach erhalten müssen, wollen sie nicht
aus dem hohen Leuchten fallen, wie ein
Stern, der plötzlich in den Abgrund fährt,
und dort zerstäubt in seine Uratome!
.Es sind solche Fälle zwar überaus selten,
aber sie sind immerhin möglich.
.Im äußeren Leben wird aus einem sol‐
chen Gefallenen dann ein furchtbarer Fana
tiker der Bosheit: ‒ ein Mensch, der
„über Leichen geht”, und seinen größten
Selbstgenuß darin findet, alles allenthalben
zu zerstören, an dessen Aufbau er einst
beteiligt war...
123 Das Buch der Liebe
.Es bleibt daher immer ein unerhörtes
Wagnis für jeden im Geiste dazu Vorberei‐
teten, die Berufung zur Einung des Geist‐
menschen mit dem Menschentiere freiwillig
anzunehmen, denn sein Erdenweg ist, weit
mehr als der aller anderen Menschen, von
zahllosen unsichtbaren Gefahren umdroht.
.Du wirst daher auch in dem Leuchten
den des Urlichts einen Menschen-Bruder
sehen lernen müssen, der, ‒ wahrlich allem
Erdenmenschenfehlen nicht entrückt, ‒ zu
kämpfen hat wie du, um aus dem Kampf
des Lichtes mit der Finsternis hervorzugehen
als ein Sieger, wenn einst sein Erdenlauf
vollendet ist!
.Daß man dich lehrte, jenen hohen Leuch‐
tenden, den wir den „großen Liebenden
nennen, als sündelosen „Gott” und aller
Fähigkeit zur Schuld entrückt, zu werten,
‒ das hat dein Urteil tief umnachtet,
und dich dann weit zurückgeschleudert
in ein Reich der Ohnmacht und Erbärm
124 Das Buch der Liebe
lichkeit, in dem dich jene gerne halten
möchten, die nur so sich ihrer Macht er‐
freuen können, deiner Seele auferlegter
Sklavenarmut als die Herren ihres
Schicksals zu erscheinen. ‒
.Wohl sind nicht alle, die dir solche be‐
denkliche Lehre geben, ihres Tuns bewußt.
.Die meisten wähnen, ‒ dich zu deinem
Glücke, dich zu ewig wahrem Heil zu
führen.
.Sie ahnen heute kaum mehr die Ver
derblichkeit des bei ihrem Tun zutage‐
tretenden Menschenhochmutes, der durch
Jahrhunderte hindurch längst zur Gewohn‐
heit ward, und glauben wirklich deiner
Seele Heil gefährdet, sobald du ihren Leh‐
ren dich entziehen willst, weil dir in dei‐
nes Herzens tiefster Wahrheitsahnung end‐
lich doch der Irrtum solcher Lehre offenbar
geworden war. ‒
125 Das Buch der Liebe
.Ich bitte dich, wolle solche selbst um‐
nachtete Lehrer nicht den Irrtum ihrer
Lehre entgelten lassen, der sie in über‐
wiegender Zahl doch wirklich nur „guten
Glaubens” folgen!
.Sie würden dich gewiß auch auf besseren
Wegen gut zu leiten wissen, sobald sie
selbst die besseren Wege gefunden hätten,
denn sie erfüllt, ‒ weit häufiger als du
vielleicht glauben möchtest, ‒ doch auch
der hohe Wille, dir zu helfen! ‒
.Keiner aber, der wahrhaft Sorge trägt
um deine Seele und deiner Seele ewiges
Heil, wird dir verweigern, einen Weg zu
prüfen, den du ohne ihn gefunden hast,
denn längst kennt er ja die schwere Bürde
der Verantwortung, die ihm sein Amt
einst auferlegte! ‒
.Nur der, den Hochmut treibt, und der
da fürchtet, seine Macht durch deine Kennt‐
nis zu verlieren, wird dir „entrüstet” einen
Schwall von Worten hoch „von oben her”
126 Das Buch der Liebe
entgegenschleudern, ‒ wird dir tausend
Gründe” nennen, dich zur Rückkehr in
das abgesteckte Weideland des ihm so teuren
Pferches zu bewegen, ‒ nur den einen nicht,
der ihn im Tiefsten treibt: ‒ dich dort
zu halten wo du standest, bevor die Wahr
heit aus der Liebe dich erreichen konnte. ‒
.Ein solcherart um seine Macht Besorgter
ist denn auch wahrlich aller Schöpferkraft
der Liebe längst entrückt!
.Ihm darfst du nicht in seine Labyrinthe
folgen, die er und seinesgleichen klug
ersannen, für alle, die sich ihrer Macht
entwinden möchten, ‒ einer Macht, die
denen, die sie üben, köstlich dünkt, ‒
auch wenn sie selbst, die also „Mächtigen”,
in ihres Herzens Grund gar wohl erkennen,
daß ihre Macht nur in der Nichterkennt
nis ihrer Sklaven sich begründet. ‒ ‒
.Die solcher Machtlust Rausch einmal
genossen haben, sind fürderhin verloren
127 Das Buch der Liebe
für die Stimme der Wahrheit, sind ver
loren für der Wahrheit unerbittlich fixierte,
geistige Voraussetzungen...
.Doch sollst du auch den für die Wahr‐
heit Verlorenen gewiß nicht zürnen, wenn
du der Liebe Schöpferkraft zu deiner
eigenen, höchsten Formung dich überlassen
willst!
.Du würdest sonst ein Hemmnis schaf‐
fen, das deiner Eigenformung schwere Schä
digung bewirken müßte! ‒ ‒
.Du, den nach Licht und Leuchten
verlangt, ‒ ‒ lerne Barmherzigkeit üben
auch gegen jene, die dich am liebsten in
ihrem Dämmerdunkel halten möchten!
.Sie haben es meistens nicht selbst ver‐
schuldet, daß sie also werden mußten, wie
sie heute sind, ‒ und allzu schwer ist es für
viele, sich furchtlos Fesseln zu entwinden,
die oft für sie die einzige Errettung vor
128 Das Buch der Liebe
dem Sturz in noch weit tiefere Verfinste‐
rung bedeuten, für sie, die nur zu sehr in
allen Fasern fühlen, daß nur die feste Fes
sel ihnen Halt verleihen kann. ‒ ‒
.Für viele dieser blinden Blindenführer
ist auch die Angst vor dem Versiegen der
Ernährungsquelle Grund genug um dem er‐
kannten Irrtum weiterhin zu dienen, dem
sie nur zu gern entsagen würden, wüßten
sie, wovon sie fernerhin leben sollten, mit
denen, die bislang ihre Pfründe leidlich
ernährt.
.Der „Sünde” längstvergessener Geschlech‐
ter dargebrachte Opfer hat die Menschheit
heute nun in den Nachkommen zu beklagen,
und neue Schuld nur würde sie zur alten
häufen, wollte sie die armen Engumfesselten
entgelten lassen, daß sie der Vorzeit starre
Banden noch tragen! ‒
.Die noch die Arme regen können, wer‐
den jedoch mit einem Male, und ohne
129 Das Buch der Liebe
daß einer der Ihren fehlen würde bei dem
Werke, die Welt in Erstaunen setzen!
.Sie werden in aller Stille den Tag sich
bereiten, an dem sie ihre Banden sprengen
werden, ‒ ohne Altgeheiligtes zu verletzen!
.Sie werden „den Greuel der Verwüstung
an heiliger Stätte” nicht mehr dulden und
werden neu das Heiligtum errichten!
.Sie werden denen nicht mehr glauben,
die ihnen sagen: da und dort ist der „Ge‐
salbte”, und werden gar manche, die „in
seinem Namen” kamen, ihres Ruhmes ent‐
kleiden!
.Sie werden wahrlich nicht zerstören,
und dennoch wird das Abgelebte sich er
neuern, weil sie die alte Form erst mit
der Fülle allen Lebens, das sie fassen kann,
durchlichten werden! ‒ ‒
.Noch ist der Tag, an dem solches begin‐
nen wird, gewiß nicht zu bestimmen, ‒
130 Das Buch der Liebe
doch daß er dereinst erscheint, ist so sicher
wie das Erscheinen eines neuen Tages nach
dunkelschwangerer Nacht!
.Lasse deinen Lehrern Zeit zum Suchen,
und wenn sie gefunden haben, oder gar
gefunden wurden, werden sie dich ‒ oder
erst deiner Urenkel Kinder ‒ gewißlich
anders leiten als sie heute es vermögen. ‒
.Die besten unter ihnen bekennen selbst,
daß auch sie noch suchen, was sie einst
gefunden glaubten, als sie voll heiliger
Begeisterung sich zu der Bürde ihres Amtes
drängten. ‒
.Glaube auch nicht, du fändest je in ir‐
gendeiner anderen Gemeinschaft dieser Er‐
de, auch wenn sie tief sich in die ausgetra‐
genen Mäntel alter Mystik hüllen mag, und
dir mit vielbedeutsamer Gebärde kündet,
daß sie nur allein urgründiges „Geheim‐
nis” hüte, ‒ der lichten Wahrheit flecken‐
lose Spur!
131 Das Buch der Liebe
.Wohl sind auch da gar manche ernste
Sucher an der Arbeit, um in den Hierogly‐
phen alter Tempelüberreste jenes Wort zu
suchen, das sie einst erlösen könne.
.Aber auch hier ward längst schon allen
Kundigen bekannt, daß neue Wege sich er‐
öffnen müssen, soll die ernste Schar der
Sucher nicht in dunklen Krypten sich ver‐
lieren, die stets aufs neue endlich „Licht
verheißen und doch den mühsam Tastenden
am Ende seines Weges in Enttäuschung
stürzen lassen, es sei denn, daß die hohle
Geste eines „Wissenden” ihm schon genüge,
‒ daß er beirrt, und keinen Ausweg mehr
erlangend, sich wohlgefällt in einer „Würde”
Schein, ‒ des guten Glaubens der Betörten
froh, die ihn am Ziele wähnen...
.Hier sucht so mancher schon nach sehr
bedenklichem Ersatz, da man den Gold
schatz, den das Innerste des Heiligtums
verbirgt, ‒ des hehren Bauplans seiner
hohen Hallen nicht mehr kundig, ‒ für
unauffindbar hält.
132 Das Buch der Liebe
.Begierig werden alle okkulten Kloaken
durchwühlt nach dem, was nur auf sonnen‐
überstrahlten Gipfeln dem Mutigen erlang‐
bar wäre...
.Aber auch hier wird die Erneuerung
kommen durch die Schöpferkraft der
Liebe in ihrer höchsten, „himmlischen
Form, obwohl hier manche neuerbaute Sei
tenhallen schon unterwühlt von jener
nachtgeborenen Lehre sind, die im Bereich
der erdgebundenen Form der Liebe letzte
Lösung aller Rätsel sucht...
.Wen es angeht, der wird mich verste
hen, und wem von fremden Dingen hier
die Rede ist, der wisse, daß ich diese letzten
Worte nicht für ihn geschrieben habe.
.Was ich in diesem Buche gebe, soll Allen
Licht auf ihre Wege bringen, und jeder
suche hier, was seinem Wege dienen kann!
.Es wird keiner vergeblich suchen, und
jeder wird das Seinige finden können!
133 Das Buch der Liebe
.Die Schöpferkraft der Liebe aber
wird allen das zu Licht und Leben werden
lassen, was ich hier nur in Worte formen
durfte, um denen, die in diesen Tagen im
Dunkel sind, des Lichtes Spur zu weisen,
auf der das Leben sich in Glück und Freu
de strahlenhell entfalten kann. ‒
.Freilich verlangt aber alle Ernte vor‐
herige Saat, und so wirst du, mit dem ich
hier rede, gewiß nicht nur durch die vor‐
übergehende Beschäftigung mit meinen Wor‐
ten zu Frucht gelangen, sondern nur durch
entschlossenes Wirken im Sinne meiner
Lehre!
.Die mit mir aus dem „Vater” leben in
der Liebe, erachten diese Zeit bereitet, sol‐
che Lehre zu empfangen.
.Nur weil auch ich die Not der Zeit er‐
kenne, ließ ich mich zu dieser Niederschrift
bewegen.
134 Das Buch der Liebe
.Ich gab auch hier kein Wort, das einer
meiner hohen Brüder nicht zu billigen ver‐
möchte, und sie allein nur sind imstande,
hier zu werten, ob ich dem Auftrag, der
mir wurde, so entsprach wie mir geboten
war, ‒ ob ich nur lehrte, wie der „Vater
mich lehren hieß. ‒ ‒
.Ich aber trage jegliche Verantwortung
für jedes meiner Worte!
.Möchten die Menschen, denen hohe Fü‐
gung, ‒ die sie „Zufall” nennen, ‒ dieses
Buch zu eigen gibt, durch meine Worte sich
zur höchsten Liebe leiten lassen!
.Möchte das Licht, das, laut jener from‐
men Sage, einst den Hirten „bei der Nacht
wache” wurde, die Herzen aller erreichen,
die heute in der Finsternis dieser Zeit sich
noch wach erhalten, und möchte es so den
Frieden bringen nach diesen kampfdurch‐
tobten Tagen, für alle, die noch voll „guten
Willens” sind!
135 Das Buch der Liebe
.Die hohe Schöpferkraft der Liebe
wird alsdann die so Erwachten lehren, dem
Leben neue Form zu schaffen!
.Sie werden ferne sein dem Wahn, daß
nur aus Trümmern sich der Menschheit
hoher Tempel auferbauen lasse, und jeder
wird sich selbst zum „Baustein” weihen,
sobald er erst erkannte, daß das höchste
Heiligtum des Lebens nur aus Lebendi
gem errichtet werden kann!
— — — — — — — — — — — — —
.Ich habe in diesem Buche gewiß nichts
unbesprochen gelassen, was dir zu wissen
nötig, oder auch nur nützlich ist, und wo
ich in seiner ersten Fassung noch Fragen
offen fand, erhielten sie hier, in des Buches
definitiver Gestaltung, ausreichende Ant‐
wort.
.Ich wende mich nicht an romantische
Schwarmgeister irgendwelcher Bereiche der
Wundersucht, ‒ und nicht an die zahl‐
136 Das Buch der Liebe
reichen Leute, denen die Wirklichkeit wesen‐
los erscheint, weil sie nur das selbstgeschaf‐
fene Flimmerbild ihrer eigenen phantasti‐
schen Träume noch zu sehen vermögen.
.Dieses Buch ist, wie alle meine Bücher,
für reife, nüchterne Menschen geschrie‐
ben, ‒ für Menschen, die, in stiller Arbeit
an sich selbst, mithelfen wollen an der
geistigen Umgestaltung einer Welt, deren
Antlitz nur durch die höchste geistige
Form der Liebe aus den Verzerrungs‐
krämpfen zu lösen ist, in denen es nahezu
zur Maske irren Schreckens erstarrte.
.Nur dann, wenn die Erkenntnis aufzu‐
glühen beginnt, daß die Form des mensch‐
lichen Zusammenlebens auf dieser Erde
durch die Arbeit des Einzelnen an sich
selbst bestimmt wird und nur in sehr
bedingtem Maße von außen her zu beein‐
flussen ist, darf man sicher sein, sich auf
dem Wege zu befinden, auf den ich die mir
Vertrauenden zu leiten suche.
137 Das Buch der Liebe
.Es ist der einzige Weg, der aus der
Wirrnis dieser Tage hinaus und hinauf
zur Klarheit wertbestimmender Überblicke
führt, und zugleich der einzige Weg, der
den verirrten Einzelnen in sich den Frie
den finden läßt, nach dem alle noch nicht
völlig verhärteten Herzen so heiß verlangen.
.Tierhafte Kampflust wird sich dann
nicht mehr ungezähmt, als Zerstörungs‐
faktor inmitten menschlicher Gemeinschaft
austoben können, sondern, zu geistiger
Wehrhaftigkeit sublimiert, die Vielheit
der Einzelnen fähig machen, alle Angriffe
niederer planetarischer Gewalten auf die
eigene Seele in sich selber zurückzuweisen,
‒ im sicheren Bewußtsein der einzigen
Kraft, die alle auf Erden drohenden, glück‐
zerstörenden Triebkräfte siegend bezwingt!
138 Das Buch der Liebe
ENDE
MEHR LICHT
Verlagslogo
NOCHMALS DURCHGESEHENE,
TEILWEISE VERÄNDERTE AUTHENTISCHE
LETZTAUSGABE
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG AG
BERN
3.Auflage
Unveränderter Nachdruck
der 1936 erschienenen Letztausgabe
© 1968 Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Bern
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Übersetzung
in fremde Sprachen und der Verbreitung in Rundfunk und
Fernsehen
Druck: Schüler AG, Biel (Schweiz)
UM DEN BEDINGUNGEN DES URHEBERRECHTES
ZU ENTSPRECHEN, SEI HIER VERMERKT, DASS
ICH IM BÜRGERLICHEN LEBEN DEN NAMEN
JOSEPH ANTON SCHNEIDERFRANKEN FÜHRE,
IN MEINEM EWIGEN SEIN HINGEGEN IMMER DER
WAR UND BLEIBE, DER DIESE BÜCHER ZEICHNET
BÔ YIN RÂ
INHALT Seite
Zu diesem Buch 5
Geleitwort 11
Denen, die des Schlafens müde wurden 21
Die Baumeister am Dome der Menschheit 59
Theosophie und Pseudotheosophie 99
Von den drei Stufen 149
Was es zu fassen gilt! 173
Das Mysterium der künstlerischen
Ausdrucksform
199
Westöstliche Magie 211
Das Licht des Geistes im Christentum 225
Das Geheimnis der alten Dombauhütten 251
Vom rechten Gottesdienst 271
Originalscan
Zu diesem Buch
Dieses Buch ist aus einer Sammlung ehe‐
dem schon einzeln veröffentlichter Ab‐
handlungen hervorgegangen, die in erster
Form verbunden, bereits im Jahre 1921
herausgekommen war. Einzelne, den Sinn
schärfer bestimmende Veränderungen wur‐
den durch den Neudruck endgültig er‐
möglicht.
.Mittlerweile habe ich mit dem Buche
„Hortus conclusus” mein geistiges Lehr‐
werk abgeschlossen, wobei ich auch dem
Ganzen die symbolische Bezeichnung über‐
ließ, die Name seines letzten Bandes wur‐
de. Was ich in den zweiunddreißig orga‐
nisch vereinten Lehrgaben dieses Ganzen
hinterlasse, ‒ und somit auch das hier vor‐
liegende Buch, ‒ würde aber eine sehr
unzulängliche Betrachtungsweise erfahren,
wollte man es ausschließlich als „schrift‐
stellerische Produktion” auffassen. Wenn
auch das ganze Lehrwerk nicht vorhanden
7 Mehr Licht
wäre, hätte ich ihm nicht seine sprach
liche Formung geschaffen, so ist doch sein
Inhalt mit mir selbst: ‒ mit meinem blei
benden Sein aus dem ich lebe, ‒ identisch,
und nicht nur „Hervorbringung”, nicht
Werk irdischen Gestaltungsdranges! Bis
zu meinen Tagen sind unter allen Völkern
der Erde noch keine zehn Erdenmenschen
im zeitlichen Dasein gewesen, die sprach‐
liche Identität ihres eigenen ewigen Seins
mit irdischem Empfindungsgute herzustel
len vermochten. Wer es konnte, der durfte
freilich jederzeit mit allem Rechte sagen:
„Himmel und Erde werden vergehen,
aber meine WORTE werden nicht ver‐
gehen!” ‒ Auch was in den „Vor-” und
Nachworten” meiner Lehrtexte zu fin‐
den ist, gehört noch zumeist zu diesen
„Worten” und darf nicht von dem, was es
umschließt, gesondert werden!
8 Mehr Licht
Wie man Edelsteine, die längst ihre end‐
gültige Gestalt erhalten zu haben schie‐
nen, zuweilen neu schleifen läßt, damit
sie mehr Licht widerzustrahlen vermö‐
gen, so ist der Inhalt dieses vorliegenden
Buches aufs neue „geschliffen” worden,
und Keiner, der die vormalige Gestaltung
kannte, wird heute daran zweifeln kön‐
nen, daß die neue Schleifung das vorhan‐
dene kristallene Material zu der ihm wahr‐
haftig entsprechenden, erhöhten Geltung
gebracht hat. Ich kann das Buch nur in
dieser ihm neu zuteil gewordenen Ge
staltung innerhalb meines nun abge‐
schlossenen Lehrwerkes gelten lassen. Das
betrifft insbesondere auch jene Kapitel,
die um der allseitigen Klärung willen,
neue Bezeichnungen erhalten mußten.
.Viele meiner Worte waren in Vorspann‐
dienste genommen worden, wo sie keines‐
falls angeschirrt werden wollten, so daß
9 Mehr Licht
es mir zur Pflicht wurde, sie hinfort vor
jeder Verkennung und irrigen Verwen‐
dung zu schützen, obwohl solcher Schutz
‒ weiß der Himmel ‒ unnötig sein sollte,
da ich niemals den geringsten Zweifel
daran aufkommen ließ, daß ich keinerlei
menschlicher Institution diene und gei‐
stig von keiner menschlichen Ideologie
abhängig bin. Es handelte sich in jedem
einzelnen der zweiunddreißig Abschnitte
meines geistigen Lehrwerkes ewigkeitsbe‐
stimmt darum, mir selbst einen Sprach
körper zu gestalten, in dem ich anderen
aufnehmbar werden könne. Mag auch
mein geistiges Leben im Laufe kommen‐
der Jahrhunderte Unzähligen auf geistige
Weise zu ihrem Eigenbesitz werden, so
wird es doch jedem Einzelnen jeweils un
geteilt gehören: ‒ substantiell einver‐
schmolzen seiner eigenen ewigen geisti‐
gen Substanz.
10 Mehr Licht
GELEITWORT
Es gibt Zeiten der Menschheitsgeschichte,
in denen der Mensch der Erde sich gänz‐
lich von seiner geistigen Urheimat ver‐
lassen fühlt, ja diese Urheimat auch nur
noch ahnend zu erglauben nicht mehr
fähig ist.
.Hinwiederum aber gibt es andere Zei‐
ten, in denen viele Sucher aus aller Mensch‐
heit sich wieder hin zum Geistigen wen‐
den, dunkel fühlend, daß auch der Mensch
auf dieser Erde des Geistes Erbe für sich
erlangen könnte, aber nicht mehr des
Weges bewußt ist, der zum wesenhaften
Geiste führt. So sucht man und tastet im
Dunkel, ‒ zwar bemüht, diesen Weg zu
finden, aber auch jedem Irrweg blind ver‐
trauend, wenn er nur seltsam und ge‐
heimnisvoll erscheint.
.Hier gilt es „mehr Licht” in das ver‐
13 Mehr Licht
wirrende Dunkel zu bringen, denn Un‐
zählige irren planlos zu solchen Zeiten in
den Labyrinthen der Spekulation umher,
oder laufen vermeintlichen geistigen „Füh‐
rern” nach, die ihre Anhänger nur zu sich
selbst und ihrer eigenen Torheit ver-führen.
Wir stehen inmitten einer solchen Zeit
des Suchens nach dem Geiste, auch wenn
zugleich noch allenthalben der brüske
Tiermensch billige Triumphe feiert.
.Es wäre unverantwortlich, wollte man
sagen, daß nur „Sensationsbedürfnis”, eitle
Neugier und hochmütiger Drang nach Er‐
weiterung ihres Wissens alle Suchenden
leite, die da heute trotz aller Gegenströ‐
mung dem Lichte des Geistes zustreben.
.Es wäre töricht, jene Suchenden gering‐
zuschätzen, die in den Formen alter Reli
gionen den roten Faden zu finden hoffen,
14 Mehr Licht
der sie aus den dunklen Irrgängen philo‐
sophischer Spekulation heraus, zu wahrer
Erkenntnis führen könne.
.Es gibt gar manche Möglichkeit, dem
Dunkel zu entrinnen, und wer ihm zu ent‐
rinnen vermag, der soll nicht fragen, ob
es auch „noch andere” Wege gäbe, zum
freien Ausgang zu gelangen, wenn nur
sein Weg ihn wirklich zum Lichte leiten
konnte.
.Unter den Suchenden in heutiger Zeit
gibt es aber schon zu viele, die bereits
müde des Suchens sind, weil jeder Weg
der von ihnen eingeschlagen wurde, sich
als Irrweg erwies, und weil jeder vorgeb‐
lich geistige „Führer”, dem sie blindlings
vertrauten, sich schließlich als ebenso un
wissend und des Weges unkundig zeigte,
wie die von ihm geführte Schar.
15 Mehr Licht
.Für diese so zahlreichen unter den Su‐
chenden schreibe ich in erster Linie, als
einer, der nur von Dingen redet, die ihm
vertraut sind, wie sie nur selten einem
Erdenmenschen vertraut werden können.
Jene andere Art der Suchenden aber, die
bereits gefunden zu haben glaubt, wird
hier einen Prüfstein erhalten, der untrüg
lich Echtes von Täuschendem scheidet.
Die einzelnen Abhandlungen dieses Bu‐
ches sind für sich gesondert entstanden und
gesondert lesbar.
.Sie wurden jeweils geschrieben, um vie‐
len Fragenden gemeinsame Antwort zu er‐
teilen, da meine Zeit und Kraft schon da‐
mals nicht ausgereicht haben würde, um
jede persönliche Frage auch gesondert zu
erörtern. Die Themen ergaben sich aus
16 Mehr Licht
den Fragestellungen. Es mußte daher auch
manches erwähnt werden, was ich ohne
wirklich begründete Anfrage gewiß nicht
der Erörterung für wert erachtet haben
würde. Auch die unvermeidbaren Wieder‐
holungen sind durch die Art der Anfragen
gerechtfertigt.
.Aber alle Kapitel dieses Buches sind
dennoch, wie das nicht anders sein kann,
aufs engste im Geistigen verbunden, und
bilden in ihrer Gesamtheit eine Grundlage,
auf der jeder Einzelne in seiner Art mit
Sicherheit weiterbauen kann, stets auf
festen Fundamenten fußend.
.So dürfte es denn kaum einen Leser ge‐
ben, der nicht aus dem hier vorliegenden
Buche reichsten Gewinn zöge: ‒ dem es
nicht wirklich „mehr Licht” zu bringen
imstande wäre. Allerdings wird sich der
17 Mehr Licht
nach Einsicht Verlangende darüber klar
werden müssen, daß wirkliche Einsicht in
die Geheimnisse geistigen, unzerstörbaren
Lebens nicht durch ein neues religiöses
oder philosophisches Lehrsystem zu er‐
langen ist. Daher wird der Suchende in
meinen Schriften kaum je einem soge‐
nannten „Lehrsatz” begegnen, der sich
systematisch einem anderen anschließen
möchte. Ich zeige vielmehr dem Suchen‐
den das Geistige, dem er zustrebt, von den
verschiedensten Gesichtspunkten her in
immer wieder neuen Bildern, seinem Füh‐
len vertrauend und sein eigenes Urteil an‐
rufend, damit er aus dem so Vielfältigen
sich die innere Gewißheit selber verschaffe,
die jede Seele sich nur selbst zu geben
vermag. Es liegt mir nicht das geringste
an der Zustimmung des Verstandes, die
ich etwa bei einem Aufnehmenden meiner
Worte finde. Ich will ihm lediglich die
18 Mehr Licht
innere Verfassung erreichen helfen, in der
allein ihm offenbar werden kann, was das
Dunkel um ihn her seiner Seele verbirgt!
.Es wäre total verkehrt, in meinem Lehr‐
werk „Lehrsätze”, ‒ also: formgefaßte
und nur in dieser Formung allein gültige
Behauptungen aufspüren zu wollen. Man
wird nur dann zu der von mir in diese
Zeit gebrachten Lehre gelangen, wenn
man jedes der einzelnen Lehrstücke auf
die eigene Seele wirken läßt, indem man
in jedem zuerst nur mein ewiges geistiges
Sein zu empfinden sucht. Hat man dieses,
mein ewiges, wahres „Sein” endlich emp‐
funden, so wird man auch aus ihm heraus
alle „Antwort” in sich selbst erlangen,
nach der man begehrt, und zugleich die
Gewißheit ihrer unumstößlichen Wahrheit
als Zeugnis ewiger Wirklichkeit.
.Es ist auch ein Irrtum, zu glauben, daß
man in persönlicher Unterredung mit
19 Mehr Licht
mir vielleicht mehr Aufschlüsse erlangen
könne, als in den von mir gestalteten
Lehrschriften zu finden sind. Wer mit mir
spricht, der steht meiner körperlichen
vergänglichen Erscheinung gegenüber, ‒
nicht mir, für den ihm ja alle Wahrneh‐
mungsorgane fehlen! Ich kann ihm wohl
antworten über das Vehikel des mir zeit‐
begrenzt dargebotenen Gehirns, aber es
ist ganz unmöglich, mir in seiner Gegen‐
wart die Sprachgestaltung zu schaffen,
durch die ich substantiell in ihn einzu‐
gehen vermag. ‒ Dazu gehört Einsamkeit
und absolute Isolation von Schwingungen
anderer Gehirne: ‒ unvorstellbar inten‐
sive Konzentration!
20 Mehr Licht
DENEN, DIE DES SCHLAFENS
MÜDE WURDEN
Ein Präludium
Es geschehen Zeichen und Wunder in
unseren Tagen, und der Geist fährt wie ein
Sturmwind über die Erde hin, aber die
Menschen dieser Erde liegen im tiefen
Schlafe und sind nicht wachzurütteln.
.In ihren Träumen suchen sie das Wun
der und verschlafen darüber des Wunders
Wirklichkeit.
.Aber selbst in ihren Träumen suchen sie
nur das Zeichen der Finsternis und wür‐
den Schrecken und Angst erdulden, könn‐
te das Zeichen des Lichtes sie im Traume
erreichen.
.So fabeln die einen, im Traume lallend,
von einer Begründung des ihnen liebge‐
wordenen Glaubens durch ihre Wissen
schaft, indes die andern allen Glauben
durch ihr Wissen überwunden wähnen.
23 Mehr Licht
.Keiner aber ahnt, daß wache Wirklich
keit, von seinen Träumen unberührt, we‐
der gedankliches Wissen noch Glauben im
Sinne eines Fürwahrhaltens braucht, um
Wunder und Zeichen zu gebären.
.Keiner ahnt, daß Wunder und Zeichen
ihn umgeben, während er sich, im Traume
suchend, unruhig wild im Schlafe wälzt.
Wären zu allen Zeiten nicht wenigstens
einige Wenige gewesen, die gewaltsam
ihrem Schlafe sich entrissen, dann wäre
auch für die Anderen kein Erwecken mög‐
lich, und in ihren Träumen müßten sie
dem Allbewußten entschwinden wie ein
Traum.
.So aber fanden Fürsten des Lichtes we‐
nigstens einige wache Augen und Ohren,
24 Mehr Licht
denen sie des Lichtes Zeichen deuten,
denen sie das Wort des Lichtes künden
konnten, und diese wenigen Erwachten
sind die Einzigen, die euch auch heute,
an diesem eurem Tage, aus dem Schlafe
rütteln können, wenn ihr erwachen wollt,
und euer Schlaf nicht schon des Todes
bleierne Umhüllung ist.
Wer diese Worte liest, wenn auch in tie‐
fem Traum befangen, der suche in sich
Erinnerung in seinen tiefsten Schächten!
Vielleicht wird dort, in trübem Dämmer‐
licht, sich noch ein Kleinod finden, das
ihm als teurer Fund den reichen Schatz
gleichwie in ferner Ahnung zeigt, den
einst auch er besaß!
.Wer aber so in Schlaf gebunden ist, daß
er auch diesen letzten Schimmer der Er‐
innerung an waches Vor-Sein nicht mehr
25 Mehr Licht
in sich finden kann, der lese diese Worte
nicht, denn ohne Macht, ihn heute seinem
Schlafe zu entreißen, könnten sie ihm nur
die liebsten, altgewohnten Träume stören,
die ihn ergötzen bis zu einem unerwünsch‐
ten Tage, der ihn dann doch erkennen las‐
sen muß, daß alles vordem so „Leibhaf‐
tige” nur Traum und Irrung war.
.Soll ich euch mehr als leere Worte ge‐
ben, dann muß ich manchem heißgelieb‐
ten Traum ein Ende setzen.
.Soll ich euch wirklich aus dem Schlafe
lösen, dann darf mein Wort sich nicht vor
harter Rede scheuen.
.Soll ich euch heute zu euerem Tage
erwecken, dann muß ich alle matten,
müden, schlafbeschwerten Worte eurer
erträumten Erlöser und Heilande mei‐
den.
26 Mehr Licht
Auch ich war einst, ‒ wenn auch nur von
außen her, ‒ dieser traumgeborenen Hei‐
lande träumender Schüler, bevor man
mich wachgerüttelt hatte und ich alsdann
erkannte, daß nur ein einziger „Hei‐
land” uns von Urzeit an geboren ist, den
nie die süße Moderluft des Traumes ahnen
läßt.
.Wohl kamen euch Stimmen Rufender
in eure Wüsten, wohl wurde der eine Hei
land der wachen Wirklichkeit zu allen
Zeiten von einer „Jungfrau”, ohne Zeu‐
gung, geboren, allein der tosende Ton des
Muschelhorns, das alle zu ihm rief, die
starker Künste Könner werden sollten,
war euch viel zu rauh und wild, und störte
eurer Träume Spiel.
.So habt ihr die Urweltklänge, die sein
Odem neu und wieder neu ertönen ließ,
zu einer sanften, süß-verführerischen
27 Mehr Licht
Schäfermelodie gewandelt, damit sie woh‐
lig euch in neue Träume wiege.
.Hinter Jedem, den ihr „Heiland” und
„Erlöser” nennt, stand einer, der es wirk
lich war, weil jeder, der von euch so Be‐
nannten in Wahrheit jenen einen, ewigen
Heiland in sich trug, und aus Schlaf und
Traum erwacht, „des Menschen Sohn” in
sich vollendet hatte! Doch eure phantasti‐
schen Bilder dieser Großen, die ihr nun
im Träumen ehrt und lobt, sind Werke
eurer Träume: ‒ wesenlos und Schatten
gleich. ‒
Ob ihr euch Gottesgläubige oder Gottes‐
leugner nennt: ‒ in beiden Fällen redet
ihr von einem „Gotte”, den ihr selbst er
träumt, von einem „Gotte”, den ihr nicht
mehr träumen wollt.
28 Mehr Licht
.Ihr treibt den lächerlichsten Götzen‐
dienst und träumt, den „einen”, wahren
Gott zu „kennen” und zu „ehren”. ‒ Ihr
leugnet euren Gott, und schafft euch neue
Götter, die nicht weniger Gebilde eurer
Träume sind. ‒ Nicht einer aus euch ahnt
in seiner Traumbenommenheit, daß aller
Streit, den ihr um Gott und Nicht-Gott
führt, nur wesenloses Nichts dem wesen‐
losen Nichts entgegenstellt.
Aber so, wie hinter euren erträumten Er‐
lösern und Heilanden ein wirklicher „Hei‐
land” steht, so ist auch euer Gottestraum
bedingt durch eine Wirklichkeit, die eurer
Träume Maß verachtet.
.Auch ich, der ich heute wachend zu
euch rede, lag voreinst in euren Gottes‐
träumen, habe euren „Gott” geglaubt und
29 Mehr Licht
habe ihn geleugnet, bis ich, ‒ erwachend
in meinem Ewigen, ‒ sah, daß nie ein
Traum, dem unbewußten Traum des Er‐
denmenschen gleich, die Größe des leben
digen Gottes faßt.
.Mit Donnerworten möchte ich euch aus
dem Schlafe erwecken, um euch der laut‐
losen Stille des ewig wachen Lebens der
Wirklichkeit zuzuführen, in der allein
der „lebendige Gott” in euch geboren
werden kann!
.In euch, ‒ in dir und in dir, ‒ muß er
sich selbst im irdischen Bewußtsein ge
bären können, damit er euch erfahrbar
sei! ‒
.Nicht im All und nicht außer dem All ist
er von dir für dich zu finden, bevor er
nicht in dir ‒ und in dir allein für dich
leibhaftig ‒ geboren wurde!
.Du lästerst deinen lebendigen Gott, ob
30 Mehr Licht
du nun den „Gott” deiner Träume glaubst,
oder ob du ihn träumend leugnest!
.Du lästerst das ewige Sein, das einzig
Wirkliche, das sich in dir zu deinem le
bendigen Gotte formen will und dessen
Form du bist, indes du dich im Traume
für „Das Werk seiner Hände” nimmst!
Vom Winde gejagten Vögeln gleich hat
eure Vorstellung von „Gott” eine Sphäre
erreicht, weit jenseits aller wachen Wirk
lichkeit. Ihr habt euch träumend einen
„Gott” erdichtet, der nur ein intellek
tueller Fetisch ist. ‒ Der Wilde schafft
sich einen „Gott” aus einem Baumklotz,
den er mit dem Messer formt, bis er zu
seiner Seele spricht. Ihr aber schuft euch
euren „Gott” im Denken aus Gedanken!
‒ Er „muß” vermeintlich so sein wie ihr
31 Mehr Licht
ihn haben wollt, und wenn ihr, selbst im
Traum, entdeckt, daß niemals Wirkliches
aus eurem Götzen redet, dann gebt ihr
doch die Vorstellung nicht auf, daß „Gott”
nur so, wie ihr ihn selbst gestaltet habt,
sein Dasein haben könnte, ‒ wäre er im
Dasein.
.Ihr wißt nicht, daß der lebendige Geist,
soll er des Erdenmenschen „Gott” sein,
den Menschen, der aus ihm hervorgeht,
braucht, „nach seinem Bilde” sich zu for‐
men. Das ungeformte Meer des Geistes
wollt ihr fassen, und es entgleitet, indem
ihr es zu halten wähnt, euren Händen!
.Einst sagte euch einer: „Der Geist er‐
forscht alles, auch die Tiefen der Gott
heit! ‒ ” Ihr aber erdreistet euch in euren
Träumen, auch den Geist zu erforschen, ‒
gebt ihm wünschenswerte Attribute, und
32 Mehr Licht
nennt ihn, eurer Weisheit froh, in aller
vermeintlichen Ehrfurcht ehrfurchtslos:
‒ euren „Gott”!
.Die ihn leugnen, bleiben dennoch ihrem
Wahn verhaftet, denn ihr Leugnen ist
Wahn, wie der anderen träumender Glau
be. Gedanken schaffen den Götzen, und
Gedanken zerstören den Gedachten, ohne
die Wirklichkeit auch nur von ferne zu
berühren.
Wahrlich, eine Wirklichkeit ist Ursache
dieses Wähnens der Träumenden, aber sie
wäre nicht Wirklichkeit, könnte Traum
wahn sie jemals betasten.
.Unnahbar wie der Blitz, der von Wolke
zu Wolke überspringt, blendend wie die
Sonne am Mittag und sogleich wieder in
33 Mehr Licht
Nacht gehüllt, ist jenes Wirkliche ewig
lebendig, und wirkend sich selbst in sei‐
ner gewaltigen Macht und Größe.
.Aber es ist unendlich ferne eurer Vor‐
stellung vom „Geiste”, ‒ unendlich ferne
jeder Vorstellung von „Gott”, die hier auf
diesem Erdball „Religionen” schuf.
.Und doch: ‒ wenn je ein „Gott” den
Gläubigen erhört, mag dieser Gläubige
nun: Brahma, Allah, „Vater”, „Herr” und
„Heiland”, Christus oder Buddha rufen,
so ist es einzig jene Wirklichkeit, die ihm
Erhörung schafft. ‒
.Nur wirklich Erwachten wird sie offen
bar.
.Nur denen, die den Schlaf und seine
Träume für immer verlassen haben, gibt
sie sich zu erkennen.
34 Mehr Licht
.Nur wer erwacht, mit wachen Sinnen
seinen Gott vernehmen kann, darf hoffen,
daß er in ihm selbst das Wort des Lebens
spreche.
.Solange du noch glaubst, in deinen Träu
men der Gottheit zu begegnen, mußt du
es dulden, daß dich deine selbstgeschaf‐
fenen Götzen äffen und du ihr Spielball
wirst.
Glaube nicht, diese Götzen seien macht
los, wie du selbst dir erscheinst! ‒
.Du selbst hast sie mit Macht begabt und
weißt es nicht!
.Noch ahnst du nicht, daß du mit Macht
begaben kannst, und daß gerade darin
deine Macht besteht, daß über Mächte du
35 Mehr Licht
gebieten kannst, die weitaus mächtiger
sind als du...
.So hast du dir Götzen erdacht, und den‐
kend sie mit Macht begabt durch deinen
Glauben!
.Ihr spottet des Glaubens oder wollt ihn
durch Wissenschaft stützen, aber ihr wißt
noch nicht, daß euer Glaube mehr ist als
das, was ihr glaubt!
.Im Glauben ist euch eure höchste Kraft
gegeben, weil ihr durch den Glauben
Mächte euch zu Dienern machen könnt,
die urgewaltig wirken, wo sie durch
den Glauben frei von ihren Fesseln wer‐
den.
.Ihr könnt diese Mächte zum Dienen
zwingen durch den Glauben, und könnt
36 Mehr Licht
sie zwingen, euch zu quälen, ja euch zu
vernichten!
.Durch das, was ihr von eueren selbst‐
erdachten Götzen glaubt, habt ihr sie
reich begabt mit Macht, ‒ und wahrlich,
diese Macht ward nicht zu eurem Segen,
denn ihr glaubt euch eure Götzen selbst
zu Kerkermeistern!
.In unserer Zeit ward euch oft gesagt,
daß Gedanken „Dinge” seien, „wirklich”,
wie die greifbare „Wirklichkeit” der Din‐
ge dieser Erde, doch ich sage euch, eure
Gedanken sind wahrhaftig mehr als die
„Dinge” dieser Erde, ‒ sind Kräfte: ‒
einzielige Bewußtheiten, denen nichts auf
dieser Erde zu vergleichen ist, ‒ erfüllt
mit gierigem Lebenswillen, dem ihr durch
euer Denken Nahrung schafft!
37 Mehr Licht
.Aus solchen Kräften habt ihr eure Göt‐
zen gebildet und sie durch euren Glauben
mit der Macht begabt, euch Gutes oder
Böses anzutun nach ihrem Willen.
.Ihr sagt: „Wen Gott lieb hat, den züch‐
tigt er,” ‒ und euer „Gott”, ‒ von euch
geschaffen aus einzieligen Bewußtseins
energien, ‒ ist durch euch selbst ge
zwungen, euch zu quälen, je brennender
ihr das Vorstellungsbild, das ihn formte,
liebt...
.Ihr könnt aber den Gott eurer Träume,
den Milliarden seit ferner Vorzeit schufen,
nicht von heute auf morgen vernichten,
auch wenn ihr stolz verkündet: „Gott ist
tot!”
.Er wird euch immer wieder zeigen, daß
er noch am Leben ist, sich nährend von
38 Mehr Licht
Unzähligen, die ihn aufs neue erdenken,
und seiner Macht gewaltig, die ihm täglich
neuer Glaube gibt.
.Er spottet eurer Traumes-Übermen‐
schen-Herrlichkeit und läßt euch ruhig
rufen: „Gott ist tot!” ‒ derweil sein Le‐
ben auf Jahrtausende gesichert ist, durch
tausendjährig wiederholten Glauben.
.Nicht eher werdet ihr euch seiner Macht
entwinden, als bis für euch der Tag er‐
scheint, der euch dem Schlaf und Traum
entreißt.
Aber noch seid ihr des Traumes Sklaven!
.Noch liebt ihr den Traum, der euch den
Tag verbirgt, und haltet ihn für waches
Leben.
39 Mehr Licht
.Ihr ahnt noch kaum, daß selbst die
Träume eurer Erdennächte näher sind
dem wirklich wachen Leben, als das, was
ihr die Wirklichkeit des lichten Tages
nennt...
.Noch liebt ihr allzusehr die Enge eurer
Träume, gleichwie der Vogel, der im Kä‐
fig aus dem Ei entschlüpfte, nicht ent‐
flieht, auch wenn die Türe seines Kerkers
offen steht.
.Der Vogel fühlt sich darin heimisch,
weil er nur die Stäbe seines Bauers, die
ihm die Freiheit rauben, kennt und liebt,
und ebenso fühlt ihr euch nur heimisch
in eurem Wissen von den Dingen, die ihr
gut zu wissen glaubt.
.Es ist euch un-heim-lich, aus den Ker‐
kerwänden dieses Wissens hinaus zu flie‐
40 Mehr Licht
hen in jene freie, wache Welt der Wirk
lichkeit, die jenseits allen Wissens ist, ‒
die nur erfährt, wer selber in ihr: wirklich
wird, und also zu sich selber kommt, be‐
freit von aller Qual des Wissen-Wollens.
.Redet euch dann aber wahrhaftig einmal
einer, der davon reden kann, von dieser
Welt der Wirklichkeit, die ihn umgibt, ob‐
wohl er selbst auch noch das Traumreich
kennt, in dem ihr lebt, ‒ sofort seid ihr
bereit, mit tausend Fragen ihn zu über‐
fallen, deren Antwort euer Wissen mehren
soll, doch selten nur will einer alles Wissen
seinen Träumen schenken, und wirklich
werden in der von ihm vielleicht schon ge‐
ahnten Welt der Wirklichkeit...
.Hier aber liegt der Schlüssel in tiefem
Schachte verborgen, seit Ewigkeit gehütet
von den „Müttern”!
41 Mehr Licht
.Wer nicht hinabsteigt zu ihnen, wird
ihn nicht erlangen.
.Wer nicht das Wissen seines Traumes
seinem Traume überläßt, und mutig auf
sich selbst verzichtend, sich ins Unge
wußte, niemals seinem Wissen Unterwor‐
fene wenden will, der wird, in seinen
Träumen vermeintlich wissend, ewig su
chen können, ohne je zu finden, was er
sucht.
.Er liebt seinen Traum zu sehr, als daß
ihm jemals ein machtvoller Wille zum Er‐
wachen erwachsen könnte.
.Euer Wissen-Wollen ist es, das euch
vom Erkennen ferne hält! ‒ Euer Wissen
Wollen ist es, das euch nicht erwachen
läßt! ‒
42 Mehr Licht
.Euer Wissen-Wollen ist es, das euch zu
Sklaven eurer Götzen macht, wie immer
ihr sie auch mit Namen nennen mögt!
.Solange ihr aber einem selbstgeschaffe‐
nen Götzen ausGedankentrieben” un‐
terworfen seid, auch wenn ihr ihn „den
einen, wahren Gott” zu nennen pflegt,
kann niemals lebendiger Geist sich selbst
in euch zu eurem „lebendigen Gott” ge‐
bären.
Bevor der „lebendige Gott” in dir gebo‐
ren ist, mußt du notwendigerweise ein
„gottloser Götzendiener deiner Traum‐
welt” sein.
.Bevor der „lebendige Gott” in dir ge‐
boren ist, bist du lebendig tot, und ahnst
noch nicht in deinen kühnsten Träumen,
43 Mehr Licht
was dein Leben in Wahrheit ist, ‒ dein
Leben, das du, träumend, längst zu ken‐
nen glaubst.
.Bevor der „lebendige Gott” in dir ge‐
boren ist, muß das „Wissen” deiner
Traumwelt dich am Gängelbande führen,
und alles, was dir wahrer scheint als frü‐
heres Bedünken, ist nur neuer Irrtum,
neuer Traum, ‒ nur gültig für die Welt
deines Traumes innerhalb ihrer Bereiche.
.Dein Wille zum Erwachenwollen nur
kann dich aus deinen Träumen reißen,
und denen, die bereits erwachten, helfen,
dich aus deinem Schlafe zu befreien.
.Nur in erwachten Seelen kann der „le‐
bendige Gott” sich selbst aus „Geist und
Wasser” gebären. (Zu „wissen”, was die‐
ses Wort besagt, wird nicht von dir ver‐
44 Mehr Licht
langt. Wenn du es jedoch erfahren willst,
wirst du zuvor erwachen müssen!)
Noch möchtest du nur erwachen, allein
du willst noch deine Träume weiter träu‐
men!
.Noch bindet dich die Traumwelt, die
dich seit der Jugendzeit umgab.
.Noch fesseln dich der Andern Träume
allzusehr, und du wagst es nicht, deine
eigenen Wege zu beschreiten, denn dich
schreckt die Einsamkeit, durch die du
unermüdlich wandern mußt, wenn du die
neuen Gefährten der Welt der Wirklich
heit dereinst erreichen willst.
.Doch all diese Hemmnisse wirst du
überwinden müssen, willst du jemals zur
Klarheit des wachen Tages gelangen.
45 Mehr Licht
.Ich rate dir: fasse noch heute, während
du diese Worte liest, den festen Willen,
dich nicht mehr länger dem gemeinsamen
Schlafe deiner Schlaf- und Traumgenossen
hinzugeben!
.Ich rate dir: fasse heute noch den festen
Willen, alles aufzubieten, um im Lichte
meiner Lehre deine Träume als solche zu
erkennen!
.Ich rate dir: überlasse dein ganzes bis‐
heriges „Wissen” in Ruhe der Traum
welt, die es dir gab, gebrauche es ruhig
weiter, soweit du auch weiter mit Träu‐
menden verbunden bleibst, doch erwarte
nicht mehr von ihm die Lösung der letzten
Fragen, die das Menschenherz bewegen!
Und ich rate dir ferner: mißtraue jedem
in frommen Formeln sich genügenden
Massenglauben, wie dich gar mancher in
46 Mehr Licht
deiner Traumwelt noch immer erreichte,
‒ besonders wenn er dich durch Ängsti
gung gewinnen will! Mißtraue mehr noch
denen, die da allen Glaubenswahn der
Träumenden in einem alles vermischen‐
den neuen Glaubenswahn vereinigen wol‐
len!
.Mißtraue jenen, die durch neue vor‐
gebliche „Wissenschaft” den alten Glau‐
ben ihrer Träume übertünchen!
.Suche dich loszureißen von jeder Vor‐
stellung, die andere Träumende in deine
Träume brachten, auf deine Frage nach
den letzten Dingen!
.Wohl steckt in jedem Glaubenswahn
ein Körnchen Wahrheit, wie auch den
Träumen deiner Erdennächte oft ein
äußerliches Geschehen oder ein körper‐
47 Mehr Licht
licher Zustand ihre Auslösung schafft, aber
gerade wegen dieser wenigen wahnver‐
hüllten Wahrheit kann dir jeder Glau‐
benswahn der Traumwelt, in der du seit‐
her dich „wachend” glaubst, zum Ver‐
hängnis werden und dich verleiten, Wahn
um der Wahrheit willen für wahr zu
nehmen!
.Hüte dich, was du nun zu erlangen
strebst: ‒ die Wahrheit des lichten Ta
ges der Wirklichkeit, ‒ durch dein Den
ken erschließen, oder nach den dir be‐
kannten Denkgesetzen überprüfen zu
wollen!
.Was du nun erlangen willst, steht über
dem Denken, und du kannst erst, wenn
du es erlangtest, dein Denken zu ihm er‐
heben!
48 Mehr Licht
.Was du nun erlangen willst, mußt du
selber werden: es kann dir niemals durch
die Formen deiner seitherigen Versuche,
die Wahrheit zu erfassen, sich erschließen.
Dein erstes Beginnen muß darauf gerich‐
tet sein, eine weite Leere in dir zu schaf‐
fen, damit das Neue, das dich erfüllen soll,
auch Raum in dir finde.
.Erwarte nicht, daß sich von heute auf
morgen das Neue zeigen werde!
.Es sind Jahre, ‒ vielleicht Jahrzehnte,
‒ vielleicht ‒ durch deine Art bedingt:
‒ noch längere Zeiten nötig, bis du so be‐
reitet bist, daß man dich aus dem Schlafe
reißen kann, ohne dich zu gefährden.
.Nur dein beharrlicher Mut kann dich
führen am Anfang deines Weges.
49 Mehr Licht
.Wenn du aber ernsthaft bestrebt bist,
dich aus den Fesseln deiner Träume und
der Traumwelt der Andern zu lösen, dann
werden dir, schon nach weniger Zeit, die
Dinge, die du jetzt noch träumend zu er‐
kennen meinst, bald diese, bald jene an
dere Seite zeigen und dich so belehren,
daß du bereits auf dem rechten Wege bist.
.Glaube nicht, daß plötzlich die er‐
träumten Wunder, die man in deiner bis‐
herigen Traumwelt für Zeichen der Er‐
weckung hält, dein Leben erfüllen werden!
.Es werden Zeichen und Wunder auf
deinem neuen Lebenswege geschehen,
aber ich zweifle sehr daran, daß du sie
bemerken wirst, bevor sich „das dritte
Auge” auf deiner Stirne geöffnet haben
wird...
50 Mehr Licht
.Es ist auch nicht nötig, daß du sie vor‐
dem bemerkst.
.Gar mancher war dem Erwachen nahe
und fiel zurück in Schlaf und Traum, weil
er dem geheimnisreichen Wunderweben
über seinem Wege noch nicht gewachsen
war und sich betäuben ließ durch wunder‐
same übermächtige Stimmen.
Je nüchterner und von Romantik freier
du deine Straße wandelst, desto besser!
.Du sollst nichts erwarten und nichts er‐
streben, außer dem Einen: ‒ aus deinem
Schlafe, ‒ aus der Traumwelt der An‐
dern, ‒ erwachen zu wollen!
.Je stärker und konzentrierter dich in
stetem Gleichmut nur dieser eine Wunsch
51 Mehr Licht
beseelt, desto eher ist Hoffnung vorhan‐
den, daß man dir helfen kann, und man
muß dir helfen, denn niemals würdest du
allein das Werk vollbringen, auf welcher
hohen Stufe irdischen Erkennens du auch
immer als Mensch der Traumwelt dieser
Erde stehen magst.
.Halte es nicht für „Ungerechtigkeit”,
daß du erreichen sollst, was andere noch
nicht erreichen!
.Ich spreche zu dir, als zu einem, der
dem Erwachen nahe kommen kann in
diesen Tagen, ‒ auch wenn er um sich
her nur Träumende gewahrt in ihren be‐
drückenden angstbedrängten Träumen.
Kannst du noch nicht erwachen, dann
werden dir meine Worte ohnehin unver‐
ständlich sein und vorerst unverstehbar
bleiben. Du wirst dann erst zu späterer
52 Mehr Licht
Zeit, ‒ vielleicht erst nach Jahrtausen‐
den, ‒ in anderer Daseinsform einen ähn‐
lichen Weckruf hören und ihn dann auch
verstehen können!
Was in der Traumwelt dieser Erde als
„ewige Gerechtigkeit” gesucht, und allzu‐
oft nur, nicht gefunden wird, ist eine
bloße Forderung traumgerechter Gebun‐
denheit.
.In jener Welt der Wirklichkeit, die
euch wie mich umgibt und die ihr nie‐
mals sehen könnt, solange ihr im Schlafe
träumend sucht, herrscht eine unleugbar
gesicherte Gerechtigkeit, die aber euren
Augen erst faßbar wird, wenn ihr zu Wirk
lichkeiten wurdet in der Welt der Wirk‐
lichkeit!
53 Mehr Licht
.Dann erst werdet ihr sehen, daß Vieles,
was ihr jetzt in eurem Traum als „Gött‐
liche Gerechtigkeit” erwartet, in schauer‐
licher Weise ungerecht zu nennen wäre,
würde es sich so, wie ihr es hofft, erfül‐
len...
.Und Vieles, was euch heute als schreien‐
des Unrecht in der „Weltordnung” er‐
scheint, wird dann seine unerschütterbare
Gerechtigkeit euch zeigen, denn nicht
erst nach dem Tode des Erdenleibes be‐
ginnen die Wirkungen in die Strandreiche
der geistigen Welt: ‒ die letzten und un
erbittlichsten Folgen erdgezeugter Im‐
pulse!
Sucht nicht vorweg zu erhaschen, was
euch gerechterweise erst dann zu eigen
werden kann, wenn ihr den „Preis” dafür
54 Mehr Licht
entrichtet habt in jahrelanger treuer
Ergebenheit!
.Jede Erfüllung in der Welt der Wirk
lichkeit kann nur als Folge genau be‐
stimmter, erfüllter Gesetze euch gegeben
werden.
.Hier läßt sich nichts umgehen und
nichts auf billigere Weise „erhandeln”!
‒ Die euch das Erstrebte erschleichen
helfen wollen, sind eure erbärmlichsten
Feinde, viel grausamer noch, als jeder
ehrliche Feind, der euch auf eurem ge‐
raden Wege jemals begegnen kann. ‒
.Traut keinem Wort, das euch schnell
und ohne harte Zucht zu Erkennern zu
machen verspricht!
.Traut keinem Lehrer, der euch „Me‐
55 Mehr Licht
thoden” lehrt, durch die ihr mit den
Mitteln eurer Traumwelt euch zu Geister‐
sehern bilden sollt!
.Traut nicht den Kundgebungen, die
man von weiblichen wie männlichen Som‐
nambulen und „Medien” in den Anfällen
ihrer Nervenkrisen erhalten kann!
.Traut keiner Lehre, die das höchste
Vorrecht des Menschen abhängig macht
von der Art seiner leiblichen Speise oder
von fakirhaften „Übungen”.
.Alles das führt euch nur zu neuen Träu‐
men und senkt euch noch tiefer in den
Schlaf, dem ihr entrinnen wollt!
Wer wirklich erwachen will, der glaube
an sich selbst!
56 Mehr Licht
.Wer wahrhaft, als ein „Auferstandener”
die Welt der Wirklichkeit betreten will,
der prüfe, allein mit sich, in seinem Her
zen meiner Worte Wahrheit, und handle
dann beharrlich nach der Lehre, die ich
ihm verkünde!
.So wird er Herr seines ewigen Schick‐
sals werden!
.So werden sich ihm die Pforten der
Tempel lichten Erkennens öffnen, die ihm
heute noch verschlossen sind, weil nur der
in sich selbst Erwachte in sich selber die
Schlüssel zu ihnen findet.
.Geistige Helfer werden ihm jederzeit
geistig nahe sein, so oft er ihre Hilfe
braucht!
.Sie werden ihm aber immer nur dort
57 Mehr Licht
allein zu helfen vermögen, wo es um
sein geistiges Erwachen geht, und um
die durch sein Erwachen bedingte, ewig‐
gültige Selbstformung seiner Seele.
.Unnütz und sinnwidrig wäre hingegen
jedes Vertrauen auf geistige Hilfe, wo
immer des Erdenmenschen eigene Kräfte
ausreichen und von ihm gebraucht werden
wollen, um sich in Tat und Wirken entfal‐
ten zu lernen.
.Den, der des Schlafens müde geworden,
sich seiner eigenen Kräfte erinnert, wird
man am ehesten im Geiste zum Erwachen
bringen können!
58 Mehr Licht
DIE BAUMEISTER
AM DOME DER MENSCHHEIT
Es gibt auf dieser Erde eine kleine An‐
zahl rein geistig verbundener Männer, ‒
einen im Ewigen statuierten Konvent, ‒
der schon Jahrtausende hindurch in stiller
Verborgenheit wirkt und doch auf geisti
gen Wegen ‒ ohne das gesprochene oder
geschriebene Wort ‒ alle Menschen zu er‐
reichen vermag, deren innere Seelenkul‐
tur durch eigene Arbeit an sich selbst so‐
weit gefördert wurde, daß die Strahlen
geistigen Lichtes, die von dieser, nur aus
dem ewigen Geiste her wirkenden verbor‐
genen Gemeinsamkeit ausgehen, ihre Her‐
zen erfüllen können.
.Dem Menschen der westlichen Welt mag
das verwunderlich und aller Zweifel wert
erscheinen, während der Orientale ‒ dem
auch ihm verborgenen geophysikalisch be‐
stimmten metaphysischen Kraftfelde des
geistigen Wirkens dieser Gemeinsamkeit
räumlich näher ‒ eher an dem Dasein der
61 Mehr Licht
Sonne zu zweifeln geneigt wäre, als daß er
zweifeln könnte an dem, was jeder Unter‐
richtete dort über das Wirken jener Weni‐
gen weiß und des öfteren auch selbst er‐
fahren hat.
.Auch im Abendlande hüteten Menschen
in stiller Verborgenheit ‒ schon seit den
Tagen der Edda ‒ inneres Wissen um sol‐
che geistige Wirklichkeit. Wenn sie auch
nicht überall so klar zutage trat, wie in der
Sage vom heiligen Gral und seiner Ritter‐
schaft, so war doch das ganze abendländi‐
sche Mittelalter erfüllt von hoher Kunde
aus einem erhabenen Kreise Gottesverein‐
ter, so daß dieser Kunde Spuren in Sage,
Volksglaube und Poesie allenthalben auf‐
zufinden sind.
.In neuerer Zeit war es ein ausschließlich
religiös eingestellter Kreis mystische Tra‐
dition Erforschender, der von den „weisen
62 Mehr Licht
Männern des Ostens” wußte, und seit
einem halben Jahrhundert sprechen soge‐
nannte „theosophische” Bücher von „Ma
hâtmas” und deren Gemeinschaft in einer
weißen Loge”, wenn auch die Wenigen
die man unter diesen Namen zu kennen
meint, sehr ferne den Lehren solcher Bü‐
cher stehen, und weder eine Freimaurer
loge oder einen ähnlichen Zirkel, noch
eine geheime Gesellschaft bilden, sondern
eine rein geistige Gemeinsamkeit sind, ‒
mit keiner anderen Menschenvereinigung
irgendwie vergleichbar.
.Gerade der Kunde von „theosophi‐
scher” Seite aber verdanken die Glieder
dieser geistigen Gemeinsamkeit einen my‐
steriösen Ruf, den sie niemals selbst ver‐
ursacht haben, und in dem sie nur ein ver‐
ächtliches, phantastisches Zerrbild ihrer
selbst zu erkennen vermögen.
63 Mehr Licht
.Man hat aus ihnen eine Art von Zaube
rern gemacht, oder man stellte sie als
Halbgötter dar, angefüllt mit einem natur‐
wissenschaftlichen „Wissen”, das ihnen in
Wirklichkeit ganz gleichgültig ist, ‒ man
begabte sie großzügig mit göttergleicher
Allwissenheit, in Bezug auf die Gescheh‐
nisse der Erde, und verschrieb ihnen eine
fast unumschränkte Macht über Geist und
Materie.
.Man glaubte sich zu alledem berechtigt,
denn es hatten sich zu Beginn der Bewe‐
gung, die zum erstenmal im Abendlande
von „Mahâtmas” als bestaunenswerten
Übermenschen sprach, gewisse Dinge zu‐
getragen, seltsam genug, um von Unwissen‐
den auf „Halbgötter” zurückgeführt zu
werden, und man glaubt in hypnotischer
Gebundenheit, die Urheber jener Begeb‐
nisse und die „weisen Männer des Ostens
seien identisch miteinander.
64 Mehr Licht
Die wirklichen „Mahâtmas”, wenn man
mit diesem in Indien als Ehrentitel viel‐
gebrauchten und abgegriffenen Worte
noch weiterhin auch Angehörige des Krei‐
ses im ewigen Urlichte Leuchtender die
sich in einem Erdenmenschendasein offen‐
baren, bezeichnen will, haben aber nie‐
mals „geistige Bewegungen” ins Leben
gerufen, oder Vereinigungen zu gründen
versucht, indem sie mit Fakirkünsten
und vorgeblicher wissenschaftlicher All
wissenheit auf die Menschen einzuwirken
suchten.
.Sie betrachten das ungestüme Wissen
wollen westlicher Wissenschaft als eine Art
geistigerVivisektion” und sehen den
Wissenstrieb des Menschen nur dort in ge‐
ordneten Bahnen, wo er den Umkreis sei‐
ner durch das erdenmenschliche Dasein
normalerweise bedingten Erfahrungswelt
nicht überschreitet.
65 Mehr Licht
.Ihr geistigesWissen” ist ganz anderer
Art: ‒ ist eine absolute Gewißheit der
Seele in geistigen Dingen, und hat mit
wissenschaftlicher Erkenntnis nicht das
allermindeste zu tun.
.Zwar ist es ihnen erdenmenschlich er‐
wünscht, daß, wer zu ihnen gehört, auch
einen verstandesmäßigen Einblick hat in
die irdischen Gebiete, die mit dem Ver‐
stande zu fassen sind: ‒ sie erwarten also,
daß jeder der Ihrigen einigermaßen über
die Allgemeinbildung seiner Zeit und sei‐
nes Volkes verfüge ‒ aber dem strengen
Sinn ihrer rein geistig bestimmten Ge‐
setze nach könnte auch jeder Hirte, der
nicht einmal seinen Namen zu schreiben
vermag und fern aller Kultur aufwuchs,
einer der Ihrigen sein, vorausgesetzt, daß
er dazu geboren ist, denn der „Meister”
wird nicht „gemacht”, so wenig, wie man
66 Mehr Licht
aus einem künstlerisch Unbegabten ein
künstlerisches Genie machen kann.
Es erübrigt sich eigentlich, zu betonen,
daß ein „Meister” des hehren Kreises, den
die groteske „Theosophie” der letzten
Jahrzehnte als „Weiße Loge” bezeichnete,
‒ ein wirklicher „Mahâtma”, ‒ in des
Wortes wahrer Bedeutung: ein „Groß
beseelter”, oder: eine „Große Seele”, ‒
an jedem Orte der Erde geboren werden
kann, nicht etwa nur in Indien, China
oder Tibet, und daß es an sich völlig gleich‐
gültig ist, ob er in früheren oder in spä
teren Lebensjahren in Konnex mit dem
Zentralpunkt „aller Brüder auf Erden”
kommt, ob er als Jüngling oder als Greis
die Spiralen der geistigen Schulung durch‐
läuft, die ihn eines Tages erwachen läßt
als legitimen Nachfolger und Erben eines
67 Mehr Licht
dahingegangenen Meisters, der auch wei‐
terhin bei der Erde bleibt, dergestalt, daß
er nun sich mit dem Geiste seines Nach‐
folgers vereinigt und ihm so seine bereits
vollendete Meisterschaft überträgt.
.Erst dann ist der zum Meister Geborene
auch de facto „Meister”, erst dann ist er
sich seines Priestertums „nach der Ord‐
nung des Melchisedek” bewußt. ‒
.Im Laufe seiner Entwicklungsjahre hatte
er vorher die verschiedensten Phasen ok‐
kult-geistiger Möglichkeiten zu durchlau‐
fen, so wie das Kind im Mutterleib alle
Stadien der Lebewesen durchläuft, die
unterhalb der Stufe des irdischen Men‐
schen liegen.
.Auf diese Weise stand der noch Un‐
vollendete auch einmal an einem Ent‐
68 Mehr Licht
scheidungspunkte, der es ihm freistellte,
zum Fakir oder zum geistigen Meister zu
reifen. ‒
.Er hatte Kräfte in sich entdeckt, die es
ihm bald leicht gemacht haben würden,
die unerhörtesten scheinbaren „Wunder”
zu vollbringen, und die Versuchung, auf
der Stufe des Fakirs zu verharren, war
groß für ihn. Dadurch, daß er die Kraft
besaß, dieser Versuchung zu widerstehen,
bezeigte er sich als einer der überaus sel‐
tenen, wirklich Erwählten, aber er hatte
damit auch auf die okkulten Fakirkräfte
seiner Natur ein unverletzbares Siegel
gedrückt, durch das sie für alle Zeiten ge
bunden bleiben, falls nicht der im sub‐
stantiellen, reinen Geiste verharrende, ur‐
heilige „Älteste” der Brüder auf Erden
dem späteren Meister geistig erlaubt, die‐
ses Siegel zu entfernen, was aber nur in
69 Mehr Licht
vielen Jahrtausenden vielleicht einmal ge‐
schieht, und nur im Dienste einer Mission,
die auf gar keine andere Weise zu erfüllen
wäre.
.Um aber durch die Beihilfe eines wirk‐
lichen Meisters eine „Bewegung” ins Le‐
ben zu rufen, wie sie von der Begründerin
der „Theosophischen” Gesellschaft unter
Berufung auf ihre vermeintlichen „Mei‐
ster” ausging: ‒ um die von jedem Fakir
und jedem Zauberer-Lama verlachten al‐
bernen spiritistischen Tassen- und Brief‐
kunststückchen ausführen zu können, die
sich in der Nähe dieser abnormen Frau an‐
geblich abspielten, wird diese Erlaubnis
natürlich nie und nimmer gegeben! Ich
hoffe, man wird meine Ironie verstehen! ‒
.Es ist fast unbegreiflich, daß ernsthafte
Männer von den berichteten Phänomenen
70 Mehr Licht
völlig überwältigt, allen Ernstes zu dem
Glauben gelangen konnten, eine nicht nur
ethisch hochstehende, sondern auch ganz
im geistigen Leben des Kosmos wurzelnde,
rein geistige Gemeinschaft gäbe sich zu
derlei Firlefanz her, nur um ihre „Souve‐
ränität über die Naturgesetze” auf solche
triviale Weise zu zeigen.
Die Kräfte, über die ein geborener und
in seinem Irdischen zur Vollendung ge‐
langter Leuchtender des Urlichts auf die‐
ser Erde verfügt, ‒ ein wirklicher „Mei‐
ster” der geistigen „weißen Loge”, ‒
wenn wir diese nun einmal geläufig ge‐
wordene Bezeichnung, trotzdem sie rein
willkürlich ist, als Notbehelf beibehalten
wollen ‒ würden sich schwerlich eignen,
um damit äußere Phänomene zu bewir‐
ken, durch die er in Konkurrenz mit dem
71 Mehr Licht
erstbesten entwickelten Fakir zu treten
vermöchte.
.Im äußeren Leben auf dieser Erde ist
jeder wirkliche geistige Meister den glei
chen Naturgesetzen unterstellt, wie alle
übrigen Menschen, und hat längst frei‐
willig darauf verzichtet, die Kräfte zu ge‐
brauchen, durch die er als erklärter oder
geheimer Fakir in den Ruf eines Wunder‐
täters hätte gelangen müssen.
.Um den Preis dieses Verzichtes hat er
allerdings eine Kraft erlangt, die, wie die
Königin in einem Bienenstock, unzählige
andere Kräfte unter sich vereinigt, die
alle durch sie nur dem Willen des Mei
sters dienen, und allen anderen zum Ver
derben gereichen müßten.
.Diese hohe Kraft und die ihr unterge‐
ordneten Kräfte wirken zwar zurück bis
in die äußere physisch-sinnliche Erschei‐
72 Mehr Licht
nungswelt, obwohl ihr Ursprung hier
nicht mehr wahrgenommen wird, allein
die Wirkungsebene, auf der diese Kräfte
durch einen wahren geistigen Meister in
Tätigkeit gesetzt werden können, ist allen
verschlossen, die nicht wie er als Leuch‐
tende des Urlichts geboren und in jahre‐
langer Schulung vollendet wurden.
.Nur unbewußt reicht jeder Menschen‐
geist auf dieser Erde in jene hohe Sphäre
hinein, und so ergibt sich die Möglichkeit,
von dorther alle Menschen zu erreichen.
Während aber bei den meisten Menschen
eine Inspiration in jener Sphäre völlig
wirkungslos bleibt, weil ihre höheren
geistigen Organe in einer Art Totenstarre
verharren, gibt es doch auch in jedem
Zeitalter eine große Anzahl, bei denen die
73 Mehr Licht
geistigen Organe höherer Art bereits in
Tätigkeit sind, auch wenn diese Tätigkeit
von dem Gehirnbewußtsein des irdischen
Menschen noch nicht registriert wird.
.Diese Vorgeschrittenen, die durch eige
ne Arbeit an sich selbst bereits eine Art
spontaner, unwillkürlicher Tätigkeit ihrer
höheren geistigen Organe erzielten, bil‐
den, ‒ obwohl auch sie es in ihrem irdi‐
schen Gehirnbewußtsein nicht wissen, ‒
die eigentliche Gemeinde derer, die den
geistigen Einfluß der „Meister”, der im
Urlicht Leuchtenden, erfahren.
.Bewußt wird dieser Einfluß erst dann,
wenn die höheren geistigen Organe eines
solchen Menschen genügend entfaltet sind
und wenn der Wille, aus der Latenz er‐
wacht, die Inspirationen, die er aus seinem
höheren Geistesbereich empfängt, stets so
74 Mehr Licht
ehrlich durchzuführen bestrebt ist, daß
die Gefahren, die einen Unvorbereiteten
beim Erwachen der höheren geistigen Or‐
gane bedrohen, bei ihm als ausgeschaltet
gelten können.
.Es ist nur ein Schutz, den die Natur den
Hilflosen gewährt, da ja Menschen nicht
mit völlig erwachten höheren Geistes‐
organen zur Welt kommen, wenn sie die
Bedingung stellt, daß diesem Erwachen
erst eine jahrelange ausdauernde Arbeit
an sich selbst vorausgehen muß, und daß
der zum Erwachen Dringende nicht wirk‐
lich zum Erwachen kommt, bevor er die
Prüfungen bestand, die seine moralische
Widerstandskraft gewährleisten.
.Wäre das nicht, dann würden die höhe‐
ren geistigen Organe des Menschen, die
seine höchste Glückseligkeit bedingen,
75 Mehr Licht
ihm nur dazu dienen, in absoluter Ver‐
zweiflung und Hoffnungslosigkeit sich
selbst geistig zu vernichten, ohne daß der
Verzweifelnde auch nur ahnen würde, wo
zu er sie gebrauchte.
Man glaube aber auch hinwiederum nicht,
daß jene, die zwar noch nicht „erwachten”
und dennoch schon den geistigen Einfluß
der „Meister” empfangen, diesen Einfluß
in gar keiner Weise empfinden könnten.
.Wohl wird er empfunden, aber man
ahnt seine Ursache nicht und deutet zu‐
meist auf eine platt rationalistische Art,
oder befangen in abergläubische oder reli‐
giös gefärbte Vorstellungen, was man le‐
diglich dem Einfluß der „älteren Brüder”
auf hochgeistiger Ebene zu danken hat.
76 Mehr Licht
.Dieser Einfluß besteht nicht, wie man
meinen könnte, in der Eingebung beson‐
derer Ideen aus der Erkenntniswelt der
geistigen Meister, wenn auch ein solcher
Einfluß bei höher entwickelten Indivi‐
duen nicht absolut ausgeschlossen ist, son‐
dern er erstreckt sich zumeist lediglich auf
eine Kräftezuleitung, ‒ auf geistig ver
anlaßte Hilfe, ‒ die den betreffenden
Menschen in den Stand setzt, durch seine
geistigen höheren Organe solcher Dinge
innezuwerden, die in der Richtung seiner
eigenen höheren Impulse liegen.
Es wurde gesagt, daß die Meister „jedes
Volk und jeden Einzelnen” geistig zu er‐
reichen wissen, aber wenn auch schon
ganze Völker unter ihrem lange dauernden
Einfluß standen, so geschah dies nur, weil
diese Völker auffallend viele Einzelne her‐
77 Mehr Licht
vorgebracht hatten, die in den Einflußbe‐
reich der Meister des Lichtes auf hoher
geistiger Ebene zu gelangen vermochten.
Man kennt auf seiten dieser rein geisti
gen Gemeinsamkeit weder Vorrechte noch
Vorurteile in Bezug auf „Volk”, „Nation
oder „Rasse”, insoferne es sich um Auf‐
nahmefähige geistigen Lichtes handelt.
Man hat es immer nur mit den Einzelnen
zu tun, aus denen alle diese irdisch ge‐
trennten Menschenkomplexe gebildet
sind. Die Zugehörigkeit zu Rassen und
Völkern oder zu deren Parteien ist auf
jener hohen geistigen Ebene, auf der die
Leuchtenden im Urlicht wirken, nicht nur
durchaus belanglos, sondern auch in kei‐
ner Weise mehr wirksam oder auch nur
erkennbar! Hier herrscht wirklich eine,
‒ allerdings rein geistige, ‒ „allgemeine
Bruderschaft” derer, die in diesen gehei‐
ligten Bereich gelangen konnten. Alles
78 Mehr Licht
Destruktive bleibt ihm schon aus eigener
Abneigung fern und wäre ihm niemals
assimilierbar.
Jedoch gibt es in diesen hohen geistigen
Sphären nur insoweit „Freiheit”, als sie
durch die Einordnung in die Bindungen
des kosmischen Gesetzes sich erringen
läßt, während es niemals eine „Gleich
heit” gab noch geben wird, denn in die‐
sen Regionen herrscht allein das Gesetz
der Hierarchie, ein Gesetz, das jedem
Einzelnen mit unerbittlicher Notwendig‐
keit die ihm vorbehaltene Stelle anweist.
Der gotische Dom ist das vollkommenste
Abbild dieser hierarchischen, kosmischen
Ordnung! Während die Mauersteine nach
Tausenden zählen, verringert sich schon
die Anzahl der Steine, die zu Pfeilern
brauchbar sind, und der Fialen des Tur
79 Mehr Licht
mes werden weniger und noch weniger,
bis zuletzt ein einziger Stein die Kreuz
blume bildet.
.So verschiedenwertig aber alle diese
Steine auch sein mögen, so sind sie doch
alle zur Harmonie des Ganzen von glei‐
cher Notwendigkeit, und hierin allein
kann man einen Ausdruck der „Gleich‐
heit” sehen. Es herrscht eine absolute
Unterordnung, von der Kreuzblume und
den weithin sichtbaren Fialen des Tur‐
mes an bis zu den verstecktesten Stei‐
nen der Fundamente, die keine andere
Aufgabe haben, als das ganze Gebäude zu
tragen.
.Nicht anders ist es in der geistigen Welt,
deren ewige Harmonie nur durch die un‐
beirrbare Wirkung des hierarchischen Ge‐
setzes gesichert ist.
80 Mehr Licht
.Wenn wir das Bild des gotischen Domes
im anderen Sinne beibehalten wollen, dann
ist die verborgene geistige Aufgabe der
Leuchtenden im Urlicht, als Meister des
Tempelbaues, gewissermaßen: ‒ geistige
Hilfeleistung bei der „Steinmetzarbeit
der einzelnen an sich selbst arbeitenden
„Steine” die Hilfe brauchen bei ihrer
Selbstformung. ‒ Es wäre jedoch nutzlos,
daß sich ein geistiger, lebendiger „Stein”
beklagen würde, weshalb er nicht zu einem
Pfeilerstein oder einer Turmfiale werden
könne, während er vielleicht nicht zu ent‐
behren ist als einer der vielen Mauer‐
steine, die das Gewölbe des Domes nach
außen stützen.
Das „Wissen” des wirklichen Meisters der
kosmischen Baukunst, dem die ewigen
Baupläne vorliegen, ist ein absolut sicheres
81 Mehr Licht
Seelenwissen, kein Erschließen und kein
Errechnen, kein Wissen im Sinne einer
irdischen Wissenschaft.
.Ein Beispiel möge das verdeutlichen. ‒
Jeder Mensch mit gesunden Augen weiß,
daß er bei geöffneten Augenlidern zu se‐
hen vermag.
.Der Vorgang, den wir „Sehen” nen‐
nen, ist aber, wissenschaftlich betrachtet,
äußerst komplizierter Art, und es gehört
eine Menge Denkarbeit dazu, ihn soweit
zu begreifen, wie er gedanklich erfaß‐
bar ist.
.Die Meister halten es in diesem Falle
mit dem allernaivsten Menschen oder dem
Kinde...
.Sie wollen nicht mehr und nicht weniger
als sehen können, und es genügt ihnen zu
„wissen”, daß sie sehen.
82 Mehr Licht
.Die irdisch-wissenschaftliche Untersu
chung dieses Vorganges ist für ihre über‐
materielle Welt in jeder Weise belanglos,
aber sie wäre darüber hinaus noch aus‐
gesprochen schädlich und in höchstem
Grade verwerflich, denn da hier Tätigkeit
und Untersuchung der Tätigkeit nicht wie
im irdisch-wissenschaftlichen Prozeß des
Erkennens zu trennen sind, so würde
durch die Untersuchung die Tätigkeit
selbst unmöglich gemacht.
.Mit anderen Worten: auf rein geistigem,
überweltlichen Gebiet läßt sich nur bei
vollkommenster Naivität absolut sichere
Erfahrung gewinnen, und sehr vieles, was
irdischer Wissenschaft so wichtig erscheint,
daß sich gläubig-fromme Wissenschafter zu
der Hoffnung verstiegen, es müsse wohl
im „Jenseits” auf alle ihre Fragen „rest
lose Aufklärung” geben, wird auf gei
83 Mehr Licht
stiger Ebene nicht nur als wissensunwert,
sondern als verderblich betrachtet.
.Man sieht dort in jeder analytischen
Wissens-Sehnsucht nichts anderes als das
Unheil, das den Menschen aus dem „Pa
radiese” jagte: ‒ man sieht darin einen
Ausdruck der Unvernunft, die nicht bes‐
ser handelt, als ein Mensch, der ein Uhr‐
werk, um seinen geheimen Mechanismus
zu ergründen, in scharfe Säuren legen
würde, damit es, in Atome aufgelöst, ihm
Aufschluß gäbe.
.Man weiß in jenen Sphären, daß jedes
analytische Wissen-Wollen zur entgegen
gesetzten Richtung führt, gegenüber dem
kosmischen Gesetz, das aus Kräftepunkten
im Chaos Formen werden läßt, deren wirk‐
liche Erklärung sich erst in höchsten gei‐
stigen Formen findet. Man weiß dort, daß
84 Mehr Licht
jede höhere Form die niedere durchleuch‐
tet, daß aber alles Schließen vom Niederen
aufs Höhere, auch wenn es in gewissen
Grenzen befriedigende Resultate zu ge‐
währen scheint, dennoch ein trügliches
Erschließen darstellt.
.Dies ist auch der Grund, weshalb es
keinem wirklichen geistigen Meister ein‐
fallen wird, dem Alltagsgeschehen seiner
Zeit, die für seine Zeitbegriffe stets nur
ein winziges Zeit-Atom bedeuten kann,
mehr Aufmerksamkeit zu widmen, als für
sein persönliches irdisches Leben gerade
unumgänglich nötig ist.
Atavistische okkulte Überbleibsel, wie
„Hellsehen” und ähnliches, sind bei sei‐
ner von Geburt an gegebenen Artung von
vornherein ausgeschlossen.
85 Mehr Licht
.Es gibt kein untrüglicheres Zeichen für
einen „falschen” Meister, mag er auch gu‐
ten Glaubens sich für einen geistigen Mei‐
ster halten, als wenn man etwa von ihm
weiß, daß er „Hellseher” ist.
.Jeder Hellseher sieht nur, bestenfalls,
verborgene Dinge, die in den Bereich
der unsichtbaren physischen Welt fallen.
Glaubt er Geistiges zu sehen, dann ist er
lediglich den Spiegelungen irdisch ent‐
standener Vorstellungsbilder erlegen, die
wie eine Fata Morgana von tausend und
aber tausend Bildern, die physische, nor‐
malerweise unsichtbare Aura dieses Pla‐
neten erfüllen.
.Es gab auch noch niemals einen wirk‐
lichen echten geistigen „Meister”, der in
irgendeiner Hinsicht etwa „allwissend
gewesen wäre! Alles, was abergläubische
86 Mehr Licht
Schwärmer oder gewissenlose Betrüger in
dieser Hinsicht zu jeder Zeit zu verbreiten
wußten, gehört in den Bereich der Fabel.
.Würde ein wirklicher geistiger Meister
in Dingen des irdischen Lebens unge‐
wöhnlichen Scharfsinn bekunden, so läge
das lediglich begründet in seiner persön
lichen menschlichen Begabung, denn nie‐
mals würde er in diesen Dingen okkulte
Hilfe in Anspruch nehmen können, ohne
das bindende Gesetz zu durchbrechen,
mit dessen absoluter Anerkennung aus
freiem Willen er steht und fällt. ‒
Auch ein geistiger „Meister” kann, soweit
sein Irdisches in Frage kommt, noch „fal
len”, aber auch er nur kann als Irdischer
die einzige „Sünde” begehen, für die es
keine Vergebung” gibt ‒ „die Sünde
87 Mehr Licht
gegen den heiligen Geist”, ‒ die in sei‐
nem Falle widerstrebendes, überhebliches
Ignorieren Dessen in ihm ist, was durch
ihn sich offenbaren will. Er verschwindet
dann aus der geistigen Welt, lautlos, wie
ein erloschener Stern versinkt im Welt‐
raum. Sein Name ist ausgetilgt aus dem
„Buche des Lammes”, das „sieben Siegel”
trägt.
.Gewiß kann das Ewige eines solchen
Verbrechers im Geistigen niemals mit sei‐
nem geistigen Selbstmord vernichtet wer‐
den, aber sein Individualbewußtsein löst
sich in Jahrtausende dauerndem Zerset‐
zungsprozeß allmählich auf im allgemei‐
nen planetarischen Bewußtsein, und sein
letztes individuelles Wissen um sich selbst
sagt ihm nur, daß er sich selbst verurteilt
hat, in qualvolle Nacht zu versinken.
.Er ist „Luzifer”, der gestürzte Leuch‐
88 Mehr Licht
ter, der vor dem Throne des Ewigen stand,
und es ist wahrlich keine „Erfindung
herrschsüchtiger Priester”, daß es, so‐
lange die Erde Menschen tragen wird,
eine „Hölle” gibt, daß dieser Planet um‐
geben ist von einem Heer von „Teufeln”,
die nichts anderes sind, als gefallene „Got
tessöhne”, die nach ihrem Fall nicht Ruhe
finden können, bis der Abgrund des Chaos
den letzten Funken ihres Bewußtseins
verschlingt.
.„Der Teufel aber geht umher wie ein
brüllender Löwe und sucht, wen er ver‐
schlingen könne.” ‒
.Unter lebenden Menschen auf dieser
Erde haben sich diese Gefallenen Helfers‐
helfer verschafft, indem sie ihre Jünger
mit allen Fakirkünsten vertraut machten,
denen sie selbst einst abgeschworen hatten.
89 Mehr Licht
.Sie erhalten sie in dem Wahn, sie seien
nichtgefallen”, sondern über ihre ehe‐
maligen Brüder emporgestiegen, sie wüß‐
ten jetzt, daß deren selbstauferlegte Bin‐
dung an ewige Gesetze frommer Trug sei.
Alles, was auf Erden als teuflisch, böse
und gemein gilt, erklären sie ihren Schü‐
lern als erlaubt, und so erhalten sie bis
auf den heutigen Tag im Innern Asiens ein
satanisches Zerrbild der geistigen Gemein‐
schaft des Lichtes, ‒ einen Pfuhl schauder‐
hafter Greuel, dessen giftige Miasmen alle
niedrig stehenden Menschenrassen ver‐
seuchen, die aber auch auf der westlichen
Erdhälfte nicht wenige unbewußte Opfer
fordern. Hierher gehören auch die über
ganz Asien und andere Erdteile verbreite‐
ten Geheim-Bünde, Bruderschaften und
geheimen Sekten, denen der Mensch aus
religiösen Gründen als ein Nichtseinsol
lendes gilt, die aber charakteristischer‐
90 Mehr Licht
weise in erster Linie die Ausrottung des
weißen Menschen anstreben.
Ich weiß wohl, daß sich so mancher Leser
noch mehr gegen diese Mitteilungen sträu‐
ben wird, als gegen das, was ich von
der nun einmal so bezeichneten „weißen
Loge” sagte.
.Er wird hier den „Aberglauben alter
Religionen” in neuem Gewande wittern.
.Aber die Lehrer der alten Religionen,
die Priester der alten Kulte, waren zum
großen Teil „Wissende”, und so verhält
sich die Sache umgekehrt, indem jene al‐
ten Darstellungen ein mehr oder weniger
verschleiertes Wissen um die Wirklichkeit
bergen.
91 Mehr Licht
.Ich trage hier nicht Phantasien vor und
erzähle keine Märchen! Ich spreche nur
von Tatsachen, die nicht dadurch aus der
Welt zu schaffen sind, daß man ihre Tat‐
sächlichkeit leugnet.
.Des wirklichen geistigen Meisters unbe‐
streitbares Vorrecht gegenüber anderen
Menschen ist eine absolute Erfahrungs
sicherheit in rein geistigen Dingen und
seine Macht, auf hoher geistiger Ebene Be
dingungen zu schaffen, durch die in nie‐
deren geistigen Sphären bis herab zu der
unsichtbaren physischen Aura dieses Pla‐
neten nach Möglichkeit Unheil verhütet
wird.
.Der Kampf gegen seine ehemaligen Brü‐
der, die in ihrem „Falle” alles mit sich
reißen möchten, was sie erreichen können,
ist eine seiner vornehmsten Aufgaben.
92 Mehr Licht
.Da aber dieser Kampf niemals angrei
fend, sondern stets nur durch Verhinde
rung der Anschläge geführt werden kann,
wird die Aufgabe in demselben Maße er‐
leichtert, in dem es gelingt, Menschen auf
die Gefahr aufmerksam zu machen.
.Die Menschen der heutigen Zeit würden
aber niemals die Gefahren, die sie unsicht‐
bar umdrohen, ernst zu nehmen vermö‐
gen, solange der ganze geistige „Meister”
Begriff derart ungeklärt und problematisch
bleibt, wie das bis jetzt der Fall war.
.Solange dem gesunden Menschenver‐
stand noch zugemutet wird, an „Meister”
zu glauben, die auf dieser Erde leben und
gleichzeitig als Halbgötter über dem Le‐
ben des Menschen stehen, solange man
noch an „Mahâtmas” glauben soll, die je‐
93 Mehr Licht
den indischen Fakir noch an Trivialität
ihrer Produktionen überbieten, solange
man gar in der Bruderschaft der Leuch‐
tenden eine „Große Schule der Natur‐
wissenschaft” sehen soll (die natürlich un‐
endlich „mehr” weiß als alle Vertreter der
Naturwissenschaft an unseren Hochschu‐
len!), solange kann man es keinem ernst‐
haft Denkenden übelnehmen, wenn er nur
ein mitleidiges Lächeln für die Kunde von
einer solchen Gemeinschaft bereit hat.
.„Geheimnisvoll am lichten Tag” bleibt
trotzdem Vieles, was den vollendeten ech‐
ten geistigen Meister angeht, und man hat
nicht nötig, seine Existenz mit bedenk‐
lichen mysteriösen Schleiern zu drapieren.
Im äußeren Leben ist er ein Mensch wie
jeder andere und darf niemals seine rein
94 Mehr Licht
geistigen Möglichkeiten zur Erhöhung sei‐
nes äußeren menschlichen Lebens miß‐
brauchen.
.Er ist auch keineswegs etwa infolge sei‐
ner Geistigkeit ein menschliches „Genie
oder gar ein „Heiliger”.
.In seinem äußeren Menschenleben wer‐
den ihn nur sehr geübte Augen zu erken‐
nen vermögen.
.Hier ist er ein Mensch und nichts weiter!
.Erst auf geistiger Ebene beginnt seine
„Meisterschaft”, und daß er, als ein irdi‐
scher Mensch, es vermag, gleichzeitig in
beiden Regionen bewußt zu sein und auch
in der geistigen Welt handelnd aufzu‐
treten, das dankt er dieser Meisterschaft,
die ihm angeboren ist, und seinem mensch‐
95 Mehr Licht
lich gefestigten Willen, der ihn vom einem
gewissen Tage an befähigte, die Spiralen
geistiger Schulung bis zur Vollendung auf
geistigem Gebiete zu durchlaufen, trotz
aller äußeren und inneren Gefahren und
Hindernisse.
.Geheimnisvoll im äußeren Leben, ‒
und zwar auch für die Beteiligten selbst, ‒
bleibt die ständige geistige Verbindung
zwischen einzelnen Meistern, mögen sie
auch an den entgegengesetzten Enden der
Welt leben, und die Verbindung aller
Meister mit ihrem verborgenen irdischen
Zentralpunkt im Innern Asiens. Aber kein
wirklicher Meister würde hier jemals den
Schleier lüften, auch wenn es ihm möglich
wäre, und alle die schönen Erklärungen
okkultistischer Bücher, alles Heranziehen
des Allerweltsbegriffes „Telepathie” kön‐
nen niemals die „Methode” einem Men‐
96 Mehr Licht
schen begreiflich machen, der sie nicht
selbst auszuüben imstande ist. Einem sol‐
chen aber genügt es völlig, daß er sie aus‐
üben kann, und er wird niemals in Ver‐
suchung kommen, sie, und sei es auch nur
für sich selbst, „wissenschaftlich” erklären
zu wollen.
.Allen anderen aber möge es genügen,
zu wissen, daß ein wirkliches Glied der
„weißen Loge”: ‒ also ein wirklicher
Leuchtender des Urlichtes ‒ auch durch
Wort und Schrift niemals etwas in Bezug
auf rein geistige Dinge lehren wird, ohne
völlige Übereinstimmung mit seinen Brü‐
dern und mit seinem wie ihrer aller geisti‐
gen Oberhaupt im ewigen Urlicht.
.Nur für geistige Dinge besitzt ein
geistiger „Meister” absolute Gewißheit!
In allen anderen Angelegenheiten und
97 Mehr Licht
menschlichen Wissenszweigen hängt seine
Glaubwürdigkeit lediglich von seiner Er‐
fahrung und seinem alltäglicherweise er‐
lernten Wissen und Können ab. ‒
.Möchten diese Erläuterungen dazu die‐
nen, in den geistigen Augen der Menschen
meiner Zeit einen „blinden Punkt” aus‐
zutilgen, der die Ursache ist, daß jedes
Weltbild lückenhaft bleiben muß, wie sehr
es auch im übrigen logisch gefügt und har‐
monisch vollendet erscheinen mag!
.Möge einigen, die „das Licht” zu suchen
unternehmen, das Vertrauen erleichtert
werden, daß ihr Weg behütet ist ‒ „von
den Meistern des lichten Tages”, den Bau‐
meistern am Dome der Menschheit, denen
der Meister aller Meister die Maßeinheit
des „Ecksteins” zu eigen gab, der alle gei‐
stige „Maßgerechtigkeit” in sich enthält!
98 Mehr Licht
THEOSOPHIE
UND PSEUDOTHEOSOPHIE
ZUR GESCHICHTE
EINER WORT ‒ ENTWERTUNG
Wenn es den Menschen der westlichen
Welt in ihrer Gesamtheit einmal möglich
würde, die mancherlei Narkosen abzu‐
schütteln, die ihnen jede dauernde, klare
Selbstbesinnung rauben, dann müßte ein
Schauder des Entsetzens sie ergreifen bei
der Erkenntnis der grauenvollen Finster‐
nis, die sie umgibt in Bezug auf geistiges
Wissen.
.Zwar herrscht auf dieser Erdhälfte an‐
geblich das „Christentum” und seine An‐
hänger fußen auf den Schriften der vier
Autoren, die man die „Evangelisten” nennt,
die Bringer der „frohen Botschaft” und
des Lichtes zur Erleuchtung der „Hei‐
den”...
.Nun lassen aber die Schreiber dieser
„Evangelien” ihren hohen Meister also
sprechen zu seinen Jüngern:
101 Mehr Licht
.Euch ist es gegeben die Geheimnisse
des Reiches der Himmel zu erkennen, den
anderen wird alles nur in Gleichnissen,
damit sie sehen und doch nicht sehen,
hören und nicht verstehen!”
.Ein hartes und furchtbares Wort, wenn
alle Menschen ‒ wie man so gerne meint
‒ „vor Gott gleich” wären, wenn „die
andern” demnach etwa ein Anrecht hät‐
ten, in gleicher Weise „die Geheimnisse
des Reiches Gottes” zu ergründen?! ‒
.Aber die heiligen Bücher, auf denen
alle christliche Lehre sich aufbaut, wissen
nichts von dieser „Gleichheit vor Gott”.
‒ Sie unterscheiden mit Schärfe und
Deutlichkeit: „Kinder dieser Welt” und
„Kinder des Lichtes”. ‒
.Sie lassen ihren Meister davor warnen,
102 Mehr Licht
daß man „das Heilige den Hunden” vor‐
werfe und „Perlen vor die Schweine”
schütte... Vergleiche, die gewiß deutlich
genug sind, um ihn nicht in der Meinung
befangen zu zeigen, alle Menschen seien
„vor Gott gleich”!
.Die alten Berichte über sein Leben und
Sterben lassen ihn schweigen auf die Frage
des Pilatus: wer er sei; doch denen, die
erkannt hatten, was „Fleisch und Blut
nicht offenbaren” konnte, gibt er in Ho‐
heit die Bestätigung und spricht zu ihnen:
.„Ihr nennt mich Meister, und ihr habt
recht, denn ich bin es!”
Wo sind nun aber in den vier Schriften,
die man die „Evangelien” nennt, die Worte
zu finden, die dieser Meister allein zu sei
103 Mehr Licht
nen Vertrauten, zu den von ihm Auserle
senen, gesprochen hätte??
.Es finden sich zwar Worte, die auf
eine den Jüngern allein bekannte Lehre
schließen lassen, aber die Lehre selbst
wird man vergeblich suchen.
.Die Kirche Roms ist gewiß nicht im
Unrecht, wenn sie die Lehre des Meisters
von Nazareth nicht nur auf dem „Schrift
wort”, sondern auch auf der „Tradition
begründet sehen will, allein: ‒ ist diese
„Tradition” nicht längst verschüttet und
entstellt, ‒ auch wenn wirklich vielleicht
noch da und dort die letzten Spuren ihres
Daseins bis in diese Tage reichen?
Man sagt, der Meister der Evangelien
habe keinerlei schriftliche Aufzeichnung
gemacht und hinterlassen.
104 Mehr Licht
.Es steht jedermann frei, mir Glauben zu
schenken oder nicht, wenn ich sage, daß
auf diesem kleinen Planeten Menschen
leben, die mit aller jede sonstige Gewiß
heit übersteigenden Sicherheit wissen,
daß der Meister von Nazareth Aufzeich
nungen seiner geheimen Lehren hinter‐
ließ: ‒ daß die letzten davon noch bis zur
Zeit der Christenverfolgungen existierten
und in Rom von getreuen späteren Jün‐
gern vernichtet wurden, um sie nicht in
die Hände der „Heiden” gelangen zu las‐
sen, ‒ sowie, daß im „Johannes”-Evan
gelium große Teile dieser eigenhändi‐
gen Schriften auszugsweise wiedergegeben
sind, soweit sie in verhüllter Sprache spre‐
chen und als mündliche Worte in den Text
verarbeitet werden konnten.
.Die dieses wissen, wissen auch, daß die
eigenhändigen Schriften des Meisters in
105 Mehr Licht
mancher Abschrift verbreitet waren, und
daß Auszüge daraus sich auch noch in an‐
deren Schriften fanden, außer dem auf
uns gelangten Evangelium, das den Namen
„Johannes” trägt.
Damit erschöpft sich das Wissen dieser
Wenigen, soweit es sich auf den Meister
der Evangelien bezieht, durchaus nicht;
aber auch sie sind, wie die ersten seiner
Jünger, einem Gesetze verpflichtet, das
sie als Geheimnis wahren läßt, was nicht
allen gegeben werden kann. ‒ Auch reden
sie zu „den andern” nur in „Gleichnissen”
und verhüllenden Symbolen. ‒
.Sie sind die mit jeder Generation er‐
neuerten Bewahrer eines heiligen Schat‐
zes, der durch sie auf diesem Planeten
erhalten bleibt: ‒ die wahrhaften „Ritter
106 Mehr Licht
des heiligen Gral” der Sage, ‒ Aus‐
übende eines geistigen Dienstes zu dem
nur sehr wenige Menschen in jeder Ge‐
neration befähigt sind, da nur sehr wenige
jeweils dazu geboren werden.
.Man muß aber „dazu geboren” sein,
wie ein Mensch dazu geboren sein mußte,
Mozart, ein anderer, Beethoven zu sein,
und ein Mensch, auch nicht durch allen
Fleiß der Welt etwa ihresgleichen „wer‐
den” könnte.
.Die hier nun gemeinten Männer ‒ un‐
ter denen in Jahrtausenden nur selten
einer europäischen Blutes zu finden war ‒
sind zu jeder Zeit die einzigen, die jenes
geheime „Wissen” in höherem oder auch
geringerem Grade besitzen, das der Mei‐
ster der Evangelien besaß, und er besaß
es nur, weil er einer aus ihnen war. Er
107 Mehr Licht
wußte aber auch, daß es einen „Andern”
gab, dem er, in gleicher Weise wie seine
geistigen Brüder, alles verdankte, und
von dem er ehrfürchtig selbst bekannte,
daß dieser „größer” sei als er, der von
ihm sprach. ‒
.Er konnte den Seinen bei ihm „Woh‐
nungen” bereiten, und er hat sie bereitet,
ja er selbst lebt in seiner geistigen Form
noch heute unter denen, die seines „Va‐
ters” Söhne sind, denn diese, dem ewigen
Geiste eingeborenen Menschen sind auch
nach dem Vorgang, den man den Tod
des Körpers nennt, im freien Besitz ihrer
Kräfte und nicht, wie „die andern”, den
Gesetzen des Planeten unterworfen.
.Sie sind die einzigen wahren geistigen
Meister” auf dieser Erde, die Leuchten
den des Urlichtes, die lebendigen Träger
108 Mehr Licht
des ewigen „Christos”-Geistes, die Trans‐
formatoren ewiger, göttlicher Weisheit in
erdenmenschliches Erfassungsvermögen...
.Wem das unglaublich erscheint, oder wer
seinen frommen Kirchenglauben dadurch
in Gefahr sieht, der möge es bezweifeln;
er wird aber an der ihm unbekannten
Tatsache nichts zu ändern vermögen.
.Die Tausende aus allen „christlichen”
Glaubensgemeinschaften, die in ihrer in‐
neren Seelenkultur über das eifernde Kir‐
chentum hinausgelangten und die wirk‐
liche Gegenwart ihres Meisters zu fühlen
glauben, huldigen keinem Wahn!
Man hüte sich aber, wie ich schon sagte,
vor der Annahme, die Leuchtenden des
Urlichtes, unter denen der Meister von
109 Mehr Licht
Nazareth noch heute in seiner Geistes
form auf dieser Erde lebt, seien etwa
gleichzusetzen mit den „Meistern”, von
denen gewisse, „theosophisch” genannte
Schriften zu erzählen wissen, oder gar mit
der schon erwähnten „Großen Schule der
Naturwissenschaft”, die in Amerika kre‐
iert wurde und den Stempel der Unecht‐
heit, neben allen hochtönenden, moralisch
tuenden Erklärungen ihres mittlerweile
entlarvten Erfinders für jeden Sehenden
an der Stirne trägt!
.„Es werden falsche Christi und falsche
Propheten kommen, die Zeichen und
Wunder tun, daß sie auch die Auserwähl
ten verführten, so es möglich wäre.” ‒
.„Die Kinder dieser Welt sind aber
in ihrer Art klüger, als die Kinder des
Lichtes.” ‒
110 Mehr Licht
Die „hne des Lichtes” die wirklichen
Vertreter der „Theo-Sophia” auf dieser
Erde, sind wahrhaft „Wissende”, aber die‐
ses Wissen ist anderer Art als das Wissen
irgendeiner Wissenschaft.
.Allem berechtigten Zweifel entgegen
muß ich bekennen, daß es ein solches ge‐
heimes „Wissen” für sehr Wenige auf die‐
ser Erde gibt!
.Es ist ein „Wissen”, das auf Gewißheit
durch Betätigung gegründet ist und zu
dem keiner kommt, der nicht von Geburt
an die Fähigkeit mitbringt, es praktisch
auszuüben, denn es ist kein Wissen „von
etwas, kein Wissen „über” etwas, sondern
besteht nur in einer permanenten Tat: ‒
in einem bewußten, lebendigen Einswer
den mit dem Gegenstand des Wissens
selbst.
111 Mehr Licht
.Der indische Weise Patânjali sagt dem
Sinne nach etwa: „So wie Wasser die Form
eines Gefäßes, in das man es schüttet, es
ausfüllend, annimmt, so nimmt der Geist
des Yogi die Form des Dinges an, das er
wissend durchdringen will!” (Daß er nicht
etwa die „Yogis” an Straßen und Tempel‐
pforten meint, versteht sich von selbst!)
.Der Zustand derer, die dieses „Wissen”
sich erwirken können, läßt sich bezeich‐
nen mit den Worten: „durch Selbstver
wandlung wissen”.
.Es gibt außer diesem geistigen „Wissen”
eine „Lehre”, die nicht in Worten „ge‐
lehrt” werden kann, ‒ die niemals in
einem Buche niedergeschrieben werden
konnte, weil auch sie einzig der Selbster‐
fahrung zugänglich ist, ‒ und die seit den
112 Mehr Licht
ältesten Tagen des zum Menschentum er‐
wachten Menschentieres, von Meistern,
die „durch Selbstverwandlung wissend”
waren, durch geistige Übertragung wei‐
tergegeben wurde.
.Auch zum Empfang dieser geheimen
Lehre” muß man von Natur aus geeignet
sein, aber es sind immerhin doch mehr
Menschen zum Empfang dieser Art von
Belehrung geeignet, als zum Wissen durch
Selbstverwandlung geboren.
.Es gibt ein innerstes, geheimes Reich
des Geistes und geistiger Gewalten, in der
geistigen Region unseres Planeten, dem
alle, die auf Erden leben, ihr Bestes dan‐
ken!
.Es gibt ein ewiges Vorleben vor dem
Eintritt des Menschengeistes in diese Welt
113 Mehr Licht
der Sichtbarkeit, und es gibt ein ewiges
Fortleben nach dem „Tode” des Erden‐
körpers!
.Es gibt geistige „Wunder”, die jedes
orientalische Märchen noch in den Schatten
stellen und doch Wirklichkeiten sind!
.Aber, was über alle diese Dinge in Wor‐
ten menschlicher Sprache gesagt werden
kann, und was durch eine erhabene Hier‐
archie geistiger Wesenheiten vom „Ur‐
licht” herab bis zu den „Leuchtenden”
auf Erden und durch sie in die Kanäle
menschlicher Sprachen floß, ist unsagbar
wenig gegenüber dem, was der „durch
Selbstverwandlung Wissende” seiner Er
fahrung verdankt, der von sich sagen
darf, wie der Meister der Evangelien:
„Alles, was der Vater hat, ist mein!” ‒
„Ich aber, und der Vater ‒ sind Eins!”
114 Mehr Licht
Die Gemeinsamkeit der Wenigen, die
„durch Selbstverwandlung wissend” sind,
ist die Darstellung des ewigen „Christos
auf dieser Erde, und der Meister der
Evangelien ist einer der höchsten Söhne
dieser geistigen Gemeinsamkeit der Leuch‐
tenden des Urlichtes, die allein den „Va‐
ter” kennen und also tun können, wie der
„Vater” sie lehrt.
.Die Kirchlichen seiner Zeit nannten
den geistigen Meister aus Nazareth einen
„Fresser und Weinsäufer”, denn sie konn‐
ten es nicht verstehen, daß ein Mensch,
der „aus Gott” sei, also mit den „Sün‐
dern” lebe, ohne die Gaben dieser Erde
zu mißachten.
.Sie wußten nichts davon, daß in ihm
„Das Reich der Himmel”, in dem er gei‐
stig lebte, ‒ nahe herbei gekommen war,
115 Mehr Licht
mitten in dieses Leben der Erde, und die
Erkenntnis des Kephas-Petrus war ihnen
fremd: „Herr, zu wem sollten wir gehen?
Du hast Worte des Lebens!”
.Aber der „Gottessohn” der Evangelien
dachte niemals daran, seine menschliche
Persönlichkeit als die einzige Trägerin
dieser Sohnschaft auf der Erde zu be‐
trachten.
.Erst seine späteren Ausleger haben seine
Worte derart mißverstanden, und in ihrem
Sinne gedreht und verdeutelt. ‒
.Unzählig sind die Irrtümer, die aus der
Nichterkenntnis des Christos-Mysteriums
stammen, und mancher irrigen Lehre hätte
man leichtlich wehren können, verstünde
man das Wort: „Ich bin die Tür; so jemand
durch mich eingeht, der wird selig wer‐
den.” ‒
116 Mehr Licht
.So aber wird der „Stein, der zum Eck‐
stein gesetzt ist, von den Bauleuten ver‐
worfen” und die Menschen suchen auf
falschen Wegen, da ihnen der Weg, der
Wahrheit” ist und „Leben”, nicht gang‐
bar erscheint.
In unseren Tagen erschien es der Welt als
ein Gebot der Gerechtigkeit, daß das Weib
dem Manne gleichgestellt werde, und die
Mahnung eines echten geistigen Schülers
seines Meisters, ‒ eines Schülers, der sein
Wissen durch „geistige Übertragung” er‐
halten hatte, ‒ das Weib solle „schwei‐
gen”: ‒ es solle nicht lehren in der Ge‐
meinde, da es weder durch „geistige Über‐
tragung” noch „durch Selbstverwandlung”
wissend werden kann, wurde als „veraltete
und unwürdige Auffassung vom Wesen des
Weibes” verlacht und verächtlich befunden.
117 Mehr Licht
.Mit dem ganzen Vollgewicht seiner ver‐
pflichtenden Erkenntnisbürde muß aber
jeder, dem durch „geistige Übertragung”
oder durch Selbstverwandlung „Wissen”
ward, trotz aller in heiliger Ehrfurcht vor
dem „Wesen des Weibes” begründeten
Verehrung der Frau, die Worte des Paulus
bestätigen, die auch heute noch zu Recht
bestehen und ihre Gültigkeit auch in Jahr‐
tausenden niemals verlieren können!
.Man hat nicht umsonst in Indien das
Linga und den Phallos im alten Hellas
zu allerheiligsten geistigen Symbolen er‐
hoben, ‒ und selbst die Menschen, die
auch nur wenig über das exoterische Wis‐
sen der alten asiatischen Kulte hinaus zum
höheren Verstehen kamen, haben doch er‐
kannt, daß man gewisse geheime, hohe
geistige Kräfte nur dann besitzen kann,
wenn man als Erdenmensch ‒ in natura ‒
118 Mehr Licht
besitzt, was diese Symbole darstellen.
Zwitterbildungen waren noch immer,
selbst von den äußerlichsten „Mysterien”
ausgeschlossen, und das Weib hatte stets
nur zu den Vorstufen allgemeiner Beleh
rung Zutritt, während nur der Mann zum
„Eingeweihten” werden konnte, obwohl
man auch Frauen wahrlich jederzeit gerne
gab, was sie zu tragen vermochten. (De‐
generierte Mysterienverbände, die bereits
Frauen aufnahmen, konnten das nur, weil
das wirkliche Mysterium von ihnen ent‐
weiht, und ihnen daher längst entzogen
worden war!) Alle höchsten Mysterien in
des Wortes erhabenstem Sinne, ‒ in wel‐
cher Form sie auch in der bisherigen
Menschheitsgeschichte aufgetreten sein
mögen, ‒ sind im Grunde reine, geistige
Sexualmysterien, und „Kundalini”, die
geistgewandelte Zeugungskraft, ist nicht
umsonst den Indern heilig als die höchste
119 Mehr Licht
der Yogikräfte, ‒ wenn auch die solcher
Wandlung Kundigen nicht unter den Yogis
zu suchen sind, die der Reisende sieht.
.Alle geistige Kraftbetätigung braucht
korrelative körperliche Organe, um über‐
haupt in diesem Erdenleben in Erschei‐
nung treten zu können.
.Ein weiblicher geistiger „Meister” ist
ein Widerspruch in sich selbst, weil eine
Frau die körperlich-geistige Vorausset
zung nicht mitbringen kann, die sie das
Wissen-Können” eines geistigen Mei‐
sters praktisch erwirken lassen würde, ‒
denn das verlangt die ausgeprägte und un‐
versehrte männliche sexuelle Artung! ‒
.Die Frau kann als Somnambule, als
Seherin geboren sein, aber niemals kann
aus ihr eine „Initiierte” werden.
120 Mehr Licht
.Ihre geistig höchste Stufe erreicht die
Frau ausnahmslos erst in nachirdischen
Zuständen durch ihre Verschmelzung: ihre
Einswerdung mit einem männlich-pola‐
ren, in Göttlichkeit verklärten Menschen‐
geiste, der sie in sich selbst, in geheimnis‐
voller Vereinung, ‒ wie in einem Taber‐
nakel geborgen, in Liebe eingehüllt, ‒
durch die Unendlichkeit der geistigen
Sphären trägt.
.Man betrachte nur einmal die mancher‐
lei Männertypen der Evangelien, von dem
Meister angefangen bis zum entferntesten
seiner Jünger, und vergleiche mit allen
diesen Männern und ihrem machtvollen
Wort, ‒ nachdem sie zur Reife gelangten,
‒ die Frauengestalten, die in den Evan‐
gelien geschildert werden, um zu begrei‐
fen, in welcher Stellung allein die Frau
einen Platz finden kann, wenn das Chri
121 Mehr Licht
stos-Mysterium des Mannes ihr Dasein
wirksam berühren soll.
.Die beiden Pole des Geschlechtes sind
ewiger Natur und reichen bis ins Innerste
des Urlichtes hinauf.
.Niemals war eine Frau, wie populäre
Afterweisheit orakelt, „in einer früheren
Inkarnation” ein Mann, niemals könnte
sie „in einer späteren Inkarnation” zum
Manne werden!
.Was heute auf Erden „Mann” ist, war
immer, auch vor Ewigkeiten, männlich
polarer Art in ursprünglicher Geistnatur,
und was heute auf Erden als „Weib” lebt,
war ewig weiblich-geistiger Artung aus
dem weiblichen Sein in der Gottheit her,
die da „Mann” ist und „Weib”!
122 Mehr Licht
.Die absurde Annahme, die Polarität der
Geschlechter sei nur im Physischen be‐
gründet und könne wechseln, verrät eine
absolute Unkenntnis der primären Ge‐
setze des Geistes, in dem alle polare Ge‐
schlechtlichkeit, auch die in der ganzen
nichtmenschlichen physischen Welt sich
auswirkende, von Ewigkeiten her ge
geben ist.
.Daß manche Frauen „lieber Männer
sein” möchten, liegt nur in ihrer weib
lichen Geistesnatur begründet.
.Wären sie jemals Männer „gewesen”,
so wäre dieser Wunsch ihnen fremd.
.Das, was überdies in normalen Fällen
allein „reinkarniert”, sind lediglich die
nicht saturierten niederen Seelenkräfte,
die im Seelenkomplex neuer Menschen
123 Mehr Licht
immer wieder auftreten, bis der Impuls,
durch den sie in einem früheren Men‐
schen geformt wurden, endgültig er‐
schöpft ist.
.Sie können freilich von Männern auf
Frauen und von Frauen auf Männer über‐
tragen werden, aber ohne die bestimmte
Sexualität ihrer jeweiligen Träger zu ver‐
ändern.
.Jeder Mensch jedoch ist eine völlig ein
zigartige Emanation des mit Individualisie‐
rungswillen „geladenen” ewigen Geistes,
männlicher oder weiblich-polarer Span‐
nung, ‒ obgleich im Manne auch Weib‐
liches und im Weibe Männliches lebt, ‒
und ein Mensch, der hier auf Erden seinen
Lebensweg vollendet hat, kehrt unter nor‐
malen Umständen niemals als ein späterer
Mensch auf die Erde zurück.
124 Mehr Licht
.Die Fälle abnormaler Art, in denen tat‐
sächlich „Reinkarnation” in dem plumpen
Sinne exoterischer Lehre eintreten kann:
Selbstmord, Tod im frühen Kindesal
ter oder auf gänzlich vertierter geistiger
Stufe ‒ sind für die Regel kaum von Be‐
lang und müssen jedenfalls hier insofern
außer betracht bleiben, als auch bei ihnen
niemals eine Änderung der von Ewigkeit
her gegebenen Geschlechtspolarität ein‐
treten kann.
Was man heute „Theosophie” zu nennen
beliebt, sagt über diese Dinge freilich an
deres aus, und die gläubigen Bekenner mo‐
derner „Geheimlehren” werden in mei‐
nen Worten einen Angriff auf ihr liebstes
Dogma sehen.
.Aber ‒ ‒ wer ‒ hat diese „Geheim‐
125 Mehr Licht
lehren” der Welt in so reicher Fülle ge‐
geben??
.Gehen nicht alle diese Lehren, geht
nicht alle diese angebliche „Entschleie‐
rung” geheimer Weisheit, die seit nahezu
einem halben Jahrhundert so manche Ge‐
müter bannte, von einer Frau aus?
.Einer allerdings in gewissem Sinne „ge‐
nialen” Frau, die manches an echter Weis‐
heit zu erfassen wußte, von dem, was ihr
durch ihre somnambule Veranlagung zu‐
kam, die aber leider auch genötigt war,
sich von männlichen Kräftebeherrschern
aufs ärgste seelisch mißbrauchen zu lassen,
weil sie solchen Kräften, als Frau, einfach
nicht gewachsen sein konnte, und die man
schließlich, von autoritativer Seite her, in
die Irre führen lassen mußte, weil sie
sonst, ohne die Tragweite ihres Handelns
126 Mehr Licht
zu ahnen, zu einer „Gefahr für die Welt”
geworden wäre.
.Es war leider eine Frau, deren Ehrgeiz
hier zu geben suchte, was nur einer derer
hätte geben können, die „durch Selbst‐
verwandlung wissend” sind, was aber ein
solcher niemals in der von ihr gewünsch‐
ten Form gegeben haben würde.
Man sagt nun: „Sie war ja nur ein Werk‐
zeug in der Hand ihrer „Meister”, denen
sie hingebend diente!”
.Gewiß! ‒ Das ist leider nur allzu wahr,
und eben darum wurde ihre, in einer Mi‐
schung von Überheblichkeit und blindem
Vertrauen dargebotene Gabe ‒ ein Danaer‐
geschenk!
127 Mehr Licht
.In ihren Schriften finden sich Bruch‐
stücke wirklicher, ewiger Weisheit, ara‐
beskenhaft durchschlungen mit dem Aber‐
glauben aller Jahrhunderte und aller Zo‐
nen.
.In ihren Schriften finden sich Ahnungen
höchster Erkenntnis, umwallt von einem
Nebelbrodem scheinbaren „Wissens”, das
aus Grüften düsterster menschlicher Ver‐
irrung stammt, von denen, die es ihr ga‐
ben, für „heilig” gehalten, weil es nur
unter Preisgabe des Heiligsten, das der
Menschengeist besitzt, zustande kam.
.In ihren Schriften finden sich Spuren
uralter Geisteswege, überwuchert von ‒
parodierten ‒ Erklärungsversuchen, die
man ihr gab, um sie zu narren.
.Die Quellen ihrer Inspirationen sind
128 Mehr Licht
äußerst verschiedenwertig, und dem ent‐
spricht bei ihr das jeweils Gegebene.
Die unglückliche Frau mußte ja, ‒ wie
wenn sie eine Art lebender „Telefunken‐
station” gewesen wäre, ‒ infolge ihrer
abnormen somnambul-medialen Veranla‐
gung alles aufnehmen, was sie aus aller
Welt und darüber hinaus erreichte.
.Es fehlte ihr, als Frau, die niemals die
erforderliche Gegenprobe auszuführen im‐
stande sein konnte, jede Möglichkeit ei‐
gener sicherer Kontrolle der Quellen.
.Vertrauensvoll glaubte sie an die „über‐
ragende Weisheit”, die ihr unter anderem
von einer Seite übermittelt wurde, die
noch heute ein absonderliches Vergnügen
daran findet, „das Wissen der Westlichen”
129 Mehr Licht
zu parodieren, ‒ die noch heute bei „spi‐
ritistischen Sitzungen” und wo sie sonst
eines medial veranlagten Europäers hab‐
haft werden kann, zu diesem Zwecke alle
okkulten Künste spielen läßt, ‒ was frei‐
lich denen, die dieses Gebiet menschlicher
Betätigung nicht aus über-sinnlicher Er‐
fahrung kennen, recht wunderlich und
unglaubhaft erscheinen mag, obwohl sie
vielleicht selbst schon, geistigerweise, Op‐
fer derartiger Menschen wurden, ohne es
zu ahnen.
.In völliger Passivität verfiel sie den Be‐
einflussungen einer anderen, über ganz
Asien verbreiteten und am tiefstem in ein‐
zelnen Gegenden Tibets wurzelnden Ge‐
heimsekte, deren religiöse Pflicht es ist,
alle ihr reichlich bekannten okkulten Mit‐
tel aufzubieten, um Europäer zu schädigen
und, wenn möglich, zu vernichten.
130 Mehr Licht
.Daneben gingen Einflüsse edler Schwär‐
mer, die sie aus jenen Banden zu retten
suchten, aber selbst nur Talmi statt Gold
zu geben hatten, und die noch überdies
bedenklich an ihr handelten, indem sie
ihr Beeinflussungsobjekt gerne in dem
Glauben ließen, gewisse andere Manifesta‐
tionen physischer Art, die diesem sehr im‐
ponierten, rührten ebenfalls von ihnen
her, die dann unbedenklich solche Mani‐
festationen für ihre Zwecke benutzten.
Die gequälte Frau war nur allzu geneigt,
in kritikloser Eitelkeit alle Manifestatio‐
nen auf die denkbar höchste und edelste
Quelle, deren Vorhandensein sie auf som‐
nambule Weise in Erfahrung gebracht
hatte, ‒ mit der sie aber nie in Berührung
kam, ‒ zu beziehen.
131 Mehr Licht
.Es war oft ein wahrer Hexensabbat der
verschiedenwertigsten okkulten Einflüsse
auf das erregbare Gemüt dieser beklagens‐
werten Frau konzentriert, und hätte Herr
Hodgson etwas von den wirklichen Vor‐
gängen um sie geahnt, dann wären die
Proceedings of the Society for Psychical
Research” um einige Nummern reicher,
die in der ganzen Welt an Interessantheit
kaum ihresgleichen fänden. So aber konnte
er nur ihre äußeren Täuschungsversuche
aufdecken. (Siehe genannte Berichte!)
.Nun sagte ich aber schon, daß man noch
außerdem von autoritativer Seite her ge
nötigt war, auf eine indirekte Weise alle
Mitteilungen an jene Frau verwirren zu
lassen, die sich auf gewisse Dinge bezo‐
gen, deren Geheimhaltung für jeden da‐
von Wissenden strengste Pflicht ist, will
er nicht, daß dem schauerlichen Reich‐
132 Mehr Licht
tum an Zerstörungs-Erfindungen, über
den die westliche „Kultur”-Menschheit
verfügt, noch die entsetzlichsten okkult‐
geistigen Spreng- und Auflösungskräfte
beigefügt werden. ‒
.(Wie Feuer und Elektrizität als wohl‐
tätige Diener des Menschen fungieren,
aber auch alles dem Menschen Wertvolle
vernichten können, so wirken jene Kräfte
in der Hand verantwortungsvoller Berufe
ner zum Segen der Menschheit, während
sie allen anderen, auch wenn dies gegen
ihren Willen ist, zu Vernichtungskräften
werden.)
.Man wird begreifen, daß aus allen die‐
sen Einflüssen und Gegeneinflüssen nichts
anderes resultieren konnte, als das mit den
wunderlichsten Schlingpflanzen durchwo‐
bene Urwald-Dickicht, das in den Schrif‐
133 Mehr Licht
ten und den Berichten über das Leben der
merkwürdigen Frau sich weithin ausbreitet.
Aus den seltsamen Orchideen und betäu‐
bend duftenden Dschungelblumen dieses
tropischen Urwaldes sind nun aber die
Kränze gewunden, die man seit den
Erdentagen dieser seherischen, unglück‐
lichen Somnambule in Ehrfurcht auf den
Altären des Tempels der „Meister” opfern
zu müssen meinte...
.Auf den Lehren dieser, für äußere Au‐
gen so abenteuerlich mysteriösen Frau
baut sich schlechthin alles auf, was seit
ihrer Zeit den Namen „Theosophie” für
sich usurpierte.
.Männer, die durch ihre eigene som‐
nambule Veranlagung sich zu dieser Frau,
134 Mehr Licht
zu ihren Schriften oder den Berichten
über ihr Leben hingezogen fühlten, unter‐
lagen den gleichen Einflüssen wie sie,
und „bestätigten” nun in ‒ wie sie es
nannten ‒ „geisteswissenschaftlicher For‐
schung” ‒ was ihre in unterweltlichen
Feuerbränden glühende Prophetin ver‐
kündet hatte.
.Frauen hochsensitiver Veranlagung und
erfüllt von reinster Begeisterung, lebten
sich derart in die Vorstellungswelt ihrer
berühmten Vorgängerin ein, daß sie bald
alles „sehen” lernten wie Frau Helena
Petrowna Blavatskij es gesehen wissen
wollte, und daß jeder leise Zweifel an
irgendeiner Behauptung, die durch ihre
Autorität gestützt war, ihnen wie ein Ver‐
brechen gegen alle geistige Wahrheit er‐
schien.
135 Mehr Licht
.So wurde schließlich ein Boden ge‐
schaffen, auf dem die verschiedensten gei‐
stigen Parasiten nur allzu üppig gedei‐
hen konnten, und ihre Entzündungsherde
durften sich ungehindert immer weiter
ausbreiten, denn es war ja nur allzu leicht,
jede noch so abstruse Lehre entweder
durch die in den Schriften der „Dienerin
der Meister” aufgefundenen Aussprüche
zu stützen, oder aber sie als neuestes Er‐
gebnis der „geisteswissenschaftlichen For‐
schung” auszugeben.
Besonders die letzte Methode tat immer
ihre Wirkung, denn „geisteswissenschaft‐
liche Forschung” ‒ das klang dem an
die exakt-wissenschaftlichen Forschungs‐
methoden der Naturwissenschaft gewohn‐
ten Abendländer so vertrauenerweckend,
daß er sich ohne weiteres von beson‐
136 Mehr Licht
ders geschickten Begriffs-Jongleuren „For‐
schungsergebnisse” vorführen ließ, die
nur, ‒ bestenfalls, ‒ in der Selbsthypnose
der „Geistesforscher” zustande gekommen
waren, und nun den Anlaß zu verhängnis‐
vollen, durch mancherlei Nebenmittel ge‐
förderten Kollektivhypnosen boten...
.Jeder, der die Geschichte der anglo‐
indischen „theosophischen” Bewegung
und ihrer Auswirkungen auch nur einiger‐
maßen kennt, wird unschwer Beispiele
finden, auf die sich meine Worte bezie‐
hen.
.Daß sich diese Bewegung auch in Indien
ausbreiten konnte, spricht nicht sehr zu‐
gunsten der Urteilskraft moderner, halb‐
europäisierter Inder. Allerdings läßt sich
das Urteilsvermögen vieler Europäer ge‐
wiß nicht höher einschätzen, die jedem
137 Mehr Licht
Phantasten, ja jedem geschäftstüchtigen
weltbereisenden asiatischen Gaukler, in
Scharen nachlaufen, wenn der vermeint‐
liche „Seher”, „Meister”, „Yogi” oder
wie immer er sich nennen mag, nur einen
exotischen Kaftan oder Ähnliches trägt,
und etwa gar noch möglichst dunkler
Hautfarbe ist. ‒
.Wer es vermag, die Schriften der Be
gründerin dieser Bewegung nicht nur mit
gläubigem Staunen und ehrfurchtsvoller
Befangenheit zu lesen, ‒ wer es wagt,
diese Schriften auch einmal kritisch durch‐
zuprüfen und wer die Berichte über das
Leben der Verfasserin ebenso kritisch zu
betrachten unternimmt, der wird gar bald
imstande sein, alles, was ich über die
Quellen ihrer Inspiration sagte, selbst be‐
stätigt zu sehen. Er wird auch bald ent‐
decken, daß ein seinerzeit Aufsehen er‐
138 Mehr Licht
regender Versuch, die unglückliche Frau
als das Opfer europäischer Okkultisten
darzustellen, auf völliger Unfähigkeit be‐
ruhte, die Dinge, wie sie wirklich lagen,
durchdringen zu können.
.Ich glaube nicht, daß ich bei halbwegs
Urteilsfähigen noch genötigt bin, Rechen‐
schaft abzulegen über die Quelle meines
Wissens in dieser Sache.
.Nach allem, was ich bis jetzt darlege,
mag man mir zwar den Glauben versagen,
wenn man dazu nach Überprüfung dessen,
was sich leicht überprüfen läßt, noch
den zweifelhaften Mut finden sollte, aber
daß ich, meiner Verantwortung wohl be‐
wußt, aus einer absoluten Wissensgewiß‐
heit spreche, dürfte wohl auch denen
nicht ganz entgangen sein, die es für ihre
139 Mehr Licht
Zwecke lieber gesehen hätten, diese Worte
wären niemals geschrieben worden.
.Auch ich hätte sie lieber nicht geschrie‐
ben und mein Wissen still für mich be‐
halten, wenn ich nicht zu ihrer Nieder‐
schrift verpflichtet wäre.
.Ich spreche in völliger Übereinstim‐
mung mit denen, die Frau Blavatskij zwar
auf somnambule Weise ahnte, mit denen
sie in Verbindung zu sein glaubte, mit
denen sie aber niemals in irgendeiner
okkultenoder auch nur der äußer
lichsten Verbindung war.
.Unsere Kenntnis der Dinge gründet sich
nicht auf irgendwelche äußeren Beobach‐
tungen, sondern ergibt sich aus einer Wahr‐
nehmungsart, vor der es keine Schleier
und Hüllen geben kann, so dicht sie auch
140 Mehr Licht
selbst unseren äußeren Augen gezogen
erscheinen mögen.
.Im Namen derer, die „durch Selbstver‐
wandlung wissend” sind und deren stille,
verborgene geistige Gemeinschaft schon
viele Jahrtausende überdauert hat, erkläre
ich, daß Frau Helena Petrowna Blavatskij
irrte, als sie glaubte, jemals mit einem
aus uns in direkte okkulte oder äußere
Berührung gekommen zu sein, und daß
sie keine Ahnung hatte, wer ihre Inspira‐
toren in Wirklichkeit waren, die Inspira‐
toren der Lehren, die sie selbst mit dem
Namen „Theosophie” zu belegen für gut
fand, durch die willkürliche Benennung
der von ihr gegründeten Gesellschaft, die
vor dieser Umtaufe eine sehr wesentlich
andere Bezeichnung getragen hatte und
sich offen: „spiritistisch” nannte.
141 Mehr Licht
Die von ihr verkündeten Lehren sind ein
Mixtum compositum der heterogensten
Vorstellungen aller Zeiten und Völker,
vermehrt durch persönliche Zutaten der
Herausgeberin und ihrer äußerlich helfen‐
den englischen und anderen westlichen
Freunde, und haben mit wahrer „Theo‐
sophie”, so wie das Wort seit manchem
Jahrhundert verstanden wurde, seit es
durch den Apostel Paulus Verbreitung
fand, so wenig gemeinsam, daß es eine
Begriffsfälschung darstellt, sie mit die‐
sem Namen zu bezeichnen.
.Echte „Theosophie” vermag es wohl,
sich in die verschiedensten religiösen Ge‐
wänder zu hüllen, aber niemals kann ein
zusammengeflickter Mantel aus den Über‐
resten der Priestergewänder aller Reli‐
gionen seinen Träger mit „Theo-Sophia”:
‒ mit Gottes-Wissen oder Gottes-Erken‐
nen ‒ begaben.
142 Mehr Licht
.Man mag Lao-tse, die großen indischen
und tibetischen Religionslehrer, den Apo‐
stel Paulus und den Verfasser des „Jo
hannes”-Evangeliums ebenso als Verkün‐
der wahrer „Theosophie” bezeichnen, wie
die weisheitstrunkenen echten alten mos‐
limischen „Sufi” im alten Persien, oder
den „letzten indischen Propheten” Ra
makrischna, ‒ die mystischen Philoso‐
phen Tauler und Meister Eckhard, oder
den noch lange nicht verstandenen geistig
erbheimischen Jakob Böhme, ‒ aber es
geht nicht an, die Niederschläge der ok‐
kulten Besessenheit, die in der „Geheim‐
lehre” der Frau Blavatskij vorliegen, als
„Theosophie” zu deklarieren.
.Das wirkliche Verdienst dieser aben‐
teuerlichen Frau bestand darin, daß sie
der Welt des Westens Hinweise gab auf
die Existenz einer Weisheitsquelle im
„innersten Osten”, die sie, wie Moses das
143 Mehr Licht
gelobte Land, zwar ahnend erschaute, de‐
ren Wasser aber ihre ungestüm heischen‐
den Lippen niemals netzten.
Wie man dieser reinen Quelle, die „von
hohen Bergen fließt”, wirklich nahe kom‐
men kann, habe ich in meinen Schriften
stets wieder zu zeigen unternommen.
.Wer diese Quelle erreichen will, muß
in seinem eigenen Innern suchen und
hier den „Höhenweg” ersteigen.
.Er bleibe ruhig in seiner, ihm von
Jugend an vertrauten Glaubensform und
übersetze sich das, was ich in meinen
Schriften gebe, in dieser Glaubensform alt‐
begründete Begriffe, wohl bedenkend, daß
ich in erster Linie für Menschen schreibe,
die in den herrschenden Glaubensformen
144 Mehr Licht
kein Genügen fanden und dennoch ihren
lebendigen Gott zu erringen trachten.
.Wer weitere Belehrung zu brauchen
glaubt, und auch zwischen den Zeilen zu
lesen versteht, der durchforsche nur nüch‐
ternen Sinnes die Schriften der oben ge‐
nannten mystischen Philosophen zu de‐
nen noch Angelus Silesius und Thomas â
Kempis mit Fug und Recht zu zählen sind.
.Er wähle sich aus, was zu seiner Seele
spricht, wo immer er es finden mag, aber
er vermeide den Irrtum, als sei „das Wis
sen der Seele”: ‒ die wirkliche „Theo‐
sophie” aller Völker und Zeiten! ‒ ein
„Wissen” im Sinne einer „Wissenschaft”.
Als bedürfe dieses „Wissen der ewigen
Seele” einer Förderung durch äußeren
Gesellschaftsverband oder könne jemals
durch das Studium dickleibiger Folianten
errungen werden. ‒ Es würde aber auch
145 Mehr Licht
eine Lebensarbeit bedeuten, wollte sich
jemand die Aufgabe stellen, jedes in
der Welt vorhandene schriftliche Zeugnis
wahrhaft geistiger Lebendiger kennenzu
lernen, und ein in solcher Art verbrauch‐
tes Leben würde dabei noch weitab führen
von dem Wege der Seele zum Licht. Alle,
die solchem Erspüren ihr Leben gewidmet
hatten, sind noch immer zuletzt in tiefster
Seelennot von dieser Erde abgeschieden.
.„Wer suchet, der wird finden, und wer
anklopft, dem wird aufgetan”: ‒ aber nur
stete Beharrlichkeit beim Suchen und
Anklopfen im eigenen Innern führt zum
Ziele, das der Meister der Evangelien sei‐
nen Auserwählten zeigte, als er sagte:
.Wer an mich glaubt, der glaubt nicht
an mich, sondern an den, der mich ge
sandt hat!”
146 Mehr Licht
.„Denn ich habe nicht von mir selbst ge‐
redet, sondern der Vater, der mich ge
sandt hat, der hat mir das Gebot gegeben,
was ich reden und was ich lehren soll.
Und ich weiß, daß sein Gebot das ewige
Leben ist. Darum, was ich rede, rede ich
so, wie es mir der Vater gesagt hat!”
.In diesen Worten spricht er für Jeden,
der den „Vater” kennt, mag er in Indien,
China, Tibet, oder aber nun im modernen
Europa sich in seinem Irdischen offen‐
baren. Die Worte eines Jeden, der lehrt,
wie es ihm der „Vater” geboten hat, füh‐
ren hin zu wahrer „Theo-Sophia”, die
identisch ist mit dem urgegebenen, ge‐
heimnisvollen geistigen „Christentum
aus dem ewigen „Christos” im Urlichte,
dessen erhabenster Tempel auf Erden
lange bevor der Meister von Nazareth als
ein ihm Eingefügter die ewige Liebe er‐
147 Mehr Licht
leben lehrte, im „innersten Osten” allein
gefunden ward. Hier wird er bestehen
bleiben bis zum Ende der Tage auf dieser
Erde, und, mit ihm für alle Zeiten die
ewig Verordneten, die ihm eingefügt sind
als „Priester nach der Ordnung des Mel
chisedek”: ‒ der Ordnung, die das
Ewige sich selbst im Zeitlichen setzt!
.Nur diesen unsagbar wenigen Erden‐
menschen, deren ewiges Geistiges aus der
„Sóphia”: ‒ der Weisheit! ‒ Gottes, als
dem ewigen weiblichen Pole des substan‐
tiellen Geistes, die Bewußtseinsgestaltung
dazu empfing, ist es nach dieser Ordnung
jemals möglich, auch ihren irdischen Mit‐
menschen die Erkenntnis und das Wissen
um die Sóphia in Gott zu vermitteln!
148 Mehr Licht
VON DEN DREI STUFEN
Umgeben von einer Welt, die sich nur phy
sischen Sinnen offenbart, ‒ dem Außen‐
körper nach selbst ein Teil dieser Welt, ‒
erschöpft sich dennoch des Menschen Da‐
sein keineswegs in dieser Welt Leben.
.Tief dringt der forschende Gedanke in
das innere Wirken und Weben dieser Welt,
aber weit Tieferes dieses Wirkens und
Webens bleibt ihm unerschlossen.
.Geheimnisvolle Kräfte schaffen im In‐
nersten dieser Welt Gestaltung, ‒ wenigen
nur erkennbar. Aber immer wieder lassen
sich Menschen verführen durch den Wahn,
diese Kräfte „meistern” zu können, indes
diese Kräfte allein ihren eingewobenen
Gesetzen dienstbar sind, und jeden früher
oder später vernichten müssen, der sich
töricht vermißt, sie aus ihrer Bahn lenken
zu wollen.
151 Mehr Licht
.Dieses okkulte Reich der Natur, von
dem ich hier rede, hat noch keinem, der
es betrat, letztlich Gewinn gebracht.
.Wie eine Fliege im Netze einer Spinne
gefangen und ausgesaugt wird, so wird
Jeder gefangen, umsponnen und ausge‐
sogen, wagt er sich allzu weit vor in dieses
Reich.
.Und wie ein großes gefangenes Insekt
an dem Netz einer Spinne rütteln wird,
so auch rüttelt der also Vermessene an
dem Gewebe okkulter Kräfte der Natur,
und seine Anhänger stehen staunend und
sagen: „Seht doch, wie er die okkulten
Kräfte zu bemeistern weiß!”
.Sie ahnen nicht, daß er nur die Fäden
bewegt, die ihn gefangen halten und bald
völlig fesseln werden, um ihn zu verder‐
152 Mehr Licht
ben... Dem Untergang geweiht, verlockt
er noch andere auf den Weg der Vernich
tung.
.Nicht in dieser, den Sinnen faßbaren
Natur, und nicht in den okkulten Kräften
im Innersten dieser Natur aber erschöpft
sich das Dasein des Menschen, obwohl er
selbst nur als Wirkung jener okkulten
Kräfte in Erscheinung treten kann, ‒ ob‐
wohl er selbst sich darstellt als okkulte
Kraft.
.Zwar ist der Mensch der Erde selbst
eine dieser okkulten Kräfte der Natur,
aber er ist zugleich noch anderes!
.Wohl weiß ich zu verstehen, wenn gesagt
wird: „Es gibt nichts Übernatürliches!”
‒ „Auch das Unbegreiflichste, das unseren
153 Mehr Licht
irdischen Sinnen begegnen kann, ist noch
innerhalb der Natur!” ‒ und wenn man
so die Einheit allen Lebens für eigenes
Verstehen und Deuten wahren möchte.
.Aber mit solchen Worten täuschen wir
uns dennoch selbst; denn es gibt wahr
lich etwas, das von gänzlich anderer Be‐
schaffenheit ist, als alles, was wir gemein‐
hin, und selbst im weitesten Sinne, als
„Die Natur” betrachten!
.Es gibt wahrlich etwas, das nicht inner
halb der von uns als „gesetzmäßig be‐
dingt” erkannten Abläufe des Geschehens
liegt, ‒ das gänzlich anderen Bedingun‐
gen gehorcht, als alles, was wir als phy‐
sische „Natur” erkennen!
.Wollen wir dieses so völlig Andersartige
auch im Sinne der Alltagsrede zur „Na‐
154 Mehr Licht
tur” rechnen, so verwirren wir nur in un
serer Vorstellung, was in Wirklichkeit
klar geschieden ist, trotz der allem über
geordneten Einheit.
.Begünstigt wird diese Verwirrung durch
die Nichterkenntnis der, dem allgemeinen
Erkenntnisvermögen „okkulten”, ewigen
Urseinskräfte der Natur, die das einzig
Wirkliche sind in der äußeren Erschei‐
nungen ewigem Wechsel.
.Nur sehr wenige auf dieser Erde ahnen,
welcher Wirkungen diese Kräfte fähig sind,
wie so gar vieles, das man als „übernatür‐
lich” bezeichnete, klargeprägte Wirkung
dieser Kräfte ist.
.So bleibt es denn wohlbegründet, wenn
auch geheimnisvollstes Geschehen als noch
innerhalb derNaturverankert be‐
155 Mehr Licht
trachtet wird, aber es gibt, weit über die
geheimnisvollsten Vorgänge innerhalb
der okkulten physischenNaturhinaus,
Regionen des Geschehens, die völlig un‐
erkannt bleiben, solange man sie in kon‐
tinuierlichem Zusammenhang mit jenen
Möglichkeiten des Geschehens glaubt, die
uns als naturgesetzlich begründet er‐
scheinen. ‒
Zwei Worte stehen mir zur Bezeichnung
dieser höheren Regionen zur Wahl: „Seele
und „Geist”.
.In neuerer Zeit gibt es gar viele, die
dem Worte „Seele” höheren Rang an‐
weisen, aber ich glaube, daß schon die
Genesis dieses Wortes innerhalb der deut‐
schen Sprache mir ein Recht geben dürfte,
es als Bezeichnung jenes „flutenden” lich‐
156 Mehr Licht
ten Zwischenreiches zu wählen, das zwischen
dem, was man die physische „Na‐
tur” zu nennen pflegt, und dem urgrün‐
digen, wesenhaften Reiche höchster Kraft
und Weisheit, das ich das Reich des
Geistes nenne, mitteninne liegt.
.Das Reich der Seele gleicht einem „flu‐
tenden Meere” geheimnisvoller, vom Rei‐
che des Geistes überstrahlter Kräfte, die
alles übersteigen, was in der Region der
okkulten Kräfte der physischen „Natur”
zu finden ist, und die durchaus unab
hängig von jenen Gesetzen wirken, durch
die sich das Wirken der okkulten Kräfte
der physischen „Natur” bestimmt sieht.
.Auch in dieser Region der Seele ist der
Mensch, gleichwie in der physischen „Na‐
tur”, in seinem Eigentum. Auch hier ist
er selbst ein Teil des unermeßlichen Gan‐
157 Mehr Licht
zen, und seine Eigenseele ist ein Komplex
aus Myriaden dieser Kräfte des „Meeres”
der Seele.
.Hier hat er jedoch ein Recht, sich Kräfte
untertan zu machen! Hier ist es Gebot für
ihn, die Kräfte meistern zu lernen! ‒
Zwischenliegend, zwischen den Kräften
der physischen „Natur” und denen des
reinen Geistes, ist das Reich der „Seele
beider Influenz erreichbar. Seine Kräfte
sind jedoch nicht etwa den Kräften der
physischen „Natur” unterworfen!
.Beruf des Menschen ist es, sich selbst,
soweit er Niederem zugehört, dem
heren in ihm zu Dienste zu geben. Nur
so kann er sich zu ewiger Gestaltung
schaffen, als individuelle Wesenheit.
158 Mehr Licht
.Darum muß er auch noch über das
Reich der Seele hinaus zu seinem Ursein,
im Geiste, das er einst verließ, zurück
gelangen.
.Hier erst ist er wirklich in seiner „Hei‐
mat”, und von hier aus erst vermag er es,
sich ewig zu erhalten.
.Hier hat die hohe Gemeinschaft des
Geistes, aus der ich rede, ihren Tempel,
und von hier aus kommt jedem die Füh‐
rung, der ernstlich durch sein Tun nach
ihr verlangt.
Brüder im Geiste, sind wir, die seit Ur‐
zeittagen, aus dem reinen Geiste geboren,
in der Menschheit wirkten, hier vereinigt
in Alleinheit: aber „Bruder im Geiste”
ward uns allezeit nur der, den wir durch
159 Mehr Licht
des UrlichtesWortbereitet fanden,
ehe er geboren wurde, sodaß wir ihn, war
er im irdischen Erlebensvermögen durch
uns vollendet, dann in unsere Mitte führ‐
ren durften.
.Torheit hat zu allen Zeiten sich ver‐
messen, auf Schleichwegen uns zu errei‐
chen, aber der unübersteigbare Wall ewiger
Gesetze des reinen, wesenhaften Geistes,
läßt keinen auch nur von ferne unseren
Tempel schauen, der sich in selbstgefälli‐
ger Überheblichkeit etwa berufen glauben
sollte, den Weg zum Geiste zu finden,
ohne den einzigen Weg zu gehen, den der
Geist seit Urzeittagen allen, die ihn suchen,
selbst bereitet hat.
.Keiner kommt zum Vater, außer
durch mich!” ‒ So durfte daher vor Zei‐
ten einer der Unseren sprechen, der wahr‐
160 Mehr Licht
haft „Weg” geworden war ‒ doch man
verstand ihn nicht und machte aus ihm,
‒ der Vorstellungswelt seiner Zeit ent‐
sprechend, ‒ einen menschgewordenen
Gott.
.Er aber war wahrhaft „Gottessohn”, ge‐
nau so wie seine geistigen Brüder aus
dem reinen Geiste geboren, und verhehlte
nicht, daß in seines Vaters Hause „viele
Wohnungen sind. ‒
.Er wehrte und sprach: „Was nennst du
mich gut? ‒ Gott allein ist gut!”
.Nicht er trägt Schuld, wenn eine Lehre
sich um seinen Namen rankt, die, ‒ alter
Götterlehren Frucht, ‒ aus ihm den
Menschengott dieses kleinen Planeten
schuf.
161 Mehr Licht
Wohl war er strahlender vom Urlicht
durchglüht, als jener indische Königs‐
sohn, den die Welt als Gautama, den
Buddha, kennt, denn in dem Buddha lebte
nur ein Mensch, der Licht erlangte, nicht
einer, der im Lichte des Geistes geboren
war. ‒
.Nicht selbst zum „Wege” geworden war
dieser Buddha! Nicht vom Geiste als Weg
bereitet! Nur seine unermeßliche Liebe
zu aller Kreatur ließ ihn einen Weg er
graben, der zur Erleuchtung, zu geistigem
Lichte, aber nicht zur wirklichen Wieder
erlangung geistiger Gotteinheit führt,
wenn dieser Weg auch zuletzt, in gewissen
Abzweigungen, dahin führen kann, aber
dann nicht mehr der historisch bekannte
Weg des Buddha ist, sondern uralten an
deren Wegmarken folgt.
162 Mehr Licht
.Man ist geneigt in unseren Tagen, die
merklichen Unterschiede zu verwischen,
die von der Lehre dieses Weisen scharf die
lebendige Geistesmacht des Meisters aus
Nazareth trennen.
.Man wird erst erkennen lernen müssen,
wer dieser Meister wirklich war, der von
sich sagen durfte, daß er „der Weg, die
Wahrheit und das Leben” sei. ‒
.Man wird erst verstehen lernen müssen
weshalb er berechtigt war, zu sagen: „Wer
nicht mit mir ist, der ist wider mich, und
wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut”.
.Ich rede jedoch hier von der historisch
gegebenen Erscheinung jenes Mannes, von
dem die Evangelien künden, ‒ nicht von
der Gestalt des Kultes, die der Glaube
Vieler mit ihm identisch glaubt!
163 Mehr Licht
.Ich rede ebenso nur von dem Manne,
der als Gautama, der Buddha, die Lande
Indiens als Lehrender durchzog.
Scharf von diesen menschlichen Persön
lichkeiten zu trennen ist die erhabene
göttliche Wesenheit, die bei den nörd‐
lichen Buddhisten als höchster himmli‐
scher „Buddha”, bei den Christen als
„Christus”, im Sinne einer „Person in der
Gottheit”, Anbetung und Verehrung findet.
.Die theologische Vermischung einer
menschlichen Erscheinung auf dieser Erde
mit der höchsten Selbstdarstellung des
ewigen Urlichts: ‒ des ewigen Geistes,
als individuelle höchste Geisteswesenheit,
trägt nicht zum wenigsten Schuld daran,
daß man weder in Wahrheit erkennt,
wer der Meister aus Nazareth war, noch
164 Mehr Licht
zur hohen Erkenntnis des „Logos”, des
Wortes”, das „Gott” ist, der individua
lisierten Selbstaussprache des ewigen Ur
lichtes gelangt.
.Diese höchste individualisierte Selbst‐
darstellung des Geistes ist aber der ewige
Ausgangspunkt aller geistigen Hierar
chien, bis herab zu den wenigen geistig Er‐
wachten dieser Erde, in denen diese Hie‐
rarchien ihre letzte Auswirkung finden, ‒
die sie sich selbst bereiten, um die Verei‐
nigung des Menschengeistes mit eben die‐
sem ewigen Ausgangspunkt im Bewußtsein
des Erdenmenschen wieder herzustellen.
Erstes und Letztes ist so in theologischer
Lehre vermischt ‒ nur wenigen erkennbar.
Auf jener Höhe, zu der Gautama, der
Buddha, dringen konnte, hat das Gebet
165 Mehr Licht
kein logisch erweisbares Recht mehr, aber
‒ es gibt einen weitaus höheren Zustand,
den selbst der höchste Aufstieg des Buddha
nicht erreichte, der nicht erstiegen, der
nur mit Geistesflügeln „erflogen” werden
kann, und in diesem Zustand, gotteinig im
reinen Geiste, wird das Gebet erst wahr‐
haft Ausdruck innigster Vereinigung des
individuellen ewigen Geistesmenschen
mit dem Urlicht, aus dem er lebt.
.Hier erst wird offenbar, was das Wort
des Meisters von Nazareth besagen will:
„Bittet, so wird euch gegeben, suchet, so
werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch
aufgetan.”
.Und weiter: „Um was immer ihr den
Vater in meinem Namen bitten werdet,
das wird er euch geben.”
166 Mehr Licht
.Er aber, der allen, die an ihn glaubten
und sein Wort lebten, ewiges Leben ver‐
hieß, wußte gar wohl, daß mehr dazu ge‐
höre, als was „Natur”, ‒ was „Fleisch und
Blut” offenbart, ‒ um ihn zu verstehen.
.Er spricht von denen, die „draußen”
sind, die „mit sehenden Augen sehen und
doch nicht erkennen, mit hörenden Ohren
hören, und doch nicht verstehen”.
.Es wird aber allezeit solche geben, die
„draußen” sind...
.Wer noch die okkulten Kräfte innerster
physischer „Natur” zu beherrschen strebt,
wer sich als Lehrender gebärdet, ohne zu
ahnen, woher ihm seine vermeintliche
Weisheit kommt, wer noch im tiefen Dun‐
kel steckt und dennoch anderen als Leuchte
167 Mehr Licht
gelten möchte, wer seines Denkens Mei‐
nung wie ein Götzenbild verehrt, wer
jenen einen Weg zum Geiste, der ihm
gangbar wäre, nicht betreten mag, dem
können wir, so tief wir ihn in seinem Wahn
bedauern, nicht des Geistes Hilfe senden.
.Wer da in „blinder Nichterkenntnis”
glaubt, im Reiche der Seele geborgen zu
sein, ohne die Kräfte dieses Reiches wahr
haft zu bemeistern: ‒ auch der wird ver‐
geblich nach „Geisteshilfe” rufen.
.Erst wer den okkulten Kräften der irdi‐
schen „Natur” sich entwindet, die Kräfte
der Seele zu meistern weiß, und alsdann
höher strebt, dem Reiche des reinen Gei
stes zu, dem gewährt der Geist seine Hilfe,
weil sie dann erst aufgenommen werden
kann, ‒ und nur, wem der Geist zu hel‐
fen gebietet, dem dürfen wir, aus des Gei‐
stes Kräften, Hilfe bringen.
.Er wird befreit von allem niederen
168 Mehr Licht
Herrschaftsverlangen, und im reinen Gei
ste, davon er vor Ewigkeiten ausgegangen,
wird er wieder erneut das ihm ehedem
eigene Bewußtsein erlangen.
.Lebendig geworden im reinen Geiste
wird er der Liebe leben, wissend, daß
nichts Bestand im Geiste hat, das der
Liebe unwert ist, ‒ nichts, das seinen
Haß erregen könnte. ‒
Schmähsüchtige Ohnmacht hat schon vor
Tausenden von Jahren vergeblich versucht,
die Gemeinschaft im reinen Geiste, von
der meine Worte zeugen, mit giftigem
Geifer zu besudeln, aber noch immer fiel
solcher ekle Auswurf auf den zurück, der
uns zu beschmutzen gedachte.
.Es leben mit uns im reinen Geiste die
Ewiglebenden, denen einst solches blinde,
169 Mehr Licht
geifernde Wüten galt, aber vergeblich
würde man in allen Reichen der kosmi‐
schen physischen „Natur”, im Reiche der
Seele, im Reiche des reinen Geistes, auch
nur eine letzte Spur ihrer einstigen, un‐
säglich törichten Widersacher zu finden
suchen.
.Nichts Unreines kann das ewige Leben
im reinen Geiste erlangen!
.„Denn draußen sind die Hunde und
die Zauberer und die Hurer und die Tot‐
schläger und alle, die lieb haben und tun
die Lüge.”
.„Selig aber, die zum Abendmahl des
Lammes berufen sind!”
.Also steht es geschrieben seit zwei Jahr‐
tausenden, und der das einst schrieb, der
170 Mehr Licht
wußte wohl, von wannen ihm der Ruf zum
Schreiben kam, sodaß zu wissen nottut,
daß wenig von dem, was man ihm zu‐
schreibt, wirklich von ihm geschrieben ist.
.Er sprach, wie so mancher andere Be‐
rufene, von den gleichen Dingen, von de‐
nen ich heute in anderen Bildern rede.
.Die Gemeinschaft des Geistes, die sich
ihm offenbarte, hat sich zu jeder Zeit der
zeitgerechten Symbole bedient.
.Verschieden in allen Völkern und Reli‐
gionen sind die Formen ihrer Offenbarung,
aber wer sie auch nur in einer Form er
reichte, der hat sicheren Boden unter
den Füßen! ‒ Er geht den Weg, den der
Geist bereitet hat, wie immer er diesen
Weg zum Geiste auch benennen mag.
Sind doch von geistig dazu Berufenen,
selbst in den so streng durch den Koran
171 Mehr Licht
bestimmten Formen des Islam zu ver‐
schiedenen Zeiten immer wieder die
innersten Offenbarungen substantiellen
ewigen Geistes wahrlich ebenso vernom‐
men worden, wie sie der indische ‒ ech
te ‒ Yogi oder der antike Myste im al‐
ten Hellas vernahm!
172 Mehr Licht
WAS ES ZU FASSEN GILT!
Alle Religionen der Welt rufen den Men‐
schen in irgendeiner Art zur Umkehr, zum
Wiedersuchen und Wiederfinden seiner
geistigen Urheimat auf, wie verschieden
auch die Vorstellung von dieser „Urhei
mat im Geiste” sein mag, wie verschieden
der Weg, der beschritten werden soll.
.Allen Religionen gemeinsam ist die Er‐
kenntnis, daß diese Urheimat im Geiste
nicht den gleichen Zustand aufweist, in
dem sich der Mensch hier auf der Erde
findet, und daß dieser nun wieder neue
Zustand nur erreicht werden könne durch
irgendwelche Veredelung des Tuns, durch
Unterordnung niederer Impulse unter die
höheren und höchsten, die im Menschen
gefunden werden.
.In fast allen Religionen ist die Vorstel‐
lung einer individualisierten Selbstdar
175 Mehr Licht
stellung des ewigen Urlichtes als Spur
einer tiefen Wirklichkeitserkenntnis zu
finden. Nur im Taoismus, dem Shintoismus
und im Glauben der südlichen Buddhisten,
der „Hînayâna”-Schule, findet sich diese
Erkenntnis nicht, aber es ist dennoch irrig,
diese Religionen schlechthin „atheistisch”
zu nennen, nur weil ihre Vorstellungen
vom Göttlichen sich nicht über das unge‐
formte Meer göttlichen Seinsgrundes zu
erheben wissen.
.Der Buddhismus des Nordens, die Schule
des „Mahâyâna”, der „großen Überfahrt”
im Gegensatz zur „kleinen Überfahrt”,
dem „Hînayâna”, zeigt dagegen die Vor‐
stellung einer individualisierten Selbst‐
darstellung des ewigen Urlichtes in rein‐
ster Ausprägung in seinem himmlischen
Ur-Buddha, „Adibuddha”, auch wenn die
einzelnen Lehrmeinungen die Reinheit
176 Mehr Licht
dieser Vorstellung sehr verwischen. Es
ist möglich, daß diese Vorstellung gno
stischen Ursprungs ist, und erst in recht
später Zeit über Persien und Turke‐
stan nach Nepal und Tibet gelangte, um
von da aus ihre weitere Ausbreitung zu
finden.
.Gnostischer Erkenntnis entstammt der
„Logos”-Begriff. Hier aber, in dem „Wort”,
das aus Gott ist, und Gott ist, steht nichts
anderes vor uns, als die Selbstaussprache
des ewigen, unfaßbaren Urlichts in einer
individualisierten geistigen Gestaltung,
und diese Erkenntnis geistiger Wirklich‐
keit gelangte in die Lehre des Christen
tums, wo sie völlig der durchaus anders
gearteten „Gottessohnschaft” des Meisters
von Nazareth vermischt wurde, so daß der
„Gesalbte”, der Christos der Evangelien,
nun schon seit fast zweitausend Jahren
177 Mehr Licht
als: „menschgewordener” Logos aufgefaßt
und angebetet wird.
Im Grunde zeigt aber die gnostisch-alexan‐
drinische Logos-Lehre nur in aller Klarheit
die Erkenntnis einer Wirklichkeit, die
allen ‒ wie man zu sagen pflegt: „persön‐
lichen” Gottesvorstellungen ihre volle Be
rechtigung gibt, ‒ ‒ vorausgesetzt, daß
sie nicht in anthropomorphe Ungeistig
keit ausarten, die dann dazu führt, einen
„persönlichen Gott” über den Wolken zu
erträumen, der nichts weiter ist, als ein
mit göttlichen Machtvollkommenheiten
ausgestatteter „irdisch-allzuirdischer” Po‐
tentat.
.Landläufige christliche Gottesauffassung
ist leider nicht allzuweit entfernt von sol‐
cher Vorstellung.
178 Mehr Licht
.Es gibt dann nur zwiefache Möglichkeit
für den Menschen, diesem himmlischen
„König” zu nahen.
.Entweder man fürchtet, sein Ohr nicht
zu finden, wenn man persönlich, ohne Für‐
sprache, vor ihn treten wolle, und sieht
sich so nun in guter, alter, höfischer Art
nach geistigen Vermittlern der Beziehung
um, oder ‒ man verschmäht in stolzer
Selbsteinschätzung jede Vermittlung, und
glaubt sich berechtigt, allein und ohne
„Fürsprech”, die Beziehung anzuknüpfen.
.Beiden Auffassungen eignet eine unsäg‐
lich enge, irdisch gebundene Vorstellung
göttlichen Wesens, ‒ auch wenn man
glaubt, seinen Gott in durchaus „vergei‐
stigter” Weise zu empfinden.
.Was so empfunden wird: ‒ der „Gott”,
179 Mehr Licht
mit dem man auf eine dieser beiden Arten
in Beziehung treten zu können glaubt, ist
stets ein erträumter Gott!
Wie kleinräumig und dabei: wie überheb
lich und vermessen ist doch eine Vorstel‐
lung vom ewigen Ursprung allen Seins,
die es fertigbringt, die Gunst ihres Gottes
durch Fürsprache erlangen zu wollen, oder
aber dazu verleiten kann, direkte Zwie‐
sprache mit dem Urlicht zu suchen, ohne
zu bedenken, daß dieses Urlicht, wie nicht
minder seine ewige Selbstaussprache in
individualisierter Form, so alle mensch
liche Fassungskraft übersteigt, wie die
größte der Feuersonnen des physischen
Weltalls ein glimmendes Fünklein im
Herdfeuer überstrahlt!
.Wäre nicht vom ewigen, allesumfassen‐
180 Mehr Licht
den Geiste aus dem Urlicht allen Seins ein
gangbarer Weg bereitet, dann könnte
wahrlich kein Menschengeist jemals zu sei‐
nem ewigen Ursprung zurückgelangen.
.Dieser „Weg” ist aber der gleiche, den
der Geistesmensch einstmals durchlaufen
hat, bevor er sich dem Menschentiere der
Erde einte.
.Unbeschreitbar wäre er dem Menschen
dieser Erde, wenn einst alle Geistesmen‐
schen gemeinsam „gefallen” wären.
.So aber ist es immer nur eine geringe
Zahl, die diesem „Falle” erliegt, auch wenn
es sich um Myriaden handelt, die nun im
Laufe der Jahrtausende, auf diesem und
anderen Planeten, das Leben des Tieres
teilen müssen zu ihrer Zeit.
181 Mehr Licht
.Einige aber, die nicht in des Tieres kör‐
perliche Erscheinung fielen, leben seit Ur‐
zeittagen, von göttlicher Liebe und Er
barmen durchglüht, freiwillig in unsicht
barer Gestaltung hier auf dieser Erde, um
den gefallenen Brüdern den Weg zurück
zum Urlicht offen zu halten, geleitet von
einem der urgezeugten Geistesmenschen
der Urwelt des reinen Geistes, der niemals
seinen Urort im „Worte” das da „Gott
ist, verließ.
Diese Wenigen wußten schon seit unvor‐
denklichen Zeiten, Menschengeister, noch
ehe sie im Menschentiere geboren werden
mußten, so zu bereiten, daß sie, einmal
geboren, jenen Zustand erreichen konn‐
ten, der für den Menschengeist die Brücke
bildet, auf der er hinüberzuschreiten ver‐
mag zu den ersten Landzungen jener se‐
182 Mehr Licht
ligen Überwelt des Geistes, aus der er
selbst sich durch seinen Fall einst ver
bannte.
.Die so Bereiteten unter den Menschen
dieser Erde, sind hier durch das Ewige,
das in ihnen sich selbst offenbart, die
Leuchtenden des Urlichtes” geworden,
jene Wenigen, die man, um einen nun ein‐
mal vorhandenen Ausdruck zu gebrauchen,
auch: ‒ die „älteren Brüder der Mensch‐
heit” nennen mag, ‒ „älter”, weil sie
schon vor tausenden von Jahren, im Men‐
schentiere der Erde geboren worden
ren, hätten sie nicht aus freier Entschlie‐
ßung, obwohl auch sie zu jenen Geistes‐
menschen gehören, die dem Falle erlegen
waren und sich nun dem Tiere einen
mußten, ihren wenigen nichtgefallenen
Brüdern, die hier in geistiger Gestaltung
leben, sich dargeboten, um gleichsam zu
183 Mehr Licht
menschlichen Sammellinsen der Strahlen
des Urlichtes bereitet zu werden.
.Diese Bereitung aber bedingte auch, daß
sie schon seit Jahrtausenden ihren nicht‐
gefallenen, in Erbarmen und Liebe bei
den Menschen der Erde in geistiger Ge‐
staltung verharrenden Brüdern, bei deren
Erleuchtungs- und Erlösungswerk dienen
mußten, und auf diese Weise schon gar
lange vor ihrer Geburt im Tiere, auf dieser
Erde helfend wirkten.
.Nicht jedem aus ihnen ist auf dieser
Erde, sobald er einmal im Tiermenschen
in Erscheinung tritt, die gleiche Aufgabe
gestellt.
.Jeder aber ist seinem besonderen Rufe
verpflichtet, und hört allein auf ihn, ei‐
nerlei ob ihn dabei das Leben auf dieser
184 Mehr Licht
Erde zu Ehre, Glanz und Reichtum führt,
oder zu Armut, Niedrigkeit, Marter und
Verachtung.
.Entzieht er sich dem, was ihm das ir‐
dische Leben nun einmal bringen muß, so
fällt er tiefer als er je gefallen war, und
es macht keinen Unterschied, welchen
Formen der Schicksalsgestaltung er sich
entzog, ‒ seien sie irdisch erfreulichster,
oder unerfreulichster Natur ‒ denn nie
kann einer hier seinem Rufe, allen Anfor‐
derungen gemäß genügen, ohne der Art des
Lebens zu entsprechen, die ihm in weiser
Lenkung widerfährt, damit er dem Rufe
folgen könne, der speziell an ihn erging.
Diese denkbar subtilste Vereinung im
Geiste Lebendiger wirkt auf Erden mit
einer Art „magnetischer” äußerlich un‐
185 Mehr Licht
wahrnehmbarer, rein geistiger Gewalt auf
alle Menschengeister, die bereits des Auf‐
stiegs fähig sind, und zieht sie empor in
einen geistigen Zustand, der dem ihrer
Glieder gleicht, doch mit dem einen Un‐
terschied, daß ein also zum Erwachen ge‐
langter Geistesmensch nur zum Weiter
schreiten sich erhebt, und zu dem Hilfs
werk, das die geistige Gemeinschaft der
Leuchtenden ohne Unterlaß selbst voll‐
bringt, weder verpflichtet noch befähigt
ist, denn dieses bedingt, wie ich schon
sagte, eine Vorbereitung von Jahrtau
senden.
.Ein so durch die unsichtbare Hilfe der
geistgeordneten Helfer Erwachter aber
wird nach dem Tode des Menschentieres,
mit dem er auf Erden vereinigt lebte, all‐
sogleich fähig werden, den nächsthöhe
ren Geisteszustand zu erreichen, in dem
jene Nichtgefallenen in geistiger Gestal
186 Mehr Licht
tung leben, deren eigenstes Werk die
Gemeinsamkeit im reinen Geiste darstellt,
die hier auf Erden in tiermenschlicher
Erscheinung lebt, ‒ da sie ununterbro‐
chen, im Irdischen wirkend, von ihnen
geistige Impulse erhält, ohne die ein
Erdenmensch niemals zum Offenbarer des
in ihm sich offenbarenden Ewigen wer‐
den könnte.
.Hier gibt es nun einige Wenige, die der
Erde „gestorben” sind im Tiere, und die,
sobald sie diesen höheren Zustand er
reichten, gleich jenen Nichtgefallenen, aus
Liebe und Erbarmen bei den Menschen
der Erde unsichtbar verbleiben, das Hilfs‐
und Erlösungswerk jener Nichtgefallenen
fördernd, soweit das durch eine Art Akku‐
mulation des Willens möglich wird.
.Fast alle aber, außer diesen Wenigen,
die der Buddhismus des Nordens als „Bod
187 Mehr Licht
dhisatras des Erbarmens”, die ältere
christliche Kirche aber als ihre „Heili
gen”, „Engel” und „Erzengel” kennt, ‒
(auch die späteren „Vierzehn Nothelfer”
gehören hierher!) ‒ streben von diesem
höheren Zustand des Geistes aus wieder
weiter empor, und so durchläuft der Men‐
schengeist in nicht mehr irdisch zu be‐
messenden Zeiten, allmählich jeden, stets
höheren Zustand der Hierarchien des Gei‐
stes, bis er zu jener höchsten Urwesen‐
heit im Geiste gelangt, ‒ zur Selbstaus‐
sprache des Urlichts, ‒ zum „Worte”,
das „Gott” ist, zurück, um in ihm, ewig
vereint, sein höchstes individuelles Gei
stesmenschentum für alle Ewigkeiten zu
finden, schon lange vorher mit seinem
geistesmenschlichen erotischen Gegenpol
vereint, als „Mann und Weib” im Geiste.
.Auf solche Weise findet der einst „ge‐
188 Mehr Licht
fallene” Geistesmensch vom Tiere der
Erde zurück in seine Urheimat im ewi
gen, reinen Geiste, in die „Welt” der Se
ligkeit und Klarheit die gänzlich an
dersartiges „Leben” kennt, als es auch
in den geheimnisvollsten Regionen der
Allnatur, zu der diese Erde gehört, zu
finden ist!
Nicht „ferne” dieser physischen Allnatur
ist die Welt des reinen Geistes, und das
Meer der Seelenkräfte, dem der Men‐
schengeist die Möglichkeit seiner indivi
duellen Formung dankt! Dennoch klafft
aber eine Kluft zwischen allem, was zu
dieser physischen Allnatur gehört, und
der Welt des reinen Geistes, die nie
mals überbrückbar wäre, hätten nicht
jene Nichtgefallenen, die in geistiger Ge‐
staltung bei den gefallenen Menschen‐
189 Mehr Licht
geistern verblieben, seit Urzeittagen die
einzige „Brücke” gebildet und erhalten,
auf der die Rückkehr zum Leben im ewi‐
gen Geiste möglich ist.
.Erst nach vollendeter Rückkehr, verei
nigt mit demWortedasGottist,
schaut der Geistesmensch die Gottheit,
wie sie ewig ist und wirkt „von An
gesicht zu Angesicht”, aber nicht von
außen her, sondern in sich selbst.
.Erst dann „erkennt” er, wie auch er
„erkannt wird”!
Aber schon am ersten Anfang dieses un‐
ermeßlichen Weges kann sein „leben
diger Gott” sich in ihm gebären, in
menschlich empfindbarer Form.
.Der „lebendige Gott” des erwachenden
190 Mehr Licht
oder erwachten Menschen auf dieser Erde
ist gleichsam ein unfaßbares Fünklein
aus dem ewigen Strahlenlichte des „Wor‐
tes” das da „Gott” ist von Ewigkeit zu
Ewigkeit, und das selbst das Urlicht in
seiner Selbstaussprache als Urwort ist, ‒
so wie es „gleichzeitig” sich selbst als ewi
geGottheit” erfaßt.
.Um letzter Klarheit willen, sei hier der
Vergleich erlaubt mit einer der Kräfte
des physischen Universums, die der Mensch
sich dienstbar zu machen wußte:
.So wie elektrische Kraft ein haardünnes
Fädchen zum Glühen und Leuchten brin‐
gen kann, wie aber der Strom der glei
chen Kraft, der eine große Stadt versor‐
gen soll, in seiner ganzen Stärke ge
braucht, diesen Kohlenfaden im Augen
blick vernichten würde, so würde auch
das Fassungsvermögen des irdischen Men‐
schen im Augenblick vernichtet sein,
191 Mehr Licht
könnte es unbereitet dem Strahlenglanze
des ewigenWortes” und damit dem Ur
lichte selber nahen, ‒ während erden‐
menschliche Fassungskraft es wohl vermag,
jene unendlich zarte Durchströmung zu
ertragen, die im Innersten des seelischen
Innern jenen „Abglanz des Vaters”: ‒
jenen leuchtenden Stern erzeugt, in dem
ihm allein sein „lebendiger Gott” auf die‐
ser Erde erfaßbar werden kann, will er
des Erdgeborenen Bewußtsein nicht zer‐
stören durch seines Glanzes Fülle.
.Beschreitet dann der endlich Erwachte
den einzigen Weg, der wirklich zurück in
die Urheimat des Geistesmenschen führt,
so leuchtet ihm dieser Stern voran und
wird mit jedem errungenen höheren Zu‐
stand lichter und strahlenreicher, bis er
zuletzt, im unnennbaren Glanze des ewi‐
gen „Wortes”: ‒ im sich selbst gebärenden
192 Mehr Licht
ewigen Urlicht, ‒ sich mit ihm selber für
alle Ewigkeiten eint.
Das ist, nach menschlichem Vermögen dar‐
gestellt, der Weg, der den Geistesmen‐
schen nach seinem Falle wieder aufwärts
führt!
.Das ist, was es zu fassen gilt, will man
den Weg zum wesenhaften Geiste, den
einzigen gangbaren Weg für den Men‐
schengeist, in seiner Wirklichkeit erken‐
nen, den Weg, den im Grunde alle geistig
befruchteten Religionen auf dieser Erde
erahnen, und nach ihrer Weise finden
lehren wollen.
.Wer da etwa glaubt, daß er andere Wege
zum Geiste zeigen könne, der betrügt sich
selbst, ‒ und wenn er auch aus bester Ab‐
193 Mehr Licht
sicht handeln sollte, so führt er dennoch
nur sich selbst und alle die ihm folgen,
qualvoller seelischer Wirrsal zu, hier schon,
und durch Aeonen nach dem Erdentode:
‒ wenn nicht zu völliger Bewußtseinsauf‐
lösung, ‒ zum ewigen „geistigen Tode”,
von dem es kein Erstehen mehr gibt...
.Unbeirrbar wirken die „Gesetze” des
ewigen geistigen Reiches und keine Macht
und Weisheit des Himmels und der Erde
kann sie jemals beugen, denn nichts an‐
deres findet in ihnen seinen Ausdruck, als
der ewige Wille des Urlichtes selbst, dem
alles was ist, entstrahlt.
Du siehst die Sternenheere der Nacht und
du kannst nicht fassen, was sie erhält, und
dennoch ist dieses ganze Weltenall mit
seinen zahllosen Sonnensystemen nur das
194 Mehr Licht
geringste Zeugnis einer Kraft und ihres
eingewobenen Willens, einer Kraft, der
auch du dein Dasein dankst, und deren
höhere Offenbarung dir, bis in ihr ureigen‐
stes Wesen, werden kann, wenn du den
Weg, den Liebe und Erbarmen offenhal‐
ten beschreiten magst!
.Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr
gehört, was Gott denen bereitet hat, die
ihn lieben!” Nichts physisch Irdisches
kann das Ewige erfassen!
.Möchten dich meine Worte alles Gött
liche lieben lehren!
.Erst wenn du Göttliches, soweit du in
der Betrachtung das vermagst, erkennst,
wirst du es lieben! Sonst liebst du nur
einen Fetisch, den du dir selbst geschaffen
hast in deiner Vorstellung.
.Erst wenn du die aufwärts ziehende
Kraft des Göttlichen meditierend in dir
empfindest, wirst du auch die ewige Liebe
195 Mehr Licht
in dir erkennen, durch die du alles, was
zu deiner geistigen Rettung dient, voll‐
bringen kannst!
.Dann erst wirst du jene unvergleich‐
liche Kraft, die alle Kräfte meistert, auch
selbst gebrauchen lernen: ‒ die Liebe,
losgelöst von jedem Gegenstand der Liebe!
.Diese göttlich lebendige, schwingende
Urkraft aus der geistigen „Welt”, durch
die allein das Leben des Menschen auf
dieser Erde erlöst werden kann aus aller
Gebundenheit!
.Diese höchste Kraft, durch die du aus
der Haftung dich befreien kannst, in der
dich die unsichtbaren Gewalten der phy‐
sischen Allnatur in der du lebst, gefangen
halten, ‒ sie, die tief unter dir stehen,
und dennoch derzeit mächtiger sind als
196 Mehr Licht
du, bevor dich die Liebe an sich zum un‐
besiegbaren Herrn deines Lebens macht!
.Dann wirst du verstehen lernen, was
das Wort besagen will:
.Gott ist die Liebe, und wer in der
Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott
in ihm!”
197 Mehr Licht
DAS MYSTERIUM
DER KÜNSTLERISCHEN
AUSDRUCKSFORM
Es gab eine Zeit ‒ und vielleicht mag sie
für viele heute noch nicht zu Ende sein ‒
da man „Leib” und „Seele” stets fein
säuberlich geschieden betrachtet wissen
wollte, und sich fast seelisch schämte, mit
einem Leibe behaftet zu sein, sobald man
für sich den Anspruch erhob, zu den gei
stig gerichteten Menschen zu gehören.
.Wer der Seele sich erinnerte, der glaubte
beinahe, des Körpers nicht mehr zu be
dürfen, hielt ihn bestenfalls für ein lästi
ges Bleigewicht, das nur die Seele nieder
ziehen könne, ‒ für ein vielleicht not‐
wendiges, aber greuliches Übel: ‒ ein
widerwärtiges Hindernis aller seelischen
Entfaltung.
.Man suchte den Körper nach Möglich‐
keit „abzutöten”, wähnend, dadurch die
Seele „frei” zu machen, ‒ und ahnte nicht,
201 Mehr Licht
daß die Seele für den Menschen dieser
Erde eine gähnende Leere, ein inhalts‐
loses Sprechen, eine Uhr ohne Zifferblatt,
eine Werkstatt mit tausend surrenden,
aber leerlaufenden Rädern, ein ungemünz‐
ter und unhebbarer Reichtum wäre, ohne
den Inhalt ihres Erlebens, das ihr, hier
auf dieser Erde, durch den Körper ver‐
mittelt wird.
.Man wußte nicht, daß wir keinen einzi‐
gen Gedanken fassen können, der nicht
im Erdenkörper seine analoge Beziehung
hat, seinen eigentlichen Inhalt irdisch sin
nenfällig dargestellt findet: daß all unsere
Vorstellungsbilder, ‒ selbst die kompli‐
ziertesten, im Körper vorgebildet sind,
und daß uns keine Empfindung bewußt
zu werden vermag, ohne Beziehung auf
die Empfindungsfähigkeit des Körpers und
seiner Organe. ‒
202 Mehr Licht
Aber auch heute noch sind die Wenigen
zu zählen, die wissen, daß bei jeglichem
erdbewußten seelischen Wahrnehmen, bei
jeglichem Denken, etwas mehr in Tätigkeit
gesetzt wird, als nur das Gehirn: ‒ daß viel‐
mehr jedes Atom unseres Körpers uns die
nen muß zu seelischer Wahrnehmung, so‐
lange wir diesem Körper in einer phy
sisch körperlichen Erscheinungswelt ver‐
haftet sind, ‒ und daß der Reichtum der
Seele, wie seine Gebrauchsmöglichkeit,
uns hier auf Erden nur durch die Mit
arbeit des irdischen Körpers erreichbar
ist.
.Was wir „fühlen” und „empfinden”
nennen, ist in gewisser Weise Äußerung
der gleichen Kraft, durch die wir auch zu
„denken” vermögen, und unser Fühlen
und Empfinden läßt sich zu gleicher,
wenn nicht weit größerer Schärfe der Ein
203 Mehr Licht
stellung, tatsächlich aber zu weit höhe
rer Sicherheit emporentwickeln, als das
Denken.
.Die Vorgänge, die da in Betracht kom‐
men, sind dem blitzschnellen Aussenden
bewußter und halbbewußter Fragen ver‐
gleichbar, auf die meist mit der gleichen
Schnelligkeit die Beantwortung erfolgt,
und die Antwort kommt uns stets, ‒ ohne
daß wir es ahnen, ‒ vom Körper her, auch
wenn wir glauben, ohne ihn fertig werden
zu können und ihn undankbarerweise ver
achten zu dürfen meinen...
.Bei jedem Gedanken, bei jedem Emp‐
findungsanreiz, und handle es sich um Ge‐
danken noch so abstrakter, um Empfin‐
dungen noch so sublimer Art, senden wir
mit Hilfe unseres Gehirns gleichsam einen
Kundschafter aus in jene Teile des Kör‐
204 Mehr Licht
pers, ‒ ob wir sie nun kennen oder nicht,
‒ in denen das Analogon zu jenen ge‐
danklichen oder empfindungsmäßig zu fas‐
senden Verhältnissen physisch-körperlich
dargestellt ist, die uns im Moment beschäf‐
tigen. Und fast in gleicher Sekunde kehrt
der Bote zurück und berichtet uns ‒ wie‐
der in der Transformation durch das Ge‐
hirn, ‒ von dem, was er gefunden hat.
.Es ist nicht ganz leicht, diesen Vorgang
zu verstehen. Aber unsere ganze Wahr‐
nehmung der physisch gegebenen Welt
wird nur auf solche Art erreicht, und die
ganze äußere Welt wäre uns ein Chaos, ‒
hätte weder Maß noch Grenze und bliebe
uns seelisch unerfaßbar, ‒ ohne diese
Mithilfe des Körpers ‒ nicht etwa nur
des Gehirnes allein, ‒ obwohl gewiß das
Gehirn die zentrale Regierungsstelle des
205 Mehr Licht
Körpers ist, und nichts Körperliches zum
Bewußtsein unserer Seele dringen kann,
ohne diese Zentralstelle durchlaufen zu
haben um in ihr für unsere seelische Wahr‐
nehmung empfindungsfähige Gestaltung
zu erhalten.
Auch alles künstlerische Künden der
Seele ist nur möglich auf dieser Erde durch
die Mitarbeit des Körpers.
.Die künstlerische Ausdrucksform kann
‒ in jeglichem Einzelfall ‒ nur dann zu
einer Sprache der Seele werden, wenn
bewußt oder unbewußt Rhythmen in ihr
und durch sie zum Schwingen gebracht
werden, die irgendwo im Körper analoge
Rhythmen zum Mitschwingen bringen.
.Selbst die äußere Wiedergabe der
206 Mehr Licht
menschlichen Gestalt und der Dinge, die
sie umgeben, in der bildenden Kunst, ist
seelisch nur faßbar durch die Auslösung
gewisser Beziehungs-Bewußtheiten im
Körper des Beschauers, auch wenn er le‐
diglich durch das Auge, und mit Hilfe des
Gehirns, des Geschauten habhaft zu wer‐
den glaubt.
.Wer aber das eigentlich Wesentliche in
aller Kunst erfassen will, der wird stets
mehr mit dem Körper aufzunehmen ge‐
nötigt sein, als er weiß und zugeben
möchte.
.Wohl wird Musik primär durch das Ohr
empfangen, aber der Prozeß des Bewußt
werdens ist komplizierter als mancher
Hörende ahnt! ‒ Das Ohr ist nur Auf
nahmeapparat für die Schallwellen. Um
diese aber zu deuten, ist es genötigt, den
207 Mehr Licht
empfangenen rhythmischen und klang‐
lichen Anstoß durch den ganzen Körper
zu leiten, bis er jeweils jene Stellen im
Körper erreicht, die ihm analog sind: ‒
die gleiche Beziehungsintervalle, gleiche
Schwingungseinheiten, gleiche Rhythmen
aufweisen, und so wie ein Echo die Ant
wort zurücksenden zum Mechanismus des
Ohres, das die Antwort sogleich dem Ge
hirn vermittelt, in dem sie allein sich
zu jener Sprache verdichten kann, die
der Seele faßbar ist.
.Ein Gleiches geschieht in Bezug auf das
Auge, sobald es sich um die Wahrneh‐
mung eines künstlerischen Bauwerkes, ei‐
nes Werkes der Plastik oder der Malerei
handelt, während oft alle Sinne zugleich
beansprucht werden, insonderheit aber
immer das Gehör, sobald es sich um das,
wenn auch im stillen Lesen erfolgende
208 Mehr Licht
Aufnehmen eines Werkes der Dichtkunst
handelt.
.Es ist immer der gleiche Vorgang!
.„Geheimnisvoll am lichten Tag...”
.Alles Wirken „künstlerischer Ausdrucks
formen” ist: ‒ Zeichen-Magie, bedingt
durch das Finden der gleichen Kräftedia‐
gramme, wie sie der Körper physisch-real
in sich zur Darstellung bringt.
.Das gilt sowohl von dem schöpferischen
Gestalten, als auch vom empfindungsbe‐
wegten seelischen Erfassen eines jeglichen
Werkes jeglicher Kunst, wenn auch für
den Gestalter künstlerischer Ausdrucks‐
form ebenso wie für den durch sie Ange‐
sprochenen geheimnisvoll bleibt, was bei‐
der Erleben erregt.
209 Mehr Licht
WESTÖSTLICHE MAGIE
Die paar wenigen wirklichen, wie die
zahllosen bloß vermeintlichen, oder sich
selbst anmaßend so nennenden „Kabba‐
listen” meist seltsamerweise antisemiti‐
scher Färbung, denen die Lenker des „feu‐
rigen Wagens” dieses Buch in die Hände
spielen, werden wohl nicht etwa vermu‐
ten wollen, daß hier ein verborgener Trak‐
tat althebräischer Mystik ans Licht gezo‐
gen werde, ‒ und den Neuling, der kaum
weiß, was er sich unter Kabbalistik vor‐
stellen soll, möchte ich hier zu allererst
doch auf jene in allen Kultursprachen er‐
schienenen sachlichen Werke verweisen,
die von der Mystik des Judentums ‒ eben
der Kabbalah ‒ handeln, damit er sich dort
einige Kenntnis des in Rede stehenden
Gebietes erwerbe. Nötig ist ihm das nicht,
wenn ihn die Bereiche, die ich hier be‐
treten muß, nicht sonderlich interessieren!
213 Mehr Licht
.Ich bin nicht in der Lage, hier etwa auf
die verschiedenen grundlegenden hebrä‐
ischen Texte einzugehen, aus deren inne‐
rer Kraft sich die Mystik und magische
Praktik des streng orthodoxen östlichen
Judentums nähren, und ich sehe auch dazu
keinen Anlaß, nachdem solche Untersu‐
chungen von berufener Seite längst vor‐
liegen.
.Im Besitz sicheren Wissens über die ver‐
gessenen nichtjüdischen Urquellen dieser
Texte, wende ich mich vielmehr eben die‐
sen Quellen zu, um aus ihren Tiefen her‐
aus das eigentlich Wesentliche kabbalisti‐
scher Erkenntnis zu erläutern.
Auf die Gefahr hin, Kabbalisten jüdischen
Blutes, ganz gegen meinen Willen, viel‐
leicht zu verletzen, bin ich zu der grund‐
legenden Feststellung gezwungen, daß das
214 Mehr Licht
ganze mystische System der Kabbalah
nichtjüdischen Ursprungs ist: ‒ daß es
vielmehr in den Traditionen einer indi‐
schen Geheimlehre wurzelt, die in die frü‐
hesten Zeiten indischer Weisheit zurück‐
reicht, und daß die Anhänger dieser Ge‐
heimlehre heute noch auf ihre Art „Kabba‐
lah” praktizieren, ohne von der jüdischen
Kabbalah eine Ahnung zu haben, oder auch
nur ihren Namen zu kennen!
.Näheres hierüber mitzuteilen, ist nicht
meine Absicht, aber der wirklich wissende
Kabbalist wird mir schwerlich den Glauben
versagen können, wenn er dieses Buch in
allen seinen Abschnitten unvoreingenom‐
men und auch „zwischen den Zeilen” le‐
send, in ruhiger Lektüre beendet hat.
Der Neuling aber möge sich vorerst mei‐
ner Führung anvertrauen, bis auch er im‐
stande ist, die von mir vertretene Fest‐
215 Mehr Licht
stellung, soweit er es vermag, zu überprü‐
fen!
.Diese Worte sollen die tiefen Wahr‐
heiten der Kabbalah nur bestätigen, aber
der von Ehrfurcht durchdrungene Freund
der Kabbalah möge es mir verzeihen, wenn
ich hier, aller Polemik ferne, doch nur die
Grundprinzipien des ganzen Systems in
ihrem hohen Werte betrachtet wissen will,
und keineswegs zugleich den ihm liebge‐
wordenen geheimtuerischen vulgären For
meln Beachtung schenke, die vielleicht
ihm selbst heilig und aller Verehrung wert
erscheinen. Wirkliche Kabbalah kann nie‐
mals Angelegenheit des „profanum vul‐
gus” werden, sondern bleibt immer nur
geheime Lehre für unsagbar Wenige!
.Zweck dieser kurzen Erläuterung ist es,
das Studium der Kabbalah bei denen zu
216 Mehr Licht
vertiefen, die auch heute noch den ech‐
ten Kern der alten Lehren erahnen, und
Fernerstehende die urtiefe Weisheit ach
ten zu lehren, die vom weiten Osten her
im Gewande mittelalterlicher jüdischer
Mystik herübergewandert ist bis in die
westliche Welt: ‒ eine Weisheit, die den
überragendsten Geistern des Mittelalters
und der Renaissance zu denken gab, ‒ eine
Weisheit, die von Wenigen nur erkannt,
dennoch von Vielen in stupider Über‐
heblichkeit gelästert wurde, und die auch
heute noch, wenn auch nur in Auserle
senen, da und dort, ‒ besonders in nörd‐
lichen Ländern, ‒ lebendig ist, hoher Ver‐
ehrung und des Einsatzes eines mühseligen
Forscherlebens durchaus wert befunden.
Auch in der Kabbalah handelt es sich,
wie in aller praktischen Mystik, in erster
217 Mehr Licht
Linie um das Hinfinden zu dem höchsten
Geistigen, aus dem alles Leben stammt: ‒
um die Vereinung der Seele mit ihrem
verlassenen Lebensquell: um eine „Unio
mystica”: ‒ die Verschmelzung des ge
trennt Individuellen mit dem ewigen Ur
Individuum, das allein allen individuellen
Daseins gemeinsamer Seinsgrund ist.
.Daneben aber geht eine rein magische
Betätigung: ‒ eine Kraftäußerung im Ge‐
biete der phänomenalen Welt, ‒ zu der
dem strenge geschulten wirklichen Kab‐
balisten die Fähigkeit wird, durch ein Le‐
ben im Geiste kabbalistischer Disziplin, ‒
eine Fähigkeit, deren Erreichung jedoch
nicht Selbstzweck ist, sondern die sich
ganz von selbst einstellt, sobald der Stre‐
bende die Bedingungen schafft, die ihn
geeignet machen, zuvor jene oben ge‐
nannte Unio mystica zu erlangen.
218 Mehr Licht
.Das ganze System ist eine vornehme alte
Abart der in Indien wurzelnden Yoga
Schulung.
Diese spezielle Yoga-Praxis, die wir auf
der westlichen Erdhälfte in hebraisierter
Form als „Kabbalah” kennen, wird heute
noch, wie vor Jahrtausenden, an einigen
Stellen Zentralasiens eifrig geübt, wenn
auch kein Globetrotter jemals davon er‐
fährt. Auch jahrzehntelanger Aufenthalt
in Indien wird schwerlich einem Europäer
so viel geistigen Kredit bei den dortigen
Wissenden schaffen, daß sie ihm auch
nur ein Weniges ihres strenge gehüteten
und selbst den Gelehrten zumeist uner
reichbaren mystischen Wissens offenba‐
ren, obwohl keine Nacht vergeht, in der
nicht die darauf gegründete magische
Praktik feierlich, in streng vor aller Ent‐
219 Mehr Licht
weihung geschützten Tempeln, ausgeübt
würde.
.Es dürfte fast überflüssig sein, zu beto‐
nen, daß die indischen, tibetanischen und
chinesischen „Kabbalisten” in hingebend‐
ster geistiger Verbindung mit der hohen
Geistesgemeinschaft stehen, als deren gei‐
stigem, ewigkeitsbestimmten Glied mir
das Wissen über diese Dinge ward, die kaum
jemals vorher einem Europäer enthüllt
wurden, mochte er auch alle Länder, die
hier in Betracht kommen, aus eigener An‐
schauung kennen und fließend ihre Spra‐
chen sprechen.
.Wenn hier von westöstlicher Magie ge‐
sprochen wird, so möge man aber stets
dessen eingedenk bleiben, daß die mittel‐
alterliche jüdische Kabbalah eine Art
Übersetzung” und Umbildung jener Ur
Kabbalah” darstellt, die, ohne diesen
220 Mehr Licht
Namen ‒ aber in allem Wesentlichen iden
tisch, noch heute im Innern Asiens leben
dig ist. Von den wirkenden Prinzipien
in dieser reinen und nur verschwindend
Wenigen zugänglichen Yoga-Praktik kün‐
det, in anderer Sprache, dieses ganze
Buch, und die so überaus seltenen wirk
lichen „Kabbalisten” des Westens, denen
es in die Hand fallen mag, werden gar bald
herauszufinden wissen, weshalb ich hier
ausdrücklich auf den indischen Ursprung
der erst vom Mittelalter an auch hebrai‐
sierten „Kabbalah” hinzuweisen, allen An‐
laß finde.
.Unter „Kabbalah” verstehe ich aller‐
dings beileibe nicht die in gewissen Krei‐
sen der europäischen und amerikanischen
Großstädte von zerstörten Existenzen aus‐
geübte abergläubische Pseudomagie, die
diesen Namen unverantwortlicherweise
221 Mehr Licht
dreist usurpiert, sondern das tiefste gei
stige Erkennen, wie es nur noch im öst‐
lichen orthodoxen Judentum, und auch da
nur vereinzelt, zu finden ist, ‒ von dem
jene nichtjüdischen, ja zumeist aller jü‐
dischen Geistigkeit gänzlich fremden After‐
kabbalisten, die in närrischen Beschwö‐
rungsformeln Kabbalistik auszuüben glau‐
ben, und sich als Freibeuter jüdischer Weis‐
heit fühlen, nur ein lächerliches Zerrbild
schufen.
.Die ehrfurchtgebietenden erleuchteten
Geister des mittelalterlichen und nachfol‐
genden orthodoxen Judentums, die so in‐
brünstig danach strebten, das von ihnen
als volkseigen geglaubte geheime Wissen
der Kabbalah der bloßen Spekulation wie
dem Aberglauben düsterer Vulgärmagie
unerreichbar werden zu lassen, hätten
wahrlich nicht befürchtet, daß sich nach
222 Mehr Licht
Jahrhunderten so zahlreiche extrem ju‐
denfeindliche Nichtjuden finden könnten
‒ nicht des Hebräischen kundig und ah‐
nungslos gegenüber jüdischer Frömmig‐
keit, ‒ um das ihnen vielfach nur in frag‐
würdigster Übersetzung bekannte kabba‐
listische Sprach- und Gedankengut zu ei‐
nem abstrusen, allem jüdischen Fühlen
und Denken fremden Zaubertreiben zu
mißbrauchen! Es ist aber hier auch ent‐
schieden zu warnen vor einer weitverbrei‐
teten ängstlichen Überschätzung alles des‐
sen, was mit Kabbalistik zusammenhängt,
und insonderheit vor der törichten Mei‐
nung, man müsse von allen diesen Dingen
„wissen”, wolle man nicht als Ignorant an
Geheimnissen vorübergehen, die zu er‐
kunden so vielen Menschen als höchste
Lebensaufgabe galt. Um wirklich zu den
höchsten Erkenntnissen zu gelangen, die
sich in den absichtlich vieldeutig gestal‐
223 Mehr Licht
teten schnörkelreichen Bildern kabbali‐
stischer Schriften verbergen, gehört, wie
ich schon sagte, ein ihrer Erforschung ge‐
widmetes Menschenleben. Leichtfertiges
Lustwandeln in diesen Vorstellungsgebie‐
ten führt jedoch nur zu einem wider‐
lichen Vulgärokkultismus, dem in unzäh‐
ligen billigen Traktätchen von verantwor‐
tungslosen Verschacherern kabbalistischer
Weisheit immer noch neue Nahrung an‐
geboten wird.
224 Mehr Licht
DAS LICHT DES GEISTES
IM CHRISTENTUM
In allen großen Religionssystemen, die je
durch Erleuchtete der Welt gegeben wur‐
den, lassen sich Spuren geistigen Lichtes
finden, aber es ist hier nicht meine Ab‐
sicht, alle Religionen auf solche Geistes‐
bekundung hin zu untersuchen, denn man
müßte Folianten füllen, wollte man auch
nur die wichtigsten religiösen Lehren und
das Leben der Gläubigen, die nach ihnen
handeln, gerecht und billig von diesem
Gesichtspunkt her betrachten.
.Wir wollen uns hier allein auf das Chri
stentum beschränken, das, ‒ von vielen
als einzige Wahrheit angesehen, von weit
mehreren nur geachtet, oder aber gar ge
haßt und befehdet, ‒ für den Menschen
der westlichen Erdhälfte doch unstreitig
die wichtigste Religionsform darstellt.
.Schon höre ich aber die Frage: welches
227 Mehr Licht
„Christentum” ich wohl meine, ‒ und
der Bekenner des älteren Systems, ‒
also etwa der griechisch orthodoxe oder
der römische Katholik, ‒ ist ebenso
geneigt nur seine Auffassung allein als
„richtig” gelten zu lassen, wie der auf
irgendeiner der zahllosen jüngeren An‐
schauungen Fußende bereit ist, in den
älteren Glaubensformen und ihrer Aus‐
drucksgestaltung nur „törichten Aber‐
glauben” zu sehen. Der Haß zwischen
Christen und Christen, auf Grund wider‐
streitender Meinungen, ist ein viel ärgerer
Feind des Christentums, als alle ätzend an‐
fressende Kritik sämtlicher Virtuosen der
Verhöhnung seiner Lehren!
.Unsägliches Unheil kam durch den Wi‐
derstreit gläubiger Meinungen schon über
Menschen und Völker, und noch immer
ist des Unheils kein Ende, das im Na‐
men christlicher Gläubigkeit in engeren
228 Mehr Licht
Kreisen Tag für Tag heraufbeschworen
wird.
.Aber was hier von Oberflächlichen dem
Christentum zu Lasten gerechnet werden
mag, hat an sich mit dieser Religionsform
nichts zu schaffen.
.Es ist Ausfluß menschlicher Enge,
menschlicher Parteilichkeit und Recht‐
haberei, entspringt mißleitetem mensch‐
lichen Machtbedürfnis: ‒ der Sucht, über
andere zu herrschen bis in die letzten ge‐
heimsten Tiefen ihrer Geistigkeit, und ‒
nicht zuletzt ‒ dem verzeihlichen Wahn,
allein die „Wahrheit” zu „besitzen”, und
sie den andern, auch gegen ihren Willen,
aufzwingen zu müssen, um „ihre Seelen
zu erretten”.
229 Mehr Licht
Nicht von diesen Irrpfaden des christ‐
lichen Glaubenslebens und dem auf sol‐
chen Irrgängen üblichen Handeln will ich
hier reden.
.Was hier zu sagen wäre, ist nur allzu be‐
kannt, und stets wird auch die wahnwit‐
zigste Irrung ihre scharfsinnigen und von
vermeintlich „echter” Glaubensglut in
ihrer Art erfüllten Verteidiger finden.
.Das Christentum ist noch viel zu jung
auf dieser Erde, als daß es schon in seinen
göttlichen Tiefen erkannt sein könnte,
und die da glauben, es habe sich selbst
„überlebt” und durch die Sünden seiner
„Kirchen” ad absurdum geführt, irren
sehr, denn sie haben nur die bis jetzt ge
übte Art seiner Auswirkung im Auge und
ahnen nicht, daß dereinst eine Zeit kom‐
men wird, die fast das Meiste, was man bis
230 Mehr Licht
heute „Christentum” nennt, nur mit
Scham im Herzen betrachten kann, so,
wie der gereifte Mann die brutalen Tor‐
heiten und überheblichen Ansprüche sei‐
ner Jünglingszeit betrachtet.
Man möge diese Worte aber nicht etwa
mißdeuten!
.Ich bin wahrhaftig weit entfernt davon,
zu behaupten, daß bisher nichts von wah‐
rem Christentum in der Welt zu finden ge‐
wesen wäre, ‒ aber ich darf auch nicht
unterlassen, darauf hinzuweisen, daß der
echte Kern des Christentums für die weit
aus Meisten, die sich „Christen” nannten
und nennen, bis zum heutigen Tage noch
in zahllosen, mehr oder weniger harten
Schalen steckt, und daß man die köstliche
Süße dieses innersten Kernes noch nicht
231 Mehr Licht
verkostet hat, auch wenn man zuzeiten
durch die Risse der Schalen hindurch
schon ein Weniges seiner saftreichen Fülle
aufzufangen wußte.
.Man weiß noch nicht, und man will es
vielfach nicht wissen, daß dieser innerste
Kern des Christentums wesentliche Gei
steswirklichkeit ist, und daß erst alle
Schalen” als an sich unwesentlich er‐
kannt werden müssen, bevor man das gött
liche Mysterium des Christentums von
ihnen befreien und in seiner Reinheit er‐
schauen kann, ‒ bevor man diesem aller‐
innersten Kern das Tabernakel zu bauen
vermag, in dem er für alle Zeiten der
Verehrung der Menschheit sich darbieten
kann, für Formen der Verehrung, die sei‐
ner würdig sind. ‒
232 Mehr Licht
Es mag dem gläubigen Gemüte vertraut
und wohltätig erscheinen, wenn immer
wieder an die ersten Anfänge des Chri‐
stentums erinnert wird, ‒ aber man ver‐
gißt dabei, daß das Samenkorn etwas an‐
deres ist als der Keim, und der Keim
etwas anderes als die zur Vollgestalt rei‐
fende Pflanze, diese aber hinwiederum
etwas anderes als die Blüte, und die Blüte
ein anderes als die zur Reife entwickelte
Frucht.
.Wer eine sich entfaltende Pflanze stets
wieder zurückschneiden wollte, damit sie
in ihrer Form nie die schlichte Einfach‐
heit des Keimes überschreite, der würde
gewiß nicht als guter Gärtner gelten.
.Das Christentum aber ist bis auf den
heutigen Tag noch immer einer in ihrer
Entfaltung begriffenen Pflanze vergleich‐
233 Mehr Licht
bar, und es ist nicht die Aufgabe seiner
Bekenner, jeden, wenn auch vielleicht
allzu üppig erscheinenden Blatttrieb an
der Wurzelstaude wegzuschneiden, son‐
dern der Pflanze freies Wachstum zu ver‐
statten, ihre Formenwelt sich entfalten
zu lassen und keiner Form zu wehren, die
sich aus den Wurzelkräften, wenn auch
unter Aneignung der Säfte des gegebenen
Bodens, bilden mag.
.Hier sind „Reinigungsbestrebungen”
sehr wenig angebracht, denn die Pflanze,
um bei diesem Bilde zu bleiben, kann
sich nicht aus sich selbst ernähren; sie
muß sich „fremde” Stoffe assimilieren,
muß die ihr ursprünglich fremden Säfte
in sich aufnehmen, um sie in sich selbst
zu verwandeln. ‒
.Die Formen, die allzu üppig um den
234 Mehr Licht
Wurzelknoten herum ins Kraut schießen,
welken ganz von selbst, wenn einmal
ihre Aufgabe erfüllt ist, den sprossenden
Trieb zu schützen, und neue Formen
bilden sich, die den Verlust der ersten
Schutzblätter völlig vergessen machen,
weil auch sie, nun zum Wesensbestand
teil der Pflanze bestimmt, alle bleibende
Charakteristik ihrer Eigenart aufweisen.
Man hat an der Pflanze Christentum, in
bester Absicht, zu viel „herumgeschnit‐
ten”, und man setzt stets von neuem das
Messer an, so daß es begreiflich sein
dürfte, daß die Pflanze in ihrem naturge‐
mäßen Wachstum zurückbleiben mußte.
.Ein Wunder aber könnte man es fast
nennen, daß die Pflanze trotz all dieser
herben Behandlung noch am Leben ist! ‒
235 Mehr Licht
.Man gehe ihr nicht stets wieder erneut
an ihres Lebens Mark, erfreue sich viel‐
mehr all ihrer älteren und neueren
Triebe, und stelle ihr Wachstum in die
Hände des ewigen Gärtners, der weiß,
was ihr frommt, und man wird in abseh‐
barer Zeit schon alle schädlichen Aus‐
wüchse verschwinden, die krafterfüllten
Keime aber zu hoher Schönheit sich ent‐
wickeln sehen.
Es sei mir verziehen, daß ich hier in ver‐
schiedenen Bildern reden muß, aber wer
gewillt ist, mich zu verstehen, der wird
aus diesen Bildern leicht enträtseln, was
ich zu sagen habe, und ich bin nicht ge‐
nötigt, nach der einen oder der anderen
Seite hin, gläubige Seelen zu verletzen.
.Ich rede keiner der bestehenden christ‐
236 Mehr Licht
lichen Glaubensformen das Wort und sehe
in jeder göttliche Geisteskräfte am Werke,
nur gehemmt durch gutgemeinte, aber
auf allzu enge Parteilichkeit eingestellte
Glaubensmeinung, gehemmt durch all‐
zu ängstliche Besorgnis, Liebgewordenes
preisgeben zu müssen, oder scheinbar
Überwundenes dennoch als in seiner Art
nicht verwerflich anerkennen zu sollen.
Man vergesse aber doch nicht, daß jede
urgültige Wahrheit in ihrer Auswirkung
gar mannigfache Formen verträgt!
.Man werde sich doch endlich des Ur
wesentlichen am Christentum voll bewußt
und überlasse die jeweilige Bildung seiner
Betätigungsform ehrfürchtig achtend der
menschlichen Verschiedenartigkeit seiner
Bekenner!
237 Mehr Licht
.Die Lebensbedingungen des Adlers sind
andere, als die der Nachtigall, aber ein
jedes Lebewesen dieser Erde atmet die
gleiche lebenspendende Luft, die den
Erdball umgibt, und so auch sind die Be‐
dürfnisse der menschlichen Seele gar
mannigfaltig, obwohl sie allüberall das
göttliche Licht des Geistes benötigt, soll
sie gedeihen und leben.
Im Christentum, so wie es sich bis heute,
geschichtlich bedingt, aber stets aus einer
ewigen geistigen Quelle genährt, ent‐
faltet hat, sind trotz aller vorher aufge‐
zeigten „menschlich-allzumenschlichen”
Unvollkommenheiten, ‒ ja aller frühe‐
ren Fürchterlichkeiten, ‒ tiefste Geistes
kräfte am Werke und die überragende
Sonderstellung, die dieser Religionsform
von ihren gläubigen Anhängern zuteil wird,
238 Mehr Licht
gründet sich durchaus auf reale Gegeben‐
heiten, wenn auch die Auswirkungsfor
men, die das Christentum bis heute zeigte,
noch nicht die Berechtigung zu solcher
Sonderstellung erkennen lassen.
.Uralte, urgründig im Ewigen wur
zelnde Weisheitslehren sind in seinen
Glaubenssätzen verborgen, ‒ nur selten
von Seltenen in ihrer ganzen Bedeutung
erkannt, von den weitaus meisten seiner
Bekenner noch nicht einmal dunkel er
ahnt.
.Gar vieles erscheint da der fatalen Gei‐
stestrockenheit unserer Tage als Petrefakt
alten „heidnischen” Aberglaubens, was
einst durch sonnenklare, im Lichte des
Geistes glühende Erkenner, christlicher
Lehre einverleibt, aber von neuerem Puri‐
tanertum, als anscheinend „wesensfremd”
wieder herausgeschnitten wurde.
.Hohe Eingeweihte alter, um die Wirk‐
239 Mehr Licht
lichkeit des Ewigen wissender Mysterien
haben einst in weiser, überragender Ein‐
sicht den Tempel dieser Lehre erbaut, ‒
und so rein und herzenseinfältig auch die
Absicht Späterer war, die an den Formen
dieses Tempels Anstoß nahmen, so kamen
sie doch an kosmischem Erkennen nicht
von ferne Jenen gleich, die einst Grund‐
und Aufriß dieses Tempelbaues schufen.
.In bester Absicht, und auch im Grunde
durch manches Geschehen wohlberechtigt
zur Kritik, haben diese Späteren am Bau
gesündigt ohne es zu ahnen. Die Ge‐
schichte zeigt nur allzudeutlich, daß we
sentliche Steine des Baues entfernt wur‐
den, so daß dem steten Abbröckeln des
Mauerwerks kaum mehr Einhalt zu tun ist.
.Nur ein erneutes tiefes Eindringen in
die ewigen Mysterien, denen das Christen‐
240 Mehr Licht
tum lebendige Darstellungsform zu schaf‐
fen berufen ist, kann diese folgenschwere
Unterbrechung seiner Entfaltung beenden,
kann gegenseitiges Verstehen und Duldung
schaffen, und kann seine einzelnen Be‐
kenntnisarten zu gegenseitiger Befruch‐
tung und Erneuerung wachrufen.
Gegensätzliche Auffassungsarten mögen in
Ruhe so lange bestehen bleiben, wie sie
vonnöten sind, und man maße sich nicht
hier ein Richteramt an, wo höchste gei‐
stige Leitung allein das Gegensätzliche
zu seiner Zeit zu vereinen fähig ist.
.Die wahren Helfer in den heutigen Nö‐
ten des Christentums sind vor allem jene
deutschen Geisteskünder, die man als
„mittelalterliche Mystiker” zu kennen
meint: ‒ die wirklichen „Theosophen” im
241 Mehr Licht
paulinischen Sinne, ‒ die wahrhaftigen
Geisteskundigen, wie Eckehard, Tauler,
der dem Namen nach unbekannte Frank
furter Deutschordensherr, dem wir das
Büchlein vom vollkommenen Leben”,
die „Theologia deutsch” verdanken, der
Domherr Thomas a Kempis, der seinen
Mitgläubigen die „Nachfolge Christi
schenkte und ‒ für die, denen seine kos‐
mischen Gesichte nicht allzu grandios und
erdrückend sind, der Görlitzer Seher Jakob
Böhme. ‒ Obwohl er vor allem Dichter ist,
darf auch Angelus Silesius an dieser Stelle
nicht vergessen werden.
Ein weites Wirkungsfeld eröffnet sich je‐
doch auch einer neueren Theologie, ohne
deren zielbewußte Hilfe die entstandenen
Schäden kaum zu heilen sind.
242 Mehr Licht
.In erster Linie gilt es da, den Knäuel
der dogmatischen Verwirrung aufzulösen,
der durch die religionsgeschichtliche, also
rein zeitlich, bedingte Gleichsetzung des
Meisters von Nazareth mit der Selbst‐
aussprache des ewigen Urlichtes, ‒ dem
Logos ‒ entstanden ist.
.Hier ist eine wirkliche Re-formation,
eine wirkliche Reinigung der Begriffe,
brennend nötig. ‒
.Die Darstellung der Selbstaussprache
Gottes, des Logos, des ewigen „Wortes,
das bei Gott ist und Gott ist” und die
reinlich davon zu trennende Darstellung
der geist-menschlichen Potenz, die uns in
dem Meister der Evangelien entgegen‐
tritt, ‒ das alles theologisch derart be‐
gründet, daß jedes ältere Dogma dadurch
nicht aufgehoben, sondern im wahrhaftig‐
243 Mehr Licht
sten Sinne verklärt würde, ‒ diese Tat
harrt noch des Mutigen, der sie wagt, des
Kundigen, der sie zu wagen imstande ist,
und der Segen, der aus dieser Tat erblü‐
hen könnte, wäre unermeßlich.
Die uralte Weisheitslehre, deren Künder
in unseren Tagen zu sein, ich verpflichtet
bin, steht in keinerlei Gegensatz zu dem
ewigen Wesenskern des Christentums, so
gegensätzlich dem oberflächlichen Blick
auch manches in dieser durch mich ver‐
tretenen Lehre fürs erste erscheinen mag.
.Wer begriffen hat, aus welcher Quelle
diese Lehre stammt, dem muß schon der
bloße Gedanke absurd erscheinen, daß
hier ein Gegensatz obwalten könnte.
.Es ist jedoch nicht meine Aufgabe, der
244 Mehr Licht
Sachwalter irgend eines Religions-Systems
der Menschheit zu sein, und sei es auch
das erhabene Lehrgebäude des Christen
tums.
.Ich habe nur die hohen ewigen Werte
aufzuzeigen, deren Zeuge jedes der großen
geistig befruchteten Religions-Systeme der
Erde ist.
.Das schließt nicht aus, daß ich, ‒ von
christlichen, uralten deutschen Stämmen
und Geschlechtern entsprossenen Eltern
geboren und im Christentum unterrichtet,
‒ alle meine Voreltern in diesem Glauben
einst geborgen wissend, ‒ mir selbst die
Pflicht setze, zu einer echten Vertiefung
christlicher Lebensauffassung, vom Stand‐
punkt der mir möglichen inneren Wesens‐
schau her, das meinige beizutragen.
245 Mehr Licht
.Schon gibt es nicht Wenige, und nicht
wenige Seelenhirten der beiden hauptsäch‐
lichen christlichen Konfessionen, denen
meine Lehren Führer wurden bei ihren
suchenden Wanderungen durch die Wun‐
derwelt christlicher Lehre. Ich habe kei‐
nen Grund, daran zu zweifeln, daß immer
mehrere, die guten Willens sind, sich das,
was ich oft in anderer Form zu sagen habe,
in „christliche” Sprache übersetzt, zu ei‐
gen machen werden, um so ihrer eigenen
Glaubensmeinung untrügliche Stütze zu
geben.
Es ist keineswegs nötig, ja es wäre im höch
sten Grade verderblich, neue christliche,
oder sonstige geistige Gemeinschaften be‐
gründen zu wollen.
.Wir haben der Kirchengemeinden und
246 Mehr Licht
Konventikel wahrlich schon mehr als ge‐
nug!
.Ein Jeder aber, der in irgendeiner die‐
ser Gemeinden verankert ist, und der über‐
zeugt zu sein glaubt, daß die christliche
Form der Gottesgemeinschaft mehr zu sei‐
nem Herzen spricht als Anderes, sei auf
seine Weise bemüht, durch sein eigenes
Leben, seine eigene vertiefte Erkenntnis
und Gläubigkeit, der Enthüllung des ewi‐
gen göttlich-geistigen Wesenskernes des
Christentums zu dienen.
.Er suche aber auch jene Anderen zu
verstehen und erziehe sich zur Ehrfurcht
vor ihrer Geistesführung, die in anderen
Formen als er, dem Wesenskern des Chri‐
stentums zu nahen suchen.
.Und ferne sei ihm jede pharisäische
Selbstgerechtigkeit, die ihrer Verehrung
christlicher Lehre nicht besser Ausdruck
247 Mehr Licht
geben zu können meint, als indem sie den
in nicht-christlicher Form die Wahrheit
Suchenden verständnislos, oder gar mit
Haß begegnet!
.In den Einöden Innerasiens leben auch
heute Männer, denen kein Europäer außer
dem, der hier spricht, sich an wirklicher
Einsicht in das, was das Wesen des Chri‐
stentums ausmacht, auch nur formell ver‐
gleichen darf, und denen trotzdem nichts
ferner liegt, als sich einem „christlich” ge‐
meinten Glaubenskreise anzuschließen.
.„Viele werden kommen vom Morgen
und vom Abend, und mit Abraham, Isaak
und Jakob im Himmelreich zu Tische
sitzen.”
.Ist es noch nötig, zu sagen, daß nur lä‐
cherlicher Hochmut und blinde Anmaßung
sich vermessen können, zu glauben, die
Absichten des göttlichen Geistes hinsicht‐
248 Mehr Licht
lich der Zukunft des Christentums, vor‐
witzig bestimmen zu dürfen?! ‒
.Allüberall hat „der Herr der Ernte
seine Arbeiter in seinen Weinberg ge‐
sandt”, und jede fruchtbringende Rebe
wird von ihnen gefunden und sorglichst
gehütet werden.
.Die gleiche geistige Sonne wird die
Früchte aller Reben zur Reife gelangen
lassen, zu geistig gesetzter Zeit!
249 Mehr Licht
DAS GEHEIMNIS
DER ALTEN DOMBAUHÜTTEN
Hier ist nun zu erforderlicher Erhellung
die Rede von den geistigen Dombauhütten,
die zu allen Zeiten „Arbeiter” suchten,
Abeiter, die mitzuhelfen gesonnen waren,
an dem großen geistigen „Bau” jenes er‐
habenen Gottestempels, von dem allein
die Leuchtenden des Urlichtes auf dieser
Erde, die fern allen Machtgelüsten und
persönlichen Ehrgeizbestrebungen nur
dem Ewigen im Menschen dienen, Plan
und Ausmaße kennen. „Arbeiter” am Bau
dieses Menschheitsdomes kann jeglicher
Erdenmensch sein, insoferne er willens ist,
an sich selber geistig zu arbeiten, bis er
der rein geistigen Form entspricht, der er
zu entsprechen vermag.
.In mancherlei äußerer Gemeinschaft,
und nach mancherlei seltsamer Satzung,
haben sich seit ältester Zeit die zu Emp‐
fang der Lehre und zum Werk Bereiten
zusammengefunden, und die symboli‐
253 Mehr Licht
sche „Geschichte” solcher Vereinigungen
geistig Suchender tischt wahrlich keine
Märchen auf, wenn sie die Frühesten ihrer
Art schon unter den ersten menschgewor‐
denen Menschentieren dieser Erde, den
ersten wirklichen „Menschen” sucht, ja
sie kommt weit näher der Wahrheit über
den Ursprung der hier gemeinten gemein‐
samen Bestrebungen, als alle rationalisti‐
sche moderne Forschung nach frühesten
Quellen, die doch nur aus Niederschriften
recht später Chronisten fließen.
.Die Tempelbauten des alten Ägypten
wurden ebenso von wirklichen Kennern
des Geistigen im Menschen für die Ent
faltung der Seele errichtet, wie der Par
thenon, und, in christlicher Zeit, so man‐
che weltberühmte Kathedrale. ‒ Alle
diese äußeren Tempelbauten zeigen in
sichtbaren Formen seelische Symbole aus
dem ewigen unsichtbaren Tempelbau, der
254 Mehr Licht
um der Entfaltung der Seele willen bauen
lehrte. Nicht umsonst entstammen der al‐
ten Baukunst die Symbole für geistige
Dinge, die als zu heilig galten, um in die Re‐
deweise des Alltags einzugehen. Künstler
der Baukunst hatten selbst die Symbole
geschaffen! Auch die Schöpfer der großen
Baukunstwerke des antiken und mittel‐
alterlichen Morgenlandes waren ebenso
wie die Baumeister des alten Mexiko, tra‐
ditionelle geistige Schüler dieser, „des
Bauens und der Zierde Kundigen”, davon
heute noch zahllose Bauten und Ruinen
deutlich zeugen.
Doch der Ursprung der Impulse zu gegen‐
seitiger geistiger Hilfe ist etwas anderes,
als der Ursprung der vielerlei Namen, un‐
ter denen man sich vereinigte. ‒ Die Na‐
men wechselten, aber die selbstgestellte
255 Mehr Licht
Aufgabe, einander zu Gott zu führen, blieb
im Wesentlichen die gleiche.
.Freilich darf man nicht glauben, je‐
mals etwa geistig vollendeten „Wissen‐
den” ewiger Weisheit in irgend einer der
mancherlei geistig gerichteten Werkstätten
zu begegnen!
.Heute gar sind diese geistigen Arbeits‐
gemeinschaften bestenfalls nur noch Auf‐
bewahrungsstätten des Arbeitsgerätes, der
Aufrisse und der Bauschablonen: ‒ Ver
wahrungsorte der uralten, heiligen Sym
bole, deren Deutung den Mysten erst wirk‐
lich zur Annahme der Lehre befähigt,
während sie jedoch gegenwärtig unter den
etwa noch zu gegenseitiger Belehrung Ver‐
sammelten niemand mehr deuten kann,
niemand mehr zu deuten wagt, ‒ es sei
denn, auf eine spießbürgerlich-huma‐
256 Mehr Licht
nistisch-rationale Weise, oder gar in irgend
einem töricht phantastischen Sinn.
.Trotzdem bleibt jede wirkliche geistige
Dombauhütte ein heiliger Ort, und es
wird nichts von allem je verloren gehen,
was man ahnungslos in ihr für spätere Zei‐
ten gemächlich verwahrt, ‒ mögen auch
da und dort womöglich, durch Menschen,
die in Verfolgungswahn handeln, symbo‐
lische Requisiten äußerlich demoliert wer‐
den, ‒ mögen auch heutige Verwahrer
selbst nur aus Pietät noch achten, was sie
nicht mehr geistig zu gebrauchen wissen!
. Es werden wieder wirkliche, des Werk‐
zeugs kundige, geistig erleuchtete „Er‐
bauer” erstehen, wenn es ‒ „an der Zeit
ist, und sie werden den heutigen Hütern
der alten Lehrschätze einstens gewiß zu
danken wissen, wenn diese Verwahrer we‐
257 Mehr Licht
nigstens nicht zerstreuten, was ihnen: ‒
als des heiligsten Handwerks Unkundigen
‒ nichts mehr zu „bedeuten” schien.
Möglich ist es, daß diese neuen Seelen‐
kundigen noch den Namen ihrer Vor‐
gänger durch die Jahrhunderte kommen‐
der Geschlechter führen, aber Bedingung
zu gegenseitiger werkgerechter geistiger
„Erbauung” ist das nicht, so wenig es in
früheren Jahrhunderten jemals Bedingung
war. Die Namen, die man sich, als Ge‐
meinschaft, in neueren Zeiten gab, oder
gar irgendwelcher Namen Mißbrauch, ha‐
ben nicht das Geringste mit der gemein‐
ten Sache selbst zu tun!
.Auch ist es nicht unbedingt nötig, daß
jeder wahrhafte geistgeleitete „Steinmetz”
an Gottes Tempelbau, einer Arbeitsgemein‐
schaft äußerlich angegliedert ist, ja es läßt
258 Mehr Licht
sich verstehen, daß mancher sich nur den
Leuchtenden des Urlichtes, als den Hütern
des geistigen Bauplanes, zur „Arbeit”
unterstellt, der erst dann sich zu den
Hütern des Werkzeugs gesellen würde,
wenn er wieder solche unter ihnen fände,
die das Werkzeug auch selbst zu gebrau
chen wüßten. ‒
Was ist nun dieses geistige „Werkzeug”,
‒ was die geistige „Arbeit am Stein”, ‒
und was der geistige „Tempelbau?” ‒
.Es sei der Versuch gewagt, zum Heil
der erhabensten Kunst: ‒ der Kunst der
Selbstgestaltung ‒ allen Fähigen Antwort
zu geben, soweit es angängig ist, ohne
Kunstgeheimnisse, die schwer errungen
werden müssen und Mysterien des Tempel‐
planes, die nur der Geheiligte erfaßt, Un
259 Mehr Licht
mündigen zu verraten, eingedenk des
Wortes: „Werfet das Heilige nicht den
Hunden vor und die Perlen nicht vor die
Säue!” (Auch außerchristliche Gemein‐
schaften der Antike und des Orients haben
alle mit strengsten Strafen bedacht, die
jemals versuchten, den hier erteilten Rat
zu mißachten.)
Beim Bau des erhabenen Domes, den es
geistig zu errichten gilt, ist jeder, der daran
arbeitet, Arbeiter, Werkzeug und Bau
stein zugleich.
.Arbeiter” durch seinen freien Willen,
wird er zum „Werkzeug” durch die er‐
worbene „Kunst”: ‒ durch Deutung der
Symbole, die ihm ihre Anwendung zeigen,
‒ und zum „Baustein” endlich durch die
Arbeit an sich selbst, mittels der bau‐
260 Mehr Licht
gerechten Zubereitung im rechten Ge‐
brauch des dargebotenen Werkzeugs.
.Nur aus kunstgerecht nach geistiger An‐
weisung der bauleitenden „Steinmetzen”
behauenen Steinen kann der Dom der
Menschheit nach dem ewigen, aus der Lie‐
be, die Gott ist, gegebenen Bauplan er‐
stehen.
.Jeder, der an diesem hochheiligen Tem‐
pel Gottes „bauen” hilft so gut er es ver‐
mag, will sich selbst als tragenden Bau
stein seinem Gefüge einverleiben, den
Weisungen Derer entsprechend, die selbst,
durch eigenen Willens Auswirkung, zu ra‐
genden Säulen behauen, als Monolithen,
das hohe Gewölbe des Tempels zu tragen
haben.
.Um Baustein zu werden, muß jeder,
der danach strebt, das Handwerk erlernen,
261 Mehr Licht
muß Unterweisung erhalten von einem,
der bereits das Handwerk kennt, damit er
fähig wird, das Handwerkszeug gebrau
chen zu können und damit sich selbst nach
Vorschrift geistiger Planung zu bearbeiten.
.Noch ist er ein rauher, unregelmäßig ge‐
formter, dem Steinbruch entnommener
Stein. Er wird sich durch eigene Arbeit
behauen und schleifen müssen, auf daß er
zum maßgerechten an seine Stelle passen‐
den Baustein werde.
.Ist er es geworden, so wird er willig sich
an seiner ihm vorbehaltenen Stelle ein
fügen lassen in den heiligen geistigen
Tempelbau.
Doch, damit ist er für sich selbst noch nicht
am Ende des Werkes.
262 Mehr Licht
.Noch ist er innerlich dunkel, ‒ aber er
soll als Baustein leuchtend werden, denn
der Dom, den es zu bauen gilt, ist aufer‐
baut aus innerlich leuchtenden Steinen,
damit er in den unermeßlichen Weiten der
Ewigkeit mit seinem geistigen Lichte er‐
strahle.
.Nun beginnt für den Mysten die innere
Arbeit, zu der ihn die altgeheiligten Sym
bole der geistigen Dombauhütte leiten, die
er schon zu Anfang kennen lernte, und die
er auch jetzt, nachdem er Baustein wurde,
dem das Handwerkszeug nichts mehr nützt,
in sich behält als untrügliche Räte.
.Trotzdem könnte er, aus sich selbst her‐
aus und allein auf sich beschränkt, nur
schwerlich, und erst nach unermeßlichen
Zeiten, zu eigenem Lichte kommen.
263 Mehr Licht
.Er bedarf der Aufnahme jener Strahlen,
die von den anderen „Steinen” ausgehen,
die gleich ihm sich einstens formten, aber
schon leuchtend wurden, ‒ und vor allem
braucht er das Licht jener Säulen-Mono
lithen, die im Innern des Tempels stehen.
.Ohne seine eigene innere Arbeit, zu
der ihn die in seinem Innersten erkann
ten Symbole leiten, würde er aber nie‐
mals tauglich werden, dieses Licht, das
ihn allenthalben umstrahlt, auch aufzu
nehmen, und es könnte geschehen, daß
die hohen Dombaumeister in ihm einen
toten” Stein erkennen müßten: ‒ daß
sie ihn also aus dem Gefüge des Baues zu
entfernen, und einen anderen Stein an
seine Stelle zu setzen hätten. ‒
.Bringt er sich aber durch eigene innere
Arbeit soweit, daß das Licht, das ihn rings‐
264 Mehr Licht
um überstrahlt, auch ihn im Innern leuch
tend werden lassen kann, dann wird er
für alle ewigen Zeiten in seinem eigenen
Lichte strahlen, allen kommenden Ge
schlechtern leuchtend, am Ziele seiner
mühereichen Arbeit angelangt.
.Mit anderen Worten gesagt: Einer der
ehedem in die Nacht der Nichterkenntnis
tierhaften Daseins gefallenen Menschen‐
geister hat sich selbst im Lichte der Ewig‐
keit wiedergefunden, seiner selbst nun
bewußt als eines ewig Lebenden!
Der hier gemeinte geistige Dombau ist
wahrhaftig noch nicht vollendet, und wird
nicht eher vollendet sein, als bis auch der
letzte der erdgebundenen Menschengei‐
ster, die zurück zu ihrer Urheimat streben,
seinen Weg heimgefunden hat ins Licht.
265 Mehr Licht
.Auch heute werden daher neue Ar
beiter am Dombau, werden neue „Bau‐
steine” gebraucht.
.Wer des redlichen Willens ist, sich
selbst in harter Arbeit zum „Baustein” zu
behauen, den wird man im Ewigen fin
den, er wird geistig gelehrt und geleitet
werden, und geistig wird er andere Sym‐
bole entdecken und enthüllen lernen, da
der Ort der Verwahrung der alten Ur
Symbole ja leider heute der Kundigen
entbehrt, und die äußere Zugehörigkeit
zu einer Arbeitsgemeinschaft den Suchen‐
den ja doch nicht zum werkgerechten
Kundigen geistiger Baukunst zu vollenden
vermöchte.
.Gehört der geistig Strebende aber etwa
zu den formellen Hütern des Schatzes der
alten Werkstätten in unseren Tagen, dann
266 Mehr Licht
möge er wissen, daß all das, was er nur
aus Pietät noch ehrt, und als traditionelles
Gebrauchtum kennt, ohne es in seinem
Innersten zu „verstehen”, tiefgeistige
Weisheit verhüllt in sich birgt, und daß
er das tiefste Geheimnis der geistigen Bau‐
kunst sich selbst mit Hilfe der ihm an‐
vertrauten heiligen Symbole zu eigen ge‐
ben kann, auch wenn keiner seiner Berater
es ihm je zu enthüllen vermöchte.
.Wehe aber den heutigen Hütern der
Werkzeuge und der uralten Symbole,
wenn sie die Bauhütte: ‒ die Stätte ihrer
Verwahrung, ‒ nicht heilig zu halten wis‐
sen! Wehe ihnen, wenn sie nicht mehr
aufbauen, sondern einreißen lehren, was
ihre großen Vorfahren zum Heile der
Seelen gestaltet haben!
.Noch ist die Weisheit ältester Kulte,
267 Mehr Licht
noch ist das tiefste Geisteswissen, dessen
je die Menschheit sich rühmen konnte,
innerhalb der Dombauhütten in verhüll‐
ten Gefäßen verwahrt. Wer nicht zu deu
ten weiß, was er zu behüten hat, der sollte
es zum mindesten vor Entweihung zu be‐
wahren wissen.
Die Welt wird dereinst wieder wahre Kun‐
dige geistiger Wahrheit an der Arbeit
sehen, und es wird ein Weistum endlich
erbaut werden, das dann wirklich, inmitten
des Dunkels und falscher Lichter, wie ein
Leuchtturm der Ewigkeit steht!
.Dann aber werden wahrlich nicht alle,
die heute noch unerprobterweise Zutritt
zu manchem Mysterium alter Urväter‐
zeiten finden, den erhabenen ewigkeits‐
gezeugten Symbolen nahen dürfen!
268 Mehr Licht
.Man wird strengere Prüfung brauchen,
wenn man die Spreu vom Weizen sondern
will: ‒ wenn die geistige Atmosphäre ge‐
schaffen werden soll, die wahrhaft gei
stiger Arbeit am Dombau vonnöten ist!
.Möchten die kommenden wahrhaften
Strebenden allmählich wieder die Vorbe
dingungen finden, die der Erneuerung ur‐
alten Wirklichkeitserkennens allein günstig
sind!
.Es möge sich aber Jeder selber prüfen,
mag er den geistigen Dombauhütten ferne‐
stehen oder nicht, ob er sich ihrem erha‐
benen ursprünglichen und durch Jahr‐
tausende hindurch heilig gehaltenen End
ziel nicht widmen dürfe, ‒ ob er nicht ein
Arbeiter an sich selbst, ein Baustein am
leuchtenden geistigen Tempel der Mensch
heit werden könnte?!
269 Mehr Licht
.Wer immer sich fähig fühlt, sich selbst
aus einem rohen Steinblock zu einem ge‐
rechtsam behauenen Baustein des Tempels
der Menschheit zu bearbeiten, der wird
von innen heraus seine geistige Leitung
finden, auch wenn ihm kein äußerer Füh‐
rer beratend zur Seite steht.
.Noch ist es gewiß nicht an der Zeit, daß
allen die geistige Einsicht werde, die
einstmals die alten Dombauhütten, deren
Werke die alten Kathedralen der Christen‐
heit sind, den strenge Geprüften gaben, ‒
aber denen, die sich im Herzen würdig
darauf vorbereiten, wird mit geistgege‐
bener Notwendigkeit dennoch dereinst der
flammende Stern erneut erscheinen, der
vordem über der „Krippe” stand, in der
das Licht der Ewigkeit, zwischen den ar‐
men Tieren dieser Erde, wieder zu den
Menschen kam.
270 Mehr Licht
VOM RECHTEN GOTTESDIENST
Unzählige Arten der Gottesverehrung hat
der Menschengeist im Laufe der Jahr‐
tausende ersonnen und je nach seiner Vor‐
stellung von „Gott” fand hier jede mensch‐
liche Empfindungsmöglichkeit ihren Aus‐
druck, von wildester Rohheit bis zur er‐
habensten Geistigkeit.
.Allen diesen Arten der Gottesverehrung
lag und liegt aber der anthropomorphe Ge‐
danke zugrunde, als ob „Gott” des Dien
stes der Menschen bedürfe, ‒ als ob die‐
ser Gott vom Menschen erwarte, daß er
ihn bediene, ‒ wie das tote Götterbild
den Dienst des Menschen braucht, soll es
das Leben in Phantasie und Unterbe
wußtsein seines Dieners nicht verlieren.
.Wohl sind die höheren Arten solchen
Gottesdienstes dazu angetan, das Gemüt
des Menschen zu befruchten und zu er‐
273 Mehr Licht
heben, oft tiefste Schächte urgeistigen
Empfindens aufzureißen, in Kultusformen
Symbole erhabenster Erkenntnis zu schaf‐
fen, und dennoch ist das alles nur ‒
Menschendienst, nur aus dem Bedürfnis
des Menschen heraus entstanden, seinem
eigenen Geiste Anregung zur Erhebung
zu bringen, sich selbst in kultischen For‐
men das eigene Verhältnis zum erträum‐
ten, erahnten, geglaubten oder schon er‐
kannten Weltgrund deutlich zu machen.
.All das mag dem Menschen stärkste
Förderung werden auf seinem Wege in
die geistige Welt, aber es bleibt Dienst an
der eigenen Seele, wird nur fälschlich als
Gottes-Dienst” bezeichnet, ist nicht der
„rechte Gottesdienst”, von dem ich hier
rede.
274 Mehr Licht
Dieser rechte Gottesdienst ist kein Be
dienen der Gottheit, kein Kult, in der Mei‐
nung zelebriert, damit der Gottheit schul
digen Tribut zu entrichten, sondern ein
freiwilliges Darbieten aller Kräfte und
Fähigkeiten des Menschen, damit sie Die
ner des göttlichen Willens werden, auf
daß sie bedingungslos sich der Lenkung
des lebendigen Gottes in des Menschen
eigener ewiger Geistigkeit unterordnen,
‒ eine Erlösung aus dem Chaos wilder
Wünsche, ein Kristallisationsprozeß, bei
dem jedes Kräfteatom sich der ewigen kos‐
mischen Gestaltungskraft überläßt, um so
an seine geordnete Stelle zu gelangen.
.Mag der Mensch auch in äußeren Kulten
seine Erhebung suchen, mag auch die Seele
tief innerlich berührt durch kultische
Handlung sein, so wird doch wirkliche Ver
einung der Seele mit der Gottheit nur ge‐
275 Mehr Licht
funden durch solche Hingabe aller Kräfte
des Menschen in ihre Hand.
Hier wird eine „Dienstbarkeit” gefordert,
die allein zu höchster Freiheit zu führen
vermag, ein Dienen, das zum Herrschen
lernen in sich selber leiten soll, ein Unter‐
ordnen, um alles Niedere dem Höchsten
anzugleichen, damit es im Rhythmus die‐
ses Höchsten zu schwingen vermag, und
so erhalten bleibe durch alle Äonen ewigen
Lebens. ‒
.Dieses Erhalten der Individualität, der
Bewußtseinsfülle, über den Tod des Kör‐
pers hinaus, aber durch ihn nicht berührt,
durch alle Ewigkeiten hindurch, ‒ dieses
In-Gleichklang-Setzen aller Kräfte mit
dem ewigen Gottesfunken, um den herum
sich alles Bewußtsein geordnet kristalli‐
276 Mehr Licht
sieren soll, ist ja dem Wissenden der End‐
zweck allen richtigen geistigen Strebens
des Menschen auf dieser Erde.
.Was nützen alle okkulten Künste und
seien es auch die erstaunlichsten Fakir‐
leistungen, da sich alles das doch nur auf
diese physische Erscheinungswelt bezieht,
die uns als solche verläßt, sobald das Ge‐
hirn des menschlich-tierischen Körpers
nicht mehr als Empfindungstransformator
zur Verfügung steht?
.Was nützt alle hellseherische Begabung,
da sie doch bestenfalls nur die sonst un‐
wahrnehmbaren Bilder der astralen terre‐
strischen, gemeinhin physisch unsichtbaren
Aura” dieses Planeten erkennen läßt,
und den Hellseher nur gröblicher Täu
schung unterwirft, wenn er zu der Mei‐
nung verleitet wird, was er sieht, sei be‐
277 Mehr Licht
reits den Welten des reinen Geistes nahe,
oder gar diesen Welten innewohnend?
.Was nützt alles verstandesmäßige Er‐
kennen, alles Wissen über die Welten des
Geistes, wenn doch alles das mit dem Fort‐
fall der Gehirnfunktionen lautlos in Nichts
zerstäubt und nie mehr im seelischen Be‐
wußtsein gefunden werden kann, falls die‐
ses seelische Bewußtsein nicht vorher,
noch während es das Gehirn zur Verfügung
hatte, den ewigen Willen zur Einigung
mit seinem lebendigen Gott, seinem gött‐
lichen Geistesfunken im innersten Innen,
erreichte?
Diese Einigung aller Seelenkräfte, al
ler Empfindungsmöglichkeiten, auch der
durch den Körper allein gegebenen, im
allerinnersten „Ich”, ‒ in der höchsten
278 Mehr Licht
Region inneren Fühlens, die allein die
Gottheit erreicht und sie eben nur im
Menschen selbst, als den in ihm leben
digen Gott erreichen kann, ‒ ist die ein
zige geistige Aufgabe des Menschen, die
sich wirklich aller Anstrengung wert er‐
weist.
.„Das Himmelreich leidet Gewalt, und
nur die Gewalt brauchen, reißen es an
sich!”
.Wahrlich, es braucht „Gewalt”, alle
störenden Einreden des nur auf die phy
sische Welt und auf die aus ihr abgelei‐
teten Spekulationen beschränkten Ver
standes abzuweisen, damit die innere
Stille zustande kommt, die uns das Urbild
unseres „Ich” empfinden läßt, unsern le
bendigen Gott, der uns jeden Augenblick
unseres Seins stets neu nach seinem Bilde
schafft, ‒ dessen ewigen Schaffens Aus
279 Mehr Licht
druck wir geistig sind, ‒ dem wir völlig
uns angleichen sollen, damit wir aus sei
nem Bewußtsein heraus, durch alle Ewi‐
keit hindurch, uns selbst in Bewußtseins
identität zu erhalten fähig werden!
Nicht eine verkrampfte Anstrengung des
Willens ist hier gemeint, nicht eine er‐
quälte „Konzentration”, sondern ein stets
waches, energisches Abweisen aller lauten
Vordringlichkeit des Intellekts, ein Bän‐
digen seiner anmaßlichen Ansprüche, auch
in einer Region das große Wort zu führen,
die ihm niemals zugänglich ist! ‒ Diese
Zurückweisung aber ist unumgänglich nö‐
tig, damit das große Lassenkönnen mög‐
lich werde, das, ‒ als Vorausbedingung,
‒ erreicht sein muß, sollen alle unsere
Empfindungskräfte zu willigen Dienern
unseres inneren Gottes werden, aus dem
280 Mehr Licht
wir leben und sind, ‒ soll der ewige
Mensch im Erdmenschen aus seinem Grabe
erstehen, aus dem Geiste neu geboren: ‒
Bild und Gleichnis seinesVaters” der
in ihm in seinem „Himmel” ist.
.Wohl aber kann uns bei solchem Stre‐
ben der Intellekt „wie ein Zugtier” vor‐
wärts bringen, sobald wir ihn gebändigt
haben! Es ist auch gewiß verstattet, das
geistig Erfühlte, nachdem es erfühlt ward,
auch auf intellektuelle Weise zu be
trachten: ‒ sich gleichsam ein Gedanken‐
gebäude nach logischer Folge aufzurich‐
ten, als geordnete „Schatzkammer”, in
der wir die Kleinodien unseres inneren
Fühlens zu verwahren wissen. Ja ohne
ein solches selbst erbaute Schatzhaus wäre
unser inneres Erleben, wäre der Schatz
unseres geistigen Erfühlens sehr in Gefahr,
uns im Leben des Alltags wieder verloren
zu gehen, verstreut zu werden in alle
281 Mehr Licht
Winde, statt uns stets in geordneter Weise
zur Verfügung zu stehen.
.Aber niemals darf der Intellekt die
Führung erhalten, wenn wir uns im Früh‐
rot ferner Ahnung auf den Weg des Su‐
chens begeben, des Suchens nach dem, was
unser Aller bleibender unzerstörbarer Le‐
benskern, unser Aller innerste Heimat, un‐
ser Aller unbegreiflichstes Wunder: ‒ das
„Juwel in der Lotosblume” ist.
Der Verstand ist ein guter Pfadfinder
wenn es gilt, die Wegspuren zu entdecken,
die zur Erkenntnis jener Dinge führen,
die in der physischen Welt der Sinne ihre
letzte Auswirkung zeigen, und hier soll
man ihm wahrhaftig vertrauen, soll ihm
alle Gelegenheit geben, sich zu entfalten,
denn auch der Verstand ist göttlichen Ur‐
282 Mehr Licht
sprungs und wohltätig wirkend an seinem,
ihm vorbehaltenen Ort.
.Wollen wir aber zu Gott gelangen, so
dürfen wir nicht außen suchen, ‒ auch
nicht in jenem Außen, das den meisten
schon als ein „Innen” erscheint, weil kei‐
ner ihrer Sinne es mehr zu fassen im‐
stande ist.
.Auch wenn der Menschengeist in den
höchsten geistigen Regionen Ewigkeiten
hindurch nach Gott suchen wollte, würde
er niemals Gott begegnen, denn so, wie in
der ganzen physischen Natur niemals Na‐
turkraft an sich zu finden ist, und dennoch
in jedem Atom dieser Sichtbarkeit erkannt
wird, so äußert sich Gottheit nur in den
aus ihr gezeugten Geisteswesenheiten, ‒
in jeder individuell gesondert auf die nur
in ihr allein erstrebte Weise der Offen‐
283 Mehr Licht
barung, ‒ und kann niemals, auch nicht
in einer der höchsten Geisteswelten, iso
liert und für sich bestehend gefunden
werden.
.Wir müssen Gott in uns selbst entdecken,
in seinem ewigen, zeugenden Leben, und
damit wir Gott in uns selbst entdecken
können, ohne uns selbst einen Götzen aus
uns zu schaffen, und so einer argen Täu
schung zu erliegen, müssen wir hier der
Führung Jener vertrauen, die bereits im
Bewußtsein Gottes leben, die ihre Kräfte
Gott zu Dienern gaben und sich dem ewigen
Urbild einten, das sie zeugt.
Es wäre freilich törichter Glaube, wollte
man erwarten, hier in diesem durch völlig
andersartige Gesetze bestimmten Leben
der Erde den höchsten gottgeeinten Gei
284 Mehr Licht
steswesen als sichtbaren Gestaltungen zu
begegnen. Auch wird die Menschenseele,
die sich hier ihrem lebendigen Gotte einte,
und ihrer Kräfte Herrscher ward aus Gott,
dem sie diese Kräfte zum Dienste weihte,
niemals, solange sie mit dem Körper des
Menschentieres verbunden bleibt, von ir
dischen Banden frei, und kann, selbst in
höchster Vollendung, nur die niederste
Stufe göttlicher Geisteseinung erreichen.
Selbst der Gottgeeinte, aus dem sich ein
Leuchtender des Urlichtes den Offenbarer
schafft, wäre aus sich allein unfähig, die
ihm erschlossenen höheren Stufen zu er‐
steigen!
.Zwar leben auch Geisteswesenheiten in
der geistigen Region dieses Planeten, die
auf weitaus höherer Stufe stehen, als sie
ihnen in physischer Verkörperung zugäng‐
lich wäre, aber sie sind entweder längst
vom irdischen Körper befreit, oder waren
285 Mehr Licht
niemals an ihn gebunden, weil sie nicht
dem Falle der Geister erlegen waren.
.Sie können uns aber nur von innen her
fühlbar, können nach ewigen Gesetzen nur
der gänzlich gottgeeinten Seele eines Men‐
schen unter gewissen seltenen Umständen
schaubar und hörbar werden.
.Äußerst selten nur sind die wenigen
Fälle, in denen ein irdischer, sinnengebun‐
dener Mensch diese Geistigen wahrzuneh‐
men imstande war, ‒ zahllos aber sind
hier die Täuschungsmöglichkeiten, zahl‐
los die Berichte solcher Menschen, die Ge
bilde der Täuschung sahen und nicht an‐
ders glauben konnten, als daß ihren Sinnen
sich ein Geistiger offenbart habe.
.Kaum auszurotten ist der Wahn, daß
„Hellsehern” diese hohen Geisteswesen
sichtbar werden könnten, und Tausende
286 Mehr Licht
wollen das Hellsehen „lernen”, weil sie
meinen, wenn sie es könnten, wären sie
imstande, Geistiges mit inneren Sinnen
wahrzunehmen.
.Man kann aber weder Hellsehen „ler‐
nen”, noch hat je ein Hellseher anderes
erschaut, als was in der niederastralen,
keineswes „geistigen” Aura der Erde an
täuschenden Gebilden und täuschungs‐
lustigen Wesen keineswegs geistiger Art
zu finden ist.
.Wohl gibt es Methoden, die Kräfte der
plastischen Phantasie des Menschen so
zu überreizen, daß sie ihn alles als schein‐
bare Wirklichkeit sehen und hören lassen,
was er sehen und hören will. Wohl kön‐
nen einem derart betrogenen Menschen
„innere Aufschlüsse” werden, in denen
Wahres und Falsches sich in grotesker Mi‐
287 Mehr Licht
schung mengt. Wohl kann er grandiose
Phantasiegebilde Anderer, oder selbstge‐
schaffene Trugbilder als scheinbare „Wirk‐
lichkeit” erblicken. Doch wer sollte hier
im Zweifel sein, daß ein solcher Mensch
noch viel bedauernswerter ist, als der wirk
liche Hellseher, der seine fragwürdige
„Gabe” stets von Geburt an mit auf die
Erde bringt, und der doch wenigstens ein
tatsächlich erdenhaftWirkliches” wahr‐
nimmt, wenn er auch fälschlich glaubt,
daß die Welten des Geistes ihm erschlossen
seien!
Es ist eine gänzlich verkehrte Einstellung
der Wünsche, wenn ein Mensch dem Gei‐
stigen zuzustreben glaubt, und dabei hofft,
recht bald mehr oder weniger sinnenfällige
Beweise des Daseins geistiger Welten zu
erlangen.
288 Mehr Licht
.Ganz davon abgesehen, daß es ihn nie‐
mals weiter bringen würde, wenn auch
sämtliche „Welten” des reinen wesen‐
haften Geistes gar seinem physischen Auge
erschlossen wären, ‒ daß auch hundert‐
jährige, stete Zwiesprache mit den höch‐
sten geistigen Wesenheiten doch ihn immer
auf der gleichen Stufe verharren lassen
würde, auf der er den Austausch begonnen
hätte, ‒ darf er auch niemals glauben, daß
er dereinst, im Tode körperfrei geworden,
Geistiges sofort auf allen geistigen Stufen
erkennen könne.
.Hier erkennt sich nur, was gleicher
Artung ist, und selbst ganz gottgeeinte
menschliche Geisteswesen können in gei‐
tigen Welten nur empor bis zu jenen Stu‐
fen dringen, die ihrer eigenen Geistigkeit
entsprechen.
.Wo es notwendig ist, steigen Wesen‐
289 Mehr Licht
heiten von höherer geistiger Stufe herab,
um belehrend Kunde zu bringen von dem,
was ihnen erschlossen ist, wie das bei der
Schaffung des irdischen Geeinten eines im
Urlichte Leuchtenden unvermeidbar wird,
‒ denn here Geistigkeit kann wohl die
Sphäre niederer Stufen zeitweilig ent‐
sagend betreten, während die Geistigen
auf solcher niederen Stufe sich selbst zer
stören würden, falls dies möglich wäre,
wollten sie versuchen, in Sphären des Gei‐
stes vorzudringen, zu deren Betreten sie
noch nicht bereitet sind. (Die niederen
mentalen Einflüsse die jeder Erdenmensch
erfahren kann, stammen nicht aus gei
stigen, sondern aus den Regionen der un‐
sichtbaren physischen Welt!) Es herrschen
allerwärts strengste geistige Gesetze, de‐
nen sich willig beugt, was wahrhaft des
ewigen Geistes ist.
290 Mehr Licht
.Weise hat das ewige Urlicht, das in allem
Geistigen leuchtet, seine Strahlen schüt‐
zend umhüllt für alles, was nicht in solcher
Weise sich dem Geiste geeint findet, daß
es auch des göttlichen Geistes wesenhaftes
Licht zu ertragen imstande ist!
Was sollte es auch dem Menschen der Erde
nützen, könnte er Geistiges erschauen, so‐
lange er nicht in sich selbst dem Geiste
absolut geeinigt wurde?
.Es würde ihm nur zu namenloser Qual,
und keine Höllenpein, die teuflische Tier‐
menschenwollust je ersann, ist derart grau‐
sam, daß ihre Martern jenen Peinen glei‐
chen würden, die ein menschliches Be‐
wußtsein empfinden müßte, das Geistiges
zu schauen fähig wäre, bevor es selbst,
dem Geiste auch substantiell geeint, des
Geistes Leben zu teilen imstande ist.
291 Mehr Licht
.Es bleibt nur Eines, das not tut: ‒ Alle
Kräfte der Seele, alle Empfindungsfähig‐
keit des Körpers, jeden Impuls und jede
Regung, dem Geiste, ‒ dem lebendigen
Gott in uns, ‒ willig und ohne Vorbehalt
zum Dienste an uns darzubieten, damit
es dem ewigen, göttlichen Geiste möglich
ist, allmählich sich mit unserem mensch
lichen Bewußtsein zu vereinen und uns
aus sich heraus wieder diese Kräfte, Im‐
pulse, Regungen und Empfindungsfähig‐
keiten zu willfährigen Dienern zu geben,
‒ nachdem wir bereitet wurden, sie aus
dem ewig uns zeugenden leuchtenden Kern
unseres Seins heraus zu beherrschen.
.Das ist der „rechte Gottesdienst”, den
Jeder vollbringen muß, der sein irdisch‐
menschliches Bewußtsein mit hinüber‐
nehmen will, nicht nur für scheinbar end‐
lose Zeiten, sondern für alle Ewigkeit!
.„Wirket, solange es Tag ist, denn es
292 Mehr Licht
kommt die Nacht, da niemand wirken
kann!”
Hier in diesem Erdenleben ist es dem Men‐
schen möglich, zu „wirken”. ‒ Nach dem
Verlassen der physischen Welt aber findet
er sich in dem Zustand, den er sich selber
schuf, und muß passiv verharren, bis sich
ohne sein Zutun, vielleicht in kürzerer
Zeit, vielleicht auch erst nach Jahrtausen‐
den, ‒ in irdischer Weise zu sprechen, ‒
sein Seelisches derart geläutert hat, daß
es substantiell gottgeeinten Geisteswesen‐
heiten gelingt, in ihm das Bewußtsein
vom wesenhaften Innewohnen seines gött‐
lichen Wesenskernes, seines lebendigen
Gottes, zu erwecken. Erst dann kann in
ihm die Willensumkehr erfolgen, durch
die er alle Kräfte seinem „lebendigen
Gott” zum Dienste überläßt, wodurch
293 Mehr Licht
dann erst die Vereinung seines Bewußt‐
seins mit dem ewigen Bewußtsein des
göttlichen Geistes in ihm herbeizuführen
ist, die auch kein „Gnadenakt” der Gott‐
heit jemals anders herbeizuführen vermag!
.Dann aber ist sein erdenmenschliches
Bewußtsein ihm längst entschwunden, wie
ein Traum, der sich selbst entschwand.
.Er ist zwar „gerettet”, aber sein Leben
auf dieser Erde mit all seinem Trachten,
seinem Glück und seiner Mühsal ist auf
ewig ihm unerinnerbar geworden, er hat
den Preis des Siegers, die Erweiterung
des Bewußtseins Dessen, der die äußer
sten Reiche göttlicher Selbstoffenbarung
durchlaufen hat, für sich nicht erlangt!
.Zwar wird auch er, ‒ dann dem gött‐
lichen Geiste Darstellungsform geworden
294 Mehr Licht
und mit seinem ihm gleichgearteten männ‐
lichen oder weiblichen geistigen Gegen‐
pol vereint, ‒ in der Fülle unendlichen
Glückes das Leben des reinen Geistes le‐
ben, doch ungleich höher ist die Art der
Selbstempfindung jener ewig Geistigen,
die in all ihrem unendlichen Glück auch
des Bewußtseins der tiefsten Tiefe noch
fähig bleiben, in die sie, dem Erdenmen‐
schentiere einst verbunden, hinabgetaucht
waren.
.Wie der Mensch der Ebene, in seiner
ganzen Seele erschüttert und beglückt vor
den Wundern der Bergwelt, steht, von dem
Gebirgsbewohner zuweilen kaum in seiner
Andacht verstanden, so ermißt erst der
Geist, der auch aller Tiefen noch bewußt
sich erinnern kann, die ganze Höhe seines
Glückes, und je höher die Stufen werden,
die er, wenn auch erst in Äonen, erreichen
295 Mehr Licht
soll, desto weniger möchte er die Er
innerungsmöglichkeit an seine tiefste
Stufe missen.
Da Geistiges niemals in seinem Wesen
veränderlich ist, so handelt es sich bei dem
Aufstieg der Seele auch niemals um eine
Veränderung ihres göttlich-geistigen, ewig
sie zeugenden Wesenskernes.
.Der „lebendige Gott” in des Menschen
innerstem Innen, dem er hier schon auf
dieser Erde sich im Bewußtsein zu einen
vermag, ist der Gleiche, auf jeder geistigen
Stufe, die je erreicht wird, durch alle
Ewigkeit hindurch.
.Nur der Zustand der Seele, der Zustand
menschlich-seelischen Bewußtseins erwei‐
tert sich, um stets höhere geistige Bewußt‐
296 Mehr Licht
heit zu erlangen, um stets weitere Un‐
ermeßlichkeiten geistigen Seins empfinden
zu können.
.Würde es sich nur darum handeln, ir
gendein Individualbewußtsein seelischer
Art um den geistigen, zeugenden Wesens‐
kern herum zu bilden, dann wäre jedes
Trachten nach der Einung des Bewußt‐
seins mit dem Geiste, hier während dieses
irdischen Lebens, völlig überflüssig, denn
die Einung kann, mit Ausnahme der Fälle
gänzlicher Bewußtseinsauflösung, nach
ewigen, dem göttlichen Leben inhärenten
Gesetzen noch erfolgen, auch wenn sie
erst in Äonen erfolgt.
.Der Weckruf aller wirklichen Geistes‐
lehrer der Menschheit erging zu allen Zei‐
ten deshalb, weil es das höchste Glück der
Seele in aller Ewigkeit ausmacht, ihr ir
disches Bewußtsein und damit die Fähig
297 Mehr Licht
keit des Erinnerns in sich zu erhalten,
und weil unsägliches Leid der Seele, das
zur Auslösung kommen kann, nachdem
sie den Erdenkörper verlassen hat, durch
ihre Geisteseinung während des irdischen
Lebens vermeidbar wird.
.Die Menschheit zu jeder Zeit durch ihre
berufenen Sprecher auf diese Bahn ver
mehrten Glückes hinzuleiten, ist Aufgabe
Derer, aus deren Mitte heraus ich diese
Lehren künde und jedes Wort dieses Bu‐
ches soll seine Leser nichts anderes lehren,
als diese Art des „rechten Gottesdienstes”.
Möge keiner, der diese Worte liest, aus
diesem Leben irdischer Mühsal scheiden,
bevor sein Bewußtsein geeinigt wurde
seinemlebendigen Gott”!
298 Mehr Licht
.Möge keiner in jene „Nacht” der Un
möglichkeit eigenen Wirkens gelangen,
aus der es kein Entrinnen gibt, ehe die
Schuld des Harrenden „bis auf den letzten
Heller” beglichen ist!
.Noch ist es „Tag” und hilfreiche Hände
sind am Werke, Allen geistige Hilfe zu‐
zuleiten, die danach verlangen. ‒ Es be‐
darf keiner Sonderschulung, diese Hilfe
herbeizuziehen, und keiner persönlichen
Einzel-Belehrung, sie sich zu eigen zu
machen.
.Wer Ohren hat zu hören, der höre!”
ENDE DES BUCHES
299 Mehr Licht
DAS BUCH
VOM
MENSCHEN
Verlagslogo
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG AG
BERN
3. Auflage
Unveränderter Nachdruck der 1928 in der Kober'schen
Verlagsbuchhandlung erschienenen erweiterten Letztausgabe.
Erste Auflage Verlag der Weißen Bücher (Kurt Wolff)
München 1920
1971 Kober`sche Verlagsbuchhandlung AG, Bern
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Übersetzung
in fremde Sprachen und der Verbreitung in
Rundfunk und Fernsehen.
Druck: Walter-Verlag AG, Olten
INHALT Seite
Einführung 5
Das Mysterium: „Mann und Weib” 17
Der Weg des Weibes 43
Der Weg des Mannes 75
Ehe 89
Das Kind 105
Die neue Menschheit 129
Ausklang 147
Letzte Lehre 159
Originalscan
EINFÜHRUNG
.Vom Menschen aus mußt du zu „Gott”
gelangen, sonst bleibt dir „Gott” in Ewigkeit
ein Fremder! ‒”
.So schrieb ich einst im „Buch der König
lichen Kunst”.
.Ich weiß kein besseres Wort um heute die‐
ses „Buch vom Menschen” zu beginnen...
.Mit dem „Buch vom lebendigen Gott
und dem „Buch vom Jenseits” soll das
Buch vom Menschen” eine Trilogie ge‐
stalten, denn obwohl jedes einzelne dieser
drei Bücher in sich abgeschlossen ist und ein
für sich bestehendes Ganzes bildet, stehen
sie doch alle auch in einem inneren Zu‐
sammenhang miteinander, und es werden
7 Das Buch vom Menschen
sich viele Stellen finden, die einander er‐
läutern.
.Solche gegenseitige Erläuterung aber wird
die Einwirkung der Worte auf die Seele nur
vertiefen können.
.Möge daher auch das „Buch vom Men
schen” in die Hände derer gelangen, die
jene anderen beiden Bücher bereits kennen!
.Möge es die Herzen finden, die seiner
bedürfen: die Seelen, die seinen Inhalt auf‐
zunehmen willens sind!
.Obwohl ich um die Menge der Mißdeu‐
tungsmöglichkeiten weiß, die solche Worte
leider finden können, sehe ich mich doch
veranlaßt, ausdrücklich auszusprechen, daß
auch dieses Buch geschrieben wurde, als Er‐
füllung übernommener Verpflichtung, durch‐
aus in Übereinstimmung mit den „Ältesten”
der geistigen Gemeinschaft der ich zugehöre
und der ich alles danke was ich zu geben habe.
8 Das Buch vom Menschen
.Die Lehre die hier vermittelt wird, ist
Jahrtausende altes Erbgut derer, denen seit
der Urzeit dieser Erdenmenschheit die hei‐
lige Flamme zur steten Hütung anvertraut
ist, deren Licht aus dem innersten „Urlicht”
hervorgeht.
.Wir geben nur weiter, was wir selbst
empfangen haben, damit es durch uns die
mit und nach uns Lebenden erreiche.
.Wir erheben nicht etwa den Anspruch,
Urheber dieser Lehre zu sein.
.Auch handelt es sich weniger um eine
„Lehre”, als vielmehr um Mitteilung prak‐
tischer Erfahrung in der lebendigen Welt
des substantiellen ewigen Geistes, der
jede Menschenseele auf diesem Planeten ent‐
stammt...
.So wird denn auch dieses Buch, das vom
Menschen” handelt, in die Welt des reinen
substantiellen Geistes führen. ‒
9 Das Buch vom Menschen
.Noch mag das vielen wie ein Widerspruch
erscheinen, da sie noch nicht erkannten, daß
der wirkliche Mensch nicht anders eine
Frucht der Liebe” aus Männlichem und
Weiblichem im substantiellen reinen
Geiste ist, als wie sein Erdentierkörper aus
leiblicher erotischer Vereinung von Mann
und Weib auf Erden hervorging...
.Wer aber den Menschen sichten, und
somit sich selbst erkennen lernen will,
der muß in die Heimat des Menschen gehen,
‒ muß sein Suchen auf jene Wege lenken,
auf denen die Höhenregion zu erklimmen
ist, aus der des wirklichen Menschen ewiger
Organismus stammt, niemals irdischen Sin‐
nen faßbar, und auch dem erdenhaften Ver
stande nur erkennbar in den Auswir
kungen geistig geschaffener Impulse.
.Solange wir uns nur mit der mensch
lichen Erscheinungsform auf dieser
Erde beschäftigen, stehen wir lediglich einem
disharmonisch gearteten Tiere gegenüber, ‒
10 Das Buch vom Menschen
disharmonisch, weil es sich nicht allein als
Tier zu erleben sucht, sondern offenbar auch
noch aus anderen Kräften, die nicht zu den
Kräften des Tieres gehören, Erlebensan‐
regung empfängt, ‒ disharmonisch, weil
es durch diese tierfremden Kräfte geradezu
daran gehindert wird, sein Dasein, unbe‐
schwert mit Schuldbelastung, in tierischem
Behagen auszukosten. ‒
.Es muß daher vor allem der Irrtum
erkannt und überwunden werden, als sei
der Mensch nur die Erscheinungsform, die
wir auf dieser Erde mit dem Namen:
„Mensch” belegen. ‒ ‒
.Man kann es keinem Menschen auf der
Erde verargen, ‒ keinem, der „die Men‐
schen kennt”, wenn er für die hohen Worte,
die den Menschen „das Ebenbild der
Gottheit” nennen, nur ein ironisches Lä‐
cheln übrig hat, solange der Begriff den er
mit dem Worte „Mensch” verbindet, nur
den Erdenmenschen meint...
11 Das Buch vom Menschen
.Wahrlich: das Wort vom „Gotteseben‐
bild” wäre lächerlichste Torheit, hätte jener
der es erstmals aussprach, nur an den „Men‐
schen” der Erde gedacht! ‒
.Dieses Wort konnte nur geprägt werden
von einem Narren, ‒ oder aber ‒ von
einem wirklichen Weisen dem sich die Er‐
kenntnis vom allumfassenden Wesen des
Menschen erschlossen hatte. ‒ ‒ ‒
.Was der Begriff „Mensch” umspannen
muß, soll er wirklich den Menschen und
nicht nur eine seiner zahllosen Erschei
nungsformen im geistigen wie im phy
sisch-sinnlich wahrnehmbaren Kosmos in
sich beschließen, das wird dieses „Buch vom
Menschen” dir sagen.
.Ich glaube, du wirst das Wort des Weisen
nicht mehr belächeln, wenn du in dir er‐
kannt hast, was ich dir zu sagen habe...
12 Das Buch vom Menschen
.Du wirst dann verstehen, was der alt‐
geheiligte Satz besagen will: „Zum Bilde
Gottes schufen ihn die Elohim.” ‒ ‒
.Du wirst dann den „Urmenschen” ge‐
wiß nicht mehr auf diesem Planeten
suchen, ‒ wirst erkennen, daß das, was du
bisher so nanntest, richtiger als ein Tier
der Urzeit zu benennen ist, aus dem sich
das feinere Tier entwickelt hat, das heute
dem Menschen nun als Träger und Werk‐
zeug dient, damit er sich in der physischen
Welt zu erleben vermag. ‒
.Du wirst auch nicht mehr „am Menschen
verzweifeln”, denn alles was dir bis jetzt
an dem Wesen, das man auf Erden den
Menschen” nennt, „verächtlich”, „klein”
und „erbärmlich” erschien, wird dir ver‐
stehbar werden als naturnotwendige, weil
tiergemäße Auswirkung des Erdentieres,
das allhier der wirkliche „Mensch” als Mittel
zur Selbstdarstellung zu benutzen strebt,
‒ das ihm aber oftmals stärkeren Wider‐
13 Das Buch vom Menschen
stand entgegensetzt, als er im Reiche der
physischen Welt zu überwinden vermag.
.Anderes wirst du verstehen lernen als
unvermeidliche „Reibungserscheinung
beim Aufeinanderwirken so verschiedener
Kräfte.
.Du wirst aber auch niemals mehr von
einem „Himmel auf Erden” träumen, weil
du erkannt haben wirst, daß nicht einmal
das Tier, das dem Menschen dienstbar wer‐
den soll in dieser materiellen Welt, hier
seinen „Himmel” finden könnte, ‒ daß
aber der wirkliche „Mensch” längst seinen
Himmel hatte, bevor er sich selber in das
Reich der physischen Gestaltung stürzte, all‐
wo ihm das „Menschtier” seine Kräfte dar‐
leihen muß, soll er wieder zurück in diesen
Himmel finden...
.Wohl dir, wenn du am Ende dieser Ab‐
handlungen, die ich dir nun übergebe, zur
eigenen, inneren Ein-Sicht kommst, daß
14 Das Buch vom Menschen
auch du ein Mensch aus der ewigen
Heimat des Menschen bist, und nicht nur
das höhere Tier, dem du dich so eng ver‐
flochten findest, daß du es bisher vielleicht
kaum als etwas dir Fremdes und Entgegen‐
wirkendes erkanntest! ‒ ‒
.Wohl dir, wenn du alsdann dich auf‐
reckst mit aller Kraft, und fortan nur nach
deinem Höchsten greifst, ‒ denn allzu
lange schon warst du verwühlt in deine
schlammigsten Niederungen, ‒ allzuoft schon
griffen deine Hände ins Ungewisse mora‐
stiger Abgründe ohne dort finden zu können
was sie ertastbar glaubten! ‒ ‒
.Ich will dich voll Vertrauen zu dir
selber sehen!
.Du wirst dich selbst nicht mehr ver
achten können, sobald du ‒ auch nur
ahnend ‒ erfühlst, daß nichts an dir ver‐
15 Das Buch vom Menschen
ächtlich ist, als das, was du selbst dir ver‐
ächtlich machst durch irrige Deutung!
‒ ‒ ‒
.Von diesem Tag an wirst du dich nicht
mehr gemein machen dem Gemeinen! ‒
.Von diesem Tage an wirst du nicht
mehr nach deinem Niederen trachten! ‒
.Zu einem „Empörer” wirst du werden,
der sich empor und heraus reißt aus dem
klebrigen Lehm der ausgefahrenen Alltags‐
Straßen!
.Freien Schrittes wirst du den Felsenpfad
ersteigen, der dich in dir zu deinen Gipfel‐
firnen führt!
.Dort wirst du dir selber dann begegnen,
alsMenschin der Heimat des Men
schen. ‒ ‒ ‒
16 Das Buch vom Menschen
DAS MYSTERIUM:
„MANN UND WEIB”
.Im ewigen Urgrund: im ewig sich selbst
und in sich alles Seiende zeugenden Geiste,
‒ in der Quelle allen Seins und Offenbar‐
werdens tief verborgen, ‒ ruht das My‐
sterium „Mann und Weib”...
.Irdischer Erkenntnis Brücken bauend,
redet man vom „reinen Geiste” als dem
absoluten Sein”, obwohl ein solches,
ewig ruhendes „absolutes Sein”, für sich
allein in sich beharrend, niemals war, nicht
ist, noch jemals bestehen könnte.
.Wer solchen Hilfsbegriff einer Wirk
lichkeit gleichsetzt, der hat seinem Denken
allzusehr vertraut, und ist noch ferne der
Erkenntnis, daß denkendes Erschließen nie‐
mals weiter vordringt, als bis zur Grenze
jener Vorstellungen, die den Gesetzen, denen
19 Das Buch vom Menschen
sich das Denken fügen muß, noch unter
ordnet sind. ‒
.Die Wirklichkeit des reinen Geistes aber
ist sich selbst allein „Gesetz”, und un‐
erreichbar bleibt sie allen denkgerechten
Schlüssen! ‒ ‒
.Sich selbst in sich umfassend, ist „reiner
Geist” von Ewigkeit zu Ewigkeit im Schaf
fen seiner selbst begriffen, ‒ sich selbst
erzeugend und gebärend, ‒ denn reiner
Geist ist: „Mann und Weib”. ‒
.Mann und Weibim Geiste aber
zeugen und gebären aus der urgegebenen
Selbstdarstellung weiter ‒ anfanglos ‒
endlos ‒ den Menschen des reinen Geistes,
und sie zeugen und gebären ihn, sich selbst
„zum Bilde und Gleichnis”, ‒ als „Mann
und Weib”, vereint in urgegebener Ein
heit zwiepolaren Wesens...
20 Das Buch vom Menschen
.Alles was je Erscheinung wurde: ‒ alle
Sonnen und Welten des geistigen, wie des
physisch-sinnlich wahrnehmbaren Kosmos,
alles, alles ist „Schöpfung” dieses, aus dem
Geiste gezeugten, rein geistigen „Men‐
schen”, insofern es „Erscheinung” ist,
‒ und diese Schöpfung ist daher auch Zeug‐
nis von „Mann und Weib” im ewigen
Geiste. ‒
.In unendlichfältiger Zahl, ‒ in un
endlichfältiger Individualisierung
wird dieser erste „Mensch” des reinen Geistes
aus Mann und Weib im Geiste gezeugt und
geboren, und jeder einzelne ist ewig
schaffend: ‒ ewig in sich zeugend und
gebärend, ‒ denn er „ist” nur, soweit er
im ewigen Zeugen und Gebären sich dar
stellt, als „Mann und Weib”: ‒ als
männlich-weiblich polarisierte Kraft.
.Was er zeugt und gebiert ist „er selbst”,
ist Sein aus seinem Sein, jedoch in gleich‐
sam „dichterer”, lichtärmerer Form, bis er
21 Das Buch vom Menschen
endlich, in ferner Weiterzeugung dem ur‐
gegebenen Sein bereits weit entrückt, sich
selbst in bestimmter geistiger „Dichte” als
Erscheinung” zeugt, aus sich gebärend
alle Welten, die sich als Erscheinung offen‐
baren.
.Unendlichfältig ist auch die „Er‐
scheinung” des Menschen der Ewigkeit in
seiner Erscheinungsschöpfung, und jede
einzelne Erscheinungsdarstellung die von ihm
ausgeht, zeugt und gebiert weiter die nächste
tieferstehende Erscheinungsart.
.Es gibt Stufen des „Menschen” im gei
stigen, und selbst im Kosmos physischer
Erscheinungswelten, die dem Erscheinungs‐
menschen dieser Erde ‒ wenn er der
Wahrnehmung fähig wäre ‒ höher erschei‐
nen würden als ein Gott...
.Eine der tiefsten Stufen der Erschei‐
nung des „Menschen” stellt aber der Erden‐
mensch selber dar.
22 Das Buch vom Menschen
.In ihm hat sich der urgezeugte Mensch
des reinen Geistes einem der unfreiesten
Wesen seiner Erscheinungsschöpfung: ‒ der
Erscheinung des Tieres, verbunden.
.Hier, im Tiere der Erde, verlor der
Mensch des Geistes das Bewußtsein seiner
selbst und empfindet sich nun nur noch
in den Schwingungen erdhafter Zellenbe‐
wegung mit des feineren Tieres Bewußtsein,
das nur durch wenige schwache Strahlen aus
dem eigentlichen Menschentum im Geiste
jene Erhellung noch empfängt, die erden‐
menschliches Selbstempfinden über das Be‐
wußtsein anderer Erdentiere erhebt.
.Der „Mensch” wäre verloren im Tiere,
wäre ihm nicht aus der urgegebenen Zeu‐
gung sein Erbe nachgetragen worden auf
die Erde, so daß ihm wieder Kraft gegeben
werden kann, den leuchtenden und ganz
aus Licht gebildeten Kristall des reinen
23 Das Buch vom Menschen
Geistes in sich aufzunehmen, den er als
seinen Gott” dann in sich selber findet.
.Wie ein Brunnenbauer nicht in die Tiefe
des Schachtes steigt, ohne das Seil, das ihn
wieder ans Licht bringen soll, an fester
Stelle zu sichern, so stieg auch der Mensch
des Geistes nicht hinab in seine Erscheinungs‐
schöpfung ohne die immerwährende Siche‐
rung seiner Weiterzeugung durch den „sil‐
bernen Faden” strahlender Kräfte aus seiner
ersten Zeugung im reinen Geiste.
.Nur durch die Kräfte, die infolge solcher
Bindung ihn aus höchsten Höhen her auch
hier auf Erden noch erreichen, ist es dem
Erdenmenschen möglich, in sich selbst sich
seinem Gotte zu vereinen, und in ihm aus
Dunkelheit und Nacht zu Licht und Leuchten
sich empor zu ringen. ‒
.Wissend um seine hohe Sicherung, nach‐
dem sein Gott in ihm „geboren” wurde,
kann er sich gefahrbefreit nun in die tief‐
24 Das Buch vom Menschen
sten Abgründe wagen, in die sein Erden‐
schicksal ihn senden mag...
.Noch aber leben die meisten der Erden‐
menschen im Menschtiere der Erde ohne
Gott, auch wenn sie einem erträumten außer‐
weltlichen Gotte dienen.
.Noch suchen sie ihre Ahnen der Urzeit
nur auf diesem Planeten, wissen nichts
davon, daß das ganze Weltall des Men‐
schen ist, wissen nicht, daß die „Urzeitmen‐
schen”, deren Spuren noch auf der Erde
gefunden werden, nur ihre irdischen „müt
terlichen” Ahnen sind, während ihre „
terlichen” Ahnen, ‒ das befruchtende
Element, ‒ in den Reichen des Geistes
allein gefunden werden können.
.Die Befreiung des Geistmenschen aus
den selbstgeschlungenen Fesseln, in die er
als Erdenmensch gebunden ist, kann aber
nur erfolgen, wenn er endlich sich wieder
25 Das Buch vom Menschen
als nur eine der tausendfältigen Erschei
nungsformen des „Menschen” erkennt, und
den Wahn verläßt, als sei er allein nur so
wie er sich hier auf der kleinen Erde
findet, ‒ der wahre „Mensch”, ‒ des
Menschen einzige Darstellungsform. ‒
.Die Worte heiliger Bücher der Vorzeit
sind das Verderben derer, die an sie glauben,
solange der Mensch der Erde alles, was in
diesen Zeugnissen Erkennender vom „Men‐
schen” gesagt wird, nur auf sich allein:
‒ nur auf des Menschen Erscheinungsform
auf dieser Erde bezieht. ‒
.Aufwärts muß er seine Blicke lenken,
‒ aber nicht zu einem außerweltlichen
Gotte, den er sich hoch über den Wolken
erträumt, sondern „aufwärts” zu sich selbst
in seinen höheren Erscheinungsformen, ‒
„aufwärts” zu seinem Ursprung, dem reinen
Geiste, der sich in ihm selbst als „sein
Gott” aufs neue kristallisieren will! ‒
26 Das Buch vom Menschen
.Aber auch seinen wahren „lebendigen
Gott findet der Erdenmensch nur schwer,
‒ denn er hat sich daran gewöhnt, in seinem
Gotte nur den „Mann” zu wähnen, während
sein „lebendiger Gott”: ‒ „Mann ist und
Weib”. ‒
.Erlösung kommt dem Erdenmenschen
nur, wenn auch das „Weib” in seinem Gotte
wieder zu seinem Bewußtsein spricht...
.„Das Ewig-Weibliche zieht uns hin‐
an”. ‒ ‒
.Daß er nur „Mann” in seinem er‐
träumten Gotte sieht, ist Schuld, ist Ab‐
kehr von den Kräften urgewollten Seins: ‒
Verstrickung in das Weiblich-Empfäng
nisbegehrende seines Wesens, ‒ Aufgeben
des Männlich-Aktiven in ihm selbst. ‒
.Disharmonie muß überall entstehen, wo
„Männliches” und „Weibliches” im Kosmos
nicht vereinigt wirken.
.Nenne „Mann und Weib” getrost auch
mit anderen Namen!
27 Das Buch vom Menschen
.Immer sind es die beiden gegensätz
lichen Pole, die in ihrer Vereinigung
Leben bewirken!
.Positiv und negativ, aktiv und passiv,
zeugend und gebärend, gebend und emp‐
fangend, ausstossend und einziehend, be‐
wegend und bewegt werdend...
.Und alles dieses verbindet sich in ewigem
Kreislauf, so wie das Weib auf Erden: Mut‐
ter des Mannes, und der Mann: Vater des
Weibes wird. ‒
.Und kein Gebilde, kein Wesen ist im
geistigen wie im physisch-sinnlichen Kos‐
mos: ‒ auch nichts anscheinend „Reinmänn‐
liches” oder „Reinweibliches”, ‒ in dem
nicht „Mann und Weib” zugleich zu finden
wären, wenn auch in tausendfach verschie‐
dener Amalgamierung.
.„In nichts zerfallen” müßte selbst jedes
Atom”, wenn „Mann und Weib” nicht
28 Das Buch vom Menschen
ständig zeugend und gebärend in ihm wirken
würden.
.Wie immer der forschende Mensch die
von ihm entdeckten Potenzen im kleinsten
Teilchen der „Materie” benennen mag:
‒ stets handelt es sich um Formen der
urbestehenden Kräfte „Mann und Weib”. ‒
.Aber auch deinen „lebendigenGott
wirst du erst dann in dir zu finden hoffen
dürfen, wenn du ihn in dir suchst, so wie
allein er zu finden ist: ‒ als „Mann und
Weib”, ‒ und erst, wenn du in solcher
Weise ihn erfühlend „suchst”, wird er aus
Männlichem und Weiblichem sich in dir
selbst zu jenem ganz aus Licht bestehenden
„Kristall” gestalten können, der dann die
beiden Pole deines eigenen Seins in seiner
zwiepolaren Wesenheit vereinigt. ‒
.Hohe Hilfe aus deiner geistigen Heimat
wird dir dargeboten, wenn du solcherart
zu suchen strebst...
29 Das Buch vom Menschen
.Es lebt auf dieser Erde unsichtbar Einer,
der da ist wie er war: ‒ einer aus der
väterlichen Urzeugung ‒ aus dem mütter‐
lichen Gebären im reinen Geiste, ‒ ein
reiner Geistesmensch des höchsten
Seins im ewigen Quellgrund göttlich
geistigen Lebens.
.Einer derer, die „Mann und Weib
im Geiste sich zum „Bild und Gleich
nis” zeugen und gebären! ‒
.Es leben aber auch andere unsichtbare
„Menschen” auf diesem Planeten: „Men‐
schen”, die der Urgezeugten Weiterzeugung
sind, ‒ als solche zwar „gebunden” an ihre
eigene Erscheinungs-Schöpfung im Unsicht‐
baren, aber dennoch im „hohen Leuchten”
verharrend, ‒ nicht aus Licht und Leuch‐
ten „gefallen”, wie der sichtbarliche Er‐
scheinungsmensch.
.Erkennend die tiefe Not des Menschen
in der irdischen Erscheinungsform, suchen
30 Das Buch vom Menschen
sie ihn zu erretten, sobald er sich in Wahr‐
heit erretten lassen will.
.Sie selbst aber wirken unter der Geistes‐
leitung jenes einen unsichtbaren Ur
gezeugten, der alles Geistige auf diesem
Planeten lenkt.
.Immer und immer wieder hat dieser
unsichtbare geistige Helferkreis unter höch‐
ster geistesmenschlicher Leitung neue Erden‐
menschen im Dasein gefunden, die er zu
Werkzeugen seines glühenden Helferwillens,
‒ zu wirkenden Meistern höchsten irdisch‐
geistigen Erkennens: ‒ zu Mithelfern seines
Hilfswerkes, vollenden konnte, da sie schon
vor der Inkarnation im Erdenleibe sich zur
Mithilfe dargeboten hatten.
.Über diese, zur Erreichung der im Dun‐
keln tastenden Suchenden auf dieser Erde
unerläßlich nötige „Brücke” schritt und
schreitet zu allen Zeiten der ewige wahre
„Mensch” der Urzeugung im Geiste wieder
zu seiner gefallenen geistigen Selbst-Weiter‐
31 Das Buch vom Menschen
zeugung der lichtfernsten Form: ‒ dem
Erdenmenschen ‒ hin, suchend, wen er er
heben und in das Licht zurückführen könne.
‒ ‒
.Daß so viele der Erdenmenschen Su
chende sind, aber so wenige zu Findern
werden, hat seine Ursache darin, daß fast
alle Suchenden in der falschen Rich
tung suchen und so nur immer tiefer ins
Dunkle geraten...
.Jede Kraft wirkt nach der Richtung hin,
nach der sie ausgesandt wurde.
.Der Erdenmensch aber, in dem das den
Menschen tragende „Tier” die Oberhand
gewonnen hat, so daß er das irdisch-tierisch
Begründete an sich für sein Wesentliches,
ja für sich selber hält, sucht nun außer
sich, was er nur in sich finden könnte, allwo
ja die Verbindung mit den höheren Stufen
seines Menschseins immerdar gegeben bleibt
durch den „silbernen Faden” strahlender
32 Das Buch vom Menschen
Kräfte, der auch das, was wirklich „Mensch”
ist im Erdenmenschen, noch mit allem
Menschtum des Geistes verknüpft hält.
.Auch kein Helfer aus geistigen Re‐
gionen, und keiner derer, die als „Meister”
des geistigen Erkennens auf Erden in der
Sichtbarkeit leben um dem wirklichen
„Menschen” der Ewigkeit die „Brücke” zu
bauen, kann den Erdenmenschen in seinem
Bewußtseinskern anders erreichen, als nur
von Innen her, wo allein das wahrhaft
Menschliche gefunden wird.
.Nur vorbereitend kann das wahrhaft
Menschliche im Erdenmenschen auch vom
unsichtbaren Äußeren her gleichsam
angesprochen” werden, damit es erwache
für die innere Belehrung und Erhellung.
.Nach Innen muß also alles Suchen ge‐
richtet sein, wenn es zum Finden führen soll!
.Nicht in tibetanischen Klöstern, nicht
an den heiligen Orten der Inder, nicht in
33 Das Buch vom Menschen
geheimen Zirkeln angeblich „Wissender”
ist die „große Erleuchtung”, das „Buddha‐
werden”, zu erlangen, sondern nur in der
tiefsten Einsamkeit mit sich selbst, ‒ mit
dem wirklichen „Menschen” im eigenen
Herzen...
.Keiner der überaus wenigen hier auf
Erden, die zu Meistern des geistigen Er‐
kennens vollendet wurden um ihren Neben‐
menschen Hilfe zu bringen, kann dich er‐
reichen, auch wenn er neben dir stünde,
wenn dein Bewußtsein dort nicht wach wird,
wo du allein deines Menschtums bewußt
werden kannst.
.Nun will ich weiter zu dir sprechen als
zu einem Menschen, der das, was ich dir
bisher zu sagen hatte, willig in sich auf‐
genommen hat.
.Du suchst nunmehr in dir den „Men‐
schen” höherer Erscheinungsform durch das
34 Das Buch vom Menschen
in dir verborgene wahrhaft Menschliche zu
erreichen? ‒
.Du willst also Stufe um Stufe empor
und zurückfinden zu deinem eigenen Ur‐
sprung im reinen Geiste? ‒
.Du willst meine Worte nicht nur ver
nommen haben wie man eine wunderliche
Mär vernimmt, sondern willst ehrlich und
mit aller Kraft nach meinen Worten han
deln? ‒ ‒
.So höre denn weiter, was ich dir zu
sagen komme:
.Der aus dem Geiste gezeugte „Mensch”,
‒ aus „Mann und Weib” im Geiste ge‐
zeugt und geboren, ‒ ist „Mann und
Weib”, wie du bereits vernommen hast.
.Auf allen seinen Stufen herab zum Erden‐
menschen wird der Geistmensch der Ewig‐
keit nur alsMann und Weib” dir be‐
35 Das Buch vom Menschen
gegnen können, und nur in solcher zwie‐
polaren Einung wirst du ihn finden, sobald
du selbst im Geistigen gefunden wurdest, als
einer, der des Findens fähig ist.
.Auch der Meister reinsten geistigen Er‐
kennens, den man dir dann sendet, auf daß
er dir im Geistigen zum Führer und zum
Helfer werde, obwohl du ihn nicht kennst,
nicht siehst und nur in einem neuen
Fühlen um ihn weißt, ist: ‒ „Mann und
Weib” denn was dich aus ihm allein er‐
reichen kann, ist der ewige Mensch, der in
ihm, dem Erdenmenschen, aus dem Grabe
auferstand. ‒
.Suchst du das Licht, so wisse, daß dein
Weg behütet ist von den Meistern des ewigen
Tages, dem alles Dunkle in dir weichen muß!
.Doch sollst du auch wissen, wer diese
Meister in Wahrheit sind und wo du sie
erreichen kannst, denn nicht im Äußeren
und nicht von außen her ist das für dich
36 Das Buch vom Menschen
erreichbar, was in ihnen lebt um dir zu
helfen. ‒
.Nicht ihre äußere Erscheinung in der
Welt der Sinnenfälligkeit kann dir die Hilfe
bieten die du brauchst!
.Suche nicht nach ihnen im Bereich der
Nacht der Nichterkenntnis, allwo das
feinere Tier, das hier dem „Menschen” als
Vehikel dient, auf seine Weise irrt, und
Schein mit Sein verwechselt, ‒ verzweifelnd
und geplagt von Zweifeln!
.Hier hast du allezeit bisher bereits ge‐
sucht und nicht gefunden...
.Du wirst nun an anderer, dir noch un
bekannter Stelle suchen müssen...
.Nie und nimmer, solange du hier auf
der Erde lebst im Erdenkleid, wirst du zu
wirklicher Klarheit gelangen über dich selbst,
ehedenn du in dir denMenschenur
ewiger Zeugung fandest. ‒
37 Das Buch vom Menschen
.Du kannst ihn aber nicht finden, ohne
Stufe um Stufe die „Himmelsleiter” em‐
porzusteigen, deren unterste Sprossen Er
denmenschen bilden, in denen aber den‐
noch schon der reine Mensch des Geistes
Herr und König ist. ‒ ‒
.Vergeblich wirst du in „heiligen Bü
chern” letzte Klarheit suchen, denn diese
Bücher wurden einst nur für solche Men‐
schen geschrieben, die letzte Klarheit längst
errungen hatten, und sollten ihnen nur Ge‐
leitung auf dem weiteren Lebenswege bieten.
.In solchen Büchern spricht der Meister
zu dem Schüler, der ihm schon im Innersten
verbunden ist, und dem er sich in wohl
vertrauter Rede voll symbolischer Bedeutung
offenbaren kann.
.Wenn du aber einmal in deinem Innern,
‒ deinem Ewig-Menschlichen, ‒ gefunden
haben wirst, was du heute noch suchst, dann
werden auch viele Texte der Vorzeit dir
38 Das Buch vom Menschen
mit verständlicher, klarer Sprache zu spre‐
chen beginnen, und dann erst werden auch
dir die „heiligen Bücher” wirklich von
Nutzen sein. ‒
.Jetzt aber sollst du vorerst nur in dir
selber suchen!
.Vor allem mußt du damit beginnen,
wenn du „Ich” zu dir selber sagst, nicht
mehr nur das feinere Tier, sondern den
ewigen „Menschen” zu rufen! ‒ ‒
.„Mann und Weib” mußt du suchen in
allem was in dir und was über dir ist! ‒
.Magst du Mann sein oder Weib, ‒
immer wisse, daß du von Ewigkeit her
dich selbst polar bestimmt hast, und daß
diese polare Bestimmtheit auch in aller Ewig‐
keit nicht mehr wechseln kann, ‒ aber stets
den Gegenpol zu sich selbst in sich ver‐
langt. ‒
39 Das Buch vom Menschen
.Dein geistiges Männliches darf das
geistig Weibliche in dir nicht unterdrücken
wollen, gleichwie dein geistig Weibliches
nicht das geistig Männliche in dir negieren
darf!
.So nur wirst du dereinst auch im Geiste
wieder deinem urgegebenen Gegenpol ver‐
einigt werden, in der gleichen geistigen Ver‐
einung die dich und ihn zu einer Einheit
band, bevor die Trennung sich vollziehen
mußte durch den „Fall” aus hohem Leuch‐
ten...
.Suche in rechter Weise, so wie ich all‐
hier dich suchen lehre, und du wirst einst
dich selbst als den „Menschen der Ewig
keit” finden!
.In ihm, ‒ in dir, ‒ wirst du über
alle Zwischenstufen empor gelangen, deinem
lebendigenGott vereint, in den Urstand
deines urgezeugten, nur durch eigene Willens‐
wahl für dein Bewußtsein preisgegebenen
40 Das Buch vom Menschen
Seins: ‒ aus Geist gezeugt, im Geiste
geboren, ‒ „aus Mann und Weibim
Geiste ewig lebend! ‒ ‒ ‒
.Nicht jeder Erdenmensch gelangt schon
während dieses tierverhafteten Lebens
zum Bewußtsein in der Welt des reinen,
substantiellen Geistes.
.Sehr wenige nur werden jeweils wäh‐
rend ihres Erdendaseins schon in der Geist‐
region der Erde wachbewußt.
.Alle aber können hier schon und
während ihrer Erdentage in sich selbst
ihr ewiges Leben finden!
.Alle müssen dereinst dieses ewige Le‐
ben in sich finden lernen, auch wenn sie es
bei ihrem Scheiden aus der äußeren Erden‐
welt noch nicht gefunden hatten. ‒ ‒
.Du kannst nicht bewußt werden dermal‐
einst im reinen Geiste, bevor du in dir in
deinem ewigen Leben lebst!
41 Das Buch vom Menschen
.Erst in deinem ewigen Leben kannst
du dich selbst erleben als den Menschen
der Ewigkeit! ‒
.So gilt denn auch dir das geheiligte
Wort des hohen Meisters:
.Seid vollkommen, wie euer Vater
im Himmel vollkommen ist!”
.Aber nicht das, was an dir nur der Erde
zugehört, kann jemals die hier gemeinte
„Vollkommenheit” erreichen. ‒
.Nur dann, wenn du in dir dein ewiges
Leben gefunden hast und in ihm lebst, wirst
du „vollkommen” sein wie der „Vater”,
der „im Himmel” ist, als ewig Zeugen
der im Mutterschoß ewigen Gebärens:
‒ Urkraft im Ursein, ‒ „Mann” zugleich
und „Weib”! ‒ ‒ ‒
.Ehedenn du erreicht hast, was allhier
zu erreichen ist, soll dir kein Tag vergehen,
der nicht zum mindesten dein Streben
sah nach solchem Ziel!
42 Das Buch vom Menschen
DER WEG DES WEIBES
.In jener höchsten Sphäre geistiger Er‐
scheinungswelt, wo Geistesmenschentum sich
selbst zum erstenmale in Erscheinung
‒ hier aber immer noch in geistige Er‐
scheinung ‒ zeugt, ist „Mann” und „Weib”
noch eng vereint in urgegebener Einheit
zwiepolarer „Ich”-Empfindung.
.Mit jeder neuen Weiterzeugung aber
werden die geistigen Welten in die dieser
erste geistige Erscheinungsmensch sich wei‐
terzeugt, „dichter” gleichsam und ärmer an
ursprungsgegebenem „Licht”, ‒ doch immer
bleibt noch die engste Vereinung von „Mann
und Weib” in gemeinsamer zwiepolarer Er‐
scheinung.
.In seiner gleichsam „dichtesten” Dar‐
stellung geistiger Erscheinung endlich an‐
45 Das Buch vom Menschen
gelangt, ‒ nur schwach noch von dem ur‐
sprungsgegebenen „Lichte” erhellt, lernt nun
der Geistmensch dieser, seiner ersten Zeu‐
gung so fernen Bereiche, zum erstenmale die
Welten der physischen Gestaltung kennen.
.Hier aber geschieht es, daß den weib
lichen Pol in ihm eine neue Empfindung:
‒ die Furcht, befällt.
.Furcht vor den ungeheuren Kräften,
denen der geeinte zwiepolare Geistmensch
bis hierher noch geboten hatte, die er aber
nun in einer neuen Art am Werke sieht, ‒
ihm selbst so fremd, daß er hier nicht mehr
zu gebieten wagt und damit seine Macht
verliert...
.Doch hinter dem Werke der ihm nun
bedrohlich erscheinenden Kräfte gewahrt
er ‒ eine neue Welt, mit Lebewesen, die
alle aus seiner eigenen Kraft in höchster
geistiger Erscheinung stammen: ‒ die Welt
der physisch-sinnlichen Anschauungs
46 Das Buch vom Menschen
form, ‒ der physisch sich erlebenden
Erscheinung.
.Furcht vor den nicht mehr zu mei‐
sternden Kräften, und Anziehung, aus‐
gehend von den Formen der physischen
Welt, veranlassen schließlich, daß der weib
liche Pol des geistigen Erscheinungsmen‐
schen nun durch einen Willensakt die
Mauer bricht, die ihn bis dahin noch von
dem physisch-sinnlichen Kosmos schied.
.Zwingend überwältigt ihn das Wissen um
die neuentdeckte Möglichkeit zu ungekannter
Art der Selbsterfahrung, und vor Verlangen
in sich selber erbebend, erfolgt sein Los‐
reißen aus bisheriger Erscheinungsform: ‒
die Vereinung mit dem Tiere der Erde, ‒
nicht anders als wie ein Blitzstrahl sich los‐
reißt aus der Wolke um sich der Erde zu
einen. ‒
.Unzählige „Erden” gibt es im kosmi‐
schen Raum, auf denen der Geistmensch
47 Das Buch vom Menschen
solcherart nun im tierhaften Körper sich er‐
leben muß: ‒ dem physischen Körper des
Tieres, dessen Reste man auf diesem Pla‐
neten erhalten findet, noch aus Zeiten her
in denen es noch nicht in sich den Geist
menschen trug, auch wenn es jetzt als „Ur‐
mensch” bezeichnet werden mag. ‒
.Mit der Losreißung aus geistiger Er‐
scheinungswelt und der neuen Bindung an
den Tierleib ist der „Fall” aus hohem Leuch‐
ten endgültig vollzogen.
.Der Geistmensch, der bis hierher „Mann”
war und „Weib”, ‒ in gleicher „Ich”-Emp‐
findung vereint und sich selber stets in an‐
dere geistige Welten weiter-zeugend, ‒ ist
damit nun entzweit, denn in der phy
sischen Erscheinungswelt trennen sich
zwangsläufig die Pole „Mann” und „Weib”
voneinander, da diese Welt nur Bestand hat
in der steten „Spannung” die aus der Ge
trenntheit beider urgegebenen Pole re‐
sultiert.
48 Das Buch vom Menschen
.Es ist zuerst der weibliche Pol des
geistigen Erscheinungsmenschen, der diesen
„Fall” bewirkt und das Dasein in der Tier‐
form begehrt, ‒ aber in geistigen Reichen
vermag nichts zu verharren, in dem nur
einer der beiden Pole „Mann”, ‒ „Weib”,
wirksam wäre, und so muß der männliche
Pol dem „Falle” gleichzeitig folgen.
.Die Tierform, die der weibliche Pol
sogleich in seinem „Falle” findet, ‒ „ge‐
schaffen” bereits von Geistmenschen frü‐
hester Zeugung, ‒ wird dem männlichen
Pole Zwang, die gleiche Form für sich zu
begehren.
.Da aber die Söhne der Götter sa
hen, daß die Töchter der Erde schön
waren, nahmen sie diese zu Weibern.” ‒
.(Die Töchter der „Götter” sind hier
bereits zu „Töchtern der Erde” geworden!
‒ Die Söhne der Götter folgen nach!
‒ ‒)
49 Das Buch vom Menschen
.So etwa läßt sich auf irdische Weise
der ewig sich erneuernde Vorgang schildern,
der den Menschen geistiger Erscheinungs‐
welt zuletzt an die Gestaltung physisch
sinnlicher Erscheinungswelt verhaftet.
.Es ereignet sich nichts anderes als ein
vom weiblichen Pol her zuerst gewollter
Wechsel der Anschauungsform, der so‐
fort die vorher geeinten Pole entzweit und
zerfallen läßt in einen für sich bestehenden
weiblichen, wie einen ebenso nun für sich
bestehenden männlichen Pol, ‒ der Ge‐
schlechtertrennung des Erdenmenschentieres
angepaßt, das nur in solcher Trennung sich
zu erhalten vermag.
.Die Sage vom Paradiese läßt „Eva” durch
„die Schlange” verführt werden und danach
den „Adam” verführen. Mag auch diese
Sage, so wie wir sie kennen, nicht in ursprüng‐
licher Gestalt überliefert sein, so zeigt sie
doch noch deutlich, daß hier ein Erkennen‐
der sein Wissen um einen sich ewig er‐
50 Das Buch vom Menschen
neuernden Vorgang, in einen zeitgebundenen
Bericht symbolisch verhüllt, der Nachwelt
überliefern wollte, soweit sie seine Sprache
der Symbole kennen würde.
.Wer zu lesen weiß in den Worten dieses
Wissenden, der wird auch die weitere Folge
für „Mann” und „Weib”, in irdischer Tren‐
nung, alsbald durch die Worte bezeichnet
finden, die der Weise den „Herrn” zu
„Adam” und zu „Eva” sprechen läßt, Worte,
die in sehr bedeutsamer Unterscheidung
das Maß der Schuld-Folge verteilen.
.Es ist bei dem stetig sich wiederholenden
Vorgang des „Falles” ‒ in jedem einzelnen
Falle ‒ der seiner Natur nach passive
weibliche” Pol, der zuerst der „Urschuld”
durch Furcht, verfällt, der zuerst den An
ziehungskräften der physischen Welt er‐
liegt.
.Keineswegs ist aber der männliche Pol
etwa frei von Schuld, ‒ etwa nur das
51 Das Buch vom Menschen
„Opfer” seiner Vereinung mit dem weib‐
lichen Pol!
.„Schuld” des „männlichen” Poles ist
die Aufgabe aktiven Widerstandes im
zwiepolaren gemeinsamen Leben, bei der
Bedrohung des weiblichen Poles durch
Furcht und Anziehung.
.So geschieht es, daß beide Pole ihre
Rolle tauschen: ‒ eine geistige Perversion,
wobei der weibliche Pol aktive, der
männliche aber passive Haltung annimmt,
was den „Fall” in die physische Erschei‐
nungswelt unabwendbar macht.
.Entscheidend als „Urschuld” ist aber
allein der positive Willensakt im weib‐
lichen Pol. ‒
.Darum, in der Sage vom „Sündenfall”,
der „Fluch”, der die Menschheit trifft im
Weibe”, ‒ der dem Weibe in erden‐
hafter Form körperliche Schmerzen, Ängste
52 Das Buch vom Menschen
und Nöte verheißt wie sie dem physi‐
schen Tierkörper nicht erspart werden kön‐
nen, und jenen steten Kampf mit der
schillernden „Schlange” physisch-sinnlicher
Anschauungsart.
.Dem „Manne” aber wird nur diese
Anschauungsweise selbst entwertet durch
ihre Verfluchung.
.Ihm wird nur die Mühe und Plage
verheißen, an die das Dasein in physischer
Anschauungsform gefesselt ist.
.Darum weiter, in der Sage, das Wort
des „Herrn” an das „Weib” im Menschen:
.Du sollst dem Manne untertan, und
er soll dein Herr sein!” ‒ ‒
.Wie oft wurde dieses Wort schon miß
braucht als ein Freibrief zur Unterdrückung
weiblicher Individualität auf Grund der hier
vermeintlich zugestandenen unbedingten
Herrschgewalt des Mannes in der Ehe!
53 Das Buch vom Menschen
.Aber auch aller lächelnde oder entrü‐
stete Spott kann die große Wahrheit nicht
aus der Welt schaffen, die jener Wissende
nur dadurch bedeutungsvoll genug betont
glaubte, daß er den „Herrn” befehlend
also sprechen läßt zu Mann und Weib. ‒
.Hier ist wahrlich Anderes zu finden,
als jene wähnten, die sich aus dieser nur
noch leicht verhüllten Wahrheitsoffenbarung
eine willkommene göttliche Bestätigung der
Rechte männlicher Machtgelüste über das
Weib herauszulesen suchten!
.Hier ist der Weg gezeigt zur dermal‐
einstigen Wiedervereinung der beiden ir‐
disch getrennten Pole im Reiche des Geistes,
wie sie nur erfolgen kann durch Auflösung
der geistigen Perversion der Pole, die einst
Vorbedingung des „Falles” war!
.Hier ist auf das geistige Gesetz verwiesen,
das nur des Mannes hier auf dieser Erde
sich bedienen kann, soweit es menschliche
54 Das Buch vom Menschen
Antennen braucht um die „frohe Botschaft”
des Menschen der Ewigkeit dem im
„Dunkel” irrenden Erdenmenschen er‐
neut vernehmbar zu machen und ihm die
Kräfte zuzuleiten, die er zu seiner Rück‐
kehr in das „Licht” benötigt! ‒ ‒
.Noch tragen Mann und Weib in dieser
irdischen Erscheinungswelt in sich die letz‐
ten Spuren einstiger Verbundenheit der
Pole.
.Im Weibe dieser Erde lebt noch etwas
wie „Erinnerung”, daß es geistig vormal‐
einst sein „Ich” auch im „Manne”: ‒ in
einem männlichen Pole ‒ fand, und der
Mann dieser Erde kann in sich die gleiche
Spur seiner vormaligen Vereinung mit dem
„Weibe”: ‒ einem weiblichen Pole, ‒
noch entdecken...
.Alles seelische Vereinigungs-Streben
zwischen Mann und Weib auf dieser Erde
55 Das Buch vom Menschen
ist nur begründet in dem, was solcherart
noch im Manne vom Weibe, und im Weibe
vom Manne weiß. ‒
.Selbst die unerhörte Macht der in tier‐
hafter Leiblichkeit gegebenen sexualen
Anziehung bestimmter Individuen der bei‐
den Geschlechter würde im Menschen der
Erde nicht zu ihrer Auswirkung kommen
können, wären die hier in Betracht kom‐
menden seelischen Widerstände nicht bis
auf minimale Reste ausgeschaltet durch
ein seelisches „Erinnern”, ‒ ein letztes
Erahnen ‒ ehemaliger polarer Verei
nung. ‒
.Kein seelisches „Verstehen” zwischen
Mann und Weib im Erdenkörper wäre mög‐
lich, ohne das, was noch im Weibe weiter
wirkt aus seiner einstigen Vereinung mit
dem Manne her, ‒ und ohne das was noch
im Manne an Auswirkungen des ihm einst‐
mals vereinten weiblichen Poles erhalten
ist. ‒ ‒
56 Das Buch vom Menschen
.Nicht alle „Menschen” geistiger Er‐
scheinungsform sind dem „Falle”: ‒ der
Ent-zweiung, ‒ erlegen.
.Von den Nicht-Entzweiten, die in der
geistigen Region der Erde leben, ‒ den
Nichtgefallenen, ‒ geht immerfort er‐
neut der glühende, liebegeleitete Rettungs‐
wille aus, der nur das eine Ziel kennt: ‒
die in physisch-sinnliche Erscheinungsform
Gefallenen zurückzuführen in den geistigen
Urzustand.
.Diese Nicht-Entzweiten sind es, und nur
sie allein, die sich auf Erden aus den vor‐
geburtlich schon Verpflichteten jene „Er‐
wachten” schaffen, die man Meister kosmi‐
schen Erkennens nennt.
.Es wählen diese Nichtgefallenen mit
sicherer Wahl sich aus der Erdenmenschheit
jene Männer aus in denen sie das Geistige
wiedererkennen, das einstmals sich ihnen
verpflichtet hat: ‒ jene Männer die ihnen
nun „Söhne” und „Brüder” werden können,
57 Das Buch vom Menschen
‒ und vollenden sie zu „Leuchtenden”
der Ewigkeit.
.Diese unsichtbaren, zwiepolaren Men‐
schen geistiger Erscheinungsform leben ‒
wie ich schon vormals es bezeugte ‒ hier
in der Geistesregion dieser Erde unter
der hohen, liebeerfüllten Leitung eines der
urgezeugten Geistes-„Menschen”, ‒ eines
jener höchsten Erhabenen, die stets im
reinen Geiste bleiben, und niemals auch
nur in geistige Erscheinungswelten sich
weiterzuzeugen willens sind. ‒
.Nach ewigem geistigen Gesetz ist nur der
männliche Pol des geistigen Menschen der
hier auf der Erde sich im tierhaften Körper
erlebt, noch dazu befähigt, die Geistes
Region der Erde bewußt zu betreten, in
der die „Nicht-Entzweiten” als Helfer
des Erdenmenschen leben.
.Niemals könnte darum ein Weib der
Erde: ‒ die Verkörperung des weiblichen
58 Das Buch vom Menschen
Poles des geistigen Menschen, ‒ zu einem
Meister kosmischen Erkennens vollendet
werden, und ebenso ist es unmöglich, daß
ein wirklicher Meister durch geistige Über‐
tragung ein Weib zu seinem angenommenen
„Sohne” im Geiste machen oder ihm eine
wirkliche Einweihung erteilen könnte, denn
alle diese Formen aktiver, in sich gerun‐
deter und aller Willkür entrückter Geistig‐
keit setzen den aktiven geistigen Pol im
Erdenmenschen voraus.
.Das „Weib” trägt, als getrennter, pas‐
siver, weiblicher Pol des geistigen Erschei‐
nungsmenschen in seinem Erdendasein nun
die Folge seines Willens-Impulses zur
Verkörperung in der physischen Welt,
durch den mit Notwendigkeit die Tren
nung der Pole „Mann und Weib” erfolgen
mußte.
.Auch der irdisch inkarnierte weibliche
Pol des geistigen Menschen kann wohl
während des Erdenlebens in die geistige
59 Das Buch vom Menschen
Region der Erde „erhoben” werden, ‒
jedoch nur in der seiner Art gemäßen pas
siven Weise, ohne in jener Region Be
wußtsein zu erlangen, was jedoch keines‐
wegs die Empfängnis geistiger Influenzen
durch männlich-polare geistige Einwirkung
ausschließt.
.Dem Manne auf dieser Erde, ‒ als der
Inkarnation eines männlich-geistigen Poles,
‒ bleibt dagegen seine aktive geistige Kraft
auch im tierhaften Körper erhalten, wenn
sie auch nur in den allerseltensten Fällen,
von denen bereits die Rede war, ‒ sei es
völlig, sei es nur zum Teil, ‒ aus ihrer
Latenz zu lösen ist.
.Möglich ist solche Lösung aber nur
durch die lösenden Helfer, die Nicht-Ent‐
zweiten in der Geistesregion der Erde, die
alsdann dem männlich-polaren Geiste in
völlig erwachtem oder wenigstens teil
weise aufnahmefähigem Bewußtsein aktiv
wirkend erlebbar wird. ‒
60 Das Buch vom Menschen
.Da aber auch der aktive, männlichpolare
Geist trotz seinem vorher durch die Helfer
bewirkten völligen, teilweisen, oder auch
nur zeitweisen „Erwachen” dort nicht
ohne den Ausgleich weiblicher Polarität
bewußt sein könnte, so tritt aus der Höhe
ungeformten ewigen Geistes, aus dem „Ur‐
licht”, das „Mann” ist und „Weib”, ein
Strahl von weiblich-polarer Art in ihn ein,
verschmilzt mit seinem „Ich”, und schafft
ihm die notwendige geistige Vollendung.
.Ich glaube kaum, daß der Dichter nicht
um diesen Vorgang wußte, der einst das
Wort prägen durfte:
.„Das Ewig-Weibliche zieht uns hin
an”...
.Das Ewig-Männliche aber kann wohl
den weiblichpolaren Geist in geistige Re‐
gionen erheben, doch ist es nicht mög‐
lich, ihn während der irdischen Verkörpe‐
rung dort bewußt werden zu lassen.
61 Das Buch vom Menschen
.Durch den Willensakt des Hinstre
bens in die physisch-sinnliche Erschei
nungswelt und die hierdurch erfolgte Um‐
kehrung seiner geistig gegebenen passiven
Artung in reinste Aktivität, begab sich der
weibliche Pol des geistigen Menschen selbst
der Kraft, die ihn wieder aus der gewollten
Anschauungsform hätte befreien können.
.Die durch diesen Willensakt paralysierte
Kraft ist während des Erdenlebens nicht
mehr zu erneuern.
.Doch jene, die den Nicht-Entzweiten des
geistigen Bereichs der Erde „Brücken‐
bauer” wurden als die Meister kosmischen
Erkennens wollen Mann sowohl wie Weib
aus Erdenknechtschaft lösen...
.Sie können es, sobald es ihnen vordem
erst gelingt, den Erdenmenschen, sei er
Weib oder Mann, dahin zu bewegen, daß
er seine Seelenkräfte vollkommen seinem
geistigen „Ich” zu einigen sucht.
62 Das Buch vom Menschen
.Dann erst kann sich der „lebendige Gott”
im Menschen der Erde wieder „gebären”. ‒
.Dann erst wird die „Himmelsleiter”
wieder aufgerichtet, auf der „die Engel”
auf- und niedersteigen, und die von dieser
Erde bis hinauf in das ewige „Urlicht”
reicht, dem des Erden-Menschen Geistiges
entstammt.
.Die Wege die ich zeige, sind weder dem
Weibe noch dem Manne verschlossen.
.Ich rede aber außerdem auch von einem
Wege, den zuweilen zwar ein Mann ge‐
heißen wird zu gehen, aber niemals ein
Weib.
.Ich rede von aktivem, bewußtem Be‐
treten der Geistregion unserer Erde, noch
während des erdenmenschlichen Daseins,
als von einer dem Manne, ‒ jedoch nur in sel‐
tenen Fällen, ‒ dargebotenen Möglichkeit.
63 Das Buch vom Menschen
.Dem Weibe, ‒ und zwar jedem Weibe
auf dieser Erde, das wissend oder nur
ahnend Wege geht, die denen gleichen, die
ich zeige, ‒ wird die Kraft zu eigenbe
wußter Erhebung in die Geisteswelt einst
nach wohlgenutztem Erdenleben zuteil durch
einen jener Meister, die das „Ewig-Weib‐
liche” schon während ihres Erdenlebens in
die Geistregion der Erde „hinangezogen”
hatte, und die auch nach dem Tode ihres
Erdenkörpers, von dort aus hilfebringend
dieser Erde nahe bleiben.
.Der hohe Weg des Weibes, der aber nicht
nur ausschließlich dem Weibe vorbehalten
bleibt, ist solcherart ein indirekter Weg,
führt jedoch ebenso wie der nur wenigen
erreichbare direkte Weg des Mannes einst zu‐
rück zu geistiger Vereinung von „Mann”
und „Weib”, und damit zu selbstbewußtem
Leben in den Welten geistiger „Erschei‐
nung”, die weit höher liegen als das „Jen‐
seits”, ‒ in dem sich jeder Menschengeist
‒ auch ohne jedes Streben ‒ sogleich nach
64 Das Buch vom Menschen
dem Tode seines irdischen Körpers findet: ‒
jenseits der Anschauungsform physischer
Außen-Sinne.
.Aber das Weib der Erde würde vergeb
lich suchen, um etwa hier auf Erden einen
der Meister kosmischen Erkennens zu finden,
damit er ihm schon während des Erden
lebens Eingang in die Welt des Geistes
verschaffe.
.Auch jene heiligen Frauen, die einst dem
Meister dienten, den die Evangelien schil‐
dern, fanden erst nach vollbrachtem Erden‐
leben in ihm den Helfer, der ihnen das Reich
des Geistes eröffnen konnte, nachdem er
selbst den Erdenkörper verlassen hatte.
.Vorher „erkannten” sie ihn nicht und
hielten ihn für den „Gärtner” irdischer
Gärten...
.Es war ein hartes Wort, das dieser Mei‐
ster kosmischen Erkennens selbst seiner
Mutter gab, als er sprach:
65 Das Buch vom Menschen
.Weib, was habe ich mit dir zu
schaffen?!” ‒ ‒
.Doch dieses Wort ist von der irdischen
Erscheinung eines jeden Geistgeeinten her
gesprochen und gilt jedem Weibe, das hier
auf Erden in der irdischen Erscheinung
die Hilfe sucht, die der im Reiche wesen‐
haften Geistes Wirkende ihm erst dann
zuteil werden lassen kann, wenn er selbst
das Erdenkleid abgelegt hat.
.„Wenn ich von der Erde erhöht sein
werde, dann werde ich alles an mich zie‐
hen!” ‒
.Urirdische Triebe weiblicher Sehnsucht
haben nur allzuoft das Suchen weiblicher See‐
len nach ihrem Meister auf irreführende Wege
geleitet, wo dann täuschender Wahn infolge
dramatischer Spaltung der eigenen Seelen‐
kräfte sie den vermeintlichen „Meister” fin‐
den ließ, der nichts anderes war als eine Aus‐
geburt wuchernder plastischer Phantasie...
66 Das Buch vom Menschen
.Nur viel zu sehr hat oft das „Weib”
der Erde in Wahrheit nach dem „Manne
der Erde verlangt, während es frommen
Glaubens war, einem Gegenpole im ewigen
Geiste entgegenzustreben, mochte er nun
als „Krishna” oder „Jesus” bezeichnet wer‐
den.
.
Ob dann in innigster Andachtsglut der
Geliebte der Seele” umschlungen oder
ob mitleidensdurstig Leben und Leiden
des Gemeinten durchschauernd mitgelebt
und mitgelitten wird, ‒ stets handelt es
sich dabei nur um einen Fieberwahn, ver‐
ursacht durch seelische Spaltung, so er‐
haben und ergreifend auch die Äußerungen
dieses Wähnens sich darstellen mögen, so‐
sehr auch das Wahnerlebnis die Physis
miterschüttert, wobei durch diese Erschüt‐
terung oftmals Kräfte der unsichtbaren phy
sischen Welt zur Mitwirkung angeregt wer‐
den, die wahrlich mit Entsetzen geflohen
würden, wüßte man um ihr Wirken und
ihre Art. ‒ ‒
67 Das Buch vom Menschen
.Erst wenn das Weib der Erde wieder
frei von dem voreinst erstrebten Erden‐
körper wurde, ‒ nach einem Erden
leben, das darauf gerichtet war, das
Sein im Geiste später wieder zu er
reichen, in geistiger Gestaltung und mit
wohlgeeinten Seelenkräften, erfüllt von sei‐
nem „lebendigenGott, ‒ ‒ erst dann
darf es erwarten daß ihm ein Meister nahen
kann in geistiger Gestaltung, der ihm zu‐
rückerstattet, was es einstmals als weiblicher
Pol des Geistesmenschen dort zurücklassen
mußte, wo die Paralysierung seiner Kraft
erfolgte durch die Verkehrung seiner Stre‐
bensrichtung...
.Dann aber wird es mit Sicherheit auch
seinen geistigen Gegenpol zu finden ver‐
mögen, mit dem es voreinst vereint war und
nun ewig aufs neue vereint wieder den
„vollendeten” Geistesmenschen darstellt, ‒
sich selbst in seinem „Ich” bewußt emp‐
findend und zugleich, im selben „Ich”,
68 Das Buch vom Menschen
seinen männlichen geistesmenschlichen Ge‐
genpol.
.Das Gleiche gilt jedoch auch für den
Mann, soweit er nicht durch seinen „see‐
lischen Stammbaum”: ‒ die Seelenkräfte
aus der Vorzeit, die sich, infolge seiner gei‐
stigen Darbietung zum Helfer der im Ur‐
licht Leuchtenden, in ihm einten, ‒ von
Geburt an bereits die Eignung in sich trug,
zum Meister kosmischen Erkennens voll‐
endet werden zu können, oder soweit er
nicht wenigstens auf Erden derart zum Er‐
wachen kam, daß es einem Meister möglich
war, ihn als geistigen „Sohn” anzunehmen
und durch Übertragung geistiger Erlebens‐
fähigkeit einzuweihen.
.Doch kann auch der zum Meister Gebo
rene, oder der als geistiger „Sohn” Angenom
mene, die ihm verliehene geistige Möglichkeit
nur dann wirklich nützen, wenn er getreu
und ohne Wanken stets erfüllt, was ihm ge‐
boten wird von denen, die ihn geistig lehren. ‒
69 Das Buch vom Menschen
.Die Hierarchie des Geistes kennt keine
Willkür!
.„Mann” und „Weib” soweit sie in Erden‐
tierleibern verkörpert hier auf der Erde
leben, stehen genau jeweils an jener Stelle,
die sie einzunehmen fähig sind, und es
wird jedem Erdenmenschen nur das zuteil,
wozu er selber sich geistig fähig machte. ‒ ‒
.Will ich aber hier vom „Wege des
Weibes” reden, dann muß ich dem Weibe
in irdischer Erscheinung noch von einer
besonderen Verschiedenheit seines Weges
sagen, auch auf jener Strecke, die Mann und
Weib in gleicher Weise gangbar ist.
.Der Mann, der den „Weg” betritt, wird
zweifellos dem Ziele schneller näherkommen,
wenn seine Haltung aktiv bleibt, stets „grei
fend” nach dem Ziel das er erreichen will.
.Dem Weibe aber empfehle ich statt dessen
mehr die Haltung gläubigen Verlangens,
70 Das Buch vom Menschen
‒ eine Haltung die das Ziel erstrebt, je‐
doch nicht „greifend” danach faßt, viel‐
mehr passiv sich zu ihm leiten läßt.
.Es fließt dieser Rat aus uraltem Erfahrungs‐
wissen, und seine Befolgung, ‒ wird er
richtig verstanden, ‒ kann dem Manne so‐
wohl wie dem Weibe das Erreichen des
Zieles sehr erleichtern...
.Der „Weg des Weibes” ist wie der des Man‐
nes ein Weg zurück zum Urstande in der gei
stigen Erscheinungswelt, bevor der Mensch
seine geistigen Sinne in die physischen
Sinne des „Tieres” versenkte und sie auf
solche Weise unfähig machte Geistiges noch
wahrzunehmen.
.Durch die Verkehrung seiner geistgege‐
benen passiven Art in aktives Streben hat
der weibliche Pol seine Ursprungskraft selbst
gelähmt, selbst aufgehoben. ‒
.Wo es gilt, sie dereinst zurückzugewinnen,
ist es nötig, aus freiem Willen die urgege‐
bene Strebensart wieder anzunehmen.
71 Das Buch vom Menschen
.Im Weibe wie im Manne dieser Erde
will sich der „lebendige” Gott gebären, ‒
hier schon, während dieses Erdenlebens! ‒
.Der „Weg”, den ich in seinen verschie‐
denen Formen im ersten dieser drei Bücher:
dem „Buch vom lebendigen Gott” ge‐
zeigt habe, gilt für alle Menschen dieser
Erde, „Mann” sowohl wie „Weib”, und
was ich von hoher geistiger Führung, von
der Stimme des Führenden, von der Hilfe,
der im Geistigen wirkenden Meister sagte,
ist ebenso gültig für „Weib” und „Mann.”
.Man irre sich nicht und glaube nicht
etwa, daß ich in meinen Büchern nur die
geistigen Entfaltungsmöglichkeiten beson‐
derer Erwählter, ‒ etwa nur den Weg des
„Jüngers” und geistig „Geweihten” oder gar
nur den Weg der Meister kosmischen Er‐
kennens aufzeigen wolle!
.Was ich von solchen Wegen ‒ nur in
ferne Weite deutend ‒ zeige und zeigen
72 Das Buch vom Menschen
muß, ist immer derart bezeichnet, daß man
nicht in Zweifel geraten kann.
.Ich sage es oft genug, daß diese wahr‐
lich sehr beschwerlichen Wege nicht für
Viele gangbar sind, und nur jenen Männern
sich erschließen, die für sie geboren wer‐
den...
.Hier an dieser Stelle habe ich nun von
vielen Dingen sprechen müssen, die Mann
und Weib gemeinsam angehen, weil an‐
ders nicht zu zeigen war, inwiefern sich der
Weg des Weibes von dem nicht gemeinsamen
Wege unterscheidet, der nur dem Manne,
soweit er ein „Leuchtenderdes Urlichts
oder ein zum Jünger Berufener ist, offen‐
steht.
.Mag auch der Weg des Weibes hier auf
Erden jene höchste Höhe nicht erreichen
können, die dem Manne der dazu geboren
ist, einer der Meister reinsten Erkennens
zu werden, schon während seines Erden‐
73 Das Buch vom Menschen
daseins zu ersteigen möglich ist, so führt
dennoch des Weibes Weg endlich zum glei‐
chen Ziel: ‒ zu wachem Sein in der Er‐
scheinungswelt des Geistes: ‒ zur Neuge‐
burt des geistigen Erscheinungsmenschen,
der da „Mann” ist und „Weib”, in selig‐
ster Vereinung und auf ewig untrennbar
in gemeinsamer zwiepolarer „Ich”-Empfin‐
dung. ‒
.Alles Geistige, was dem Manne erreich‐
bar ist, wird dermaleinst durch den Mann
auch dem Weibe wieder erreichbar.
.Es zieht alsdann der männliche Pol
des geistigen Menschen den weiblichen
nach, gleichwie ehedem der weibliche Pol
den männlichen nachzog in das Leben
physisch-sinnlicher Anschauungsform...
74 Das Buch vom Menschen
DER WEG DES MANNES
Nach dem was ich bisher vom „Wege
des Weibes” sagte, erscheint es nahezu nun
überflüssig, noch in Sonderheit vom „Wege
des Mannes” zu reden.
.In den weitaus meisten Fällen wird der
Weg nicht wesentlich verschieden sein für
Mann und Weib, trotz aller geistigen Ver‐
schiedenheit der Pole. Nur die Art, den Weg
zu durchschreiten, kann beim Manne den‐
noch eine andere sein, als die des Weibes. ‒
.Soweit der Mann als „Mann” eine Weg‐
strecke vor sich sieht, die dem auf Erden
inkarnierten Weibe niemals offen steht,
handelt es sich nur um jenen äußersten
Höhenpfad der allein den Wenigen zugäng‐
lich wird, die dazu geboren werden, in
77 Das Buch vom Menschen
diesem Erdenleben schon vollbewußt in den
Regionen des Geistes zu wirken.
.Es ist jene letzte, höchste Strecke des
Weges dieser Wenigen, auf der ihnen ohne‐
hin die anderen nicht folgen würden, ‒
weder Mann noch Weib, ‒ selbst wenn es
ihnen möglich wäre solange sie noch auf
Erden leben.
.Eitelste Vermessenheit wäre es, wollte
etwa ein Mann auf dieser Erde, nur weil
er „Mann” ist, für sich an ein besonderes
geistiges „Vorrecht” glauben, und das Weib
vielleicht als geistige Potenz geringer schätzen
als sich selbst!
.Ich sage absichtlich: „als geistige Po‐
tenz”, denn ich rede hier vom ewigen Geiste,
nicht aber vom Intellekt und der Kraft
des Denkens, die nur Resultate irdischer
Züchtung sind.
.Im Geiste gibt es keine Verschieden
wertigkeit zwischen männlichem und
weiblichem Pol!
78 Das Buch vom Menschen
.Weibliche Passivität und männliche
Aktivität sind im Geistesmenschen von An‐
fang an in gleicher Macht und Kraft
gegeben!
.Die Wenigen, die während ihres Erden‐
lebens wirklich ein geistiges „Vor-Recht”
vor dem irdisch verkörperten weiblichen
Pole des Geistesmenschen voraus haben,
wußten noch zu jeder Zeit um ihre hohe
Pflicht, dem „Weibe” ihre besondere Hilfe
darzubieten, da es durch den ihm entstam‐
menden Impuls zu physischer Verkörperung,
nach dem „Falle” in eine schwierigere
Lage geraten ist als der Mann. ‒
.Keiner aus ihnen hat jemals das Weib
geringer geschätzt als den Mann, oder gar
den weiblichen Menschen verachtet.
.Selbst wenn einer in harten Worten seine
irdische Beziehung zu einem Weibe der
Erde klar geschieden sehen wollte von seiner
geistigen Wesenheit, ‒ so zeigte doch jeder
79 Das Buch vom Menschen
derer, die das hier gemeinte Vor-Recht
vor Männern sowohl wie vor Frauen
besaßen, daß ihm das Weib ‒ auch in der
irdischen Verkörperung ‒ wahrlich hoher
Ehrfurcht wert war...
.Im Geiste eines jeden dieser Wenigen
die zur Vollendung gelangten, lebt ja von
dem Augenblicke der Vollendung an nicht
mehr nur der männliche Pol des geistigen
Erscheinungsmenschen, sondern mit ihm
vereint, ‒ in Substitution seines dereinstig
wieder zu erreichenden weiblichen Gegen‐
pols, ‒ jener weiblichpolare Strahl des
ewigen Urlichts, der den männlichen Men‐
schengeist erst befähigt in den geistigen Er‐
scheinungswelten wieder wachbewußt zu
werden: ‒ das „Ewig-Weibliche”. ‒ ‒
.Wie könnte jemals ein Mensch solcher
Artung, ‒ auch wenn er in seinem irdischen,
tierischbedingten Leben nur den männ
lich-tiermenschlichen Pol verkörpert, ‒ den
weiblichen Geist, den er ja in seiner Geist
80 Das Buch vom Menschen
natur mit seinem männlich polaren Geiste
vereint im gleichenIch” empfindet,
etwa geringer schätzen als den Geist des
Mannes?! ‒
.Der „Weg des Mannes” erheischt vom
Manne der ihn betritt, sogleich vom aller
ersten Anfang an, einen ernsten aber auch
wohlgeübten Willen zum Verstehen weib‐
licher Art.
.Ein Mann, der diesen Willen vermissen
läßt, wird niemals das Ziel erreichen, das
ihm erreichbar wäre...
.Das Weib, soweit es seine passive Artung
wiederfand, ist weit eher geneigt, die ge‐
gebene Art des Mannes willig und gar oft
bewundernd anzuerkennen.
.Die aktive Art des Mannes vermag da‐
gegen nur zu leicht den Mann in „Größen‐
wahn” zu stürzen, so daß er im Weibe nicht
81 Das Buch vom Menschen
mehr „ein Anderes”, gleichen Wertes,
sondern ein Minderwertiges zu sehen sich
veranlaßt fühlt.
.Hier liegt eine nicht geringe Gefahr für
so manchen Mann, der „den Weg des Mannes”
gerne beschreiten möchte!
.So mancher glaubt sich auf seinem
Wege, glaubt sich bereits gar sehr „ver‐
geistigt” und meint ein Recht erlangt zu
haben, verächtlich von seiner erträumten
Erhabenheit auf das Weib herabsehen zu
dürfen, während er sich auf solche Weise
um jede Möglichkeit bringt, in den Geist
zu gelangen. ‒
.Der Mann allerdings, der einmal wirk‐
lich erfaßte, daß es schon bei den ersten
Schritten auf seinem geistigen Wege das
Geistig-Weibliche ist, das ihn hinanzieht,
‒ das über höchste geistige Hierarchien bis
herab zu seinen erdenmenschlichen geistigen
82 Das Buch vom Menschen
Helfern flutet um ihn zu erreichen, ‒ der
ist gewiß gegen die Gefahr gesichert, sich
als Mann für höherwertiger zu halten als
das Weib...
.Er wird dem Weibe geben, was des
Weibes, und dem Manne, was des Mannes
ist, ‒ wissend, daß der Mensch der gei
stigen Erscheinungswelten, nur dann er‐
neut erstehen kann in bleibender Vollendung,
wenn Männliches und Weibliches sich der‐
einst wieder eint zu einem Geisteswesen,
in dem er alsdann sich selbst und sei
nen Gegenpol erlebt in seinem eigenen
Ich”. ‒
.Phallus und Yoni vereint, zeigten dem
Inder in alter Zeit schon diese Wahrheit im
Symbol, ‒ während Phallus, oder Lingam,
allein, als die korrelativen körperlichen
Organe des Mannes, jene Kraft symbo‐
lisieren, die aus dem Manne, der dazu ge
boren ist, den Eingeweihten und den Meister
kosmischen Erkennens zeugt...
83 Das Buch vom Menschen
.Auch die Witwenverbrennung im alten
Indien, die ursprünglich nur die Ausführung
des religiös bestimmten Willens der hinter‐
lassenen Gattin war, ist nur zu verstehen
als ein trauriger Niederschlag bereits in
verzerrter und entstellter Form empfun‐
dener geistiger Wahrheit aus noch weit
älterer Zeiten Überlieferung.
.Man übertrug ins Alleräußerlichste, was
rein geistig verstanden werden wollte,
denn es ist das Schicksal jeder Wahrheit
die auf diese Erde kommt, daß sie nur kur‐
ze Zeit in ihrer Reinheit leuchten kann,
und nur von wenigen begriffen wird in un‐
getrübter Klarheit, ‒ bis sie alsdann „Ge‐
meingut” wird in einer allzuirdischen Ver‐
zerrung.
.Soll das „Weib” am „Manne” und der
„Mann” am „Weibe” wirklich „genesen”,
dann müssen Beide: ‒ Mann sowohl wie
Weib, ‒ den Weg zum Geiste emporzu‐
84 Das Buch vom Menschen
finden suchen in seelischem Verstehen,
geeint im Willen, so wie sie einst die
hohe geistige Erscheinungswelt verloren
haben in Gemeinsamkeit.
.Man wird kaum bezweifeln wollen, daß
aus der seelischen Gemeinsamkeit im Streben
nach dem Geiste auch mancher Lichtstrahl
auf Probleme äußeren Lebens fallen muß,
die Mann und Weib bis dahin sehr be‐
drängten und ihnen schier unlösbar schienen.
.An jenem Ziele dann, das allen hier
auf Erden schon erreichbar ist, die ernst‐
haft und beharrlich es erreichen wollen:
denlebendigenGott im eigenen
Herzen, ‒ werden Mann und Weib zuletzt
von den höchsten Kräften mitgerissen, die
jene Wenigen zu jeder Zeit durchströmen,
deren sich göttliche Liebe bedient um empor‐
zuleiten was nach Licht verlangt und nach
Befreiung aus der Chaos-Nacht ungewissen
Willens.
85 Das Buch vom Menschen
.Sicherer als Lehre in Wort und Schrift
es jemals vermöchte, werden alle ehrlich
Suchenden von jenen Welten klaren Lichtes
her geleitet, die aus allen hier auf Erden
Lebenden allein die Meister kosmischen Er‐
kennens mit Bewußtsein, wissend und aus
solchem Wissen handelnd, zu betreten fähig
sind noch während ihrer Erdentage. ‒
.Dereinst erlöst aus irdischer Gebunden‐
heit werden „Mann” und „Weib” in der
vollkommensten Erhaltung individueller
Eigenart, ‒ in ausgeprägter polarer Ver‐
schiedenheit als zwei in sich geschlossene
Geisteswesen, ‒ dennoch in einem ein
zigenIchvereinigt sein, da sich im
neugeborenen Geistesmenschen dann beider
Sonder-„Ich” restlos „deckt”, und jedes
Einzel-„Ich” zugleich das „Ich” des Gegen‐
pols in sich empfindet wie sich selbst. ‒
.Was Zwei war und ent-zweit, wird so
in einem Dritten, als ein neugeeintes Gei‐
steswesen das aus „Mann” und „Weib”
86 Das Buch vom Menschen
besteht, durch alle Ewigkeit verbunden
bleiben. ‒ ‒ ‒
.Um Hilfe und Führung bringen zu
können, damit solches Ziel von jedem
Manne und jedem Weibe dereinst er
reicht werde nach den Tagen dieses Erden‐
daseins, ‒ um lehren zu können, wie dieses
Dasein zu nützen, wie Kraftvergeudung
und Umweg zu meiden sei, ‒ sind die
Meister der Liebe, die Meister kosmischen
Erkennens, diesem Erdenleben eingeboren.
.Nicht das, was diese Wenigen etwa an
irdischer Erkenntnisfähigkeit besitzen,
macht sie dazu geeignet, ihren Mitmenschen
als Helfer zu dienen!
.NichtTalentoderWissen” macht
aus ihnen das, was sie sind!
.Nicht irdischer Weitblick verschafft
ihnen die Ein-Sicht in geistiges Geschehen!
87 Das Buch vom Menschen
.All ihr „Erkennen” ist liebendes
Durchdringen! ‒
.All ihr „Wissen” ist Gewißheit aus
geistigem Sein! ‒ ‒
.Sie allein nur vermögen jenen „Weg
des Mannes” zu durchschreiten, der zu wach
bewußtem Wirken in der Welt des
substantiellen, reinen Geistes führt,
und nur aus dieser Geistregion her
kommt die Hilfe, die des Urlichts „Leuch‐
tende” den anderen Menschen darzubieten
haben. ‒ ‒
88 Das Buch vom Menschen
EHE
.Ein anderes ist die sexuelle Gemein
schaft zwischen Mann und Weib auf dieser
Erde, und ein anderes die Ehe. ‒ ‒
.Wer da erkannte, welches Mysterium
Mann und Weib umgibt, ein Mysterium,
das hinaufreicht in die innersten Regionen
des reinen Geistes, hinauf in das Urlicht
selbst, dem wird die „Einehe” heilig sein,
die einen Mann mit einem Weibe ver‐
bindet für das Leben auf dieser Erde.
.Wohl denen, die in diesem Erdenleben
schon, in der Ehe, ihren eigenen, ewigen
Gegenpol finden, den Gegenpol, mit dem
sie dereinst zu einem Einheitswesen
im Geiste ewig vereinigt werden sollen,
weil sie mit ihm vor der „Ent-zweiung”
einst vereinigt waren! ‒ ‒
91 Das Buch vom Menschen
.Vielen mag solches „Glück” beschieden
sein, ohne daß sie darum wissen, aber es
bleibt ein besonderes „Glück”, denn die
Wege der Entzweiten sind keineswegs der‐
art in parallelem Verlauf, daß dieses Wieder‐
finden allzuoft sich ereignen könnte hier
auf dieser Erde.
.In einer großen Anzahl aller Ehen wer‐
den sich Pole zueinander finden, die nicht
dem gleichen Einheitswesen entstammen.
.Sind sie jedoch für dieses Erdenleben
durch freien Willen einmal einander ver‐
bunden, so tragen beide Teile kosmische
Pflicht, ihr Verbundensein in solcher
Weise zu betrachten, als seien sie vor Ewig‐
keiten einst vereint gewesen und würden
nun für alle Ewigkeit sich wieder neu ver
einigen als einheitliches Geisteswesen. ‒ ‒
.Hier auf dieser Erde können nur geistig
völlig „Erwachte” mit Sicherheit wissen, ob
ihr irdischer Gegenpol zugleich ihr ewiger
eigener Gegenpol ist oder nicht. ‒
92 Das Buch vom Menschen
.In dieser Erde wirrer Verstrickung lauert
allerorten Täuschung.
.Manche, die nach meinen Worten sich
für „Wiedergefundene” halten mögen, wer‐
den es dennoch nicht sein, und manche,
deren irdisch angeeignete Verschiedenheit
des Denkens und Empfindens sie verführen
möchte, sich einander fremd zu fühlen,
werden gleichwohl eines einst ent-zweiten
Geisteswesens Pole bilden.......
.Wer, der nicht zu den „Erwachten” des
Geistes gehört, wollte sich hier vermessen,
leichthin zu entscheiden!? ‒
.Darum gebietet höchste kosmische
Pflicht, in allen Fällen freier Wahlgemein‐
schaft so zu handeln, als seien beide Teile
sicher, daß sie einst ein einziges Geistes‐
leben führten, daß sie ewig dieses Geistes‐
leben neu vereint im Geiste finden wür
den. ‒
93 Das Buch vom Menschen
.Jede Verbindung zwischen Mann und
Weib ist verwerflich, wenn nicht bewußte
Absicht besteht sich also zu verhalten.
.„Was ihr dem geringsten meiner Brüder
tut, das habt ihr mir getan”, ‒ sprach einst
der Meister, den die heiligen Bücher kün‐
den. ‒
.In gleicher Weise aber läßt sich sagen:
Was immer du deinem männlichen oder
weiblichen Gegenpol hier in der ehelichen
Gemeinsamkeit dieses Erdenlebens tun wirst,
hast du dir selbst, hast du auf alle Fälle
deinem geistigen eigenen Gegenpol er‐
wiesen, magst du ihn wirklich hier auf der
Erde nun gefunden haben oder nicht! ‒
.Du selbst bist es, der sich geistig formt
in diesem Gemeinschaftsleben der Ehe auf
der Erde, und je vollendeter dir die
Formung deiner selbst nach der hohen
Art gelang, die dein ewiges Einheitsleben
als zwiepolares Geisteswesen verlangt,
94 Das Buch vom Menschen
desto eher wirst du einst die unruhvolle
Weise des ent-zweiten Lebens mit der
Vereinung vertauschen können, die dir
auf ewig erneut deinen Gegenpol gibt, in
dem du selbst dich wiederfindest. ‒ ‒
.Es ist keine Mühe, keine Geduld und
keine Selbstbezwingung dir verloren, die
du in deiner Ehe aufzubieten hast, denn
alles, was du so dir abgewinnst, hast du für
alle Ewigkeit gewonnen. ‒ ‒
.In diesem Erdenleben tritt allerorten
einer für den andern ein.
.Dein Verhalten zu deinen Nebenmen‐
schen wird unerbittlich seine Folgen zeigen,
und die Folgen werden deiner Tat ent‐
sprechen.
.Wenn du jemals einem Menschen Übles
zufügtest, wirst du durch keine List und
keine Vorsicht je verhindern können, daß
95 Das Buch vom Menschen
dir das gleiche Üble widerfährt, ganz
gleich, ob es der Mensch dir antun wird,
dem du es zugefügt, oder ob ein anderer
dafür an seine Stelle tritt, ‒ ganz gleich,
ob es dieselbe Form des Bösen ist, die dich
belastet, oder ob das Böse zurückkehrt zu
dir in einer anderen Form. ‒ ‒
.Stets wird es genau dem Grade des
Übels, das du selbst geschaffen, entsprechen.
.Der es dir zufügt, tritt nur an die Stelle
dessen, der durch deine Tat betroffen
wurde, auch wenn der, den du durch böse
Tat bedrücktest, dir von Herzen längst ver
ziehen hat und nie zu eigener Vergel
tung des Bösen fähig wäre...
.Verzeihung kannst du finden, aber
niemals kannst du deinem „Karma”, kannst
du den Folgen deiner Tat entgehen. ‒ ‒
.Du wirst vielleicht triumphieren, weil
dich die Folge nicht in Bälde trifft, aber
juble nicht zu früh!! ‒
96 Das Buch vom Menschen
.Auch wenn Jahrzehnte darüber vergehen
sollten, wirst du einst selbst erfahren, was
du andere erfahren ließest! ‒ ‒ ‒
.Und findet der Ausgleich nicht in deinem
Erdenleben seine geeignete Zeit, dann
wirst du ihn einst in anderer Daseinsform
in ganz der gleichen Weise erleben müssen,
denn hier gibt es kein Entrinnen. ‒ ‒
.Das Gleiche, was hier von dem Üblen
gesagt ist, das du über andere verhängtest,
gilt ebenso für alles Gute, für jede noch
so verborgene Liebestat, mit der du andere
erfreutest. ‒
.Die Folgen lassen sich nicht aufhalten,
und du brauchst heute den Menschen nicht
zu kennen, der ihnen einst Werkzeug wird...
.Früher oder später wird er in dein Leben
treten, und er wird selbst nicht ahnen, daß
er in seiner Handlungsweise nur der Voll‐
strecker deiner selbstgeschaffenen Tatenfol‐
97 Das Buch vom Menschen
gen ist, im Guten wie im Üblen, das er
dir erweist. ‒ ‒
.In ganz der gleichen Art wirst du auch
selbst die Folge schaffen für dich selbst,
durch dein Verhalten deinem irdischen
Gegenpol gegenüber, dem du durch freie
Entschließung einst dich für dieses Erden‐
leben verbunden hast zu „ehelichem”
Leben. ‒ ‒ ‒
.Hier wirst du die eigentliche letzte Folge
allerdings erst dann verspüren, wenn du
das Kleid der Erde abgeworfen hast, wenn
du in geistiger Gestaltung aufwärts strebst
zu jener lichten Höhe ewiger Vereinigung
mit deinem einst von dir getrennten gei
stigen Gegenpol, mag er hier auf der Erde
schon in der Ehe mit dir verbunden ge‐
wesen sein, oder mag ein anderer Men‐
schengeist hier in deiner Ehe dich durch
dein Erdendasein begleitet haben. ‒ ‒
98 Das Buch vom Menschen
.Und wenn dir für all deine Güte hier
in deiner Ehe stets nur Übles widerfahren
sollte, wenn all dein gütiger Wille niemals
Verständnis findet, so bist du dennoch
nicht betrogen, denn es liegt allein in deiner
Hand, welches „Karma” du dir schaffst, und
dein irdischer Gegenpol kann dir nicht ein
Jota deiner so geschaffenen Eigenformung
rauben. ‒
.Was du ihm Gutes antun wirst, hast
du deinem eigenen ewigen Gegenpol getan,
mit dem du ewig einst vereinigt, ein ei
niges Geistesleben führen wirst, mag der
Mensch, mit dem du hier in der Ehe auf
Erden verbunden bist, nun in Wahrheit selbst
dieser Gegenpol deines Geistesmenschen sein,
oder mag dir in ihm ein Geistiges verbunden
sein, das erst nach Jahrtausenden seinen ei‐
genen wirklichen Gegenpol im geistigen
Dasein finden kann. ‒ ‒
.„Ehe”, im höchsten Sinne, ist nur die
Vorbereitung des ent-zweiten Einzelpoles
99 Das Buch vom Menschen
für das zwiepolare Leben des vereinigten
Menschengeistes, ‒ „Mann und Weib”, ‒
in der Ewigkeit. ‒
.Nicht, indem du feige den Schwierig‐
keiten der Vorbereitung entfliehst, sondern
indem du sie zu bewältigen suchst, wirst
du auf Erden schon die dem Menschen hier
mögliche, höchste Stufe geistiger Lebens‐
fähigkeit erreichen. ‒
.Nur leise und behutsam möchte ich an
dieser Stelle noch von dem Mysterium spre‐
chen, das beide Gegenpole, Mann und Weib,
auch in ihrer tierischen Gestaltung durch
den physischen Ausgleich der Polaritäten
umhüllt. ‒
.Was rohe Sinneslust und geile Gemein‐
heit zweier „Menschentiere” sein kann, ‒
das kann auch zum „Schlüssel” werden,
der die geheimsten Pforten der Seele öff‐
net und das höchste Heiligtum betreten
läßt...
100 Das Buch vom Menschen
.Gleichwie Feuer Licht und Wärme
spenden, aber auch Haus und Habe ver
nichten kann, so können die Kräfte sinn‐
licher Lust zu geflügelten Rossen vor
dem Siegeswagen des Geistes werden,
wenn sie ein sehender „Wagenlenker” zu
leiten weiß, ‒ können sich aber auch zu
unheilbringenden Dämonen wandeln. ‒
.Nur in höchster geistiger Liebe darf
die Vereinigung der physischen Pole sich
vollziehen, wenn sie die hohen geistigen
Kräfte lösen soll, die in der erdenkör
perlichen Erscheinung menschlicher Wesen
schlummern. ‒ ‒
.Dann aber kann sich in solcher Ver‐
einigung ein „Wunder” begeben, das stets
aufs neue die höchste Geistigkeit berührt,
und die es erleben, werden gemeinsam
ihrer selbst bewußt in Sphären des gei
stigen Seins, die keines Dichters Phantasie
je zu ahnen vermag. ‒ ‒ ‒
101 Das Buch vom Menschen
.Es ist mir nicht verstattet, mehr über
diese Dinge zu sagen.
.Wer reif ist, auf diesem heiligsten
aller Erdenwege ohne Gefahr zu wandeln,
dem wird auch ein kurzer Fingerzeig zur
Erreichung des hohen göttlich-verklärten
Zieles genügen.
.Doch es prüfe sich jeder, der dies lesen
mag, ob er würdig vorbereitet ist, das Aller
heiligste im Tempel des sichtbaren Kosmos
reinen Herzens zu betreten, denn nirgends
wird ein „Tempelschänder” so furchtbar
und schrecklich bestraft wie hier! ‒ ‒ ‒
.Ehe ist eine Vereinigung zweier Geister
und zweier Leiber, ‒ aber in ihrem kör‐
perhaften Dasein besitzen Mann und Weib
eine geistige Kraft, um die sie „Götter”
selbst beneiden könnten.
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
102 Das Buch vom Menschen
.Ein „Ganzes” sollst du einst werden,
vereint mit einem anderen „Ganzen”, und
noch bist du nur „Teil”! ‒
.Dich in einGanzeszu wandeln,
dazu kann dir die magische Macht der
Ehe vieles helfen, wenn du sie ge
brauchen lernst!....
.Wohl will die Ehe wahrlich auch das
Kind, jedoch das Kind ist keineswegs der
Ehe höchste Sinnerfüllung!
.Nicht, daß ihr Kinder zeugen und ge‐
bären konntet, bürgt dafür, daß eure leib‐
liche Gemeinschaft eine Ehe ist! ‒ ‒
.Ehe besteht nur dort, wo zwei im Ir‐
dischen vom Gegenpol getrennte Einzelpole
aus der geistigen Erscheinungswelt, erneut
erstreben, eine zwiepolare Einheit dar‐
zustellen. ‒
.Zwar ist das Kind dem eine wahre Ehe
Dasein gibt, in ihr zugleich am sichersten
103 Das Buch vom Menschen
geborgen, ‒ doch ist der Ehe Sinn gewiß
nicht einzig und allein darin beschlossen,
dem kommenden Geschlechte Leben, Leib
und Nahrung, Lehre und Erziehung dar‐
zubieten.
.Vor allem anderen soll aus einer Ehe
denen Förderung erwachsen, die sich in
Ehe-Einung zueinander fanden!
.Um euretwillen sei eure Ehe geschlos‐
sen, ‒ das Kind aber sei euch: Gläu
biger eurer Schuld an die Zukunft!
‒ ‒ ‒
104 Das Buch vom Menschen
DAS KIND
.Allstündlich werden auf dieser Erde
Menschen geboren und dennoch steht der
fühlende Mensch hier heute noch wie in
Urzeittagen vor einem Mysterium...
.Nicht anders zwar als das Tier tritt der
neue Mensch in dieses Dasein, löst er sich
los vom mütterlichen Leibe, der ihm den
Leib der Erde bereitet hat.
.Aber stumpfestes Empfinden selbst wird
einen Augenblick doch wachgerüttelt, steht
es vor dem ewig neuen Wunder, sieht es,
daß ein Wesen seiner Art das Licht erblickt,
und hört es seinen ersten Schrei. ‒ ‒ ‒
.Gar bald dann wird das Neue sich als
eigenes Bewußtsein offenbaren, und stau‐
nend sieht der Mensch hier einen neuen
107 Das Buch vom Menschen
Willen, der, obwohl scheinbar nur aus
ihm hervorgegangen, allein sich selber
will, so töricht auch die Mittel scheinen,
die er gebraucht, um sich in seiner Umwelt
durchzusetzen. ‒ ‒
.Zuletzt muß der Mensch dann erkennen,
daß es doch die einzig rechten Mittel sind,
da sie den Kräften, die das neue Lebewesen
meistert, stets in völliger Entsprechung die‐
nen. ‒
.Ein jedes neue Lebensjahr bringt neue
Offenbarung dieses Willens, neue Mittel
sich hier Geltung zu verschaffen, und schließ‐
lich steht vor uns ein Mensch wie wir,
der oftmals uns zu dem Bekenntnis nötigt,
daß er Geisteskräften zu gebieten weiß,
die wir vergeblich je zu meistern suchen
würden...
.Das Wunder will nicht enden, wenn man
einmal eines dieser Kettenglieder hellen
Auges dem Bewußtsein nahe bringt, und
108 Das Buch vom Menschen
jeder neue Zyklus der Geburten schafft hier
neue Wunder, vor denen dann der Mensch
oft ratlos steht, da er nicht zu enträtseln
weiß, was hier im Guten oder Bösen sich
ereignet hat. ‒ ‒ ‒
.Du wirst das Rätsel, das aus Kinder‐
augen fragt, auch niemals lösen, wenn du
nicht klar erkennst, daß hier ein völlig
Neues dir begegnet. ‒ ‒ ‒
.Du suchst zu sehr dich selbst in dei‐
nem Kinde, läßt dich viel zu sehr verführen
durch die körperlichen Ähnlichkeiten,
die dein Auge findet, siehst auch dich und
deine Art in der Begabung oder in den
Fehlern deines Kindes, und bist geneigt
nun, alles dies zu übertragen auf das Gei
steswesen, das in deinem Kinde dir
sich anvertraut. ‒ ‒
.Wohl ist das Erdenkleid, in dem dein
Kind dir hier gegeben wird, aus deinem
109 Das Buch vom Menschen
Blute, deinen Zellen auferbaut, und eine
Erbschaft von Jahrhunderten gibst du ihm,
körperlich zu eigen. ‒
.Mit ihr empfängt dein Kind so manche
Kräfte dieser Erde, die du „geistig” nennst,
weil dir noch nicht bewußt ist, welche Fülle
tief geheimnisvoller Kräfte dieser Er
denkörper birgt, und diese Kräfte nur
allein sind Träger jener Eigenschaften, die
dich stets verführen, zu sehr dich selbst in
deinem Kinde wiederzuerkennen. ‒ ‒ ‒
.In diesem Erdenkörper, und auf seinen
unfaßbarsten Kräften wie auf einer Harfe
spielen lernend, wohnt etwas, das nicht
von dieser Erde ist...
.Dieses „Etwas” blickt dich aus den
Augen deines Kindes an und sucht in dir
das gleiche „Etwas”, das vielleicht in
deinem Körper Herr geworden, meistens
aber durch des Körpers Kräfte über
wältigt und gefesselt ist. ‒ ‒
110 Das Buch vom Menschen
.Dieses „Etwas” ist der Mensch des
reinen Geistes, der sich hier dem Men‐
schentiere dieser Erde eint in einer der tief
sten Formen seines Erscheinens, und auf
Erden nur „Erlösung” findet, wenn er dieses
„Tier” bezwingt. ‒ ‒
.Er ist deinem Kinde nicht ein Erbe,
das es dir verdankt so viel es dir auch wohl
verdanken mag an übererbter Formung sei‐
ner Hirngewinde!
.Er stammt aus gleichen Höhenre
gionen, wie der Geistesmensch in dir, den
du vielleicht noch niemals als dich selbst
erkanntest, vielleicht ihn derart vergewal
tigt hast durch deines Körpers Eigenkräfte,
daß du auch keine Spur mehr seines Da‐
seins ahnst, und dich in dir selbst nur jenen
feinen Körperkräften gleichwähnst, die
bei der Mehrzahl aller Erdenmenschen an die
Stelle ihres geistigen Bewußtseins traten. ‒
.Im Auge deines Kindes blickt er for‐
schend dir ins Angesicht, auch wenn dieses
111 Das Buch vom Menschen
Auge ihm noch nicht zum wohlbeherrschten
Werkzeug wurde, und sucht, ob er noch,
seinesgleichen ungefesselt hier auf dieser
Erde fände...
.Du hast hier allen Grund, vor deinem
eigenen Kinde Ehrfurcht zu empfinden,
soweit der Geistesmensch in dir nicht
völlig deiner feineren Körperkräfte
Herr und Meister ist, denn aus dem Auge
deines Kindes blickt er dir noch ursprungs
rein entgegen. ‒
.In deine Hand ist nun sein Schicksal
hingegeben. ‒ ‒ ‒
.Es liegt fast nur bei dir, ob dieser Gei‐
stesmensch, der, ‒ wenn es sich um keine
der an anderer Stelle schon erwähnten sel‐
tenen Ausnahmen handelt, ‒ noch nie auf
dieser Erde lebte, der niemals wieder
kommen wird, und der in jedem neuen
Menschen einzigartig in Erscheinung tritt,
nun das in deinem Kinde frei beherrschen
112 Das Buch vom Menschen
lernen kann, was du als Leibeserbschaft
ihm gegeben hast. ‒
.Bist du in dich und deine Art so sehr
vernarrt, daß du nur dich und deine Sippe
auch in deinem Kinde wieder sehen willst,
dann wirst du schwerlich so verfahren, daß
der neue Geistesmensch, der dir sich an
vertraute, über alles was er beherrschen
lernen soll, zum Herren wird...
.Du hast jedoch vor kosmischen Gesetzen
nie das Recht, aus deinem Kinde nur den
Spiegel deiner selbst zu machen, denn
das Heiligste und Höchste, was in diesem
Wesen in Erscheinung tritt, ist himmel
hoch erhaben über allem Hohen, das du
leiblich ihm als Erbe gabst...
.Doch damit nicht genug, wird beides
erst verbunden durch Seelenkräfte aus
ferner Vorzeit, die nicht zu völliger Ent
113 Das Buch vom Menschen
faltung kamen, und in deinem Kinde nun
nach Auswirkung verlangen! ‒ ‒ ‒
.Auch diese Kräfte gabst du deinem
Kinde nicht zum Erbe!
.Die Menschen, die in dieser Hinsicht
deines Kindes „Ahnen” sind, wirst du nur
dann erspähen können, wenn in dir der
Geistesmensch so völlig Herrschaft übt, daß
er mit dir bewußt identisch wurde und
dich „sehen” lehrte, was kein Auge dieser
Erde sieht. ‒ ‒
.Du hast kein Recht, des Kindes See
lenkräfte, wenn sie hohe Gaben in sich
schließen, deinem Blutes-Erbe zuzuzäh‐
len! ‒ Du hast kein Recht, des Kindes
Seelenkräfte, wenn sie deinen Wünschen
nicht entsprechen, einzuengen oder gar
zu unterjochen! ‒ ‒
.Die Rechte, die nach kosmischen Ge‐
setzen deinem Kinde gegenüber dir gegeben
sind, sind eng begrenzt.
114 Das Buch vom Menschen
.Du hast allein die Rechte eines Haus‐
herrn, dem ein hoher Gast die Ehre
schenkt, sich seinem Schutze zu ver
trauen, wobei der Gast in einer Lage ist, die
es verhindert, daß er selbst sich schützen
könnte. ‒ ‒ ‒
.Alle „Erziehung” deines Kindes muß
aus dieser Einsicht sich ergeben, sonst han‐
delst du in gutem Glauben schlecht, wo
du das Beste zu erwirken hofftest! ‒ ‒
.Ein Geistesmensch hat dir sich an
vertraut, dem du allein den Leib bereiten
konntest, als die Wohnstatt, die ihm auf
der Erde dienen soll. ‒
.Er brachte seine Schätze selber mit und
nimmt sie nicht von dir. ‒ ‒
.Was er von dir erwartet, ist allein, daß
du ihm Schutz und Nahrung gibst, und
ihm dazu verhelfen wirst, sich in dem
Hause, das du ihm gegeben hast, die
115 Das Buch vom Menschen
Diener zu verschaffen, die er braucht, um
hier auf dieser Erde seine Herrschaft aus‐
zuüben. ‒ ‒ ‒
.Ich weiß wohl, diese Worte werden vie‐
len, die sich fast „ein Recht auf Tod und
Leben” ihres Kindes zugestehen, wenig an‐
genehm zu hören sein. ‒
.Auch mancher, der sich der „Erziehung”
widmet, wird, „gerechten Zornes” voll, die‐
ses Buch zur Seite schleudern. ‒
.Er mag bedenken, daß ich sehr wohl
weiß, daß jenes Kind, das er „erziehen”
und erziehend lehren soll, schon meist von
Grund aus durch die „elterliche Zucht”
verdorben ist. ‒ ‒ ‒
.Ich rede hier in erster Linie nur zu
denen, die dem Kinde Blut und Leben
gaben, und ich spreche von dem Kinde, das
noch nicht durch eine falsche Auffassung
der „Elternrechte” um sein urgegebenes
116 Das Buch vom Menschen
Recht betrogen wurde, das noch nicht
die Rache übt, die unausbleiblich jedes
Kind als Gegenwehr betreiben muß, sobald
durch seiner Eltern Schuld der Geistes
mensch in ihm geknebelt wird, und seine
Seelenkräfte in die Fron der Blutes-Erb
schaft eingekettet werden.
.Dein Kind kann dir ein weiser Lehrer
sein, wenn du zu achten weißt darauf, wie
stets in ihm der reine Geistesmensch
durch alle Hüllen, die du leiblich ihm ge‐
geben, dringen will. ‒ ‒
.Dein Kind kann weitaus älter als du
selber sein, durch jene Seelenkräfte aus der
fernen Vorzeit, die in ihm sich neu ver‐
einigen, und die durch einen Menschengeist
zur Dauereinigung gelangen wollen. ‒
.Du kannst nicht erwarten daß dein Kind
dich ehrt, wenn es weit höher steht als
du...
117 Das Buch vom Menschen
.Glaube nicht, daß du ungestraft dein
Kind in die dir genehmen geistigen Fesseln
zwingen kannst, weil es als Mensch noch
nichts von sich selber und seiner Würde
weiß! ‒
.Es ist etwas in deinem Kinde, dem
nichts verborgen bleibt! ‒ ‒
.Viel schärfer, als du glauben möchtest,
wird jeder Blick und jedes Wort von ihm
für alle Dauer aufgezeichnet, und wenn
das Kind auch äußerlich sich deinem Willen
beugen muß, so wirst du doch, sobald dein
Zwang nicht nur als Schutz zu werten ist,
zum Schluß der Unterlegene sein.
.Die größeren Kräfte deines Armes
geben dir kein Recht, ein Wesen, dem du
nur des Leibes Leben in einer durch
dich bestimmten Formung hier vermittelt
hast, nun durch Gewalt aus seiner Bahn
zu lenken und auf deines Willens Weg zu
zwingen. ‒ ‒ ‒
118 Das Buch vom Menschen
.In unerbittlicher Gerechtigkeit weiß das
Gesetz des Geistes schließlich doch sich Gel‐
tung zu verschaffen. ‒ ‒
.Du wirst dich, hast du dich versündigt,
dann nicht wundern dürfen, wenn deine
Schuld sich einstmals bitter offenbaren
wird. ‒
.Je sorglicher du auf den Gottesfunken
achten wirst, der dir sich anvertraut in
deinem Kinde, je mehr wirst du auch in
dir selbst den Gottesfunken wieder ahnen
und ihn dann durch dein Kind vielleicht
auch wirklich finden lernen. ‒ ‒ ‒
.Du wirst dann fühlen, was der Gött
liche einst meinte mit den oft gehörten
Worten, daß jeder erst zum „Kinde” wer‐
den müsse, der das „Reich der Himmel”
in sich selbst erlangen will.
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
119 Das Buch vom Menschen
.Nicht was du deinem Kinde an „Er
ziehung”, Geld und Wissen mitgibst,
wird es dir einst danken, ‒ nur daß du
aus ihm jenen Menschen werden ließest,
der in ihm nach seiner Geistnatur zutage
treten wollte, wird dir seine Dankbarkeit
erwerben. ‒
.Es sind in einem und dem gleichen
Elternhaus oft viele Kinder, die man dann
gedankenlos, weil sie dem Bluteserbe
nach „Geschwister” sind, wie Pflanzen von
derselben Gattung wertet, und dennoch sind
für den, der mit des Geistes Augen „sehen
kann, hier oftmals größere Verschieden‐
heiten, als sie zwischen Völkern völlig
fremder Rassen angetroffen werden. ‒ ‒
.Nicht nur des Geistesmenschen Offen‐
barung ist in jedem Kinde einzigartig und
von jedem anderen Kinde dieser Erden‐
welt verschieden, ‒ nein, auch die See
lenkräfte, die um jeden solchen Geistes‐
120 Das Buch vom Menschen
mittelpunkt, Kristallen gleich, sich anein‐
anderschließen, bilden jeweils völlig neue
Formen, und sind zuweilen schon durch
viele Menschengenerationen vorgeformt.
‒ ‒ ‒
.In einem Kinde können Seelenkräfte
wirken, die ein Willensimpuls einstens formte,
der einem Menschen ferner Zonen an‐
gehörte...
.In einem anderen Kinde sind vielleicht
Seelenkräfte tätig, die ihren Ausgangs‐
punkt der Formung einem Menschen danken,
der dieser Erde Leben lebte als der Pyra
miden Fundament noch nicht gelegt
war...
.Und wieder eines anderen Kindes
Seelenkräfte wurden vielleicht geformt
von einem Menschen, der einstmals unfrei‐
willig aus dem Leben scheiden mußte, oder
auch als Märtyrer seiner Überzeugung
starb...
121 Das Buch vom Menschen
.In eines Armen Heimstatt kann ein Kind
geboren werden, dessen Seelenkräfte ihre
Formung einst auf einem Throne fanden,
und in dem Kinde eines Reichen können
Seelenkräfte nach Entfaltung streben, die einst
der Impuls eines Landstreichers formte...
.Und auch des gleichen Elternpaares
Kinder können alle diese Formkomplexe,
die sich aus den Seelenkräften, durch Im‐
pulse längstvergessener Geschlechter bilde‐
ten, in jeder denkbar möglichen Schat
tierung in sich tragen...
.Es wird deine Aufgabe sein, die Seelen‐
kräfteformen, die du aus schlechten Im‐
pulsen hervorgegangen fühlst, nicht etwa
nun durch „strenge Zucht” und äußere Ge‐
walt an ihrer Auswirkung zu hindern, denn
was du so erreichen könntest wäre stets nur
Täuschung, auch wenn dein Kind in acht‐
bar hoher Stellung später äußerlich ver‐
122 Das Buch vom Menschen
gessen ließe, was es dennoch weiter in
sich trägt. ‒ ‒
.Es wird deine Aufgabe sein, diese See‐
lenkräfte vielmehr umzulenken, so daß sie,
in früher Jugend schon, zwar die Auswir‐
kung finden, die sie erstreben, jedoch auf
solche Ziele eingestellt, die weder deinem
Kinde, noch auch anderen jemals Scha
den bringen können. ‒ ‒ ‒
.Es würde gar manche „Familien-Schande”
sich vermeiden lassen, wollte man sich be‐
quemen, sobald man die ersten Regungen
bemerkt, die Nichtersprießliches verkünden,
‒ sogleich mit weiser Geduld die nichter‐
freulichen Seelenkräfte „umzulenken”, auf
Wege, die ihrem Streben gemäß, und
dennoch nicht verderblich sind. ‒ ‒ ‒
.Es hängt vom Einzelfalle ab und muß in
nüchterner Erwägung sorgsam entschieden
werden, welche Art der „Ablenkung” hier
jeweils geboten ist.
123 Das Buch vom Menschen
.Nur lasse man sich nicht etwa täuschen!
.Ein Trieb ist nicht vernichtet, wenn
er aus Furcht vor Strafe sich nicht zu
äußern wagt! ‒ ‒
.Es ist auch nicht das Ziel, die uner‐
wünschten Seelenkräfte zu vernichten, denn
alle Seelenkraft ist gut an sich und kann,
in richtige Geleise eingelenkt, zum höch
sten Segen und zu menschlicher Voll
endung führen. ‒ ‒ ‒
.Ich sprach hier nur von jenen Seelen‐
kräfteformen, die einst durch niedrige Im‐
pulse in die Welt der Wirkung traten.
.Doch werden dir vielleicht auch Seelen‐
kräfteformen „unerwünscht” erscheinen,
die ihre Formung einem Impuls danken,
der in einer hohen, allem Schlechten
weit entrückten Seele lebte, ‒ ‒ nur
weil sie deinen eigenen Seelenkräften
124 Das Buch vom Menschen
fremd, und den Impulsen feindlich sind
die in dir selber Formung finden. ‒ ‒
.Du möchtest jene Seelenkräfteformen,
die du selber schaffst, in deinem Kinde
nun zur Wirkung kommen sehen, und
findest, daß in diesem Kinde völlig an
deres lebt und wirkt. ‒
.Hier wird von dir eine hohe und weise
Entsagung gefordert, wenn sie auch oft‐
mals Schwerstes von dir verlangt, willst
du nicht zum Verbrecher an der Seele
deines Kindes werden. ‒
.Du hast vielleicht schon seit langen
Jahren bunte Träume dir geschaffen, und
alles wohl vorherbestimmt, was aus deinem
Kinde einstmals „werden” solle? ‒
.Nun siehst du alles, was du so in bester
Absicht aufgerichtet, durch deines Kindes
Artung, der du deine Achtung nicht ver‐
sagen kannst, zertrümmert und zerstört. ‒ ‒
125 Das Buch vom Menschen
.Hier wird es sich zeigen müssen, ob die
Liebe die du für dein Kind empfindest,
wirklich auch dem Kinde selber, diesem
neuen, einzigartigen Menschen, gilt, der
hier auf dieser Erde nur sein Leben lernen
soll, oder ob du in unbewußter Blendung
nie dein Kind, sondern nur dich selbst
gesehen hast in deiner Liebe...
.Schwer mag der Entschluß dir werden,
aber wenn du weise, und nach den ewigen
kosmischen Gesetzen verfahren willst,
dann mußt du deine Wünsche deinem
Kinde zuliebe vergessen und begraben
können. ‒ ‒ ‒
.Natur hat dich zum Vermittler leiblichen
Lebens hier auf dieser Erde bestimmt, da‐
mit des Geistesmenschen Wahrheit in
unendlichfältiger Gestaltung hier zutage
treten könne um sich selbst aus seinem
Streben nach der Tiefe wieder zu erlösen.
.Sei du ein Helfer der Natur, ‒ ein
Helfer allem Geistesmenschentum, das sich
126 Das Buch vom Menschen
aus deinem Blut den Leib der Erde
geben läßt! ‒ ‒
.So wirst du am besten auch dem Gei
stesmenschen in dir selber zur „Erlö‐
sung” verhelfen. ‒
.So werden dir deine eigenen Kinder:
Führer zu dir selbst, ‒ zu deinemle
bendigen Gotte”, ‒ zum ewigen
Lebensein!
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Und wenn es dir schwer wird, mir zu
glauben, daß du deinem Kinde nur den
Leib der Erde geben kannst, dann muß
ich dich daran erinnern, daß nach irdischem
Überkommen gar vieles schon dem Geiste
zugeschrieben wird, was noch in erdenleib
lichen Kräften allein seine Ursache hat...
.Für die Entfaltung dieser vererblichen
feinen physischen Kräfte die man gemein‐
127 Das Buch vom Menschen
hin schon als Kräfte des Geistes anzuspre‐
chen pflegt, ist es wahrlich von höchster
Bedeutung, ob in dir selbst bereits der
Geistesmensch zur Herrschaft kam, oder
ob du ein Sklave deiner Tierheit bist! ‒ ‒
.Dennoch sind es nur leibliche Kräfte,
durch die allein du deinem Kinde alles
das vermitteln kannst, was es als „Anlagen”
oder „Talente” von dir empfängt. ‒
.Sorge dafür, daß dein Kind dieses Erbe
segnen kann! ‒ ‒ ‒
128 Das Buch vom Menschen
DIE NEUE MENSCHHEIT
.Solange auf dieser Erde Menschen in
irgendeiner Art von Gemeinschaftsverbänden
leben, wird es immer und immer wieder
einzelne geben, die mit der Art des Ge‐
meinschaftslebens, das sie an andere bindet,
nicht zufrieden sind, und dennoch werden
die Menschen niemals eine vollkommene
Staatsform finden. ‒
.Stets wird der Vorteil des einen des
andern Nachteil sein, und immer werden
nur wenige auf ihren Vorteil verzichten
wollen, auch wenn sie sehen, daß er den an‐
deren Nachteil bringt.
.Es ist nicht möglich, daß auf dieser
Erde je ein „Gottesstaat” entsteht, der
alle Menschen frei in Liebe einen würde,
denn diese Erde wurde einst durch den Men
131 Das Buch vom Menschen
schen selbst entgottet, als er aus Furcht
vor seiner eigenen Macht die Herrschaft über
sie verlor. ‒ ‒ ‒
.So sehr man auch in Theorien aller
Menschen Seligkeit auf Erden prokla‐
mieren mag, so wird die Wirklichkeit
doch immer unbekümmert aller Theorien
spotten. ‒
.In allen „Republiken” wird es „
nige” und „Fürsten” geben, und kein
Despot” wird je verhindern können, daß
in seinem Reiche sich Gebiete finden, die
seine Macht und Willkür nie beherr
schen kann. ‒ ‒ ‒
.Nie wird dem „Rate aller” ein Gesetz
entsprießen, das jene weisen und erhabenen
Gesetze übertreffen könnte, die einst von
großen „Königen” der Welt gegeben wur‐
den.
.Es werden immer nur wenige sein,
denen Natur die Gabe und Kraft verlieh,
132 Das Buch vom Menschen
das Ungeordnete zu ordnen, und zu leiten,
was ohne Leitung sich und anderen kein
Gedeihen schafft. ‒ ‒
.Noch seltener werden jene zu finden
sein, denen Natur das Recht zu herrschen
in die Wiege legte, ‒ ‒ zu herrschen über
alles, was nicht Selbstbeherrschung üben
kann und mag. ‒
.In allen Reichen des Kosmos, ob sie den
physischen oder den geistigen Sinnen
sich erschließen, herrscht das System der
Hierarchie”, herrscht Unter- und Über
ordnung, und immer kleiner wird die
Zahl der wirkenden Gewalten, je weiter ihre
Macht und ihre Wirkung reichen. ‒ ‒ ‒
.Auch des Erdenmenschen Gemein‐
schaftsleben ist diesem Gesetz unterworfen,
und jede Willkür, die in guter Absicht
„Gleichheit” schaffen möchte, ist von Anfang
an verurteilt durch sich selbst, ‒ geht
133 Das Buch vom Menschen
den enttäuschungsreichen Weg, den stets
Natur für alle Menschenweisheit offenhält,
die ihr Gesetz noch nicht erkennt, oder
es mißachtet, falls sie es erkannte. ‒
.In jeder Art des menschlichen Gemein‐
schaftslebens auf der Erde läßt Hierarchie
und Stufenbildung sich, Naturgebot entspre‐
chend, auferbauen, und wird dies nicht be
wußt erstrebt, so baut Natur das ihr ge‐
mäße, ohne alle Rücksicht, selber auf, wie
groß die Zahl der Opfer dann auch wer‐
den möge, die das eherne Gesetz erfordert...
.Es läßt sich nichts umgehen, nichts auf
andere Art erzielen, wo das allgemeine,
kosmische Gesetz befiehlt. ‒
.Nicht aber dadurch, daß er in einem
Königsschlosse geboren wurde, wird ein
Mensch zum „König”, und alle Weisheit
eines Philosophen, der die Menschen unter
seiner Leitung glücklich sehen möchte, wird
keinen „Staatenlenker” aus ihm machen.
134 Das Buch vom Menschen
.Die mystische Gewalt, die wahrhaft „
nige” schafft, kann sich Jahrhunderte in
einer Sippe erhalten; ‒ sie muß ver
löschen, sobald die Impulse, die einst
„königliche” Art in ihr begründet haben,
die Auswirkung in Tat und Leben fan
den, und keine Wehr der Welt kann dann
das so Erloschene durch andere Macht er‐
setzen und ein äußerliches „Königtum” noch
schützen...
.Jedoch nicht jeder „König”, den sein
Land verlor, hat darum aufgehört, den
Hermelin der Könige zu tragen, ‒ ‒
und umgekehrt ward mancher Königsthron
gestürzt durch einen Feind der „könig‐
lichen” Macht, der ganz gewiß nicht ahnte,
daß er selbst ein „König” war, den nur
sein Land nicht fand. ‒ ‒ ‒
.Es ist verzeihlich, in den Dingen staat‐
licher Gestaltung an eine „Entwickelung”
zu glauben, denn das Auge des Menschen
ist nur allzu geneigt, die nächste Umwelt
135 Das Buch vom Menschen
für „die Welt” zu halten, und ebenso ver‐
mag der Mensch nur schwer, die Zeiten,
die er überschauen kann, als „Ewigkeits‐
sekunden” anzusehen. ‒ ‒
.Die wenigen auf dieser Erde, die über
ein weiteres Blickfeld in Raum und Zeit
zu spähen vermögen, müssen sich, trotz
aller scheinbaren Gegengründe sagen, daß
alles, was der Mensch der Erde in Hin‐
sicht auf „Staatenordnung” für „Entwicke
lung” hält, nur eitel Täuschung ist, und
daß die Menschheit nach Jahrtausenden
in gleichen Kämpfen um die Vorherr
schaft der einen oder anderen sich ver
bluten wird, wie heute oder schon vor
Tausenden von Jahren, da Kulturen unter‐
gingen, deren Zeugnisse noch kein Forscher
je ergrub...
.Bald wird „das Volk” dem Wahn er‐
liegen, „Herrscher” sein zu können, und
sich selbst, ‒ den „Herrscher” ‒ ‒
zu beherrschen, bald werden Könige, in
136 Das Buch vom Menschen
denen nichts von wahremKönigtum
und seiner mystischen Gewalt zu finden
ist, den Thron, der ihnen nicht gebührt,
durch Waffen sichern wollen, und immer
wieder werden die Geschicke wechseln, bis
die letzten Menschen dieser Erde falls nicht
Geisteseinsicht sie noch hindert, gegenseitig
sich erschlagen, weil das letzte Tier ge‐
schlachtet und die letzte Pflanze längst in
Sand und Eis erstorben ist, ‒ denn diese
Erde muß erstarren, und des Erdenmenschen
ewige „Erlösung” wird erst eine neue
Weltenperiode schauen. ‒ ‒ ‒
.Wehe den „letzten Menschen”, denn da
wird die Sage von Kain und Abel tausend
fältig Wiederholung finden, falls der Erden‐
mensch sich nicht vorher darauf besinnt, daß
jedes „Du” ein „Ich” ist, das in ihm sich
finden will. ‒ ‒
.Jeder der Wenigen, denen Geist und
hohe Geistes-Übertragung Weiten der Zeit
137 Das Buch vom Menschen
und des Raumes lichtklar erhellte, ist mit
mir eines Sinnes in dem Wunsche: ‒ Möchte
nur Einer derer, die in heutigen und
künftigen Tagen dieser Erdenwelt ein dauern‐
des Glück zu bereiten hoffen, fähig werden,
das zu sehen, was wir Wenigen, von Leid
um andere fast ausgelöscht, klar sehen
lernen müssen! ‒ ‒
.Er würde sicherlich vor Schreck gelähmt,
und tiefe Scham im Herzen, seine Zukunfts‐
träume in den tiefsten Schacht der Seele
bannen, würde nie und nimmermehr auf
dieser Erde suchen, was sein Geist ihm
zeigt, und was er nur, in Irrtumswahn be‐
fangen, hier auf diesem Weltenstäubchen
„Erde” ausgestaltbar glaubt. ‒ ‒
.Die Träume dieser Weltbeglücker sind
trotzdem aller Wahrheit voll, nur ist das
Glück, das sie der Menschheit wünschen,
nie auf Erden zu erreichen, nie mit Erden‐
mitteln auszuwirken, nie dem Menschen
138 Das Buch vom Menschen
dieser Erde, so wie sie ihn sich er
träumen, vorbehalten. ‒ ‒ ‒
.Laßt uns darum eine andere „neue
Menschheit” suchen, eine Menschheit, die,
obwohl sie auf der Erde lebt und sich
des Erdenlebens freut soweit dies möglich
ist, doch längst nicht mehr allein „von
dieser Erde” ist! ‒
.Wir müssen den Menschen zu einer
tieferen Quelle des Glückes führen, einer
Quelle, die reichlicher fließt, wenn wir
jenen, vom Wahne irdischen Glückes
betörten „Freunden der Menschheit” wahr‐
haft brüderlich zur Seite treten wollen. ‒
.Wir müssen sie von sich selbst und
ihren Träumen erlösen, wenn wir die
Wahrheit, die sie dumpf erfühlen und
dann in sterile Gedankengebäude bannen
wollen, wirklich der Menschheit, nutzbar
machen sollen. ‒ ‒ ‒
139 Das Buch vom Menschen
.Zwar liegt es nicht im Bereich der
Möglichkeit, daß ein wahrhaft gerechter
Mensch jemals Gerechtigkeit für alle
schaffen könnte, doch jeder Einzelne kann
Rechtlichkeit erstreben, und damit einen
Ausgleich schaffen helfen, gegenüber jenem
Unrechtswillen, den auch Götterkräfte
nie aus diesem Erdendasein tilgen könnten.
‒ ‒ ‒
.Das Glück der Menschheit” ist ein
Glück der Einzelnen, und in der Seele
eines jeden Menschen allein nur erreichbar. ‒
.Die „neue Menschheit”, die auf dieser
Erde einst erstehen kann, wird ganz gewiß
ihr Glück nicht mehr von außen her er‐
warten. ‒ Sie wird erkennen, daß die Dinge
dieser Außenwelt nur sind, was wir aus
ihnen machen, und daß sie nur insofern
uns bestimmen können, als wir uns be‐
stimmen lassen..
140 Das Buch vom Menschen
.Die innere Welt des Einzelnen muß
eine Welt des Friedens und des reinen
Glückes werden, und hier allein nur
kann der Mensch der Erde wahrem Glück
begegnen. ‒ ‒ ‒
.Wie dieses Glück des Einzelnen zu fin
den ist, das zeigt die Lehre, die in diesen
Büchern sich entrollt.
.Daß die Befolgung ihrer Winke auch
das Leben in der Außenwelt weit glück‐
licher gestalten kann, wird keiner leugnen
wollen, der einmal erkannte, daß das ganze
Leben dieser Außenwelt nur unsichtbarer
Kräftewirkung Zeugnis ist. ‒ ‒
.Von Innen her muß alles keimen, was
im irdisch-äußerlichen Dasein wirkliche Be‐
glückung bringen soll. ‒
.Im Äußeren ist nur das Reich der
Wirkung jener Kräfte, die allein in tief
ster Seele ankern.
141 Das Buch vom Menschen
.Wer hier im Äußeren zu bessern sucht,
der wird nur Schein-Erfolge ernten, wird
nur dem Augenblick Beglückung schenken,
und was er wirkte, muß gar bald in sich
zusammenfallen, da die Wurzelkräfte feh‐
len, die es in der Außenwelt erhalten
könnten. ‒ ‒
.Möchte doch dieses „Buch vom Men‐
schen” vielen die Augen öffnen, die, erfüllt
vom besten Streben, heute noch dabei sind,
ihre Kräfte zu vergeuden, weil sie in der
Außenwelt das „Glück der Menschheit” zu
erreichen hoffen!
.Möchten doch jene, die heute von früh
bis spät nach Rettung und Hilfe Aus
Schau halten, endlich zur Ein-Sicht kom‐
men!
.Nur wenn die Innen-Schau das Spähen
nach außen ablöst, kann auch im Äußeren
der Menschheit Dasein menschenwürdig
werden. ‒ ‒ ‒
142 Das Buch vom Menschen
.Dann erst kann mancher „Zukunfts‐
traum” erfüllbar sich gestalten, der durch
die Mittel, die man bis zu diesen Tagen
anzuwenden liebt, nur in Gefahr kommt,
sich in Dunst und Nebel aufzulösen. ‒ ‒
.Diealte Menschheit” hat es gut ver‐
standen, die Außenwelt in ihren Dienst
zu zwingen, doch da sie nur von außen
„zwingen” kann, droht sie den Kräften zu
erliegen, die sie selbst zu ihrem Dienst ent‐
fesselt hat. ‒
.Die „neue Menschheit” wird nicht mehr
von außen zwingen wollen, was sie weit
ersprießlicher von innen her zu lenken
lernen wird. ‒ ‒
.In jedem Einzelnen der „neuen Mensch‐
heit” werden sich Kräfte offenbaren, die
alles in den Schatten stellen, was der Mensch
der „alten Menschheit” stolz als „geistige
Errungenschaft” bewunderte, ‒ in seinem
Innern nicht bewußt, daß alles Denken nie
143 Das Buch vom Menschen
den „Geist” erfassen kann, der, wirkend
wie die Kraft des Blitzes, alle Welt er‐
füllt, und der dem Menschen nie durch
Denken, nie durch äußere Mechanik dienst‐
bar wird, des Spottes spottend, den der
„Geist” so mancher „Denker” seiner Wirk
lichkeit entgegensetzt. ‒ ‒ ‒
.Zu weit von jeder Illusion entfernt,
weiß ich gewiß, daß der wirkliche Geist
weder heute noch morgen allerorten sich
offenbaren kann, denn systematisch hat die
alte Menschheit alle Schächte zugeschüttet,
durch die der Mensch der Gegenwart in sich
die Tiefe finden könnte, in der die Quellen
alles Werdens rauschen.
.Doch einmal werden diese Quellen sich
erneut erschließen, und die alsdann aus
ihnen schöpfen können, werden gar man‐
ches durch des wirklichen Geistes Kraft ver‐
mögen, was heute mit aller Denkkraft der
Gehirne nur vergeblich erstrebt wird.
144 Das Buch vom Menschen
.Auch dann jedoch wird diese Erde nicht
zum „Himmel” werden, und unbezwungene
Kräfte werden stets die Mehrzahl der Men‐
schen in Banden halten. ‒ ‒
.Die „neue Menschheit” wird ein Reich
der Erwählten und Berufenen sein, und
Einzelne sind bereits heute schon dabei,
dieses Reich in sich zu gründen.
.Es ist immerhin möglich, daß diese
Generation seine ersten Spuren erleben mag,
‒ doch sicher werden die Kinder unse
rer Kinder einst von seinen Kräften wis
sen, wie wir heute jene Kräfte kennen,
die der Mensch der alten Menschheit der
Natur entrissen glaubte, weil er sie mit
List, von außen her, in seinen Dienst zu
stellen wußte.
.Die heiligen Bücher alter Tage künden
jedoch mit Recht ein Reich der „Kinder
des Lichtes” und ein Reich der „Kinder
145 Das Buch vom Menschen
dieser Welt” der unausgleichbaren äußeren
Kräfte, und Einer, der es wahrlich wissen
konnte, sagte: „Die Kinder dieser Welt sind
in ihrer Art klüger, als die Kinder des
Lichtes!” ‒ ‒
.Es wäre zu wünschen, daß auch die
„Kinder des Lichtes” in ihrer Art „klü
ger” würden und den Bann zu brechen
wüßten, in dem sie durch die „Kinder
dieser Welt” gefesselt sind!
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
146 Das Buch vom Menschen
AUSKLANG
.Wir haben nun den Menschen ge‐
sehen auf allen seinen Wegen.
.Wir sahen ihn an seinem Ursprung,
da er noch in Gottheit lebte, und sahen
seinen „Fall” aus hohem Leuchten.
.Wir sahen, wie er sich dem Tiere einte
und in selbstgeschaffenem Exil sich müht,
das Glück des Ursprungs wieder zu erreichen.
.Auf Wegen des Irrtums und auf dem
Wege zur Wahrheit haben wir ihn be‐
gleitet, und so erkannt, daß diese Erde nicht
des Menschen Heimat werden kann, und
daß es Wahrheit war, wenn einst ein Wis‐
sender zu sagen wußte: ‒ ‒
.Alle Kreatur wartet der Erlösung
durch die Kinder Gottes!” ‒
149 Das Buch vom Menschen
.Du selbst, zu dem ich hier rede, ‒
du selbst bist ein Mensch, und kannst zu
einem „Erlöser aller Kreatur”, zu einem
„Kinde Gottes”, einem der „Kinder des
Lichtes” werden. ‒ ‒
.Du kannst auch freilich, wenn es dir
genügt, als ein „Kind dieser Welt”, ein
Gebannter der Außendinge, deine karge
Freude finden.
.Es liegt alle Entscheidung darüber einzig
und allein nur bei dir, und nichts kann
deinem Willen sich entgegenstellen, wenn
du dich selbst einmal entschieden hast. ‒
.Aber eben diese Entscheidung fällt dir
vielleicht so bitter schwer.
.Du möchtest nach dem höchsten Ziele
streben, doch du willst noch nicht...
.Wenn du erst wollen könntest, würde
die Seligkeit des Wollenden dich mit einem
Jubelruf aus allen Bedenken reißen. ‒ ‒ ‒
150 Das Buch vom Menschen
.Gar sehr haben jene sich an dir ver‐
sündigt, die dir den Weg zum Lichte als
einen Weg der steten Entsagung und des
Verzichtes beschrieben haben, und so
deinen Willen, schreckgelähmt, an die Erde
bannten. ‒
.Du siehst aus meinen Worten, daß man
dich falsch beraten hat, und daß dein Weg
zum Lichte niemals dich zu hindern braucht,
die Blumen und köstlichen Früchte an den
Wegesrändern dir zu pflücken.
.Du wirst sogar das Leben dieser Erde
dann erst richtig lieben lernen, wenn du
dich auf deinem Weg zum Lichte weißt.
‒ ‒ ‒
.Dein Weg zum Lichte ist dein Weg zu
dir selbst, und ‒ zu deinem Gott, der
sich in dir verhüllt.
.Es ist der „lebendige” Gott, von dem ich
spreche, und nicht ein „Gott” etwelcher
Götzendiener. ‒
151 Das Buch vom Menschen
.Gar leicht läßt derlebendige Gott
sich finden, wenn du mutig ihm vertraust,
noch ehe du ihn kennst, doch wird er
immer ferner dir entschwinden, je ängst‐
licher du erst „Beweise” forderst, ob er
denn auch wirklich sei, und ob die Kraft
in dir sich finden lasse, ihm zu nahen...
.Je weiter du dich so von ihm entfernst,
desto mehr wird er dir entgleiten, so daß
du zu einer Beute jener Außenwelt werden
wirst, der du gebieten könntest, wärest
du bewußt vereint mit deinem Gott. ‒ ‒
.Es ist nur ein Bewußtseinsakt, der
dir den Schlüssel gibt, mit dem du alle
Pforten, die zu geheimster Weisheit führen,
öffnen kannst...
.Du lebst, selbst hier in diesem Außen‐
leben, nur in dem Bereich, den dir dein
Wissen um dich selbst entschleiert, ‒
und viele, die am gleichen Orte leben,
152 Das Buch vom Menschen
sind dennoch recht verschiedenartig ihrer
bewußt, in den verschiedensten Erlebnis‐
welten, die das Reich der Außenwelt in
sich beschließt. ‒ ‒
.Du hast dich aber an das Dasein dieser
Außendinge so verhaftet, daß es dir
schon ein „Wunder” scheinen mag, wenn
du von einem Menschen hörst, der eine
Überwelt bewußt betreten kann, die du
kaum ahnst, weil dein Bewußtsein nur in
Rhythmen schwingt, die sehr verschieden
sind, von jenen Schwingungswellen, die das
Reich der Überwelt dem anderen offen‐
baren...
.Das Äußere ist dir die wahre „Wirk‐
lichkeit”, und nur mißtrauend wendest
du dich an dein Innenleben, in dem du
„Ein-Bildung” und Phantasie allein am
Werke glaubst.
.Auch hier gilt, was ich vordem sagte:
‒ ‒
153 Das Buch vom Menschen
.Du kannst die „Wirklichkeit” im Innern
niemals finden, wenn du nicht mutvoll ihr
vertraust, bevor du sie noch kennst...
.Du wirst dich immer weiter von der
Wirklichkeit entfernen, je mehr du ängst‐
lich dich vor „Täuschung” fürchtest, und
erst „Beweise” haben willst, wo der „Be‐
weis” dir nur als Krone deines muter‐
füllten Strebens winkt. ‒
.Du tust sehr wohl daran, und dein Be‐
wußtsein hat dich gut geleitet, wenn du in
dieser Außenwelt stets erst „Beweise” ha‐
ben willst, bevor du ihr vertraust, denn
diese Welt der Außendinge ist wahrhaftig
eine Welt der Täuschung, und selbst die
Beweise”, die sie dir gewähren kann,
sind selten von Täuschung frei. ‒
.Du bist so sehr gewohnt daran, in einer
Welt der steten Täuschung dich zu sichern,
ehe du handeln willst, daß du auch in der
154 Das Buch vom Menschen
Welt der „Wirklichkeit” den gleichen Arg‐
wohn nötig glaubst. ‒
.In deinerWahrheit” die dir durch
„Beweise” unantastbar wurde, ist so viel
plumpe oder feine Täuschung, daß du je‐
des Maß verloren hast, ‒ und wenn du
wirklich einmal auf die Spur der wahren
Wirklichkeit gelenkt, die absolute Wahr‐
heit findest, dann scheuchst du ängstlich sie
von dir, weil du dich nur in eitlem Täuschungs‐
wahn befangen glaubst, und längst schon
deiner „Wahrheit” Sklave bist. ‒ ‒ ‒
.Du wirst erst völlig neue Wege gehen
lernen müssen, bevor du einst zur Wahrheit,
wie sie wirklich ist, gelangen kannst!
.Hier wäre wahrlich eine neue Wertung
aller Werte sehr vonnöten!
.Der „Denker”, die sich ihre „Wahrheit”
neu erdenken, wird kein Ende sein, und
155 Das Buch vom Menschen
gibst du mit erdachter „Wahrheit” dich
zufrieden, so wirst du leichthin jede For‐
mung finden können, die deinen Vor-Ur
teilen und deinem Außensinn behagt.
.Doch, willst du zu der Wahrheit sel
ber kommen, so wie sie ist, und strahlend
wirkt in ewig neuer Wirklichkeit, dann
wirst du in dir selber suchen müssen, und
nur in deinem tiefsten Innern wird die
Wahrheit sich dereinst entschleiert zeigen.
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Dann wirst du klar erkennen, was dieses
Buch dir sagen will.
.In seiner neuen Formung, wie du hier
sie in den Händen hältst, suchte ich noch
manches klarer zu gestalten damit kein
Zweifel mehr aufkommen könne, wie du
meine Worte deuten sollst, auf daß sie dir
zum Segen werden.
156 Das Buch vom Menschen
.Doch auch die klarste Form der Rede
wird dir wenig nützen, wenn du nicht in
dir selber danach strebst, dich selbst zu
lichter Klarheit zu erheben. ‒
.Bist du selber klar in dir geworden,
dann wird dir wohl keines meiner Worte
fürder „dunkel” bleiben, denn was ich dir
zu künden komme, ist in sich selber
„Licht”, und wer zum Lichte will, der
wird hier finden was er sucht. ‒
.Ich gebe gerne zu, daß ich gar oft in
diesem Buche Dingen die sich schwer er
klären lassen, Worte schaffen muß, und
daß solche Worte dann nur williger Ein
fühlung sich erschließen.
.Aber wenn dir einer von einem Lande
Kunde bringt, in dem Gold zu ergraben
ist, so wirst du gewiß nicht daran Anstoß
nehmen, daß er nur schwer den Weg dahin,
den du nicht kennst, beschreiben kann...
157 Das Buch vom Menschen
.Nun denn: ‒ auch ich beschreibe dir
hier einen Weg der dich zu einem „Gold‐
lande” bringen soll!
.Es ist der Mühe wert, meine Worte recht
deuten zu lernen...
.Und mangelt dir nicht der Mut, den
Weg den ich dir weise, freudig zu be
schreiten, so wirst du wahrlich ‒ in dir
selbst das reichste Goldland finden,
das kein anderer dir jemals streitig machen
kann. ‒ ‒ ‒
158 Das Buch vom Menschen
LETZTE LEHRE!
Die sich helfen wollen,
Müssen gleichen Stammes sein! ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Die Brüder im Lichte,
Die dich beraten,
Sind Menschen wie du!
Nicht: fühllose Wesen, ‒
Durch nichts erregbar, ‒
Dem Leben erstorben! ‒ ‒
Was Menschen ersehnen,
Ist ihnen heilig; ‒
Doch sehn ihre Augen
Die letzten Ziele...
Alles Begehren
In Sünde und Irren
Ist uns entschleiert,
161 Das Buch vom Menschen
Als pfadloses Suchen ‒
Nach ewiger Schönheit...
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Darum bereiten wir
Gangbare Pfade.
Darum führen wir
Den Weg zum Lichte, ‒ ‒
Die irrenden Brüder
Verstehend
In Liebe. ‒ ‒ ‒ ‒
162 Das Buch vom Menschen
ENDE
DAS MYSTERIUM
VON GOLGATHA
Verlagslogo
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG AG
BERN
BÔ YIN RÂ
Joseph Anton Schneiderfranken
4. Auflage
Unveränderter Nachdruck der 1953 in der Kober'schen
Verlagsbuchhandlung erschienenen dritten Auflage.
Erstausgabe Verlag Magische Blätter, Leipzig 1922
Erweiterte Ausgabe Richard Hummel Verlag, Leipzig 1930
© 1973, Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG Bern
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Übersetzung in
fremde Sprachen und der Verbreitung in Rundfunk
und Fernsehen
Druck: Baumann AG. Menziken
INHALT Seite
Einführung 7
Das Mysterium von Golgatha 17
Der furchtbarste unserer Feinde 47
Liebe und Haß 67
Seelisches Wachstum 79
Geistige Führung 97
Okkultistische Übungen 119
Mediumismus und künstlerisches Schaffen 147
An der Quelle des Lebens 157
Die „Aufnahme in die Weiße Loge” 185
Törichte Erfindungen 203
Originalscan
DER MUTTER MEINER KINDER!
EINFÜHRUNG
So, wie mein Buch „Mehr Licht!” aus ge‐
sonderten Abhandlungen entstand, so ist
auch dieses Buch eine Sammlung in sich bis
zu gewissem Grade abgeschlossener Kapitel.
Dennoch möchte ich das, was ich hier nun
verbinde, nur im Zusammenhang be‐
trachtet wissen, und wenn ich dem ganzen
Buche den Titel seiner ersten Ab
handlung gebe, so geschieht dies deshalb,
weil alles andere im Grunde mit zu die
ser Abhandlung gehört.
.Ich vertraue meinen Lesern, daß sie in sol‐
chem Sinne zu lesen wissen und glaube, daß
es wahrlich keines besonderen Hinweises be‐
darf, um den roten Faden zu finden, der hier
alle Einzelkapitel zu einem sich selbst erklä‐
renden Ganzen durchzieht.
Unter denen, die in heutigen Tagen einer
geistigen Erneuerung zustreben, sind unstrei‐
9 Das Mysterium von Golgatha
tig sehr viele zu finden, denen der hohe Mei‐
ster von Nazareth seit frühester Jugend als
göttlicher Lehrer galt, ‒ denen das „My
sterium von Golgatha” Mittelpunkt
ihres Glaubens war...
.In manchen mag noch heute ein tiefer
Christusglaube Leben zeugen, während an‐
dere längst in Seelennot und Zweifel das ver
loren haben, was ihrer Kindheit Licht
und Gottesgewißheit gab. ‒ ‒
.Allen diesen aber glaube ich hier manche
Schleier lüften zu können, die vor ihren Augen
bisher verborgen hielten, was ihres Herzens
tiefster Sehnsucht allein die letzte Bestätigung
bringen kann. ‒
.Es gilt, die tiefe Wahrheit zu enthüllen, die
in dem Gottessohn von Nazareth ein Leben
formte, das in fernste Zeiten noch des Lich
tes reine Strahlen senden wird, so sehr auch
diese heutige Zeit gar manche Zweifel an der
Wahrheit dieses Lebens nährt.
Die mannigfachsten Bilder haben im Laufe
der Jahrhunderte das Bild des „großen Lie‐
10 Das Mysterium von Golgatha
benden”, des erhabenen Meisters der Evan‐
gelien, verdunkelt.
.Schon damals, als sein Fuß noch durch die
Gaue Palästinas wanderte, gab es nur Wenige,
die wahrhaft wußten, wer er war, und
die, von denen uns die heiligen Bücher als
von seinen Jüngern reden, dürfen kaum zu
diesen Wenigen gerechnet werden.
.Was uns erhalten ist an Worten seiner Lehre,
trägt die Farben aller derer, die durch seine
Lehre eigenes Wähnen stützen wollten....
.Weniges nur läßt sich auch heute noch als
ungetrübte Kunde seines Lebens werten.
.Und dennoch strahlen selbst die Trüm
mer der Berichte noch von einem Lichte
Kunde, das wahrlich „nicht von dieser Erde”
ist, doch eines „Menschen-Sohnes” Wir‐
ken brauchte, um dem Menschen dieser Erde
sich zu geben.
Wahrheit und Sage haben sich im
Laufe der Zeiten in dieses Lichtes Leuch
ten gestellt.
11 Das Mysterium von Golgatha
.Urtiefe Symbole suchten in ihm Er
hellung.
.Altes und Neues mußte es jeweils
beleuchten, aber nur äußerst selten ward es
in seiner wahren Wesenheit erkannt.
.Des hohen Meisters göttliche Lehre wird
aber keinem, der die alten Berichte liest, die
tiefsten Tiefen erhellen, solange der Mei
ster selbst noch hinter den Schleiern
der Berichte verborgen bleibt. ‒
.Die sich seine Diener nannten, waren selbst
im Geiste viel zu weit von ihm entfernt, um
ihn zu erkennen, und ihre Sorge war
es zumeist: ‒ an alter Kunde nicht zu rühren.
.So konnte es kommen, daß eine neue, ihres
Verstandeswissens allzu sichere Zeit selbst des
Meisters Dasein in Frage zog.
Aber der, von dem das Wort berichtet
wird: „Ich will bei euch bleiben
bis ans Ende der Welt” ‒ war an
12 Das Mysterium von Golgatha
deren Maßes als seine Diener und
anderen Maßes als seine Leugner.
.Wohl dir, wenn du beim Lesen
dieses Buches seine hohen, rei
nen Züge erkennst!
.Auch wenn du dich nicht nach seiner
Lehre nennst, oder vielmehr nach der Lehre,
die man in seinem Namen schuf, ‒ so wirst
du ihm dennoch fürder angehören, wenn du
erkanntest, wer er wirklich war ‒ und
ist....
.Dann wirst du mit anderen Augen die
Berichte lesen, die von ihm erzählen, und alle
Zweifelsgründe werden dir benommen sein. ‒
.Bist du ein Gläubiger der alten Lehren,
die auf seiner Lehre ihre Dome erbauten,
dann wird dir, ‒ wenn du recht zu lesen
weißt, ‒ sein Licht das Dunkel ihrer Hallen
hellen, und manche Lehre, die dir schwere
Last auf deinen Schultern war, an die du
nur aus Furcht vor Frevel nicht zu rühren
wagtest, wird dir zu lieber Bürde werden, zu
einem Kleinod, das du niemals missen möch‐
test. ‒
13 Das Mysterium von Golgatha
Woher mir mein Wissen ward, das ich dir
hier gebe, wirst du in diesem Buche erfahren, ‒
und wahrlich wird dir hier ein Wissen werden,
das in Wahrheit gründet und jeder Täu‐
schung entrückt ist!
.Ich will dich deinem Glauben nicht ent‐
fremden und ehre wahrlich die frommen Ge‐
fäße der Altäre; ‒ doch will ich deinem Glau‐
ben Inhalt geben, und unerschöpfliche
Brunnen will ich erneut zum Fließen bringen. ‒
.So nimm denn dieses Buch und lasse seine
Worte dir zum Segen werden!
.Wenn du manches findest, was dir zuerst
noch fremd erscheint, so sei nicht vor‐
schnell zu einer Entscheidung bereit!
.Du wirst öfters lesen müssen, bis die
verschütteten Schächte deines Empfindens
frei werden können, ‒ damit die leben
digen Wasser der Urgrundtiefen deines
Seins empor ans Licht gelangen mögen!
.Bedenke, daß viele Jahrhunderte ihre „Scher‐
ben” in deine Brunnen warfen, und daß nur
du selbst allein diesen Schutt entfernen
kannst. ‒
14 Das Mysterium von Golgatha
„Toren glauben sich groß, wenn sie andere
übersteigen können, der Weise aber macht
sich klein, damit er sich selbst übersteige.”
15 Das Mysterium von Golgatha
DAS MYSTERIUM VON GOLGATHA
Zu den Zeiten des Kung fu tse lebte
im Reiche der Mitte ein wundersamer
Weiser, den sie Lao tse nannten.
.Kung fu tse, der große Lehrer der
Gesetze des glücklichen Lebens, hörte von ihm
und machte sich auf, ihn zu besuchen. Von
diesem Besuch zurückgekehrt, ging Kung
fu tse drei Tage lang schweigend umher,
so daß seine Schüler sich sehr verwunderten.
.Tseu Kong aber machte sein Herz weit
und frug den Lehrer, weshalb er unausgesetzt
schweige?
.Darauf antwortete Kung fu tse und
sprach:
.„Wenn ich bemerke, daß ein Mensch sich
seiner Gedanken bedient, um mir wie der
Vogel im Fluge zu entwischen, so bediene
ich mich meiner Gedanken, wie man sich
eines Pfeiles bedient, den man vom Bogen
schnellt.
19 Das Mysterium von Golgatha
.Unweigerlich treffe ich einen solchen Men‐
schen und werde seiner Meister. ‒
.Will er mir aber entwischen, wie ein hur‐
tiger Hirsch, so verfolge ich ihn wie ein
geschickter Jagdhund, hole ihn sicher ein und
werfe ihn nieder. ‒
.Will er mir entwischen wie ein Fisch,
der sich in die Tiefe gleiten läßt, so werfe ich
meine Angel aus, fange ihn und bringe ihn
in meine Gewalt. ‒
.Ein Drache aber, der in die
Wolken steigt und in der Luft
schwebt, ‒ den kann ich nicht ver‐
folgen!
.Ich habe Lao tse gesehen und er ist
wie der Drache!
.Als er sprach, blieb mein Mund offen und
ich vermochte ihn nicht wieder zu schließen. ‒
.Meine Zunge hing mir vor Erstaunen aus
dem Munde und ich konnte sie nicht zurück‐
ziehen. ‒
20 Das Mysterium von Golgatha
.Meine Seele aber wurde aufgeregt und ist
noch nicht wieder ruhig geworden!”
Diese wenigen, in den chinesischen Schrif‐
ten erhaltenen Worte sprechen deutlich genug
von dem ungeheuren Eindruck, den die gei‐
stige Weisheit Lao tse auf Kung fu
tse machte, der wahrlich auch, auf seine
Art, ein Weiser war, aber den Bereich des
Intellekts allein beherrschte, während
jener hoch über allem intellektuellen Wis‐
sen seine geistige Heimat fand. ‒
.Es wird berichtet, Lao tse sei in hohem
Alter, gegen das Ende seines Lebens, aus
seinem Lande gegangen, ‒ nach Westen zu,
‒ dorthin, von wo er einst seine Lehre er‐
halten habe...
.Im „Tao te king”, das ihm zugeschrie‐
ben wird, darf man den wesentlichen Nieder‐
schlag seiner Lehre suchen.
.Man hat mit gewissem Recht darauf hin‐
gewiesen, wie nahe diese Lehre den Lehren
21 Das Mysterium von Golgatha
der Pythagoräer und der Philosophie
Platos steht, ja man wollte es wahrschein‐
lich machen, daß Lao tse aus alter
ägyptischer Mysterienweisheit geschöpft
habe, und konstruierte einst so die wunder‐
lichsten Zusammenhänge.
.Ein Körnchen Wahrheit liegt, wie fast immer
in ähnlichen Fällen, allen diesen Mutmaßungen
zugrunde, denn Lao tse, der von dem
größten weltlichen Weisen seiner Zeit Be‐
staunte, war einer der wenigen wirkenden Mei‐
ster jener geistigen Gemeinschaft, die man
symbolisch: die „Weiße Loge” nennt,
der alle alten Mysterienkulte, der
auch Pythagoras und Plato ihr
Bestes dankten. ‒
Während aber diese geistige Gemeinschaft
als solche durch alle Jahrtausende hin stets
nur in geistiger Weise aus völliger
Verborgenheit heraus wirkte, fan‐
den sich doch zu Zeiten, wenngleich äußerst
selten, einzelne ihrer Glieder, die „in der
Welt” lebten, bereit und willens, auch
22 Das Mysterium von Golgatha
durch das gesprochene und ge
schriebene Wort höchste geistige
Lehre zu erteilen, und einer dieser Sel‐
tenen war eben dieser Lao tse.
.Nicht umsonst betont er, daß der Weise sich
in seiner Lehre nach Zeit und Um
ständen richten müsse, denn es war ihm
wohl bewußt, daß seine Lehre in seinem Volke
und zu seiner Zeit nur verstanden werden
könne in einer Ausprägung, die wenigstens bei
den damals geistig Eingestellten Geltung zu
finden hoffen durfte.
.Nach Zeit und Umständen mußte
sich noch jeder der ganz wenigen richten,
der als ein in der Welt lebendes Glied der
„Weißen Loge” Lehre in Worte zu fassen
versuchte, und auch jener „große Lie
bende”, der diese Lehre „die frohe
Botschaft” nannte, war nicht weniger
seiner Sendung als der Pflicht bewußt, Zeit
und Umstände zu beachten, und die
Anknüpfung für das Leitseil der Lehre dort
zu suchen, wo sicherer Halt dafür zu finden
war. Doch, sicherer Halt ist immer zu‐
gleich: ‒ Widerstand...
23 Das Mysterium von Golgatha
.Man wird Leben, Tat und Lehre dieses in
seiner Liebe Erhabensten unter denen, die sich
die „Leuchtenden des Urlichtes”,
die „Worte des Wortes” nennen, erst
dann in ganzer Größe begreifen, wenn man
erfaßt hat, daß auch er Zeit und Um
stände weise nützen mußte, und daß er ‒
vielleicht mehr als andere vor und nach ihm ‒
Halt am Widerstand zu finden suchte. ‒
Es sei mir ferne, frommen Glauben hier zu
stören, dem der Meister der Evangelien zum
einzigen „Sohne Gottes” ward! ‒
.Wer dieses Glaubens ist und darin Heil zu
finden hofft, der darf gewiß sein, daß seine
Hoffnung ihn nicht trügt, wenn er des
Meisters Lehre in sich Leben schaffen läßt,
und daß der Segen, der ihm werden kann,
niemals gebunden ist an seine Meinung
hinsichtlich der Dinge, die das Erscheinen
seines Meisters einst verursacht haben.
.Fühlt er sich stark in seinem Glauben,
dann lese er getrost, was hier gegeben werden
24 Das Mysterium von Golgatha
soll und lehne alles ab, was seines Glaubens
Wurzeln nicht vertragen können!
.Je stärker sein Glaube in Wahrheit ist,
desto sicherer wird er aus diesen Eröffnungen
neue Kräfte ziehen, denn: „Wer da hat,
dem wird gegeben werden, auf daß er
in Fülle habe”; ‒ fühlt er sich aber
schwach und schwankend, und ist
ihm sein Glaube nur eine schwache Tröstung,
die dieses Glaubens oft selber zweifelnde Leh‐
rer, zur Pflicht der Belehrung verdammt, zu
geben haben, dann lese er lieber nicht weiter,
denn es steht auch geschrieben, daß: ‒ „dem,
der da nicht hat, auch das noch genom‐
men wird, was er zu haben vermeint”. ‒
.Wer aber die Lebenslehre des in heiliger
Liebe glühenden Rabbi Jehoschuah
von Nazareth als eine fromme Sage be‐
trachten möchte, oder gar Zweifel hegt, ob
dieser Gottgeeinte jemals lebte, dem soll hier
einiges von dem gesagt werden, was jene von
ihm wissen, deren „Bruder” und Beauftragter
er war, ‒ er, von dem man berichtet, daß
er „anders” lehrte als die Lehrer seiner Zeit, ‒
25 Das Mysterium von Golgatha
daß er sprach, „wie einer, der da Macht hat”
‒ weil er eben als das, was er war, gar nicht
anders sprechen konnte, wollte er nicht
vor sich selbst unwahr werden. ‒ ‒
.So viel die Berichte über sein Leben und
seine Lehre auch an mystischer Zutat auf‐
nehmen mußten, so bleibt doch hier immer
noch mehr des real Gegebenen zu betrachten,
als rationalistische Kritik, von tieferem Zu‐
sammenhang nichts ahnend, rein äußerlich
genommen, bestehen lassen kann. ‒
Leben und Lehre dieses Mannes, der seit
fast zwei Jahrtausenden den Völkern des
Westens zum „Gotte” ward, wird niemals
nur durch philologische Quellenforschung zu
ergründen sein, und das Gebäude, das als
„Christentum” sich auf dem Grunde dieses
Lebens und dieser Lehre erhob, ist, trotz
mancher abstruser Form, durchaus nicht so
leer an deutbaren Symbolen höchster Erkennt‐
nis, wie manche seiner Verächter gutgläubig
anzunehmen scheinen. ‒
26 Das Mysterium von Golgatha
.Freilich darf man die Reinigung, die der
ehrliche, kraftvolle Augustinermönch von Wit‐
tenberg auf seine Weise in heiliger Einfalt er‐
strebte, nicht nun für alle Zeit als gelungenes
Werk betrachten, darf nicht seinem bäuerlich‐
naiven Gottes- und Teufelsglauben jene gei‐
stige Einsicht verehrungsblind zugestehen, die
nötig gewesen wäre, um hier eine wirk
liche „Reformation” unter sorgsamstem
Schutze ihm unzugänglicher, tiefster Sym‐
bole, durchzuführen. ‒
.Noch ist die Tat, die er getan zu haben
glaubte, einst zu tun, und anders zu
tun, als er, bei aller Kraft seines großen
Wollens, sie zu tun vermochte...
.Er aber mußte den Boden schaffen,
auf dem einst jener sicheren Stand finden
wird, der diese Tat aus tiefstem Erkennen
heraus vollbringen kann.
.Dann erst werden die urtiefen Mysterien
des Christentums, aus verschütteten Schäch‐
ten gehoben, aller Menschheit einleuchten,
und ihr Licht wird jenes Dunkel endlich
27 Das Mysterium von Golgatha
hellen, das für so viele den Weg ungangbar
macht, den einst der Meister von Nazareth
in sich selbst, für alle, die ihm folgen wollten,
bahnte.
.Dann erst wird man verstehen, weshalb
dieser weise Liebende berechtigt war,
den Seinen zu sagen:
.Ohne mich könnt ihr nichts
tun!”
.Weshalb er sich selbst den „Rebstock
und die Seinen die „Reben” nannte, ‒
weshalb er verlangte, daß jeder, der „das
Leben” in sich haben wolle, das in sich
aufnehmen müsse, was in ihm selbst,
dem Meister, „Fleisch und Blut” ge‐
worden war. ‒
Wahrlich, hier ist urgründige Weis
heit, aber sie kann nur gefunden werden,
wenn man weiß, wer dieser „Sohn des
Menschen” war und woher er kam. Wer
es ganz erfaßt, der mag zuletzt mit Staunen
28 Das Mysterium von Golgatha
sehen, daß das „Dogma” durch die Wahr
heit keineswegs entwurzelt wird!
.Die es seit Jahrhunderten schützen zu müs‐
sen meinen, ahnen nicht, daß seine Wur‐
zeln viel tiefer reichen, als ihr
Glaube vordringt, und daß unter
dem Flugsand theologischer Spekulation, den
sie wieder und wieder durchsieben, säftequel‐
lendes, ewiges Erdreich zu finden ist, das sie
nur deshalb nicht entdecken, weil sie in un‐
nützem Spiel nicht müde werden, magische
Figuren in den Sand der Oberfläche zu zeich‐
nen, wähnend, daß aus dieser Zeichen Zauber‐
kraft allein das Heil erblühe, das der Meister
allen, die in ihm sich einen wollen, einst ver‐
heißen hat.
Den einzigen „eingeborenen Sohn des Va‐
ters” sieht der gläubige Christ in dem Mei‐
ster, nach dem er sich nennt, aber der Meister
selbst, „voll der Gnade und Wahrheit”, be‐
kennt, daß in seines Vaters Hause „viele
Wohnungen” sind, daß es ihm nicht zu‐
stehe, zu bestimmen, wer zu seiner Rechten
29 Das Mysterium von Golgatha
und seiner Linken säße in seines Vaters Reich,
und daß „der Vater größer” ist als er. ‒
.„Wenn ich auch von mir selbst Zeug‐
nis gebe, so ist doch mein Zeugnis wahr,
weil ich weiß, woher ich gekommen bin und
wohin ich gehe; ihr aber wisset nicht, wo‐
her ich komme oder wohin ich gehe.” ‒
.So wird auch bis auf den heutigen Tag kein
Sinnen und Glauben ihn rein in seiner ur‐
eigensten Wesenheit erfassen, es sei denn, der
also Sinnende und Glaubende wisse, „wo‐
her” der Meister kam und „wohin” er ging, ‒
wisse, daß hier einer der „Leuchtenden
des Urlichtes” vor ihm steht, von sei‐
nen „Brüdern” bis auf diese Stunde als der
größteLiebende” unter ihnen voll
Bewunderung verehrt, ausgegangen aus ihrem
Kreise und zurückgekehrt zu ihm, um in un‐
sichtbarer Gestaltung die geistige Aura der
Erde nicht eher zu verlassen, als bis der
letzte der Menschengeister, die hier im Tiere
leben, einging zum Licht. ‒
Was immer einer dieser „Leuchtenden des
Urlichtes” von sich selbst sagen mag,
30 Das Mysterium von Golgatha
um „Zeugnis von sich selbst” zu geben,
das sagt er als Repräsentant der
ewigen, geistigen Viel-Einheit,
in der er steht. Es gilt gleichzeitig, von
ihm selbst, wie von allen, die
mit ihm ver-eint die Gemeinschaft der
„Leuchtenden des Urlichts” bilden. ‒
.Ohne das Sein dieser kosmisch-geistigen
Ver-Einung wäre der geistige „Mensch”,
der durch den „Fall”, durch eigenen Impuls
in eine andere „Dimension” sich verirrte,
längst völlig im Erdenmenschtiere der Um‐
nachtung verfallen, dem ewigen und einzig
wirklichen „Tode”, ‒ der Auflösung seiner
geistigen Individualempfindung, der Rückkehr
in das ungeformte „Chaos”, die Seins-Nacht
des Urgrundes, dem er einst, formgeworden,
entstieg, in diesem ewig sich selbst zur Form
zeugenden Urgrunde „gezeugt”, nicht „er‐
schaffen”! ‒ ‒ ‒
Ewige Liebe, glühend gleich einem unfaß‐
baren Lichtfeuerquell inmitten des urgrün‐
digen „Chaos”, ‒ ewiges „Urlicht”, ‒
31 Das Mysterium von Golgatha
spricht sich selbst zum „Ur-Wort” aus,
in unendlichfältigem „Echo” gleichsam
sich selbst vernehmend in un
endlichfältiger Selbstdarstel
lung. ‒
.So „ergeht das 'Wort' des Herrn in alle
Lande”, und in jedem dieser „Worte” wird
es sich selbst zu anbetender „Ant-wort”,
in jedem ist es die glühende „Sonne”, die
aus sich ihr „Planetensystem” erzeugt, ‒ die
individualisierte „Gottheit” des individuellen
Geistes, den sie aus sich heraus fortzeugend
gebärt...
.Aus diesem „Herzen Gottes”, dem
Lichtfeuerzentrum alles Seins, dem Quell‐
grund im ungeformten „Chaos”, den kein
menschliches Wort erfaßt, es sei denn, man
nenne ihn: „die Liebe, die aus sich
selbst ist”, ‒ ‒ stammt der „Heils‐
plan”, in der Liebe gegründet
von Ewigkeit her, der die Viel-Einheit
der „Leuchtenden” gestaltet, damit sie rette,
was verloren scheint, in selige Seinsgewißheit
wiederbringe, was sich selbst zerstreute und
so das Empfinden seiner Eigenform verlor. ‒
32 Das Mysterium von Golgatha
Gezwungen, in zeitlichen Bildern zu
reden, weiß ich wohl, daß mancher, stolz
und gewiß, seines begrifflichen Erkennens
froh, solches Geschehen in dem, was „ewig”
ist, als „absurd” erklären wird, allein das
wirkliche „Ewige” ist ein anderes als
der Begriff, den sich intellektuel
les Vorstellen schuf, und keine Weis‐
heit des Verstandes wird je den Be‐
griff zu bilden vermögen, der sich hier mit
der Wirklichkeit deckt...
.In tiefstem Fühlen nur läßt sich für
jene, die „guten Willens sind”, ein we
niges von dem erahnen, was das Ewige
in Wirklichkeit ist, und alles speku‐
lative Erdenkenwollen muß an dieser
Wirklichkeit zerschellen. ‒
.Von allen, die auf Erden leben, kann stets
nur einer, der „zurückgefunden” hat,
dorthin, von wo er einst als Geistform
ausgegangen war, von dieser „Wirklich‐
keit” wahrhaftes Zeugnis geben.
.Keiner kommt zum Vater,
außer durch mich!” ‒ ‒
33 Das Mysterium von Golgatha
.Der dieses Wort einst prägte, gehört zu den
wenigen, die das Wirkliche „von Ange
sicht zu Angesicht” erfahren hatten,
längst ehe sie auf dieser Erde eines Menschen‐
tieres Körperhülle fanden, aus der sie leib‐
haft lehren können, was „der Vater” sie zu
künden heißt.
Jeder der „Leuchtenden des Urlichtes”,
aber auch nur, wer zu ihnen aus Kraft
und Sendung desUrlichtes” zählt,
darf das gleiche Wort aus innerster Geist
wesensgleichheit von sich aus
mit gleicher Bedeutung gebrau
chen, wie es von dem Meister der Evan‐
gelien berichtet wird, und dennoch ehren in
ihm alle seine Brüder den, der alle, die
bisher als Menschen über diese Erde schrit‐
ten, übertrifft an Liebeskraft. ‒
.So sehr auch jeder einzelne, der je zu
der Gemeinschaft zählte, aus der Liebe lebt,
so war doch keiner noch, der so sein
ganzes Sein in Liebe überformt
der Welt zu lebendiger Hilfe
34 Das Mysterium von Golgatha
dargeboten hätte, wie dieser, den sie
selbst „den großen Liebenden
nennen.
.Was er der Menschheit gab, ist nur von
Seltenen erahnt worden. ‒
.So sehr übersteigt seine Tat alle mensch‐
liche Fassungskraft, daß jene Ersten, die die‐
ser Tat Größe ahnten, ihn vor sich selbst
zum Gotte machen mußten, um sich von
solcher Größe des Menschen nicht er
drückt zu fühlen! ‒ ‒ ‒
.Doch sein Erlösungswerk braucht keine
Mythe, die von einem rachelüsternen Stammes‐
gotte zu erzählen weiß, der seinen „Sohn”
als Mensch der Menschheit schickt, damit sein
eigener Rachedurst durch ihre Grausamkeit
befriedigt werde.
.Was dieser „große Liebende” der Mensch‐
heit als ein Erbteil aus dem Reiche des Gei‐
stes darbot, war auch wahrlich anderes als
jene „stellvertretende Genugtuung”, die sich
bequemes Heilsbedürfnis ausersann, um selbst
zu keiner eigenen Tat mehr Pflicht in sich
zu fühlen. ‒
35 Das Mysterium von Golgatha
.Am Kreuze von Golgatha wurde wirk
lich die Welt von einer Bindung „er
löst”, wenn auch in durchaus anderer Weise,
als die Ahnenden es zu fassen versuchten! ‒ ‒
Als der Meister von Nazareth den von ihm
in seinen höchsten Stunden stets gesuch
ten Tod endlich am römischen Kreuzes‐
galgen erlitt, vollbrachte er ganz un
vergleichbar Größeres, als was so man‐
cher vor und nach ihm tat, der das Leben
dieser Erde seiner Überzeugung opferte. ‒
.Der einst auf Golgatha am Kreuze starb,
war an jener Stätte der einzige, der mit aller
Klarheit wußte, was geschah, und nur er
allein war auch imstande, durch die‐
sen Liebestod die Riegel aufzusprengen, die
das Tor zur Freiheit für den Geistes
menschen schlossen, seit er, im Tiere
dieser Erde, dieses Tieres Trieb und Neigung
so erlegen war, daß die Er-lösung von des
Tieres Schicksal kaum mehr möglich schien. ‒
.Nur ein „Wissender” konnte er
kennen, daß es höchster Liebestat eines
36 Das Mysterium von Golgatha
Menschen möglich sei, eine geistige Kraft
im Bereiche menschlicher Macht aufs neue
zu erwecken, ‒ so zu erwecken, daß
sie allen ergreifbar werde, um die sich
das Schlinggewächs tierhafter Lebensinstinkte
bedrohend festgerankt zeigte, ‒ daß nur einer,
der das Tier mit seinem Geistigen zu einem
neuen Sein verschmolzen hatte, die Gasse
bahnen konnte, denen, die ihm folgen woll‐
ten. ‒
.Freilich: ‒ dieser „Wissende” mußte
zugleich in unerhörtem Maße ein Lieben
der sein, um die erschaute Tat vollbrin
gen zu können, denn gar viele vor ihm hat‐
ten das gleiche Wissen und vermochten es
doch nicht, den Schauder vor der Tat zu be‐
zwingen, obwohl auch sie gewiß nicht ohne
Liebe waren. ‒ ‒
So wurde durch Jesus von Naza
reth der Weg zum Geiste für alle erschlos‐
sen, die in sich selbst zum Le
ben bringen wollen, was sein
Leben war. ‒
37 Das Mysterium von Golgatha
.Der Gott im Tiere hatte in ihm das
Tier sich geeint in jenem neuen
Sein, das er den „Menschensohn” zu
nennen pflegte, der „Sohn”, den der Geist
mensch im Tiere zeugt, wenn er das Tier,
durch das er gefesselt war, überwunden hat,
indem er ihm seine Kraft und Schönheit
offenbarte. ‒
.In jedem der „Leuchtenden des Ur‐
lichts” begibt sich das gleiche, aber
keiner fand in sich das Übermaß
der Liebe, das ihn dazu geleitet hätte,
nun auch die Tat zu tun, durch die der Mei‐
ster von Nazareth eine Kraft zu neuem
Leben weckte, um deren Erlangung sich von
alters her die Weisesten allein ihr Leben lang
mühten, ohne sie andern in gleicher Weise
nutzbar machen zu können. ‒
Nicht der Tod als solcher führt
die Erneuerung jener Kraft in der geistigen
Aura der Erde herbei und nicht durch die
Marter, die dem Tode des Meisters voraus‐
ging, wurde sie bewirkt.
38 Das Mysterium von Golgatha
.Die Kraft der Liebe allein ver‐
mochte das Wunder zu vollbringen! ‒ ‒ ‒
.Daß er, der da Marter und Tod erlitt, der
Menschheit „vergeben” konnte, vergeben
bis zum letzten Todesröcheln,
das allein war seine wirksame „Erlösungstat”,
denn nach geistigem Gesetz wurde hier der
Geistmensch, wo immer er auf der Erde lebt
und, durch das Tier bezwungen, in Schuld‐
verstrickung gelangt, von seiner Ab
hängigkeit gelöst durch die Liebe, ‒
sofern er nur die Hand ergreifen mag,
die sich ihm zur Hilfe bietet, sofern er das,
was des Leuchtenden „Fleisch und Blut
geworden war, in sich aufnehmen
wird, um das Tier in sich dem
Geiste zu einen...
.Nur einer, dem „der Vater alles über
geben” hatte, konnte solche „Verge‐
bung” bringen, die alle Menschheit umfaßt!
.Tiefe Wahrheit birgt sich im Gewand der
Mythe, wenn alte Überlieferung den Meister
nach seinem Kreuztode „hinabsteigen” läßt
zu den Seelen der Gerechten der Vorzeit,
39 Das Mysterium von Golgatha
denn die Folge seiner Tat ist an keine Zeit
geknüpft, wird fühlbar den längst Entrückten,
wie denen, die erst nach Jahrtausenden ge‐
boren werden. ‒
Als abgeschmackte Torheit mag denen, die
nur gelten lassen, was ihre tiergemeinsamen
Sinne betasten, vieles erscheinen, was hier zu
sagen ist.
.Sie können im wörtlichsten Sinne nicht
begreifen”, daß eines einzigen
Menschen Tat die geistigen Möglichkei‐
ten für alles, was Mensch heißt,
zu verändern imstande war.
.Wer hier nicht folgen kann, oder mag, den
suche ich wahrlich nicht zu „bekehren”!
.Ich erinnere ihn nur daran, was die ge‐
samte Menschheit dieser Zeit gewissen Ein‐
zelnen auf jenen Gebieten dankt, die allen
tiersinnlich wahrnehmbar sind! ‒
.Wie weit folgetragender aber der Ein
zelne, der Berufung trägt, von gei
40 Das Mysterium von Golgatha
stiger Seite her zu wirken vermag, ent‐
zieht sich freilich dem äußeren Blick, und
nur der ist imstande, ein weniges davon zu
fassen, dem selbst die Aufgabe ward, im
Geistigen und vom Geiste her
zu wirken. ‒ ‒
.Wem aber der Meister von Nazareth aus
tiefstem Ahnen heraus als der große Wirkende
eines Werkes erscheint, das kein anderer je‐
mals für die Menschheit wirkte, der prüfe
und befrage in heiliger Weihestunde sich selbst,
ob er dieses Werkes Frucht zu nutzen willens
sei durch eigene Tat: ‒ indem er sich
selbst der Kraft verbindet, die der Meister
neu erweckte, indem er sich selbst aus
dem Zwiespalt zwischen Gottheit und Tier‐
heit reißt, ‒ dadurch, daß er das, was in
seinem Meister „Fleisch und Blut
geworden war, in Kraft und Wahrheit in
sich aufnimmt, auf daß es auch in
ihm die Einigung des Erdenmenschlichen mit
dem Göttlichen bewirke!
Manche Großtat Edler und Erhabener ist
schon im Laufe der Jahrtausende dem Ge‐
41 Das Mysterium von Golgatha
dächtnis der Menschheit verschollen, aber die
spätesten Geschlechter dieses Planeten wer‐
den noch um das Mysterium von Gol
gatha wissen, ja, es steht zu hoffen, daß
sie weit mehr davon empfinden werden, als
bis zum heutigen Tage offenbar werden konnte.
.Als ein strahlendes Lichtmal unfaßbarer
Liebesgröße leuchtet jenes Evangelienwort
durch alle Zeiten: „Vater, vergib
ihnen, denn sie wissen nicht,
was sie tun!”
.Nur ein „Leuchtender des Urlichtes” konnte
es sprechen, und dennoch wagte keiner das,
was dazu Vorbedingung war, außer dem
einen! ‒ dem „großen Liebenden”..
.Auch heute noch und bis ans Ende
der Tage des Menschen auf der
Erde ist dieser „große Liebende”,
in geistiger Gestaltung, vereint mit allen,
die gleich ihm jene geistige Kette bilden,
die das vergänglich Sinnliche mit dem
Ewigen verbindet, den Seelen, die ihn
rufen, nahe!
.„Wer es fassen kann, der fasse es!” ‒
42 Das Mysterium von Golgatha
.Der dies schrieb, gibt von ihm Zeugnis,
wie er von dem Dasein der Sonne Zeugnis
geben könnte...
Kein Glied der Viel-Einheit der „Leuch‐
tenden des Urlichts” ist jemals von den an‐
deren Gliedern dieser geistigen Gemeinsam‐
keit getrennt, keines wirkt allein aus sich!
.Auch jener, der einst liebend und ge‐
waltig vor fast zweitausend Jahren die
frohe Botschaft” seinen allzu un‐
weisen Schülern kündete, wirkte und wirkt,
wie ehedem, so auch heute noch, niemals
nur aus sich allein. ‒ ‒
.Auch er ist gehorsam der Weisung, die
ihm, gleich allen seinen Brüdern,
aus dem „Urworte” wird, dessen „Worte
alle jene sind, die, ihm vereinigt, hier auf
dieser Erde wirken. ‒
.Auch er ist untertan „dem Vater”, ‒
der über aller Fassungskraft erhabenen gei‐
stigen Wesenheit, die der eigentliche „Mei‐
43 Das Mysterium von Golgatha
ster” in jedem der „Leuchtenden”, ‒ das
heilige Oberhaupt aller Brüder auf Erden ist,
jenes Unnennbaren, der da ist wie
er ist von Ewigkeit zu Ewigkeit,
‒ im „Ur-Wort” verharrend und den‐
noch in einer geistigen Form den „Leuchten‐
den” dieser Erde stets gegenwärtig, ihrem
Schauen enthüllt, und durch jeden, ‒
je nach seinen Kräften, seiner Artung, ‒
wirkend das Werk der ewigen
Liebe...
In diesem Unnennbaren vereint, in
dem des „Urwortes” erstes Selbsterfassen
Form und Wirkung wird, ‒ als das
Wort”, dasbei Gottund das
Gott” in der Gottheit ist, ‒ sind alle
„Leuchtenden des Urlichtes” im Willen und
Bewußtsein ewig nur Eines! ‒ ‒
.Einheit ist Schlußstein und
Krönung fundamentaler Vielheit in al
lem Leben geistig-kosmischen Seins, wie die
Vielheit der Farben sich vereinigt im reinen
weißen Lichte zeigt. ‒
44 Das Mysterium von Golgatha
.Unendlichfältig wirkt sich das
Eine aus, das Alles ist, um sich in Ein
heit wieder zu finden, ohne jemals
seine Unendlichkeit zu opfern. ‒
.Liebe ist der innerste Ursprung
dieses Seins!
.Liebe ist sein nie endendes Leben!
.Liebe ist seine urewige Tat!
.Der auf Golgatha starb aber war das
vollkommenste Gefäß dieser Liebe,
das je auf Erden sich dargeboten hatte, der
Liebe, die unendlich ist, obwohl
sie in sich selbst ihre Grenzen
kennt...
.Wohl denen, die sein Wort aus aller Ver‐
schüttung heraus erkennen!
.Wohl denen, die ihn selbst im inner‐
sten Herzen zu finden wissen!
*           *
*
45 Das Mysterium von Golgatha
DER FURCHTBARSTE UNSERER FEINDE
Ich rede nicht von den furchtbaren äuße
ren Kriegen, die dasTier” im
Erdenmenschen immer wieder zu entfachen
sucht, um Seinesgleichen hinzumorden, ‒ ich
denke vielmehr an einen weit grau
sameren Krieg, der in jedem Menschen
entbrennen kann, sodann in seinem Inneren
wütet, und bei dem nur selten einer „Sie
ger” bleibt. ‒
.Dieser Krieg beginnt, wenn zum ersten
Male in einem Menschen die Frage sich er‐
hebt: „Wer bin ich?” ‒ wenn zum
ersten Male dieses sich selbst unbekannte
Ich” einer undurchdringlich scheinenden
Finsternis in den gähnend gierigen Rachen
blickt bei seinem Suchen nach Grund oder
Zweck des Daseins, nach Spuren seiner
Herkunft oder Vorzeichen seiner letz
ten Ziele. ‒ ‒
Gewohnt, alle Fragen „verstandes
mäßig” zu lösen, kommt dem Menschen
49 Das Mysterium von Golgatha
gar nicht der Einfall, die Lösung seiner nun‐
mehr erwachten Fragen könne einer an
deren Geisteskraft in ihm vorbehalten sein.
.Zwar finden müde oder allzu be
queme Seelen nur allzubald einen Aus‐
weg und nennen ihn „Glauben”, aber was so
unter Glauben verstanden wird, ist nur eine
billigere, leichter zu beschaffende Befriedigung
eines genügsamen Verstandes, niemals
jene hohe Kraft, die von den Kun‐
digen aller Zeiten hoch gepriesen wurde, wenn
sie vom „Glauben” sprachen...
.Es begnügt sich hier der Verstand mit
einer Lösung aus zweiter Hand, weil
er selbst nicht zur Lösung durchdringen
konnte.
.Gewaltige Bibliotheken könnte man mit den
Büchern füllen, die alle zum Zwecke solcher
Verstandesberuhigung geschrieben wurden,
ganz abgesehen von den persönlichen Be‐
mühungen derer, die selbst durch Beschwich‐
tigungen aus zweiter Hand ihren Verstand
befriedigten und nun sich verpflichtet glauben,
50 Das Mysterium von Golgatha
„das Heil”, wie sie es gefunden zu haben
meinen, auch ihren Mitmenschen zu predigen.
.So aber kann man immer nur lehren,
was der Verstand erfassen kann, und
könnte der Verstand die Lösung jener
letzten Fragen unternehmen, dann läge diese
Lösung längst schon klar vor aller Augen
in der ganzen Welt.
.Doch der Verstand ist nur ein Werk
zeug des Menschen und darf nicht zum
Herren seines Besitzers werden, sonst wird
er zu seinem fürchterlichsten Feinde.
Der Diamant dient zum Zerschneiden des
Glases, aber er wird unnütz, wenn es gilt,
Bäume zu fällen, und wer Holz braucht, um
ein sicheres Haus zu bauen, der kann mit
seinem Diamanten in Sturm und Wetter er‐
frieren. ‒
.Ihr „suchtmit dem Verstande und
scheltet die Natur grausam, weil sie euch
kein Auge gab, in ihre letzten, geheimnis‐
vollen Tiefen zu blicken, derweil ihr dieses
Auge habt und nicht darum wißt,
in all eurem Reichtum. ‒
51 Das Mysterium von Golgatha
.Es gab zu allen Zeiten einige unter
den Menschen, die von diesem Auge wuß
ten und es zu nützen verstanden.
.Sagten sie euch Anderen, was sie sahen,
so wurden sie als Narren oder Schwärmer
in Verruf gebracht.
.Erklärten sie euch aber, wie ihr selbst
dieses Auge in euch finden und benutzen
lernen könntet, so wurden sie euch unbequem,
denn sie verlangten zu viel von euch,
was eurer Gemächlichkeit gar wenig
behagte.
.Lieber noch „glaubtet” ihr an der Wissen‐
den Lehren, nachdem ihr die Lehrer
ans Kreuz geheftet hattet, ‒
denn nachher konntet ihr jene Lehren deuten,
wie es euch gefiel. ‒ ‒
Ihr sagt: „Es waren andere Menschen,
die solches taten, ‒ nicht wir, ‒ nicht
wir!” ‒ aber ich zweifle mit guten Gründen
daran, daß ihr heute Jene erkennen
würdet, die euch helfen könnten. ‒
52 Das Mysterium von Golgatha
.In allen Zeiten liebte es der Mensch, lieber
auf das Kommen eines „Helfers” nach sei
nem Sinne zu warten und wollte nichts von
den wirklichen Helfern wissen, die in
Güte und Einfalt ihm die Hand zur
Hilfe boten.
.Die Phantasie des Menschen schafft
gewaltige „Titanen”, „Götter” und „Heilige”,
wo nur der einfach menschlichste
Mensch zum Befreier tauglich ist.
.Zauberkünste galten noch jederzeit
mehr als die segensreichsten Lehren wirklich
berufener Helfer.
.Man will staunend stehen und möchte am
liebsten „das Zaubern” lernen, wo man in
Stille und innerer Einkehr zu sich selbst
zu gelangen suchen sollte.
.Mit einem Worte: die „Methode”, jenes
innere Auge zum Sehen geschickt zu machen,
ist dem phantastischen Sinn des Menschen zu
einfach, und seiner Gewohnheit wider‐
streitet es zu sehr, auf solche nüchtern neue
Weise zur Erkenntnis zu kommen.
53 Das Mysterium von Golgatha
.Zu lange schon ward er zum Sklaven
des Verstandes, als daß er noch ahnen
könnte, wie er auch ohne Ketten und Blei‐
gewichte an den Füßen schreiten kann,
und ach, ‒ das Fliegen auf Schwingen
der Seele hat er ja längst verlernt.
Im Äußeren hilft der Verstand zu
schwächlichem Ersatz für Alles, was die
Seele sucht, und so staunt denn der Mensch
vor den „Wunderwerken”, die ihm der Ver
stand erklügeln half, und verliert damit
den letzten Glauben an die Möglich
keit, der Sehnsucht seiner Seele see
lisch je Erfüllung zu erringen.
.Und doch kann nichts, was ihn der Ver‐
stand im Äußeren finden läßt, jemals den
Schrei der Seele völlig unterdrücken,
der Seele, die genau so ihre Rechte hat in
ihrem Reiche, wie der Verstand die seinen
dort, wo es nur zu verstehen gilt. ‒
.Die Erkenntnisse der Seele wollen nicht
„verstanden”, sie wollen geschaut, er
fühlt, erlebt und erobert werden.
54 Das Mysterium von Golgatha
.Hier ist mit dem Verstande, so scharf
er auch geschliffen sein möge, als Werkzeug
nichts anzufangen!
.Hier muß eine neue Kraft in Tätigkeit
treten, die potentiell ein jeder Mensch be‐
sitzt, und die doch nur in den Aller
wenigsten zur Entfaltung kommt!
.Es gibt kein deutsches Wort für diese Kraft,
und die sie in sich entwickelt hatten, erfanden
sich nur „Namen” dafür, die keinem anderen
Menschen etwas sagen können.
.Das, was der Deutsche „Gemüt” nennt,
führt vielleicht noch am ehesten in jene
Region, in der ein Ahnen dieser Kraft
zu Zeiten möglich ist, allein man verbindet
mit diesem Wort und seinem Inbegriff so viel
Verschwommenes, daß selbst dieser
zage Hinweis schon zu grobem Irrtum führen
kann.
Ich will es versuchen, durch verschiedene
Umschreibung, hier nun die Seele auf
das Wesen dieser Kraft behutsam hin
zuleiten, ‒ vielleicht daß einer oder der
55 Das Mysterium von Golgatha
Andere etwas leise in sich erwachen fühlt, das,
wie ein Keim die Blume, diese Kraft in ihm
dereinst ans Licht befördert.
.Doch ich weiß, daß ich mir eine Aufgabe
stelle, die kaum je befriedigend zu lösen ist,
wenn nicht auf beiden Seiten der ernst‐
liche tiefe Wille besteht, über alle Hinder‐
nisse hinweg, das Ziel zu erreichen.
.Der furchtbarste Feind aber, der uns
auf diesem Wege begegnen kann, ist der
Verstand, ‒ dieses ewige, zur Gewohn‐
heit gewordene Verstehenwollen des
Zieles, wo es hier höchstens nur ein Verstehen
der Worte geben kann, die zur Zielrich‐
tung weisen wollen. ‒
.Wer weiter mit mir gehen will, der mache
sich vor allem zum Herren seines Ver‐
standes und gebe ihm keine Rechte dort, wo
seine Tauglichkeit zu Ende ist!
Wie aber enthülle ich dir nun das Wesen
dieser namenlosen Kraft, die dir Erlösung
bringen soll!?
56 Das Mysterium von Golgatha
.Versuche es, diese Worte wieder und wieder
zu lesen, fern von allem Geräusch und aller
Ablenkung der äußeren Welt, ‒ versuche es
aber auch, dein Gemüt zu beruhigen vor all
den lauten Einreden deines Den
kens, und gib dich in tiefster Ruhe deinem
nüchternen, selbstgewissen Fühlen hin!
.Versuche, bei dem, was du hier lesen wirst,
in aller Stille dich selbst zu empfinden!
.Du mußt dich ähnlich so zu empfinden
suchen, wie du dich empfindest, wenn eine
liebe, längst nicht mehr gehörte Melodie dir
unerwartet in der Abenddämmerstunde aus
der Ferne zuströmt, dich ergreift, und dich
im sanften Schweben ihrer Töne mit sich
zieht...
.In solchen Stunden, solchen Augenblicken,
öffnet sich ein wenig jene Pforte, durch die
du dereinst schreiten mußt, willst du ihr wirk‐
lich nahen, ‒ jener Kraft, die dir auf deine
letzten Fragen Antwort geben kann. ‒
.Fasse den leisen Lichtstrahl, der aus dem
Spalt der Pforte fällt, mit liebendem Auge
57 Das Mysterium von Golgatha
und suche dich an sein mildes Licht zu ge‐
wöhnen!
.Wolle nicht gleich auf einmal alle
Helligkeit „erkennen”, die hinter der Pforte
ist, sondern zügle deine Wünsche und mache
dein Auge erst tüchtig, damit es die Art
dieses sanften Lichtes von jedem ande
ren Leuchten unterscheiden lernt...
.Du wirst gar bald entdecken, daß du bis‐
her etwas vernachlässigt hast, was
wohl sorgsamer Pflege wert gewesen wäre. ‒
Gehe mit mir hinaus in die Natur. Nicht
in der lauten Mittagshelle, obwohl auch die
Stunde, da „der große Pan schläft”, voll der
Geheimnisse ist, für den, der sie zu empfinden
weiß, ‒ ‒ sondern am späten Abend, wenn
alle Laute des Tages ruhen, oder am frühen
Morgen vor Sonnenaufgang.
.Du wirst da etwas fühlen in der weiten
Runde, das dich erhebt und beglückt ohne
Denken und Verstandesgründe...
.Gib dich diesem Fühlen hin und laß' es
in dir Wurzel fassen!
58 Das Mysterium von Golgatha
Wiederhole das oft, damit du ver
traut wirst mit deinem inneren Fühlen!
.Suche es in seinen differenzierten Nüancen
klar zu unterscheiden!
.Es ist nicht gleichgültig, ob du diese Ge‐
fühle nur in deiner Stube reproduzierst,
oder ob du sie, frisch und jedesmal neu, im
Freien empfindest. ‒
.Dein Zimmer, wie es auch sei, hat seine
eigene Stimmung, und wenn du auch noch
so klar in deine Erinnerung dich zu versenken
verstehst, so wirst du doch deine gewollte
Stimmung unwillkürlich fälschen.
Im geschlossenen Raume hast du andere
Möglichkeiten, dich zu stimmen und die ver‐
borgensten Saiten deines Gemüts zum Klin‐
gen zu bringen.
.Musik und Bildnerkunst, nicht
weniger als Poesie des Wortes, kön‐
nen dich in deinen Räumen zu dir
selber bringen.
59 Das Mysterium von Golgatha
.Ob du aber im Freien sein magst, auf
Bergeshöhen oder am Ufer eines stillen Flusses,
ob du die endlose Weite des Meeres auf dich
wirken lassen wirst, oder beim Lampenschein
die Worte eines Dichters lesen und empfangen
magst, ‒ stets wird das Bewegte dein
Inneres sein, denn alles, was außen ist,
erteilt nur den Anstoß zur Schwingung,
trägt nicht in sich, was deine Seele durch
seine Vermittlung erfühlt. ‒
.Natur bleibt tot und kalt, und jedes Kunst‐
werk läßt sich fühllos betrachten, wenn du
nicht selbst bei der Seele hast, was dir
Natur und Kunst als Bewußtseinswert ver
mitteln soll.
.Nur in dir ist der Zauberbrunnen, aus
dem du deine goldenen Becher füllen kannst. ‒
So bist du nun jener unbenennbaren Kraft
schon um ein beträchtliches näher gerückt.
.Du lernst allmählich, daß du dich
selbststimmen” kannst, und alles, ‒
Nahrung, Kleidung, Aufent
60 Das Mysterium von Golgatha
haltsort, Einsamkeit und Ge
sellschaft, kann mit der Zeit dir „Stimm‐
gabel” werden...
.Je nach deiner „Stimmung” wirst du ver‐
schiedene „Klänge” in dir zum Ertönen
bringen, und du wirst dann gar bald ent‐
decken, welche Stimmung deinem Wunsche
nach seelischer Klarheit entgegenkommt. ‒
.Du arbeitest schon mit jener unbe‐
nennbaren Kraft, doch sind es vorerst nur
ihre fernsten und dunkelsten Strah‐
len, die du zu deinen Zwecken beherrschen
lerntest.
.Doch hier gibt es ein Weiterschrei
ten, hinauf, empor, hinein zu restloser
seelischer Klarheit! ‒ ‒
.Wer hier vorwärts will, der muß zum
Künstler an seinem eigenen Le
ben werden. ‒
.Was vordem ihm „Erfüllung” schien, muß
jetzt ihm nur als Rohstoff gelten, aus
dem er, dem Bildner gleich, das Kunst
61 Das Mysterium von Golgatha
werk seines seelischen Gefüges
schafft! ‒ ‒ ‒
.Nicht mehr wahllos, oder nach Laune, darf
er sich dem überlassen, was ihm das Leben
bringt.
.Er muß das Leben selbst formen lernen,
dadurch, daß er sich in jedem Augen
blick zu „stimmen” weiß, so wie es seinem
letzten Ziel entspricht. ‒
Bis hierher konnte wohl mancher mit mir
gehen, doch an diesem Punkte werden die
meisten scheitern, weil es ihnen über
menschlich schwer erscheint, die man‐
nigfachen Geschehnisse des Alltags und seine
Nöte also zu meistern...
.Nur die Wenigen, die dazu reif geworden
sind, werden hier nicht versagen!
.Sie allein werden auf diesem Wege
auch zuletzt jene Kraft in sich entdecken,
deren Beherrschung Vorbedingung ist
für jeden, der den Pfad zum höchsten Lichte,
62 Das Mysterium von Golgatha
den ihm hohe Meister bahnten, mit Nutzen
betreten will.
.Mit dem Tage, an dem ein Mensch jene
Kraft in sich entdeckt und sie gebrauchen
lernt, beginnt für ihn ein neues Leben,
gegen das betrachtet alles, was er früher
„Leben” nannte, ihm erscheint wie ein dunk‐
les Frührot gegen mittagshelle Sommersonne.
.Und doch findet dieser Tag ihn erst am
allerersten Anfang jenes Weges, der
zum ewigen Lichte führt, jenes Weges, der
unendlich ist, weil er von Klarheit zu
Klarheit steigt, auf dem jedes Erkennen
stets wieder überstrahlt wird durch ein
neues, tieferes und reineres Erfassen,
das nur wieder höherer Erkenntnis, tie‐
ferem Erleben, klarerem Erschauen weicht...
.Endlos ist jener Weg, weil sein Ziel
unendlich ist und auf unendlichfältige Weise
sich erschauen läßt, ‒ endlos ist er, weil
sein Ziel Unendlichkeiten birgt, und nie
mals, ‒ auch nicht in Milliarden „Ewig‐
keiten” ganz zu ergründen wäre. ‒ ‒ ‒
63 Das Mysterium von Golgatha
Niemals aber wird ihn einer finden, der
jene unbenennbare Kraft, jenes geistige Auge
in sich nicht vorher entdeckt, von
dem die Weisesten aller Zeiten in mehr oder
minder durchsichtigen Symbolen geredet ha‐
ben, jenes Auge, das auch dort noch zu sehen
vermag, wo das Licht unserer Erdensonne in
einem höheren Lichte verschwindet, wie ein
Funke in lohendem Brand.
.Niemals wird einer jenes Auge in sich ent‐
decken und damit sehen lernen, der sich blen‐
den läßt durch die Feuerwerkskünste seines
Verstandes, ‒ dem der Verstand (in
seiner Region ein verläßliches Werkzeug)
zum Herren und damit zum furcht
barsten Feinde wird! ‒
.Solches wissend aus tiefster Selbsterfahrung,
dankt der hohe Meister dem, den er den
„Vater” nennt, daß er „den Kleinen und
Unwissenden” sich offenbare, vor denen
aber, die ihres Wissens Sklaven
sind, sich verborgen halte. ‒ ‒
.Solches erkennend, spricht er das Wort von
den „Kindlein”, denen jeder gleichen
64 Das Mysterium von Golgatha
müsse, der das „Reich des Himmels” in sich
selbst erfahren wolle. ‒
.Von ihm selbst sagten sie stumpfen Her‐
zens: „Wie erkennt dieser die Schrift, da er
sie doch nicht 'gelernt' hat?”
.Sie ahnten nicht, daß er eine tiefere Weis
heitsquelle in sich trug, als selbst „die
Schrift” sie jemals ihren Schrift-Gelehrten
offenbaren konnte, die dem Verstande
Sklavendienste leisten mußten, da sie nichts
in sich fanden außer dem Verstande, ‒
nichts, was ihnen helleres Licht und
reinere Klarheit hätte geben können. ‒ ‒
.Es wird die allergrößte, allem anderen
übergeordnete Aufgabe kommender Genera‐
tionen werden, die in jedem einzelnen Erden‐
menschen tief verborgene geistige Weis‐
heitsquelle nützbar zu machen für das
irdische Wohl, ‒ ganz davon abge‐
sehen, welche Wirkung die aus dieser Quelle
geschöpften Erkenntnisschätze im unvergäng‐
lichen Leben der erdenleibesledigen Seele
schaffen!
65 Das Mysterium von Golgatha
Erst dann aber, wenn der Mut erwachen
wird, allen Unrat zu entfernen, den Ver‐
standesdünkel über dieser Quelle aufzuhäufen
pflegte durch Jahrtausende hindurch, wird sie
der Mensch der Erde wieder in den heute
kaum erahnten Tiefen seines Fühlens
finden.
*           *
*
66 Das Mysterium von Golgatha
LIEBE UND HASS
Liebet eure Feinde! ‒ Tuet wohl denen,
die euch hassen!”
.Es ist unsagbar schwer, ein solches Gebot
zu erfüllen, solange man sich nur, schlechten
Gewissens bewußt, zum Lieben zwingen
muß. ‒
.Wie ein Mensch aus guter Kinderstube
frei und selbstverständlich sich
in angenehmen Formen zu bewegen weiß,
während der andere, dem gute Formen als
„lästiger Zwang” erscheinen, nur tölpel
haft und ungeschickt sich bewegt,
sobald er in erzogene Gesellschaft gerät, ‒
so wird auch nur ein Mensch mit freier Selbst‐
verständlichkeit zu lieben wissen, dem
die Kunst des Lebens, die eine Kunst
der Liebe ist, so zu eigen wurde,
daß sie Fleisch und Blut bemeistert.
.Wo Fleisch und Blut noch nicht durch
Lebenskunst gemeistert sind, dort muß
69 Das Mysterium von Golgatha
alle Liebe, die erzwungen wird, um ein
Gebot zu erfüllen, nur elende
Grimasse bleiben, ‒ muß zur „Sünde
werden wider das eigene Fleisch und Blut, zur
Lüge”, die am Mark des Lebens frißt...
.Tausende glauben sich zu dieser Lüge vor
sich selbst „verpflichtet” und ahnen
nicht, daß es wahrhaftig besser um sie stünde,
wenn sie noch Haß und Feindschaft ohne
Gewissensbisse in sich nähren könnten. ‒
.Sie wollen besser vor sich selbst er‐
scheinen, als sie sind, und so verbauen
sie sich selbst den Weg, auf dem sie einst da‐
hin gelangen könnten, mit Selbstverständlich‐
keit und ohne jeden Zwang in innerer
Wahrhaftigkeit zu handeln, wie das
Gebot befiehlt, dem sie, aus Furcht vor
Schuld, mit Widerstreben Folge leisten.
.Verdunkelte Erkenntnis geht hier irre Wege.
.Während die auf solchen Wegen Wandeln‐
den die Liebe lieben lernen wollen, has
sen sie den Haß!
.Haß aber ist nur die Form ohnmäch
tiger ‒ ihrer Macht nicht bewußter ‒
70 Das Mysterium von Golgatha
Kraft: der gleichen Kraft, die als Liebe
ihre Selbsterlösung findet. ‒ ‒
.Wer Haß noch hassen kann, der hat
die Liebe noch nicht erkannt! Wer aber nie‐
mals hassen konnte, der wird auch nie‐
mals lieben lernen.
In dunkeln, urweltlichen Abgrundtiefen an‐
kert die Kraft, die sich in göttlicher Gestalt
als Liebe offenbart, und bildet alldorten
ihren Gegenpol: den Haß.
.Haß und Liebe sind eines Wesens, so
wie die Wurzel eines Weizenhalmes eines
Wesens mit der Ähre ist, die dem Menschen
krafterfüllte Nahrung gibt.
.Wie aber zwischen Wurzel und Ähre so
mancher Halmknoten liegt, so liegt auch man‐
cher Zwischenzustand auf dem Wege,
der, vom naturgegebenen, niederen Trieb zum
Hasse, hinführt zu der Götternähe der
gleichen Kraft, ‒ zur Allgewalt
entfaltenden Liebe. ‒
.Keiner dieser Zwischenzustände darf
„übersprungen” werden, wenn ein Mensch in
71 Das Mysterium von Golgatha
Wahrheit die Kunst der Liebe üben lernen
will. ‒ ‒
Vielleicht bist du erst auf einer dieser Zwi
schenstufen angelangt?
.Vielleicht bist du zu wahrhafter echter
Liebe noch nicht fähig? ‒
.Gräme dich darum nicht und suche nichts
zu erzwingen!
.Bitte vielmehr in dir selbst um die hohe
Gnade, daß sich die Kraft, die dir noch zu
hassen befiehlt, in Bälde in ihrer leuch‐
tendsten göttlichen Form ‒ als Liebe
offenbaren möge!
.So allein kannst du die Macht der Liebe
einst wahrhaft in dir erfahren, und dann
wirst du gewiß den Haß, die niedere Ge‐
walt der gleichen Kraft, in dir nicht mehr
kennen, dann wirst du aber auch den Haß
nicht mehr hassen können. ‒ ‒
.Solange Liebe noch etwas zum Hassen
braucht, und sei es auch das Verwerf
72 Das Mysterium von Golgatha
lichste, solange ist das, was du „Liebe”
nennst, nur ein Wechselbalg betrogenen Stre‐
bens und Gefühls und hat mit der göttlichen
Liebeskraft nicht das mindeste zu schaffen.
In deinem späteren, höheren Geistes‐
leben, wenn du den Aufstieg begonnen
hast und nach dem Tode des Erdentieres,
das dir diente, in freier, geistiger Ge‐
staltung lebst, wird jede Möglichkeit
zum Hassen dir fehlen, denn nichts geht ins
Leben des reinen Geistes ein, nichts wird in
den unermeßlichen Reichen des ewigen Gei‐
stes gefunden, was je deinen Haß erregen
könnte.
.Hier aber, solange du noch auf der Erde
im Tiere” lebst, gibt es gar viel, was
dich zum Haß verleiten möchte...
.Doch niemals wird dein Haß dich för
dern können auf dem Wege zu dir selbst,
auf dem Wege zurück zu deiner Urheimat,
zum ewigen wahren Leben im Herzen der
Gottheit, als reiner Geist und „Gottessohn”
im reinen Geiste, im „Vater der Lichter”,
73 Das Mysterium von Golgatha
dem alles Lebens selige Fülle innewohnt von
Ewigkeit zu Ewigkeit.
.Stets wirst du, wenn du Haß in dir
nährst, auch wenn du nur das „Hassens‐
werteste” zu hassen meinst, dich um die
Entfaltung deiner höchsten Kraft, der
Kraft der Liebe, betrügen. ‒
.Trotzdem du einst aus dem hohen Leuchten
tief gefallen bist, so daß du dich dem Tiere
dieser Erde einen mußtest, durchdringt dich
doch auch hier diese göttliche Kraft, und es
liegt allein an dir, ob du sie, so, wie sie
dir verblieb: in ihrer strahlenden gött
lichen Form: als Liebe, gebrauchen
willst, oder ob du sie in ihre Gegenform
verwandelst, als die sie nur der niederen
„Natur” entspricht, ‒ dem Leben des uner‐
meßlichen physischen Universums, so‐
wohl in seinen unsichtbaren Wesen‐
heiten wie im Menschen, der dir hier
auf Erden durch die tierhafte Gestaltung
sichtbar wird. ‒
Es gibt gewiß in diesem Weltall unsicht
bare Intelligenzen, die nur dem
74 Das Mysterium von Golgatha
Hasse leben, aber auch sie sollst du
nicht hassen, so sehr sie dich auch mit
ihrem Haß verfolgen.
.Als Sieger kannst du ihnen nur begegnen,
wenn du eine Liebe ihnen entgegensendest,
die auch ihren grimmigsten Haß entkräf
tet, so daß sie sich von dir wenden müs
sen, weil sie an deiner Liebe leiden
würden...
.Du kannst das Verachtungswürdige ver‐
achten, das heißt: seinem mangelnden Werte
nach ihm deine Achtung entziehen,
aber du sollst es nicht hassen zu müssen
glauben! ‒
.Sobald du zu hassen beginnst, setzt du dich
in Verbindung mit allen Wesen dieses physi‐
schen Weltalls, die ihrer Art nach jene ewige
Urkraft nur in der Form des Has
ses kennen und niemals sie in Liebe
zu verwandeln wissen werden.
.Du verstärkst die Ströme des Hasses, die
durch sie in Menschenherzen geleitet
werden, machst dich schuldig so an allem,
75 Das Mysterium von Golgatha
was bei den Menschen dieser Erde an Ver‐
derblichem aus Haß entsteht, ‒ du
strebst der Tiefe des Abgrunds, der Vernich‐
tung zu, statt dich zu deinem Aufstieg zu
erheben...
Stets kämpfen die mächtigen, unsichtbaren
Intelligenzen der physischen Allnatur, die
nur ein zeitlich befristetes Leben
haben, wenn es auch nach Jahrtausenden
zählt, um deinen Besitz, da sie die „Welt”
des Geistes niemals erkennen können
und dich allein als ihren Untertan be‐
trachten. ‒
.Nicht alle sind in gleichem Grad
dem Haß ergeben, und manche sind sogar
„guten Glaubens”, dich vor einem Irr
tum zu behüten, wenn sie versuchen,
dich von deinem Aufstieg zum reinen Geiste
abzuhalten und dich in ihrem Macht‐
bereich zu binden. ‒
.Du mußt wissen, daß du durch die Kraft
der Liebe, die auch ihre Besten nicht
kennen, selbst wenn sie nicht dem Hasse
76 Das Mysterium von Golgatha
ergeben sind, ‒ unendlich mächtiger
bist als sie! ‒
.Du mußt wissen, daß du zwar, deinem
irdischen Verstande nach, tief
unter den allermeisten dieser Gewaltigen
stehst, daß dein Denken ihrem zwingen‐
den Einfluß bis zu hohen Graden unter
worfen ist, daß du aber trotzdem
einer Erkenntnis durch dein innewohnendes
Geistiges fähig werden kannst, die ihnen
allen für alle Zeiten verschlossen bleibt,
da sie zum Geiste niemals gelangen kön
nen, weil sie selbst nicht „Geist”
sind, und also des Geistes Dasein
ihrem Wissen, sei es noch so erhaben, sich
nicht offenbaren kann, so wenig, wie du einem
Tiere dieser Erde die Fülle deiner Gedanken
und Gefühle jemals offenbaren könntest. ‒ ‒
.Lasse dich nicht täuschen und blicke nicht
zu allem, was über dir steht, hinauf!
.Es gibt nur Eines, das deiner Ehrfurcht,
deines sehnenden Aufblicks würdig ist,
und das ist über dieser ganzen physischen
Allnatur mit all ihren Heeren gewaltiger, aber
77 Das Mysterium von Golgatha
unseren Sinnen unwahrnehmbarer Kraftbe‐
herrscher und hoher Intelligenzen!
.Deiner Urheimat im Reiche des reinen
Geistes soll allein deine aufwärts
blickende Sehnsucht gehören, und du kannst
sie erreichen, wenn du in der Liebe lebst!
Der Liebe hat einstmals jener große Lie‐
bende auf Golgatha die Fesseln gelöst.
.Ob du zu seinen Gläubigen (zu denen, die
sich nun nach ihm, der ein „Christos”, ein
„Gesalbter” höchster Weihen war, selbst
„Christen” nennen) gehören magst oder nicht:
‒ der durch ihn gelösten Kraft wirst du
nur dann teilhaftig, wenn du selbst
der Liebe in deinem Leben Raum und
Wirkungsweite schaffst!
.Ohne Liebe kann dir niemals
Erlösung werden! ‒
.Liebe der innersten Liebes-Sonne
rief dich einst vor Äonen ins Dasein aus sich
selbst, und nur Liebe führt dich auch wieder
in deine Urheimat zurück.
78 Das Mysterium von Golgatha
SEELISCHES WACHSTUM
Man spricht nicht umsonst von dem
Wachstum” der Seele, denn „die
Seele” ist, wie ich an anderen Orten schon
genugsam dargelegt habe, ein nur den höch‐
sten inneren Sinnen erkennbarer Orga
nismus, gebildet aus unzähligen
Einheiten: den „Seelenkräften”,
oder den richtig aufgefaßten „Skandhas
indischer Terminologie. ‒
.Im Leichnam auf dem Seziertisch kann ge‐
wiß kein Anatom die Seele finden, wohl aber
in sich selbst, wenn er sein Selbst‐
erfühlen nicht verkümmern ließ!
.Die Seele ist des Wachstums fähig,
wie sie der Abnahme fähig ist, ja wie
sie, selbst während des körperlichen Lebens,
fast völlig entschwinden kann,
ohne deshalb die Funktion der körperlichen
Organe unmöglich zu machen.
.Das Wachstum der Seele kann auch zum
Stillstand kommen, und es kann eine
81 Das Mysterium von Golgatha
gewisse Sterilität eintreten, die jedes weitere
Wachstum ausschließt.
.Nicht umsonst ruft frommer Glaube dem
Menschen zu: „Rette deine Seele!” ‒ ‒
.Oder: „Was nützte es dem Menschen, wenn
er die ganze Welt gewönne, aber Schaden
litte an seiner Seele!”
Ja, man kann wahrlich an seiner Seele
„Schaden leiden”, und sehr viele leiden
Schaden an der Seele, ohne auch nur im min‐
desten dessen zu achten, ja sie glauben gar
oft, sogar mitten im seelischen Wachstum zu
stehen und ahnen nicht, daß das, was sie
für ihre „Seele” halten, nichts anderes ist,
als der feinere unsichtbare Or
ganismus ihres physischen Er
denkörpers, ein Organismus, der wohl
segensreich wirken kann, wenn er durch
die Kräfte der Seele geleitet wird, wenn
er der Seele dient, der aber das Wirken
der Seele auch unsäglich hemmen kann,
wenn er selbstherrlich in einem Men‐
schen sich Geltung verschafft.
82 Das Mysterium von Golgatha
.Jeder, der das gemeinhin als „religiös” be‐
zeichnete Streben seiner Seele umzulenken
sucht und beispielsweise in der Kunst,
im ästhetischen Empfinden, im
wissenschaftlichen Erkennt
nistrieb, oder in der Freude an der
Natur” seine „Religion” sieht, ist ein
Sklave dieses feineren physischen Organismus
geworden und schwebt in größter Gefahr, zum
Mörder an seiner Seele zu werden. ‒
.Wenn auch ein Teil seiner Seelenkräfte noch
weiter in ihm tätig ist, so vermag er sie doch
nicht in sich als individuelle Seele zu
runden, und wenn ihm dereinst mit dem
physischen Körper auch dessen feinere Kräfte
entzogen sind, wird er Zeiträume, die nach
Jahrtausenden irdischer Zeitbestim‐
mung zählen, in einem dumpfen, quälenden
Halbbewußtsein zubringen müssen, bis es sei‐
nen hohen Helfern möglich wird, seine Seele
wieder zum Leben zu „erwecken”, damit er,
„erwacht” wahrhaft zu leben beginne, dort, wo
nur der in voller Bewußtseinsklarheit zu le‐
ben vermag, dessen Seelenkräfte sich in
ihm zur individuellen Seele einten. ‒ ‒
83 Das Mysterium von Golgatha
Deshalb ist gesagt: „Wirket, solange es
Tag ist, denn es kommt die Nacht, da
niemand wirken kann.” ‒
.Sie kommt aber nur für den, der das
ihm anvertraute Gut der Seelenkräfte hier
nicht zu mehren verstand.
.Jedem, der hat, wird gegeben, daß
er im Überfluß habe, dem aber, der
nicht hat, wird noch genommen,
was er allenfalls zu haben glaubt, ‒ wie
wenig es auch sei! ‒
.Wer, wie „der getreue Knecht”, das von
seinem Herrn Empfangene zu vermehren
weiß, dem gilt das Wort: „Weil du über
weniges getreu gewesen bist, will ich dich
über vieles setzen.”
.Wer aber sein Pfund vergräbt und nur
wiederbringt, was ihm von Anfang an ge‐
geben war, der wird nach den ewigen Ge‐
setzen „die äußerste Finsternis” erleben müs‐
sen: die aller Seelenwärme beraubte Region,
in der „Heulen und Zähneklappern” herrscht
vor innerer Kälte und Verdüsterung. ‒ ‒
84 Das Mysterium von Golgatha
Die hier herangezogenen Worte der Evan‐
gelien sind nichts anderes als bildhaft ge‐
staltete, lebendige Darstellungen der Wir‐
kungsweise ewiger Gesetze.
.rperliches können wir auch wahr‐
nehmen ohne die Seele, wenn auch die
durch die Seele geleitete körperliche
Wahrnehmung wesentlich andere Bewußt‐
seinseindrücke ergibt, als sie die feineren
physischen Kräfte vermitteln können.
.Der Glaube des Volkes, der kein Leben
des Körpers ohne „Seele” kennt, meint hier
irrigerweise mit dem Wort „Seele” nur jene
feineren, fluidischen, physi
schen Kräfte, auch wenn dabei gleichzeitig
diesen Kräften Eigenschaften zugeschrieben
werden, die nur der wirklichen Seele zu‐
kommen.
.Möchte nur der Körper, seelenlos
geworden, auch „leblos” sein, ‒ dann
würden nicht so viel Seelenlose dieses Erden‐
dasein um seine Wärme bringen, und die War‐
nungen der Evangelien wären gegenstandslos
gewesen!
85 Das Mysterium von Golgatha
.Während aber de facto der Körper auch
ohne Seele sein Bewußtsein hat, wäh‐
rend auch der Seelenlose sich selbst als kör‐
perlich bedingtes „Ich” ‒ etwa im Sinne
Stirners ‒ empfindet, ist es völlig
unmöglich für uns, das Reich des reinen
Geistes, die realen geistigen
Welten, ohne Seele wahrzunehmen. ‒
JenesIch”, das allein auch dort
wahrzunehmen vermag, ist selbst eine
Seelenkraft, die von einem Funken ewigen
Geisteslichtes durchlebt und durch‐
leuchtet wird für alle Ewigkeit, sobald sie
einmal die Fähigkeit in sich erwachend er‐
kannte, diesem ewigen Geistesfunken ewiger
leuchtender „Leib” zu werden, sobald, um
mit anderen Worten zu reden, der „lebendige
Gott” sich in diesem „Ich” die „Geburt” be‐
reiten konnte.
.Um diesesIch” müssen alle anderen
Seelenkräfte sich kristallisieren, ‒ ihm müs‐
sen alle Seelenkräfte geeinigt werden,
soll der Mensch vollbewußt das ewige Reich
des wesenhaften Geistes betreten können! ‒
86 Das Mysterium von Golgatha
.Was im gewöhnlichen Sprachgebrauch als
„Geist” bezeichnet wird, ist Verstand oder
Klugheit, Intellekt und äußeres
Wissen. ‒
.Es sind die Äußerungen der feineren
physischen Kräfte, die im Erdenkörper
verborgen sind!
.Mit der „wesenhaften”, substantiel
len Region des ewigen Geistes,
von dem ich hier rede, hat dieser „Geist”
des alltäglichen Sprachgebrauchs nicht das
mindeste zu schaffen, so wenig wie das,
was man die „Seele” der Tiere nennt,
in irgendeiner Beziehung zu dem ewigen,
flutenden Meere der Seelen
kräfte steht, von dem hier die Rede ist,
wenn ich vom Wachstum der Seele
zu sprechen habe. ‒ ‒
.Es gibt eine Menge angeblich „seelischer”
Regungen auch des „Menschentieres”, in denen
es von manchen anderen Tierarten sogar er
heblich übertroffen wird, aber diese
Seeledes Tieres, die auch dem phy‐
87 Das Mysterium von Golgatha
sischen Menschen natürlich eignet, macht we‐
der Mensch noch Tier zum Erleben des gei
stigen Reiches fähig, wie gleicherweise auch
der hochentwickelte Intellekt zur Er‐
reichung des Bewußtseins im wesenhaf
ten Lichte des Geistes „nichts
nütze” ist.
Man läßt sich allzu sehr dadurch täuschen,
daß das Gehirn während unseres irdischen
Lebens für alle Bewußtseinsarten zum Trans‐
formator wird, so daß sowohl die Äußerungen
der feineren physischen Kräfte
des Körpers, mögen sie irrtümlich als
„geistige” oder als „seelische” Äußerungen
gewertet werden, wie auch das wirkliche
Erleben des ewigen Reiches der
Seele und das Erleben des we
senhaften Geistes, stets im Ge
hirn registriert werden, solange ein gesun‐
des, lebendes Gehirn vorhanden ist.
.Wenn aber hier das gleiche Instrument
recht verschiedene Bewegungen re
gistriert, so darf man eben darum nicht
88 Das Mysterium von Golgatha
alle Unterscheidung beiseite lassen,
muß vielmehr in sich selbst „ablesen” lernen,
welche Art der Bewegung jeweils den Ge‐
hirnapparat berührt.
.Will man für das Wachstum der
Seele sorgen, so muß man wohl oder übel
allen Wert darauf legen, möglichst für eine
solche Einstellung des Gehirns zu sorgen,
der keine echte seelische Regung, kein Be‐
rührtwerden durch die Kräfte der Seele je‐
mals entgeht.
.Es ist darum durchaus nicht nötig und wäre
auch nur sehr unvollkommen möglich, daß
man die Empfindlichkeit des Gehirns für
andersartige Bewegungen abstumpft,
denn während wir hier als Erdenmenschen
leben, sind auch die Bewegungen der feineren
physischen Kräfte des Körpers, wie auch
seine gröberen Kräfte, für uns von Wich‐
tigkeit und sollen der Wachsamkeit des Ge‐
hirns keinesfalls entgehen.
.Aber: „Suchet vor allem das Reich
Gottes” und das, was es verlangt: „seine
89 Das Mysterium von Golgatha
Gerechtigkeit”, als Folge der rechten Erfül‐
lung ewiger Gesetze, „so wird euch alles
übrige beigegeben werden”.
Es zeigt eine bedenkliche Schwäche an,
wenn man glaubt, dem Leben der Seele nur
dann gerecht werden zu können, wenn man
„die böse Welt mit ihren Händeln” flieht,
um ja durch nichts anderes gestört zu werden!
.Nur durch steten Gebrauch und durch
stete Übung an Widerständen er‐
starken körperliche Kräfte, und mit
den Kräften der Seele ist es in
diesem Punkte nicht im mindesten
anders bestellt!
.Wer nicht mitten im Alltags
leben, ohne Absonderung und
ohne weltverneinende Allüren,
dem Wachstum seiner Seele zu
dienen weiß, der wird gewiß kein
seelisches Wachstum erreichen
und würde er auch der Genosse
der Tiger und Schlangen in in
90 Das Mysterium von Golgatha
dischen Dschungeln, oder ließe
er sich auch für den Rest seines
Erdenlebens in tibetanischen
Klöstern vermauern! ‒
.Ich könnte, wenn es mir vom Lebensurgrund
meines ewigen Geistbewußtseins her erlaubt
wäre, ganze Bände füllen mit Berichten mei‐
ner Erlebnisse in jenseitigen Erkenntnisbe‐
reichen, soweit sie den Zustand solcher Büßer
und Walderemiten nach erfolgtem Verlassen
des Körpers der Erde erhellen.
.So viel ist mir aber zu sagen verstattet: ‒
daß kein einziger dieser Unglücklichen
nach seinem Übergang jenes Ziel fürs erste
erreicht, das er hier schon erreicht zu
haben glaubte, nachdem es ihm die
Äußerungen seiner feineren fluidi
schen Körperkräfte glaubhaft vor
gegaukelt hatten. ‒
Mitten im Weltleben, wohin man auch ge‐
stellt sein mag, muß man dem Wachstum
seiner Seele dienen!
91 Das Mysterium von Golgatha
.Absonderung kann zu Zeiten von
Nutzen sein, sobald man zu fühlen beginnt,
daß die Einstellung auf das Empfinden wirk‐
licher Seelenkräfte verloren zu gehen droht,
aber die Absonderung soll nur kürzeste
Zeit währen und nur dazu dienen, „die
Einstellung wieder zu finden.” So‐
bald man sie gefunden hat, kehre man wieder
zu seinem gewohnten Leben zurück!
.Es sind nur sehr wenige Menschen auf
Erden, denen dauernde Absonderung
nicht schadet, und diese wenigen leben trotz
aller Absonderung doch im Zusammen
sein mit ihresgleichen und würden
nicht abgesondert leben, wenn sie nicht
Dinge zu vollbringen hätten, zu deren Voll‐
bringung ein äußerer Zustand geschaffen wer‐
den muß, der im Welttreiben sich nicht auf‐
rechterhalten läßt.
.Sie sind nur in der Einsamkeit, weil sie in
einem „Tempel” wirken, der allen Geräuschen
der Welt entrückt sein muß, und sie bleiben
nur so lange in dieser Weltferne, als jeweils
ihr Werk es verlangt, suchen sie aber keines‐
92 Das Mysterium von Golgatha
wegs etwa als „Flüchtlinge vor dem Leben”
auf. ‒
.Das Wachstum der Seele wird auch nicht
gefördert durch tiefgründige Stu
dien, durch philosophische Er
kenntnisse, oder durch das For
schen nach den unbekannten
Kräften der Natur!
.Dies alles kann man treiben und dabei
längst seine Seele verloren haben!
.Ein Ackerknecht etwa oder ein Lastträger,
kann das höchste Wachstum der Seele genau
so erreichen wie der Gelehrteste unter den
Männern der Wissenschaft, ‒ aber keiner
kann es erreichen, der sich den Pflich
ten seines Standes entzieht,
in der irrigen Meinung, man könne dem
Wachstum seiner Seele besser dienen,
wenn man die Welt oder wenn man Beruf
und Stand verläßt! ‒
Wer da suchet, seine Seele zu erhalten,
der wird sie verlieren; und wer sie verlieren
wird, der wird ihr zum Leben verhelfen!”
93 Das Mysterium von Golgatha
.Dieses dunkle Wort will unter anderem sa‐
gen, daß ein „Verlassen der Welt”, um die
Seele zu finden, nie ans Ziel führen
kann, daß das Wachstum der Seele viel‐
mehr nur dort zu finden ist, wo man es
am wenigsten zu finden hofft: ‒ mitten
im tätigen Leben der Welt. ‒
.Nur durch das praktische Verhal
ten im Alltagsleben können wir un‐
sere Seele zum Wachstum bringen! ‒
Es gibt keine Möglichkeit, der Seele al
lein zu dienen und dabei das Leben des
Alltags auszuschließen!
.Es ist nur Feigheit und Bequemlichkeit oder
eine irrige Philosophie, wenn man sich ein
Leben erträumt, das ausschließlich dem Wachs‐
tum der Seele gewidmet und der Welt abge‐
wandt, das zu erreichen vermögend sein soll,
was für den Menschen der Erde nur im
steten Ringen mit den Kräften
der Welt erreichbar ist. ‒
.Man kann wohl die sterblichen,
feineren, fluidischen Kräfte
94 Das Mysterium von Golgatha
des Körpers fördern, wenn man dem
Leben der Welt entflieht, aber niemals
wird je ein Mensch seiner Seele zum
Wachstum verhelfen, wenn er nicht
täglich aufs neue ihre Kräfte er
probt, an den Widerständen, die
ihm die „Außenwelt”, die ihm das Treiben
der Vielen, die ihn umgeben, schafft! ‒
So ging auch der „große Liebende” in seinem
Erdenleben oftmals „auf den Berg” oder in
die Einsamkeit, um zu „beten”.
.So lehrte er: „Wenn du beten willst, gehe
in deine Kammer und schließe die Türe zu.” ‒
.Aber niemals lehrte er den Alltag flie‐
hen, niemals hat er selbst das rege
Leben seiner Zeit und seines Volkes feige
gemieden.
.Er aß und trank, was andere aßen und
tranken, und feierte mit ihnen ihre Feste.
.Bei „Sündern und Zöllnern” war er zu
Gast, wie bei denen, die sich für die Frömm‐
95 Das Mysterium von Golgatha
sten hielten. ‒ Bei Schriftgelehrten liegt er
zu Tische, wie im Hause der früheren He‐
täre. ‒
.Allüberall ist ihm „das Himmel
reich nahe”, da es in ihm ist...
.Er lebt die Lehre, die er seinen Schülern
kündet, ‒ zeigt ihnen, wie der Seele
Wachstum Leben braucht und Tat.
*           *
*
96 Das Mysterium von Golgatha
GEISTIGE FÜHRUNG
Unzählige sind es, die in diesen Tagen nach
geistiger Führung verlangen, und
wiederum Unzählige, die unter „geistiger Füh‐
rung” zu leben glauben, während sie doch
nur Einflüssen unterstehen, die in dem wei‐
ten Gebiet „medialer” Manifestationen ihren
Ursprung haben.
.Es tut not, wieder „die Geister unterschei‐
den” zu lernen! ‒
.Nicht jede Stimme, die im Innern ver‐
nehmbar wird, ist die Stimme eines geistigen
Führers, die Stimme göttlicher Leitung!
.Weit mehr als die meisten ahnen, ist heute
eine Abart medialer Bekundungen verbreitet,
die es den lemurenhaften Bewohnern des un‐
sichtbaren Teiles der physischen Welt nur
allzu leicht macht, ihrem Trieb nach Aner‐
kennung im Bewußtsein des Menschen Erfolg
zu sichern, indem sie die Fähigkeit des Schrei‐
benkönnens bei ihren Opfern mißbrauchen,
99 Das Mysterium von Golgatha
bald unter Ausschaltung der Gehirn‐
kontrolle, bald durch usurpierte Benützung
der Gehirntätigkeit.
.Im Grunde kann jeder Mensch zum
spiritistischen „Medium” werden, wenn auch
die Grade der Mediumschaft außerordentliche
Verschiedenheit aufweisen.
.Es ist dabei völlig gleichgültig, ob man sich
bewußt als spiritistisches Medium „ent‐
wickeln” will, oder ob man glaubt, fern
von allen, dem sogenannten „Spiritismus” zu‐
zuzählenden Erscheinungen zu stehen.
Jeder Mensch, der einer „inneren Stimme”
vertraut, die Passivität von ihm ver‐
langt, ‒ die ihn also bestimmen will, daß
er sich ihren Einsprachen füge, daß er sie
als suggerierten Rat, ja gar als inneren
Befehl betrachte, setzt sich der Gefahr aus,
ein Höriger jener Lemurenwesen, ein spiri‐
tistisches „Medium” zu werden, und er ist
es in jedem Falle bereits, wenn seine Hand
gar schon „automatisch” zu schreiben be‐
100 Das Mysterium von Golgatha
ginnt, einerlei, welchen Inhalt das Geschrie‐
bene aufweisen mag. Je nach der Art seines
Weltbildes werden sich ihm die seiner Kon‐
trolle spottenden Wesen der Zwischenwelten
darzustellen suchen.
.Der Frommgläubige wird von „Engeln”
und „Heiligen”, ja von „Christus” oder gar
„Gott-Vater” Führung zu erhalten glauben,
der Anhänger der neueren „Theosophie” wird
sich unter der Leitung hoher „Mahâtmas”
fühlen, und andere wieder werden zu dem
Glauben verleitet, ihr eigenes „höheres Ich”,
ihre ewige aus dem Urborn Gottes entströ‐
mende Geisteswesenheit gäbe sich ihnen auf
solche Weise kund.
.(Als bezeichnendes Kuriosum möchte ich
hier die Tatsache erwähnen, daß mir von
nicht wenigen Fällen durch die Betroffenen
selbst berichtet wurde, in denen jene lemuren‐
haften Zwischenwesen es für gut hielten, ihren
Opfern den Glauben beizubringen, ihr „gei‐
stiger Führer” sei „Bô Yin Râ”. ‒ ‒ Wie
man sieht, kann man zu Würden kommen,
von denen man wirklich nichts ahnt!
101 Das Mysterium von Golgatha
.In einem solchen Falle hatten die Be‐
troffenen noch niemals meinen Namen ge‐
hört, ‒ wurden erst durch ihre vermeintliche
„geistige” Leitung auf meine Bücher verwie‐
sen, ‒ trugen erst Scheu, sie beim Buch‐
händler zu verlangen, während sie dann, als
es sich herausstellte, daß wirklich ein Autor
dieses Namens existiert, natürlich felsenfest
überzeugt wurden, unter meiner geistigen Füh‐
rung zu stehen...
.Die mir später vorgelegten, vermeintlich von
mir selbst bei der geistigen Leitung des Me‐
diums übermittelten Kommentare zu meinen
Schriften waren nicht einmal schlecht, hielten
sich aber freilich ganz auf dem Vorstellungs‐
niveau der automatisch Schreibenden.
.In einem anderen Falle wurde ich gar mit
den unflätigsten Briefen traktiert, als ich den
auf spiritistische Weise entstandenen Irrtum
aufzuklären suchte, und man leistete sich
allen Ernstes die köstliche Behauptung, ich
sei gar nicht „der wirkliche” Bô Yin
Râ: „der verehrungswürdige Meister”, den
man selbst als „Führer” kenne und der
meine Bücher geschrieben ha
102 Das Mysterium von Golgatha
be, ‒ wobei freilich ein gewisser Teil dieses
Satzes durchaus der Wahrheit entsprach.
.Zu solchen Torheiten können Menschen, die
sonst sehr wohl über Urteilsvermögen ver‐
fügen, durch die Beeinflussung ihrer „Spirits”
veranlaßt werden.)
Gutgläubige „Spiritisten” haben sich nun
die wunderschöne Lehre ersonnen, daß es un‐
ter ihren „Geistern” wohl recht betrügerische,
ja auch alberne und possenhafte Naturen gäbe,
aber ebenso fänden sich solche voller Güte,
Liebe und Erhabenheit.
.Als Unterscheidungsmerkmal werden in aller
Naivität die „Offenbarungen” der „Geister”
selbst angesehen, und wenn gar noch in sol‐
chen Äußerungen vor Schlechtem ge‐
warnt oder Gutes angeraten wurde,
dann gilt es den rechtgläubigen Seelen als
einwandfrei erwiesen, daß sie es mit „guten”
Geistern zu tun hätten.
.Ach, wäre nur alles so einfach, wie es
sich in manchen Gehirnen darstellt! ‒
103 Das Mysterium von Golgatha
.Vielleicht wäre die in solchen Konventikeln
geächtete „Wissenschaft” dann doch nicht tö‐
richt genug, die spiritistische Hypothese ab‐
zulehnen, und wäre längst mit fliegenden
Fahnen zu den spiritistischen Gemeinden über‐
getreten!? ‒
.Statt dessen aber gibt selbst ein Forscher
wie Crookes am Ende seiner erfolgreichen
Experimente die Erklärung ab, daß er wohl
überzeugt sei, oft mit unsichtbaren
Wesen experimentiert zu haben, daß er
aber die spiritistische Hypothese, es handle
sich um gestorbene Menschen, bzw. deren
weiterlebende Seelen, keineswegs gel‐
ten lassen könne. ‒ ‒
.Und Crookes gilt jedem waschechten
Spiritisten seltsamerweise auch heute noch als
hervorragender Eideshelfer!
.Man möchte ja mit Freuden den fanati‐
sierten Gläubigen spiritistischer Zirkel ihr
Heiligtum unangetastet lassen, wenn nicht
ein Strom des Unheils von ihm
ausginge, von dem Psychiater und selbst
104 Das Mysterium von Golgatha
die Kriminalistik ein sehr trauriges
Lied zu singen vermögen. ‒ ‒
.Deshalb kann man es gar nicht oft genug
betonen, daß an echten spiritistischen Ma‐
nifestationen nichts anderes Beweis‐
kraft hat als die Tatsache der Ma
nifestationen an sich, und sie be‐
weist lediglich, was auch Crookes mit
Recht als bewiesen ansah, daß unsicht
bare Wesenheiten unter Benut
zung menschlicher Organe ge
wisse Wirkungen hervorbringen
können, die das Bewußtsein des
Erdenmenschen zu beeindrucken
vermögen.
.Das ist aber auch alles „Bewiesene”! ‒ ‒
Über die Art dieser unsichtbaren Wesen‐
heiten vermag das Experiment keine Klar‐
heit zu schaffen, und geradezu kindlich-töricht
ist die Annahme, die durch ein Medium er‐
haltenen Äußerungen dieser Wesen oder
ihre Angaben über sich selbst seien
105 Das Mysterium von Golgatha
hinreichend, um über ihre Art sichere Aus‐
kunft zu geben. ‒
.Ich glaube doch auch nicht ohne weiteres
einem Menschen, der mich telephonisch an‐
ruft und behauptet, „der Kaiser von China”
zu sein.
.Bei „spiritistischen” Manifestationen liegen
aber für den, der die Fehlerquellen und Be‐
trugsmöglichkeiten kennt, so gut wie gar
keine Sicherungen dagegen vor, durch den
Kommunikator in unverschämtester Weise
düpiert zu werden.
.Wahrhaftig, die „Unterscheidung der Gei‐
ster”, von der Paulus spricht, als von einer
Gabe des Geistes Gottes, ist denn doch et
was anderes, als eine derart übergläu‐
bige Bescheidung! ‒ ‒
Ihr werdet von den unsichtbaren, lemuren‐
haften Zwischenwesen des unsichtbaren Teiles
der physischen Welt ebenso die erhaben
sten Belehrungen erhalten, wie die tri
vialsten Äußerungen, ja die gemein
106 Das Mysterium von Golgatha
sten Unflätigkeiten, je nachdem es
den unsichtbaren und jeder Kontrolle ent‐
zogenen Kommunikatoren mehr Behagen be‐
reitet.
.Stellt nur einmal eure erhabenen „geistigen
Führer”, von denen ihr nur die salbungs‐
vollsten Reden gehört habt, auf die Probe, ‒
sagt ihnen, daß sie Betrüger sind, wenn
sie sich als gestorbene Menschen oder geistige
Lehrer ausgeben, daß ihr nichts mehr
mit ihnen zu tun haben wollt,
und ‒ ihr werdet zu eurem Entsetzen sehen,
welchen „Freunden aus der Geisterwelt”
ihr euch anvertraut hattet! ‒ ‒
.Es fehlt nicht an ehemaligen „Spiritisten”,
die durch recht drastische Erfahrungen doch
noch geheilt wurden, und sie alle können be‐
stätigen, was ich hier sage.
.Trotzdem verstehe ich, wenn ihr der
Täuschung erliegt!
.Ihr werdet Äußerungen erhalten, die es sehr
begreiflich erscheinen lassen, wenn ihr glaubt,
mit „lieben Verstorbenen” in Verbindung zu
107 Das Mysterium von Golgatha
sein, denn diesen Wesen ist gar manches wie
ein aufgeschlagenes Buch, was euch dicht ver‐
schleiert ist, und ihrer Schlauheit ist es ein
Leichtes, herauszufinden, was euch am besten
überzeugen könnte. ‒
.Es ist ihnen nichts „heilig”, sie kennen
kein „Gut” und kein „Böse”!
.Sie sind nur erfüllt von dem Drange, von
euch als reale Existenzen aner
kannt zu werden und euch gehörig zu
imponieren, einerlei, ob sie dies durch er‐
habene Reden, durch gemeine Scheltworte,
durch Prophezeiungen und gute Ratschläge
oder durch Foppereien und Albernheiten er‐
reichen.
.Glaubt ihr, auf diese Weise mit euren Ver‐
storbenen in Verkehr zu kommen, ‒ auch
im Zweifel kann schon der Wunsch, dies
glauben zu können, verborgen sein, ‒ so
werdet ihr auch nach dieser Richtung hin
vorzüglich bedient werden, wobei allerdings
auch die Möglichkeit immerhin besteht,
daß die euch täuschenden Zwischenwesen des
Unsichtbaren der physischen Welt die Über
108 Das Mysterium von Golgatha
mittler von „Botschaften” werden, die
aus dem Vorstellungsvermögen
Gestorbener stammen, deren Aufstieg aus nie‐
derer geistiger Entwicklungsstufe noch nicht
begonnen hat.
.Niemals aber werdet ihr mit den
Gestorbenen selbst, einerlei, welcher
Stufe der Geistesentfaltung sie angehören, auf
solche Weise in Verkehr gelangen!
.Niemals!! ‒ ‒
Solange die Erde Menschen trägt, waren un‐
sichtbare Wesenheiten der physischen Welt
auch bestrebt, sich als „geistige Führer” an‐
zubieten, wo immer nach solcher Führung ver‐
langt wurde.
.Ja, noch weit höhere Ambitionen wur‐
den ihnen durch den Erdenmenschen erfüllt,
und so mancher „Wunder” wirkende „Gott”
alter und, in gewissen Kulturkreisen, auch
gegenwärtiger Zeit, ist in ihren Reihen zu
suchen, die gar viele Artunterschiede
kennen, vom tierhaften Trieb bis zu weit
über Menschenmaß entwickelter Intelligenz. ‒
109 Das Mysterium von Golgatha
.Es ist oft sehr verständlich, daß der Nicht‐
unterrichtete sich ehrfurchtsvoll und vertrau‐
end der hypnotischen Einwirkung
dieser Wesen ‒ und um nichts anderes han‐
delt es sich im Grunde ‒ hingibt.
.Er beachtet es nicht oder hält es für selbst‐
verständlich, daß seine anscheinend so er‐
habene „geistige” Führung immer mehr Be‐
schlag legt auf seinen ‒ Willen, daß sie
in wohlberechneter Steigerung sich dieses Wil‐
lens zu bemächtigen sucht. ‒
.Zuerst mögen oft überraschend richtige
Ratschläge, besonders solche, die das
äußere Leben betreffen, gegeben werden,
oder auch Voraussagungen, deren
richtiges Eintreffen noch weit mehr in Stau‐
nen setzt.
.Ist das Opfer dann hinreichend in seinem
Vertrauen gefestigt, dann ergehen nicht selten
Aufträge”. ‒
.Es wird ihm eingeredet, daß es „eine be‐
sondere Mission” habe, daß es dies oder jenes
vollbringen müsse, und die seltsamsten Tor‐
110 Das Mysterium von Golgatha
heiten sind schon infolge solcher vermeintlich
„geistiger” Aufträge zur Durchführung ge‐
langt.
.In anderen Fällen aber, wo allzu unge‐
stümes Vorgehen dazu führen könnte, daß
das schon gut umgarnte Opfer sich dem Ein‐
fluß der unsichtbaren Parasiten noch entwin‐
den würde, begnügt man sich, nur die Rolle
des erhabenen „geistigen Führers” zu spielen
und unterläßt wohlweislich alles, was den Ge‐
nasführten stutzig machen könnte.
.Der Unkundige ahnt nicht, mit welcher in‐
stinktiven Schlauheit seine anscheinen‐
den „geistigen Freunde” zu Werke gehen. ‒
Er ahnt nicht, daß sie um seine geheimsten
Neigungen und Wünsche wahrlich besser Be‐
scheid wissen, als er selbst, und daß sie alles
ausnützen, was ihn dazu bestimmen kann,
sich freiwillig als Beute zu übergeben. ‒ ‒
.Diese Freiwilligkeit ist aber nötig,
wenn ein Mensch den unsichtbaren Zwischen‐
wesen der physischen Welt anheimfallen soll,
und damit ist auch zugleich gesagt, wie eine
111 Das Mysterium von Golgatha
derartige Abhängigkeit mit aller Sicherheit
vermeidbar wird. ‒
Wer wahrhaftige geistige Führung sucht,
der werde vor allem seiner selbst sicher
und wisse, daß ihm niemals ein wirklicher
„Führer” aus der Welt des Geistes
nahen wird, solange er sich selbst genügen
läßt an einer Pseudoführung, wie ich sie hier
ausführlich schildern mußte!
.Wirklich im Geistigen „führen” kann
nur einer aus dem Kreise der Leuchten
den des Urlichtes auf dieser Erde,
und da wieder jeweils nur der, dem solche
Führung im Einzelfalle anvertraut ist, weil
seine eigenen Seelenschwingungen denen des
Suchenden entsprechen, weil beider Empfin‐
dungsrhythmus sich in parallelen Bahnen be‐
wegt. ‒ ‒
.Niemals aber wird ein solcher „Füh‐
rer” auf irgendeine Art heimlich den Wil
len des Suchenden dem seinen unterzuord‐
nen bestrebt sein, niemals wird er diesen Wil‐
len auf irgendeine Weise auszuschalten suchen!
112 Das Mysterium von Golgatha
.Stets wird er es dem eigenen Willensent‐
scheid des Suchenden überlassen, ob er
der stillen Ein-Gebung, die ihm vermittelt
wird, folgen mag oder nicht.
.Seine geistige und fast unmerkbare „Füh‐
rung” ist immer ein Teilnehmenlassen
an der eigenen Erkenntnis, niemals ein auf‐
gedrungener Rat, obwohl sie indirekt voll
guten Rates ist. ‒
.In keinem Falle wird er dem Suchen‐
den irgendeine Handlungsweise, irgendein Ver‐
halten „suggerieren”.
.Nie wird solche Führung den Suchen‐
den mit einer angeblichen „Mission” betrauen,
nie wird sie ihn zu irgendwelchen Großtaten
in der Außenwelt aufrufen, nie wird sie sein
äußeres Dasein irgendwie zu beeinflussen su‐
chen...
.Sie wird auch niemals durch „Vorhersagen”
oder ähnliches sich Kredit verschaffen wollen,
wird keinen „Namen” mitteilen und keine Rat‐
schläge in bezug auf irdische Geschehnisse
geben.
113 Das Mysterium von Golgatha
.Solche Führung wird für den Suchenden
stets nur ein Teilnehmen an dem in
neren Leben eines in Gott Voll
endeten sein, genau dem Grade der Emp‐
findungsfähigkeit angepaßt, der bei dem Su‐
chenden bereits gegeben ist.
.Der „Führer” wird mit seiner quasi „pas‐
siven” Ein-Sprache da sein, wenn das Ver‐
halten des Suchenden ihn „ruft”, und der
Suchende wird nichts von dem Dasein des
Führers bemerken, sobald er seiner Führung
entraten zu können glaubt.
.Wie ein im Innersten verbundener, mit ihm
Eines gewordener Freund wird er den Su‐
chenden geleiten, ohne sich selbst anders als
durch sein eigenes Innenleben im
Geiste zu offenbaren, als „Vor-Bild” des Su‐
chenden, als Einstrahlung eines geistigen Seins,
das durch seine Existenz allein wirkt,
ohne eines Frage- und Antwortspieles zu be‐
dürfen. ‒ ‒
Wer solche wahrhaft geistige Führung
sucht, der halte sich ferne jeder Neugier hin‐
114 Das Mysterium von Golgatha
sichtlich des individuellen Außendaseins seines
Führers!
.Der Suchende vermeide alle „Fragen”,
die sich auf seine oder seines geistigen Führers
äußeren, irdischen Lebensumstände beziehen
oder gar auf sonstige Geschehnisse der Außen‐
welt!
.Ja, er stelle auch in rein geistigen
Dingen niemals „Fragen”, sondern warte
ruhig, in innerer Sammlung, bis ihm durch
Ein-Sicht in seines geistigen Lehrers inner‐
stes Erkennen Aufschluß wird über
jene Dinge, die ihm bislang noch ungeklärt
erschienen.
.Der wahrhafte geistige Führer weiß
ohne jede Anfrage, was in dem Suchen‐
den nach Klarheit verlangt, aber er ist auch
gehalten, Zeit und Situation zu be‐
achten, die für den Suchenden die Bedingungen
bieten, restlose Klärung in sich aufnehmen zu
können, denn nicht zu jeder Zeit
und in jeder Lage ist die Seele fähig,
das Bild, das die Strahlen geistigen Lichtes
115 Das Mysterium von Golgatha
ihr dauernd einprägen können, ohne Ver‐
zerrung wirklich in sich aufzunehmen.
.Man darf auch gewiß nicht etwa die gei‐
stige Leitung durch einen der Leuchtenden
des Urlichtes auf dieser Erde erwarten, so‐
lange man noch selbst in dem Dünkel be‐
fangen ist, man sei im Besitz unfehlbar rich‐
tiger Erkenntnis, und der Führer müsse sich
selbstverständlich dieser so ungemein „logi‐
schen” Erkenntnis unterordnen.
.Auch dann darf man keine wirkliche
geistige Führung zu erreichen glauben,
wenn man sie nur so nebenher ge‐
nießen möchte und dem Geistigen noch
so ferne steht, daß man den realen Geist
mit Gehirnakrobatik verwechselt, ihn erreich‐
bar glaubt auch ohne Führung, ja im
Grunde gesonnen ist, die erwartete Führung
einer spitzfindigen Dialektik als Material aus‐
zuliefern. ‒ ‒
.Nur „wer aus Gott ist, hört Got
tes Wort”, und die Lichtfülle des „Wor
tes”, das „bei Gott” und das „Gott” ist,
116 Das Mysterium von Golgatha
wird allein vermittelt, wenn ein wahr‐
haft geistiger Führer im Leben einer
Seele in Erscheinung tritt. ‒
Möchten meine Worte, die aus der Er
fahrung gesprochen sind, und nachdem
es gelang, so manchem zu helfen, recht viele
aus der polypenhaften Umklammerung be‐
freien, in die sie sich selbst begeben haben!
.Möchten durch diese Worte möglichst viele
Suchende, die dazu reif sind, einer echten
geistigen Leitung entgegengeführt wer‐
den!
.Wer aber sein Heiligstes verletzt glaubt
durch das, was ich hier sagen mußte, der
möge mir einstweilen verzeihen und seines
ehrlichen Strebens bewußt, noch geduldig
warten, bis auch ihm die Augen ge
öffnet werden!
.Auch von dem hohen Gesalbten aus Na‐
zareth wird erzählt, wie ihn „der Teufel”
mehrfach versuchte.
117 Das Mysterium von Golgatha
.Hartes Fasten hatte in dem Geweihten
unerwartet „mediale” Situation bewirkt.
.Er aber widerstand der Versuchung,
und von da an wußte er ‒ „Teufel aus
zutreiben”, die nichts anderes waren, als
eben jene Lemurenwesen des unsichtbaren
Bereiches der physischen Welt, vor denen
ich hier zu warnen habe.
*           *
*
118 Das Mysterium von Golgatha
OKKULTISTISCHE ÜBUNGEN
Seitdem der grobkörnigste philosophische Ma
terialismus abgewirtschaftet hat und die
Naturwissenschaften nicht mehr als allein‐
seligmachende Erkenntnisquellen gelten, tritt
so mancher, der früher den Himmel „Engeln
und Spatzen” überlassen zu können glaubte,
den Problemen des Übersinnlichen nahe, und
da er von seinem früheren Forschen her eine
Arbeitstechnik mitbringt, die dort zu Erfolgen
führte, so glaubt er auch ohne weiteres, diese
Technik, diese „Methode”, auf das ganz an‐
dersartige Gebiet des Übersinnlichen
übertragen zu können.
.Was er aber bestenfalls dabei erreicht, läßt
ihn nur zu bald erkennen, daß er hier mit
untauglichem Werkzeug hantiert.
.Entweder gibt er dann sein Forschen über‐
haupt auf, in der Meinung, dort, wo sein
Werkzeug nicht brauchbar sei, könne auch
nichts Reales zutage gefördert werden, oder
121 Das Mysterium von Golgatha
aber, er experimentiert weiter und verfällt
der unsichtbaren Region der physischen
Welt, die er dann für das gesuchte „Geistige”
hält. Da sie ihm nur sehr spärliche, zweifel‐
hafte Resultate liefert, so fängt er dann
früher oder später an, nachzuhelfen, indem
er durch spekulatives Denken ersetzt, was
ihm die Wirklichkeit schuldig bleibt.
Hier handelt es sich aber immer noch um
sehr ernst zu nehmende Leute, während sich
gleichzeitig auch ein Typus breit macht, der
nur den Schein der Wissenschaftlichkeit
raffiniert benutzt, um ein wüstes Mystagogen‐
tum zu propagieren, um Anhänger für die
liebe eigene Person oder für irgend einen in
seinem früheren, noch wirklich wissenschaft‐
lichen Streben sich nicht genug gewürdigt
fühlenden Gernegroß zu werben.
.Nun wird da schleunigst aus allem, was
man an mehr oder minder einwandfreier
Quellenliteratur zusammengelesen hat, eine
„Geisteswissenschaft” gebraut, und an diesem
Zaubertrank erlaben sich alle, bei denen es
122 Das Mysterium von Golgatha
rein wissenschaftlich trotz Doktorat und Wür‐
den doch nicht so recht auslangen wollte, und
die nun hier ein Gebiet vor sich sehen, auf
dem man sich nach dem gefeierten Vorbild
des „großen Lehrers”, recht frei von jeder
wissenschaftlichen Kontrolle, ergehen kann,
und, mir nichts, dir nichts, in den Ruf eines
großen „Eingeweihten” gelangt, wenn man
nur die „Übungen” recht eifrig betreibt, die
der Herr „Geheimlehrer” vorschreibt und de‐
ren er für jeden, der zu ihm kommt, eine reiche
Auswahl auf Lager hält. ‒ „Übungen”, die
aus den Exerzitien des Ignatius von Loyola,
aber auch aus den übelsten Traktaten okkul‐
tistischer Sudelköche des Orients und Okzi‐
dents mit gleicher Fingerfertigkeit und mit
gleicher Verantwortungslosigkeit herausgegrif‐
fen wurden. ‒
Was schadet es, wenn hier und da einer der
„Geheimschüler” im Irrenhaus landet, wenn
die armen Mädchen nahezu kanonischen Al‐
ters, die den „Geheimlehrer” umschwärmen,
hysterisch werden, oder wenn die allzu harm‐
losen Gläubigen völlig an Geist und Körper
zugrunde gehen!
123 Das Mysterium von Golgatha
.Die „Geheimwissenschaft” will ihre Opfer
haben, und der Herr Geheimlehrer hat sich
seine Getreuen ja längst so erzogen, daß sie
wie auf Kommando über den armen Ver‐
lorenen herfallen, und ihm alle Schuld an
seinem Mißgeschick aufbürden; denn beileibe
darf es nicht gewagt werden, an der Infalli‐
bilität des „großen Lehrers” zu zweifeln, sonst
könnte ja Gefahr drohen, daß man selbst
seine eigene schöne Position als Kardinal eines
solchen neuen Papstes verlieren würde, ja,
die ganze Zirkuspantomime, die da aufgeführt
wird, könnte ein ungewollt frühzeitiges Ende
finden.
.So regnet's denn „Übungen” auf „Übungen”
immer weiter, und die Massenpsychose steckt
an wie der Keuchhusten, denn es finden sich
ja immer noch genug hornartig widerstands‐
fähige Gehirne, die all diese Prozeduren aus‐
halten, und wer sie wirklich auszuhalten ver‐
mag, der ist dann dauernd gewappnet
gegen jede Einrede des gesunden Menschen‐
verstandes, gegen jede ernsthafte psycholo‐
gische Kritik an dem, was in ihm vorgeht; ‒
er kann gar nicht mehr anders wollen, als
124 Das Mysterium von Golgatha
der „große Lehrer” will, und dieser will be‐
scheidenerweise ja nichts anderes, als die Welt
zu seinen Füßen sehen, auf welche Art
das auch erreicht werden mag.
Doch sehen wir einmal von solchen Clowns‐
possen ab, die schließlich nur entstehen konn‐
ten, weil die Zeit reif dazu war und weil un‐
sere Zeit krank ist, elend krank,
‒ so daß sie sich in ihrer Not, aus der ihr
die ordentlichen Ärzte nicht mehr recht hel‐
fen können, gierig auf die Pillen und Schmier‐
pflaster der Quacksalber stürzt.
.Wir wollen hier vielmehr ganz im allgemei‐
nen untersuchen, welcher wirkliche Wert viel‐
leicht doch „okkultistischen Übungen” zu‐
kommen könnte, denn auch außerhalb
der oben gekennzeichneten Kreise gibt es ja
genug Leute, die alles Erdenkliche und Un‐
erdenkliche von „okkultistischen Übungen”
erwarten, oder sich selbst mit den törichte‐
sten Zeremonien und seelischen Turnkunst‐
stücken abquälen, weil sie hoffen, auf diese
Weise der Weltordnung ein Schnippchen zu
125 Das Mysterium von Golgatha
schlagen und „das Zaubern” zu lernen, ‒
zum mindesten aber so klug wie die Schlange
des Paradieses zu werden, die bekanntlich
wußte, wie man „wie die Götter” wird.
Ihre gläubigen Schüler haben nur offenbar den
berühmten Apfel nicht „in der richtig
gen Weise” gegessen, wodurch der Unter‐
richt nicht so ganz die rechten Erfolge brach‐
te. ‒
Das ist's eben mit den „Übungen”: ‒ man
darf ja nichts versehen dabei, sonst
wird halt das Gegenteil von dem erreicht, was
man erreichen wollte, und das ist dann schlimm.
.So sagen sie alle, die großen „Adepten”
der Magie, die zwar selbst keinen Strohhalm
auf andere Weise bewegen können, wie Hinz
und Kunz, die aber alle Riten, Zeremonien,
Formeln und Übungen kennen, die dazu nötig
sind, alle Weltgesetze im lustigen Wirbel nach
ihrer Pfeife tanzen zu lassen.
.Es wäre ein leichtes, aus dem Schrifttum
über „Magie”, soweit es von alter Zeit her
126 Das Mysterium von Golgatha
erhalten ist und soweit es die neuere Zeit
vermehrte, eine Riesenbibliothek zusammen‐
zustellen; aber man zeige mir auch nur
einen einzigen aus den begeisterten
Verehrern dieser Schriften, der dahin gelangt
wäre, wirklich und jeder Kritik standhaltend,
irgend eines der Resultate zu erzielen,
die dem Novizen dort mit geheimnisvoller
Umständlichkeit versprochen werden, wenn
er die Anweisungen genau befolgt, von denen
ihre Urheber sagen, sie hätten dadurch Re‐
sultate erlangt. ‒
.Alle die zum Teil doch auch recht ge
scheiten Köpfe, die sich ihr Hirn
durch solche Lektüre verwirren ließen und
nichts dabei sonst erreichten, haben es eben
nicht richtig” gemacht. ‒
Aber da war einmal Einer, der sagte: „Wenn
ihr Glauben habt wie ein Senfkörnlein
nur, so könnt ihr zu diesem Berge sagen:
'Geh' von da dorthin!' und er wird dahin
gehen, und nichts wird euch unmöglich
sein.”
127 Das Mysterium von Golgatha
.Und an anderer Stelle berichtet man das
gleichsinnige Wort von ihm: „Wenn ihr einen
Glauben wie ein Senfkorn habt, so könnt
ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: 'Reiß dich
aus und setze dich ins Meer!' und er wird
euch gehorsam sein.”
.Auch er hatte Schüler, und sie
baten ihn: „Stärke uns den Glauben!”
.Und hier sind wir endlich an dem Kern
punkt der echten Magie, der prak
tischen Geistes-Weisheit!
.Auch hier gibt es „Übungen”, aber sie sind
recht wesentlich anderer Art, und sie
führten noch jeden zu greifbaren Resul‐
taten, der ihnen oblag, ‒ nur sind das keine
„okkultistischen” Übungen, so geheimnisvoll
ihr Bereich auch bleibt, und wer sie betreibt,
der braucht weder Zeremonie noch Ritual,
braucht keine Beschwörungsformeln, noch
abenteuerliche Zitationen, und wirkt doch
durch die „Magie des Wortes”, durch die er
das „Urwort” erreicht, in dessen „Namen”
er alles vollbringt. ‒
128 Das Mysterium von Golgatha
Aber dieser „Name” ist nicht ein Wort aus
irgendeiner Sprache, das nur auf eine geheim‐
nisvolle Weise betont werden muß, sondern
eben jene erhabene Kraft, die der Meister
der Evangelien den „Glauben” nennt, und
des „Namens” geheimnisvolle „Aussprache”
ist die Kunst aller Künste: ‒ die Kunst, diesen
„Namen” in sich zu erleben. ‒
.Alle „Übungen” dieser wahren Magie
zielen einzig darauf hin, den Glauben in sich
erleben zu lernen und wollen nicht
etwa „okkulte Künste” lehren, wollen nicht
angebliche „Hellseher” oder Fakire bilden.
.Allerdings sind wirkliche geistige Übun‐
gen auch, einesteils zwar leichter, andernteils
doch etwas schwerer zu vollbringen, als das,
was man „okkultistische” Übungen
nennen muß, denn sie verlangen nicht nur
wie diese eine stundenweise „Konzentration”,
sondern sie wollen den ganzen Men
schen, all sein Tagewerk, sein
ganzes Tun und Lassen; ‒ sie
wollen einen „neuen” Menschen aus dem
Material erstehen sehen, das bis dahin der
129 Das Mysterium von Golgatha
Darstellung des „alten” diente, und der
Umwandlungsprozeß darf keine Schlacken
übrig lassen.
.Alles, was bis dahin der Auswirkung des
Lebens diente, muß nun sich selbst aufgeben,
um aus demGlauben” zu leben. ‒
Wie versteht man doch das Wort vom „Glau
ben” falsch, wenn man annimmt, dieser
hier geforderte Umschwung, der den Men‐
schen fähig machen soll, im „Glauben
zu leben, sei eine „Meinungsänderung”,
beziehe sich auf das im Vulgärsinn „gläubige”
oder „ungläubige” Verhalten irgendwelchen
Berichten „heiliger” Bücher gegenüber, ‒ sei
bestimmt durch Ablehnung oder Zustimmung
in bezug auf gewisse Behauptungen religiöser
Lehrer! ‒
.Wenn der „selig” wird, der daglaubt”,
so wird er es wahrlich nicht, weil er irgendeine
metaphysische Lehre für richtig hält, sondern
weil er die Kunst erworben hat, die Kraft
zu gebrauchen, von der hier die Rede ist, weil
130 Das Mysterium von Golgatha
er aus dem „Glauben”, aus der Kraft des
„Namens” lebt, der das Wort ist, das „bei
Gott” und das da „Gott” ist!
.Man „glaubtin rechter Weise, weil man
denGlauben” hat, wie man lebt,
weil man das Leben hat.
Vor dir liegt eine Rübe auf dem Felde. Ich
bringe dich in Hypnose und zwinge dich
durch meine Suggestion, zu „glauben” (hier
nicht im alltäglichen Sinne gemeint), du
seiest außerstande, die Rübe aufzuheben, und
du wirst dich vergeblich mühen, sie vom Erd‐
boden auch nur zu lockern. ‒
.Ich befreie dich aus der Bindung der
Hypnose, und du hebst die gleiche Rübe mit
Leichtigkeit auf, ja, du wirst jeden verlachen,
der an dieser deiner Fähigkeit zweifeln wollte,
denn jetzt glaubst du nicht mehr (im
alltäglichen Sinne) nur an die Richtigkeit des
Satzes: „ich kann eine Rübe vom Acker
aufheben”, ‒ an diesen Satz glaubtest du
ja im Sinne des Fürwahrhaltens auch in der
131 Das Mysterium von Golgatha
Hypnose, trotz meiner gegenteiligen Sug‐
gestion, sonst hättest du dich gar nicht be‐
müht, es dennoch zu versuchen, ‒
sondern jetzt „glaubst” du wirklich, d. h.
du fühlst in dir die Kraft, die Rübe auf‐
zuheben, und diese Kraft, mittels der du
auch tatsächlich jederzeit diese Rübe aufheben
kannst, ist nichts anderes als der von
dem Meister der Evangelien verlangte „Glau
be”. Allerdings soll er auf etwas wichtigere
Dinge angewandt werden, als auf diese arme,
im Bilde nun schon fast zu Tode gehetzte
Rübe! ‒
.Dieser „Glaube” ist nicht die durch
Erfahrung gewonnene Gewißheit, daß
man etwas tun könne, sondern die
Kraft, mittels der man es tatsächlich tun
kann!
.Es liegt eine unsagbar feine Ironie in dem
doppelsinnigen Wort, das der Meister von
Nazareth an den ungläubigen Thomas rich‐
tet: „Weil du gesehen hast, Thomas,
hast du geglaubt” (den Bericht für richtig
befunden), „selig aber sind, die da nicht
132 Das Mysterium von Golgatha
sehen” (nicht durch Erfahrung Gewißheit ha‐
ben), „und doch glauben.” ‒
.Ein wunderbares Wortspiel des Meisters
mit dem Wort „glauben”, wobei er es zu
erst im alltäglichen Sinne gebraucht,
dann aber am Schluß auf die Lehre
anspielt, die er jahrelang verkündet
hatte. ‒
.Mag der Ausspruch „historisch” sein oder
nicht, so zeigt er doch mehr als manches an‐
dere, in welcher überlegenen Art der Meister
zu lehren pflegte, wie er den Scharfsinn der
Seinen anzuspornen wußte und keineswegs
immer auf Wortspiel und Ironie verzichtete.
.Es liegt hier aber durchaus nicht
der einzige Ausspruch dieser Art vor,
und manches Wort, das die gleiche Prägung
zeigt, hat im Laufe der Zeit zu wildem Dogmen‐
streit den Anlaß gegeben....
Wie aber verhält sich denn die von ihm ver‐
kündete Kraft, die er aus guten Gründen,
133 Das Mysterium von Golgatha
trotz aller Irrtumsmöglichkeit, den „Glau
ben” nennt, zu dem, was „okkultisti
sche” Übungen zutage fördern wollen?
.Da gilt es nun vor allem, sich klar darüber
zu werden, daß es zwei ganz ver
schiedene Arten erdensinnlich uner‐
faßbarer Kräfte gibt, je nach dem Lebens‐
bereich des universalen Seins, dem sie an‐
gehören.
.Beide sind ‒ jeweils in ihrer Region ‒
das einzig Wirkliche”, das aller
Erscheinung zugrunde liegt, und beide stehen
in ihrem Bereich um eine Stufe tiefer,
als das, was durch sie vermittelt wird.
.Wenn ich sage, daß diese Kräfte in ihrem
Bereich allen „Erscheinungswelten” (es gibt
deren physische wie geistige) zugrunde
liegen, so will ich das so verstanden wissen,
wie wenn ich sagen würde, daß jedem Ge‐
mälde, gleichgültig, was es darstellt, die
Farben zugrunde liegen, daß die Far
benmaterie an ihm „das einzig Wirk‐
liche” ist, obwohl das durch die Farbe Dar
gestellte von einer weit bedeuten
134 Das Mysterium von Golgatha
deren Wirklichkeit Kunde zu geben ver‐
mag, ‒ die aber hier nur durch die
Farbenmaterie mir bewußt werden kann. ‒
.So wird uns das ganze physische Universum
nur bewußt, weil ihm, ‒ hinter allen Formen
„einzig wirklich” ‒ die okkulten Kräfte der
physischen Natur zugrunde liegen,
weil wir, als Teil dieser Natur, dem Kör
perlichen nach, selbst eine dieser
physischen okkulten Kräfte sind, und
in unserem anscheinend „grobstofflichen”
Körper das Instrument, der feineren,
fluidischen Körperkräfte besitzen, das
den meisten schon als die Seele gilt, das aber
auch die anderen Tiere dieser Erde mit uns
gemeinsam haben, wenn auch in sehr ver‐
schieden starker Ausprägung seiner Fähig‐
keiten. ‒ ‒
.Wie nun aber das ganze physische
Universum sich nur darstellt als Wirkung
physischer okkulter Kräfte, so stellen
sich auch die geistigen Welten nur
dar als Wirkung real geistiger okkulter
Kräfte, und diese wieder sind ‒ für sich
135 Das Mysterium von Golgatha
betrachtet ‒ nichts anderes als: das Reich
der flutenden Seele, das zwischen phy
sischer Weltdarstellung und geistiger
Erscheinungswelt mitteninne liegt.
.Wie wir in der physischen Welt nur wahr‐
nehmen, nur „bewußt” sein können, weil
wir selbst eine ihrer physischen ok‐
kulten Kräfte sind und in unserem Körper
die feineren fluidischen Kräfte dieser Welt
tragen, so auch können wir Geistiges
nur wahrnehmen, ‒ können wir im Gei
stigen nur bewußt werden, ‒ weil wir
selbst auch gleichzeitig eine der gei
stigen okkulten Kräfte sind und in uns
einen geistig-okkulten oder Seelen
organismus tragen, ohne den die gei‐
stigen Welten, deren „Substanz” diese Seelen‐
kräfte sind, uns niemals wahrnehmbar sein
könnten, ohne den wir niemals im Geiste
bewußt zu werden vermöchten.
Wenn man nun das treibt, was man eigent‐
lich unter „okkultistischen Übungen” ver‐
steht ‒ es gehört dazu alles, was die Inder
136 Das Mysterium von Golgatha
Hâta-Yoga” nennen, und vieles andere,
was schon seit alter Zeit auch bei uns im
Okzident gepflegt wurde ‒ dann bedient man
sich lediglich der feineren, fluidi
schen Kräfte des Körpers, wirkt
lediglich auf die okkulten Kräfte der phy
sischen Welt auf diese Art ein, und man
wird, nach unwandelbaren Gesetzen des phy
sischen Universums, dadurch den Wesen‐
heiten dienstbar und verhaftet, die in dem
unsichtbaren Bereiche der physischen
Natur ihre Wirkungsfelder haben, man ver‐
fällt unfehlbar der „Besessenheit” ‒ man hat,
wie der Volksmund sagt, ‒ seine Seele „dem
Teufel verschrieben”, ‒ denn die eigentliche
Seele, der okkulte geistige Organismus,
wird im gleichen Grade geschädigt, in
dem die feineren fluidischen Kräfte des Kör
pers diesen Wesenheiten, die jenseits von
gut und böse, ohne Verantwortung und Moral
sind, ausgeliefert werden. ‒
.Es tritt ein Schwinden, ein allmäh‐
liches Loslösen aller wirklichen Seelen
kräfte ein, die den individuellen, ewigen
Seelenorganismus bilden sollten, und als deren
137 Das Mysterium von Golgatha
Diener allein die feineren fluidischen Kräfte
des Körpers hätten wirken sollen.
.Man kann tatsächlich zu staunenswerten
Fähigkeiten gelangen durch Hâta-Yoga oder
ähnliche „Übungen”, bei denen nicht zuletzt
ein gewisses Atem-Training in Verbindung mit
Fasten, sexueller Enthaltsamkeit, vegetabiler
Diät und ähnlichem eine große Rolle spielt,
aber ‒ den Welten des Geistes kann man
so niemals nahen, ja man verschließt
sich selbst die Pforte, die zum
Reiche des wesenhaften Gei
stes führt, und keine Macht der Erde ver‐
mag sie für dieses Erdenleben jemals wieder
zu öffnen.
Es ist ein Glück zu nennen, daß diese
„Übungen” denn doch nicht so leicht aus
zuführen sind, als die Zauberlehrlinge
glauben, ja, daß die wirksamsten Methoden
dieser Art ‒ obwohl sie manche Orientalen
kennen, ‒ zum wenigsten auf der westlichen
Seite dieser Erde fast unbekannt sind.
138 Das Mysterium von Golgatha
.So treibt gar mancher, der nach „okkulten
Kräften” strebt, gefährliches Spiel, nur macht
er es, trotz aller Anstrengung, glücklicher
weise „nicht richtig”, und die solche
„Übungen” weitergeben, haben auch nur
„etwas läuten hören”, während ihnen, zum
Heile der Menschheit, doch das Wesent
lichste verborgen blieb. ‒
.Aber auch bei allem Zufallserfolg, der mit‐
unter eintreten kann, hat der Unglückselige,
der solche „Übungen” praktizierte, doch nichts
anderes erreicht, als daß er mit Hilfe von
Wesenheiten, vor denen ihn Entsetzen packte,
könnte er sie sehen, wie sie sind ‒ irgend‐
welche okkultistische Kunststücke zuwege
bringt (meist nur zum Schaden seiner Neben‐
menschen!) oder den tollsten Täuschungen
erliegt, die ihm durch die Einwirkung solcher
Wesen vorgegaukelt werden.
.Es ist eine Art aktiver „Spiritismus”,
wenn man die medianime Betätigung der
„Spiritisten” passiven „Spiritismus” nen‐
nen will.
.Das Ende eines Menschen, der diesen Weg
einmal betreten hat, ist niemals erfreulich und
139 Das Mysterium von Golgatha
noch weit schlimmer zumeist, als das Ende
der meisten „Medien”.
.Ich habe an anderen Orten genugsam da‐
von gesprochen...
Im schärfsten Gegensatz, sowohl zu der Me
thode als zu dem Resultat solcher
Praktik im Bereich der okkulten Kräfte der
physischen Welt, steht die Betätigung
der magischen Kräfte des Geistes, die
Benutzung der Seelenkräfte zu wah‐
rem magischen Werk.
.Schon bei Heliodor finden wir im drit‐
ten Buche seines auch literarisch hochge‐
schätzten Romans „Aethiopica” die von höch‐
ster Weisheit zeugende Stelle:
.„Die eine Magie ist für den Pöbel
und wandelt sozusagen immer niedrig
auf der Erde; sie hat mit Gespen
stern zu tun und balgt sich mit Leichen.
Die andere aber, die wahre Weis
heit, um die wir Priester und Propheten
140 Das Mysterium von Golgatha
uns von Jugend auf mühen, blickt zum
Himmel empor, verkehrt mit den
Göttern und hat Teil an der Natur der
machtvollen Wesen...”
.Wer wollte hier noch im Zweifel sein,
welche Art Magie der hohe Meister aus
Nazareth lehrte! ‒ ‒
.Und die Anweisungen, die er gibt, um zu
dieser wahren Magie zu gelangen, führen von
Stufe zu Stufe aufwärts.
.Man lese die Bergpredigt, und man
wird wissen, welche allgemeine „Vorübun
gen” ihm ganz unerläßlich erscheinen; wenn
man aber nach „Übungen” für die Fort
geschrittenen sucht, dann spricht jedes
seiner Gleichnisse für Bände, ganz abgesehen
davon, daß er sehr deutlich zu seinen eigent‐
lichen Schülern sagt:
.„Euch ist es gegeben, das Geheimnis
des Reiches der Himmel zu erfassen, den
andern aber wird es nur durch Gleich‐
nisse.”
141 Das Mysterium von Golgatha
In den Gleichnissen sagt er das, was als
„Übung” allein nötig ist: Die Einstel
lung des Bewußtseins auf die Re‐
gungen der Kräfte der Seele, und die
Folgeleistung, die der Wille diesen
Anregungen schuldig ist.
.Seinen eigentlichen Schülern aber
zeigte er auch die Wirkungsweise der
geistigen Gesetze.
.Ihnen zeigte er, weshalb das getan wer‐
den muß, was im Gleichnis anempfohlen wird.
.Ihnen gab er auch Aufschluß darüber, wie
man „böse Geister” vertreibt, eben jene
Zwischenwesen des unsichtbaren Teiles der
physischen Welt, sobald sie der Seele
Schaden zufügen.
.So führt er, ‒ bald verstanden, bald
mißdeutet von den Hörenden, ‒ seine
Schüler ein in gar manche Weisheitslehre, die
dem Kleinsten und Unmündigen „offenbart
werden” kann, den Neunmalklugen und Auf‐
geblasenen aber „verborgen bleibt”. ‒
142 Das Mysterium von Golgatha
.Und trotzdem sagt er das Wort: „Ich hätte
euch noch vieles zu sagen, aber ihr könnt
es jetzt noch nicht tragen” und weist die so
Belehrten darauf hin, daß für jeden wahr‐
haft Vorbereiteten „der Geist der Wahrheit”,
der wahrhaftige göttliche Gei
stesfunke in das wahre Seelen-Ich
komme: ‒ der „lebendige Gott”, ‒
der sie „alle Wahrheit” lehre, der nur aus
dem „Seinigen” nähme, auch wenn er
einst aus anderem Munde reden werde. ‒
.Geheimnisreich bleibt dieses Wort in seinem
Doppelsinn, weil alles, was der Gesalbte selbst
gegeben hatte, aus dem Meere der geistigen
Schätze des „lebendigen Gottes” war,
den er in sich trug und mit dem er vollbe‐
wußt sich vereinigt hatte, wie jeder der
Seinen”, die er nach sich kommen sah.
.„Wenn ich aus mir selbst reden würde,
wäre ich ein Lügner, aber ich rede nicht
aus mir selbst, sondern was der Vater
mir gesagt hat, das sage ich euch!”
.Keiner derer, die aus der Wahrheit re‐
den, sagt das, was er lehrt, aus sich
143 Das Mysterium von Golgatha
selbst und niemand ist berechtigt, den
Weg der Einigung im Geiste zu zeigen, wenn
er den Vater nicht lebendig in sich trägt:
wenn er nicht vollbewußt mit seinem „le‐
bendigen Gott” in Ver-Einung lebt. ‒
Es ist nicht nötig, daß ich hier aufs neue
alle Anweisungen wiederhole, die ich an so
vielen Stellen und in so vielerlei Weise be‐
reits gegeben habe.
.Es war mir verstattet, auch manches zu
sagen, das einst der Meister von Nazareth
seinen Schülern, seinen „Jüngern” noch nicht
geben konnte, weil es „zu schwer” für sie
gewesen wäre, und ich durfte dies nur des‐
halb, weil alles dieses längst seither, wenn
auch in verzerrter Form, der Allgemein‐
heit bekannt geworden ist, ohne daß sie dessen
achtet.
.Ich mußte über diese Dinge Aufschluß
geben, weil die verzerrte Form, in der bis‐
lang der Menschheit davon Kunde kam, un‐
sagbares Unheil schon verschuldet hat und
144 Das Mysterium von Golgatha
weil diesem Unheil endlich Einhalt ge‐
boten werden sollte. ‒
.Es ist aus diesem Grunde wichtig, die Er‐
kenntnis zu verbreiten, daß die okkulte Welt
der physischen Natur nur von sol
chen allenfalls gefahrlos betreten werden
kann, die von Geburt an Eignung dazu be‐
sitzen und dann von einem berechtigten Füh‐
rer zur sicheren Beherrschung der
hier wirkenden Kräfte geschult wurden.
.Führer aber sind hier allein die Leuch
tenden des Urlichts, die „Meister”
der „Weißen Loge”, die freie Beherrscher
der okkulten Kräfte physischer Natur werden
mußten, bevor ihnen die Schlüssel in die‐
sem Erdendasein überantwortet werden konn‐
ten, die allein jene Pforte öffnen, durch wel‐
che für alle Menschen dieser Erde der Weg
zu den Reichen des Geistes führt. ‒ ‒
.Wer die Fähigkeit, durch die Kräfte des
feineren, fluidischen Körpers zu wirken, auf
diese Weise rechtmäßig erworben hat, der
kann auch durch sie im gegebenen Falle
Segen schaffen.
145 Das Mysterium von Golgatha
.Allen anderen aber müssen diese
Kräfte zum Unheil gereichen.
Was aber allen, ohne Ausnahme, Se
gen bringt, das ist die Entfaltung der ok‐
kulten geistigen Kräfte, der Kräfte der
Seele.
.Wie man diese Kräfte gebrauchen lernt
unter sicherer innerer Führung, die für jeden
sich einstellt, der selbst in ehrlicher ernster
Weise durch die Tat beginnt, diese
Kräfte zu üben, das lehrt in ausführlichster
Weise die von mir aufgezeichnete Lehre, die
aus keiner anderen Quelle schöpft, als aus
dem Born der ewigen Weisheit, den der hohe
Meister aus Nazareth, den „Geist der
Wahrheit” nannte, und den er als ewig
unversiegbar kannte: ‒ auch noch den fern‐
sten Geschlechtern Segen spendend.
*           *
*
146 Das Mysterium von Golgatha
MEDIUMISMUS
UND KÜNSTLERISCHES SCHAFFEN
Es scheint sehr schwer für die Betroffenen
zu sein, bei mediumistischen Äußerungen
völlig davon abzusehen, welches Resultat die
Manifestationen der in Frage stehenden un‐
sichtbaren Wesenheiten zutage fördern. ‒
.Erhält man „erhaben” klingende Mittei‐
lungen oder gar Ratschläge für den Alltag,
die sich einmal gut bewähren, so ist
man sofort bereit, den Eingriff „hoher gei‐
stiger Führer” anzunehmen, was unter Um‐
ständen so weit gehen kann, daß Lebens‐
schicksal und materielle Zukunft den Ein‐
flüssen dieser vermeintlichen hohen „Geistes‐
wesenheiten” blindlings anvertraut werden.
.Man merkt nicht, daß man sich in einer
Art Hypnose befindet und ergibt sich gefügig
den Impulsen eines fremden Willens.
.Welcher Art die hier in Rede stehenden
Wesenheiten wirklich sind, habe ich in
meinem „Buch vom Jenseits”, im
149 Das Mysterium von Golgatha
Buch der königlichen Kunst
und auch in diesem Buche ausführlich dar‐
gelegt. Es handelt sich weder um „liebe
Verstorbene”, noch um höhere oder niedere
Geisteswesenheiten”, sondern um
unsichtbare Wesen eines uns im allgemeinen
unerschlossenen Teiles der physischen
Welt. ‒
.Diese Wesen sind weder „gut” noch „böse”,
sondern amoralisch. Es ist ihnen ledig‐
lich darum zu tun, sich für den Menschen
zu manifestieren, und gewisse Men‐
schen mit besonders geeigneter psychophy‐
sischer Veranlagung sind ihnen dazu dienliche
Apparate, dienen nur ihrer Selbstbefriedigung.
.Die Wesen, um die es sich hier handelt,
wirken, der kosmischen Ordnung
gemäß, als gestaltende Former
innerhalb der physischen Erscheinungswelt.
.Darf es da Wunder nehmen, daß sie auch
bei ihren irregulären Versuchen, sich
am quasi „ungehörigen” Ort zu manifestieren,
formenbildend wirken?
150 Das Mysterium von Golgatha
Es gibt eine ganze Reihe von Manifestationen
solcher Wesen, bei denen sie als Formen
bildner ihrer Art nach in Erscheinung
treten, und dazu gehört auch die Benutzung
ihres Mediums zur Darstellung zeichnerischer
oder malerischer Gebilde, ein in der Ge‐
schichte des Mediumismus überaus häufig
beobachteter Fall.
.Ich selbst habe genügend solche Mani‐
festationen beobachtet, und noch weit stau‐
nenswertere Dinge ähnlicher Art erlebt, nur
mit dem einen Unterschied: daß ich die das
Medium gebrauchenden Wesen in meiner
Gewalt hatte, so daß sie tun mußten, was ich
ihnen gebot.
.Gerade die Manifestationen auf dem Gebiet
der Malerei erscheinen nun auf das erste
Anschauen hin als ziemlich harmlos, aber dem
ist durchaus nicht so.
.Jede Äußerung der hier in Betracht
kommenden Wesen verlangt von dem Medium
ein völliges oder doch nahezu völliges Auf
geben der eigenen Willensim
pulse, liefert die Kräfte des Mediums an
151 Das Mysterium von Golgatha
Wesenheiten aus, die ohne jedes Verant‐
wortungsgefühl nur ihre eigene Be‐
friedigung suchen, einerlei, ob das Medium
dadurch seelisch intakt bleibt oder nicht.
.Diese Wesen suchen und finden instinktiv
jederzeit bei ihrem Opfer den Punkt des
geringsten Widerstandes.
.Sie werfen jedem den Köder hin, auf den
er anbeißt...
.Auf die Kräfte der Seele, die sie be‐
nutzen, wirken diese Wesen genau so ver‐
derblich, wie Bazillen und andere Mikroben
auf die Kräfte des physischen Körpers.
.Es kann daher nicht frühzeitig
genug die Gefahr erkannt werden,
mögen die Phänomene auch noch so „schön”,
noch so „erhaben” oder „interessant” sein.
.Wenn auch im Augenblick keine Schädigung
bemerkt wird, so bleibt sie doch niemals
aus, und in den meisten Fällen, in denen man
nicht zeitig der Gefahr begegnete, sind
die Schädigungen irreparabel.
152 Das Mysterium von Golgatha
.Man kann gar nicht genug vor solchem
Spiel mit jeder Kontrolle entzogenen Wesen‐
heiten warnen!
Gewiß ist jeder wahrhafte Künstler
beim Schaffensvorgang ein Diener seines in‐
neren Gottes! Gewiß kennt er das Hören
nach Innen und die „innere Stimme”!
.Gewiß weiß auch er nicht zu sagen, von
wannen der Geist kommt, der ihn erfüllt!
.Aber wann und wo hat je ein schaffen‐
der Künstler sich diesem Geist überlassen
müssen in der Art eines Mediums,
mechanisch seine Hand be
wegt fühlend, und Werke gestaltend,
die nicht erst durch eigenes Können be‐
dingt waren? ‒
.Wo ist der Schaffende, von Dante bis
Goethe, von Giotto bis zu unseren
modernsten Malern, der nicht um den
Ausdruck des ihn innerlich Bewegenden
hätte ringen müssen, der nicht in jahre‐
langen Studien sich die Grundlage hätte er‐
153 Das Mysterium von Golgatha
werben müssen, durch die er erst zu einem
Diener seines Gottes werden konnte?!? ‒
.Niemals nimmt die „Inspiration” des
Künstlers ihm die Herrschaft über
sich selbst, niemals wird er nur me
chanischer Apparat, sondern das
direkte Gegenteil tritt ein! ‒
.Alles mühsam erworbene Können wird
aufgerufen, jede seelische Quali
tät des Schaffenden wird in gestei
gertem Maße bewußt und lebendig, alle
Kräfte der Seele werden leicht und
frei, während das eigeneIch” in
ganz unerhört krafterfüllter Weise so schaltet
und waltet, daß der Künstler, wenn er später
wieder dem Alltag gehört, sich selbst
fremd vorkommt und zu der Annahme
neigt, er könne gar nicht der gleiche sein, der
in so souveräner Weise in den Stunden des
Schaffens all seine Seelenkräfte ans Licht zu
bringen wußte.
.Wo ist hier etwas von der Passivität
des Mediums, das nur bewegt wird wie die
Froschschenkel, durch die Galvani den
154 Das Mysterium von Golgatha
elektrischen Strom wirken sah, ‒ das kaum
hinzusehen braucht auf die Arbeit, zu der es
seine Hand herleiht, und dessen „Ich” die
ganze Geschichte im Grunde überhaupt nichts
angeht, da ja der eigentliche Wirkende sein
Opfer viel besser ausplündern kann, wenn es
möglichst gar nicht auf ihn achtet, ‒ am
besten im richtigen „Trancezustand”, also
bei völliger Aufgabe des Bewußtseins! ‒ ‒
Dabei ist das, was diese Wesen durch ihr
Medium hervorbringen, niemals Origi
nal, denn sie sind wohl von Natur aus
Formen-Bildner, aber nicht Formen‐
Schöpfer, sind keines eigenen
Gedankens, keiner eigenen Formidee
fähig, und müssen sich ihr Material dort, wo
sie nicht, ihrer Ordnung nach,
kosmischen Impulsen dienen,
also wenn sie ein „Medium” zu beherrschen
suchen, aus den Vorstellungsbildern
zusammenklauben, die durch mensch
liche Gehirne zur Gestaltung kamen!
.Mitunter bringen sie solche Vorstellungs‐
bilder noch intakt zur Reproduktion, so
155 Das Mysterium von Golgatha
daß es leicht nachzuweisen ist, woher sie
ihren Raub holten.
.Meistens aber sind es nur bunt zu
sammengewürfelte Bruchstücke,
aus denen sie ihre Darstellungen weben, mag
es sich um gedankliche „Offenbarungen”, oder
um medianime Malereien und Zeichnungen
handeln.
.Es ist notwendig, hier auf reinliche
Klarheit in der Unterscheidung zwischen
künstlerischem Schaffen und me
dialer Betätigung zu halten, sonst
geraten wir in eine geradezu teuflische Ver‐
wirrung der Begriffe.
.Hier erwächst mir die Pflicht, aus
sicherster Kenntnis der in Rede stehenden
Vorgänge heraus, der Wahrheit gemäß zu
reden, um so mehr, als auch diese Abart
lemurischer Besessenheit nur allzuoft als himm‐
lische „Begnadung” angestaunt wird, und
wir in diesem Buche reinlich schei
den wollen, was niemals sich vereinen läßt! ‒
156 Das Mysterium von Golgatha
AN DER QUELLE DES LEBENS
Wahrlich, es ist nötig, in immer neuen
Bildern von der Wahrheit zu zeu‐
gen, der Wahrheit, die ohne Bild und Gleich‐
nis nicht faßbar werden kann, da sie Wirk
lichkeit ist, Ursein der Dinge,
Quelle alles Lebens! ‒
.Nichts wehrt in unseren Tagen der Ver‐
wirrung der Geister.
.Jedwedes Zeugnis inneren Erlebens wird
aus dem Moder der Grüfte, aus dem Staube
der Bibliotheken ans Licht gezogen und den
bebenden Händen der Suchenden wie ein
Orakelspruch dargeboten.
.Von überallher nimmt der Suchende, was
sich findet und finden läßt. Fiebernd
durchwacht er die Nächte über umfangreichen
Folianten, in seinen Taschen trägt er die
fragwürdigsten Traktätchen mit sich wie ein
Heiligtum, ehrfürchtig lauscht er allerorten
dem dunklen Worte unberufener Lehrer, und
159 Das Mysterium von Golgatha
glaubt so am Ende doch einst den Weg zu
finden, der hin zur Quelle des
Lebens führt!
.Die Köpfe sind angefüllt mit den skurrilsten
Phantastereien der abenteuerlichsten Mysta‐
gogen; seltsamste „Wissenschaft” von Dingen,
die niemals Wissenschaft werden können,
gibt sich in Wort und Schrift mit großer
Gebärde einer erstaunten Welt, die Rüst‐
kammern menschlichen Aberglaubens aller Zei‐
ten werden durchstöbert und geleert, wüstester
Spuk wird wieder modern!
.All diese Wirrnis aber wird genährt durch
eine brennende Sehnsucht verschmach‐
tender Herzen, und gar viele, die da jeweils
hinter dem neusten Jahrmarktspropheten in
trunkener Geste herlaufen, waren ja nur
gekommen, weil sie um keinen Preis etwas
versäumen wollten, das ihrem irren Suchen
Richtung geben könnte...
Es sind durchaus nicht die Schlechtesten,
die so das Opfer verantwortungsbarer Wirr‐
köpfe und dreister Schwätzer werden!
160 Das Mysterium von Golgatha
.Gar manchem der sich nasführen ließ,
gehen aber doch noch zur rechten Zeit die
Augen auf und er sieht dann mit Entrüstung
und Scham vor sich selbst, daß er sich einer
„Führung” überlassen hatte, die selbst des
Weges nicht kundig war, ja, daß er „Führern”
folgte, denen nie an seiner Führung wirklich
lag, ‒ die nur die Torheit ihrer Neben‐
menschen schlau durchschauten, die nur der
Sehnsucht Suchender den Köder zu be‐
reiten wußten, um sie ins Garn zu locken.
.Auch unter den Lesern dieser meiner Worte
dürften nicht wenige solcher schwer Ent‐
täuschten sein!
.Sie ahnen aber vielleicht trotz aller
Enttäuschung, daß es dennoch einen
Weg für sie geben müsse, auf dem sie das Ziel
ihrer Sehnsucht erreichen könnten.
.Ihnen sollen vor allem diese Worte gelten!
Wer bereit ist, trotz aller erkannten
Irrtumswege nicht eher nachzulas
sen in seinem Streben, als bis er gefunden
161 Das Mysterium von Golgatha
hat, wonach seine Seele sucht, der kann den
Weg ins Freie finden, den schmalen
Pfad, der zum wesenhaften Lichte
führt!
.Ich habe diesen Weg schon gar oft gezeigt
und ich zeige ihn hier wieder für alle, die ihn
finden wollen.
.Führung ist nötig auf diesem Wege,
denn er führt durch manchen dichten Dschun‐
gel, in dem den arglosen Wanderer sehr
gefahrvolle Seitenpfade locken, ‒ führt durch
Wüsten, in denen jede Wegspur sogleich vom
Sande verweht wird, so daß der Weg für jeden
von neuem bereitet werden muß. ‒
.Torheit wäre es und Anmaßung
zugleich, wollte der Suchende glauben, hier
aus eigenem Ermessen den rechten
Pfad zu unterscheiden!
.Torheit und Anmaßung wäre es
aber auch, wollte er sich verwegen fähig
dünken, sein höchstes Ziel zu erreichen,
ohne die Prüfungen seiner Kräfte
erst zu bestehen, die auf den einzelnen Stadien
seines Weges neu an ihn herantreten werden. ‒
162 Das Mysterium von Golgatha
.Torheit und Anmaßung wäre es
endlich, wollte er in sich selbst sein höchstes
Ziel, das Bewußtsein der Ein
heit mit der Urquelle allen
Lebens, zu erreichen hoffen, ohne die
Hilfe solcher, die dieses Ziel schon er‐
reichten. ‒ ‒
.Er würde dann einem Bergsteiger gleichen,
der den höchsten Gipfel des Gebirges
von der Ebene aus erreichen möchte, ohne
die Vorberge zu ersteigen, die den
Hauptgipfel umlagern, und von deren Höhe
aus ihm erst der richtige Weg zur er‐
sehnten höchsten Höhe des Gebirges
gezeigt werden kann.
Unkritisch hörenden Ohren klingt es recht
tapfer, wenn einer sagt: zwischen ihn und
seinen Gott dürfe sich „nichts dazwi
schen” stellen; aber der „Gott”, der so
vermeintlich erfühlt wird, ist ein trügeri
scher Gott, ein Gebilde eigener
Vorstellung, dessen Realität eben nicht
weiter reicht, als die Realität aller Vor‐
stellungsbilder. ‒
163 Das Mysterium von Golgatha
.Wohl mag ein solcher „Gott” eines from‐
men Träumers eine Zeitlang seinem an ihn
verhafteten Gläubigen Trost gewähren, ‒
wohl mag er Kräfte in ihm erregen, die ihn
noch mehr in der Täuschung bestärken, hier
habe er es mit der Urquelle allen Le
bens zu tun, allein in der ewig bleiben
den Wirklichkeit ist ein solcher „Gott”
nur Trugbild, und niemals vermag er
auch nur das allergeringste an den realen
Gegebenheiten dieser absoluten
Wirklichkeit zu ändern. ‒
.Der Mensch, der mit dieser Art Pseudo
Gotteserlebnis zufrieden ist, wird noch
weniger jemals seinen „lebendigen Gott
in sich finden, wie der sogenannte „Gottes‐
leugner”, der in den meisten Fällen nur darum
das „Dasein” Gottes verneint, weil er den
frommen Trug auf irgend eine Art im
wesentlichen durchschaut, in den der
andere sich versenkt, der mit „Gott” auf du
und du zu stehen glaubt und doch nur ein
Gebilde seiner Phantasie anbetet. ‒
.Wohl ist der „Gottesleugner” sehr im Recht,
wenn er das Dasein eines solchen Gottes
164 Das Mysterium von Golgatha
leugnet, und sein ganzer Irrtum besteht nur
darin, daß er, der den Schemen als Schemen
erkannte, es nun unterläßt, nach
der Wirklichkeit zu forschen. ‒
.Immerhin kann ihm noch eines Tages das
echte Erleben des wahrhaftigen, in
sich selbst lebendigen Gottes
vorbehalten sein, indes der Gläubige, der sich
an seinen selbsterzeugten Scheingott
band, nur gar selten sich noch aus der eigenen
Fessel zu erlösen vermag.
Es gibt aber noch andere Täuschungs‐
möglichkeiten, und viele Suchende sind ihnen
schon verfallen.
.Von einer der wichtigsten, die im Leben
der meisten „Mystiker” eine mehr oder we‐
niger bedenkliche Rolle spielt, soll hier die
Rede sein.
Ohne jegliche Führung, ohne
jede Hilfe geistig Erwachter
kann jeder Mensch ein geistiges
Licht in sich gewahren, das Bild eines
165 Das Mysterium von Golgatha
flammenden Sterns, das die Mön‐
che des Athos nicht anders genugsam wür‐
digen zu können glaubten, als dadurch, daß
sie es das „heilige Licht der Gottheit” nannten.
.Aber nicht nur die Mönche der Athos
klöster, auch viele andere Mystiker und
Gottsucher ließen sich verführen, in diesem
Lichte die Gewißheit der Vereinigung ihrer
Seele mit dem lebendigen Gotte
bestätigt zu sehen.
.Indessen war alles, was sie erlebten, nur
ein vager Abglanz ihrer eigenen höch
sten Lebensform; ‒ sie waren zu
Selbstanbetern geworden, wo sie die
Gottheit gefunden zu haben wähnten...
.Sie schauten in sich nur jene Lebens
form ihres Geistes, die erst
dann zu ewigem Leuchten erwachen
kann, wenn der „lebendige Gott”, voll
Kraft und Wirklichkeit, sie zum Throne seiner
Herrlichkeit macht, ‒ wenn er sich selbst
„als Kind der Jungfrau” im Menschen dieser
Erde die „Geburt” bereitet, verkündet von
den „Hirten”, die da die „Nachtwache”
166 Das Mysterium von Golgatha
halten, ‒ angebetet von den „Weisen des
Morgenlandes”, den Priesterkönigen aus dem
„innersten Osten”, die allenthalben den „Stern”
zu sehen vermögen, sobald er über einem
„Stalle” aufleuchtet, in dem „zwischen un‐
vernünftigen Tieren” der König geboren
wird, der Israel „erlösen” will.
.Viele sprachen in trunkener Rede von der
„Wiedergeburt”, ‒ von der innigen „Freund‐
schaft” ihrer Seele mit „Gott”, ‒ von der
„geistigen Hochzeit” mit dem „himmlischen
Bräutigam”, ‒ ‒ viele glaubten das Werk
getan und das „Nirvana” erreicht, ‒ und
hatten doch nur in sich das Bild des „flam
menden Sterns” gesehen, der erst zu
ewigem Leuchten die Kraft empfangen muß,
die nur das „Urwort” geben kann und die
keiner je erlangt, der nicht den Weg beschrei‐
ten mag, den dasUrwortselbst
dem gefallenen Sohn des Geistes bereiten
mußte, damit es erneut für ihn erreichbar
werde.
Wir Menschen stehen nicht isoliert im
Dasein! Wir sind alle nur Auswirkung ewiger
167 Das Mysterium von Golgatha
Schöpferkraft, und als solche Auswirkung
durch tausend geheime Fäden miteinander
verbunden.
.Was immer es zu erreichen gilt, ‒ niemals
kann der eine ohne den anderen fertig
werden, und in der harmonischen Wechsel‐
wirkung des einen auf den andern werden
alle großen Ziele menschlichen Strebens er‐
reicht. ‒
.Wollen wir um jeden Preis allein und
ohne Hilfe anderer etwas erreichen, so zei‐
gen wir dabei nur, daß wir uns selbst noch
nicht als das verstehen, was wir nun ein‐
mal sind und auch vor unserem „Falle”
von Ewigkeit her waren. ‒ ‒
.Wir müssen dann in die Irre gehen,
auch wenn wir mit lauterstem Willen, mit
reinstem Herzen das Höchste erstreben mö‐
gen...
.Auch des Menschen höchstes Hochziel,
das Erleben der Vereinigung
mit seinemlebendigen Gott
voll Kraft und Wirklichkeit,
ist für ihn niemals erreichbar, wenn er der
168 Das Mysterium von Golgatha
Führung entbehren zu können glaubt, die
ewige Weisheit und Barmherzigkeit in Liebe
für ihn bestellte.
.Er bedarf dieser Führung, weil es nun
einmal so im kosmischen Leben des
Ganzen begründet ist, und er wird keines‐
wegs an Wert verlieren dadurch, daß er sich
Hilfe erbittet, so wenig der andere
etwa dadurch an Wert gewinnen kann, dem
es obliegt, die geistige Hilfe zu spenden,
nachdem auch ihm dereinst geholfen werden
mußte, bevor er Anderen Hilfe spenden
konnte. ‒
.Hier reicht stets eine Hand der andern
weiter, was sie einst selbst empfing, und keiner
hat etwa allein aus sich, was er den
andern nun zu geben hat!
Nur aus dem strahlenden „Urwort” geht
„das Wort des Herrn in alle Lande” und
schafft zu aller Zeit die Leuchtenden
der Erde, die ihren noch nicht erwachten
Brüdern Licht ins Dunkel bringen kön
nen, denn der Mensch, der nicht berei
169 Das Mysterium von Golgatha
tet wurde, ‒ längst ehe er als seiner Mutter
Sohn auf dieser Erde geboren ward, ‒ ver‐
mag es nach dem „Falle” nicht mehr,
ohne Hilfe jenes Licht zu fassen, das dem
Urwort” nur allein entströmt, und das
nur den zum „Worte” werden lassen kann,
der schon Jahrtausende, bevor die Erde ihm
den Leib des Tieres zur Verhüllung gab, aus
freiem Willen eine Bürde auf sich nahm, die
schwer zu tragen ist für einen Erdenmenschen,
und die nur selten einen findet, der dem
Fall” erlegen war, und sie dann doch noch
aus Mitleid und Erbarmen mit der Erden‐
menschheit auf sich nimmt.
.Nur wer so zumWorteberei
tet wurde, hat das Recht, seine Ne‐
benmenschen nun zu belehren, wo es
höchste Lehre gilt, und es ist der Mensch‐
heit noch zu allen Zeiten solche gesicherte
Lehre geworden, durch Lehrer, deren
Wort in Gott begründet war.
.Kein einziger Mensch, den jemals,
seit Jahrtausenden, diese Erde trug und
nährte, hat je sein höchstes Ziel erreicht,
keiner ist je zum Bewußtsein der
170 Das Mysterium von Golgatha
Vereinigung mit seinemle
bendigen Gott” gelangt, ohne die
geistige Hilfe dieser, vom „Urwort” zum
Helfen Verordneten!
.Ihnen allein ist zu vertrauen, ‒
und ob man tatsächlich auch einen aus ihnen
vor sich hat, darüber läßt die Stimme des
Herzens niemals einen Zweifel zu, solange sie
nicht übertönt wird von trügerischen Lehren,
denen man sich, ohne zuerst zu fragen, wahn‐
betört dereinst gefangen gab.
Nicht Wundertaten geben hier den
Ausweis, und niemals wird ein wahrer Helfer
seiner Brüder sich mit Fakirkünsten
brüsten.
.Wohl kann es sich ereignen, daß er Kräfte
meistert, die den meisten „übermenschlich”
erscheinen und „wunderbar”, ‒ allein solche
„Zeichen und Wunder” sind auch dann
nur sekundäre Nebenerschei
nungen seines Wirkens und neben an‐
derem nur durch besondere Eignung seines
psycho-physischen Organismus bedingt, ‒
171 Das Mysterium von Golgatha
aber niemals kann solches Wirken ihn als
Berufenen erweisen.
.Das Akkreditiv des wahrhaft zur Hilfe Ver‐
ordneten wird stets nur in jenem aller
innersten Inneren der Hilfe
suchenden gefunden, das kein Senkblei
mißt und in das die Tagesmeinung und das
Vorurteil des Gedankens niemals dringt.
.Wer dort, die Worte seines Lehrers prü‐
fend, Antwort sucht, durch keiner selbst‐
geschaffenen Lehre Wahn beirrt, und keiner
Meinung anderer verhaftet, ‒ wird niemals
sich durch falsche Lehrer trügen lassen.
.Man wird ihn zu der Quelle des Le
bens führen, zu jenem „Urlicht”, das
sich selbst als „Urwort” erkennt und das
seine „Worte” als lebende Geistes
wesenheiten „spricht” von Ewigkeit zu
Ewigkeit.
Wie ein Dichter, aus Worten der mensch‐
lichen Sprache, Gesänge, Epen und Hymnen
formt, so formt sich das „Urwort” aus
172 Das Mysterium von Golgatha
seinen „Worten”, aus eigener Schöpfer‐
kraft, seinen ewigen Preisgesang
in Gestalt unermeßbarer Hierarchien
geistiger Wesenheiten, und jener
Hierarchien letzter Ausklang findet sich
in den Brüdern der „Weißen Loge”,
die seit Urzeittagen auf dieser Erde Licht
zu verbreiten sucht, und deren Glieder al
lein die Vollmacht des Geistes be‐
sitzen, aus innerstemWissen”, aus
tiefster Erfahrung heraus, vom
Geiste zu zeugen.
.So gehen vom „Worte”, das „Gott
ist, von der Selbstaussprache des
ewigenUrlichts”, alle Strahlen aus,
die je auf Erden Licht zu zünden suchten!
.Das erscheint nur denen unfaßbar oder
des Zweifels wert, die noch keine in
nere Einsicht in jenes über alle Dar‐
stellungskraft erhabene Sein besitzen, das
in höchster Formung seiner selbst sich
als „Gott” erkennt. ‒
Man muß von den Stufen dieses ewigen
Lebens, von seinen Daseinsformen
173 Das Mysterium von Golgatha
einiges wissen, will man ergründen, was
Gott” in Wahrheit ist, und wie der
lebendige, wirkliche Gott in unend‐
licher Zeugung seiner selbst sich aus dem
eigenen Sein zu ewig erneuter Seins-Form
entringt.
.Man muß wissen, was Ihn, der über
alle Höhen und Abgründe herrscht,
da er alles, was ist, in sich
faßt, von dem, ‒ ach so oft in wunder‐
lichster Gestalt erträumten „Gotte” mensch
licher Vorstellung unterschei
det. ‒
.Es wurde von manchem schon gesagt:
Alles ist Gott!” ‒ und: „In je-
dem Atom dieser Erscheinungswelt sollt
ihr Gott entdecken!” ‒ „Alles Äußere
dieser Welt ist nur Schein und in Wahr‐
heit sind alle Dinge nicht Dinge, sondern
Gott!” ‒
.Gewiß läßt sich solches sagen, und wenn
man es im rechten Sinne ver
stehen will, kann es als Wahrheit
gelten, auch wenn diese Wahrheit sehr
174 Das Mysterium von Golgatha
verfänglicher Auslegung zugäng‐
lich bleibt.
.Für das Erfassen des menschlichen Geistes
wird solches Spiel mit Worten aber wenig
Fruchtbares haben.
.Will man zu höchster Erkenntnis der
Wahrheit kommen, dann müssen die
Dinge, trotzdem sie nicht sind, was
sie scheinen, immerhin Dinge für
uns bleiben und dürfen auch nicht in
sublimster Weise von uns ver
göttert werden. ‒
.Wir laufen sonst Gefahr, einer Dar
stellungsform des ewigen Lebens,
aus dem sich die Gottheit ewig neu gestaltet,
göttliche Ehre zu erweisen, nur weil sie die
Fassungskraft des Menschen überragt, und
können uns auf solcher Stufe derart binden,
daß es für uns unmöglich wird, der wirk
lichenGottheitin ihrer strah
lenden Majestät jemals zu begegnen.
Dreifach äußert sich dieses ewige Le
ben, das der Gottheit „Nahrung” bildet,
175 Das Mysterium von Golgatha
in seinen jeweiligen Darstellungsformen: ‒
als physische Allnatur, als Reich
der flutenden Seele und als das
Königreich des Geistes!
.Kein „Schöpfer” hat eines dieser Reiche
„geschaffen”!
.Alles ist nur Darstellungsform des
einen, ewigen Lebens, das über allen
diesen drei Darstellungsformen erhaben, sich
selbst in seinem höchsten Bewußtsein
kristallisiert als das „Urlicht”, als der
Inbegriff dessen, was der Mensch in Wahr‐
heit als Urquelle alles Lebens er‐
schauernd in sich zu empfinden vermag, ‒
als seinen lebendigenGott”.
Ursache seiner selbst in allen
seinen Darstellungsformen fin‐
det dieses ewige Leben doch nur sein höch‐
stes Sein erst über aller Darstellungsform
erfüllt, obwohl auch jede seiner Dar
stellungsformen jeweils seines We‐
sens ist, aber gleichsam nur als Ozean
der Erneuerung dient, aus dem es
176 Das Mysterium von Golgatha
sich selbst, aus sich selbst,
stets neu erzeugt, durch die eigene,
selbst gegebene Kraft. ‒
.Darüber ist gesagt: „Als Nahrung
hat Brahma diese Welt gebil
det” ‒ nur darf man hier nicht, in exo‐
terischer Denkart befangen, an einen Bildner
und sein Gebilde denken, denn dieses Wort
der Veden sagt dem Wissenden er‐
heblich mehr, ‒ es enthüllt ihm die ab‐
grundtiefe Wirklichkeit, enthüllt ihm
das inhaerente Gesetz der Selbst
erzeugungBrahmas”, das Wesen
des einen, absoluten Seins, das da
ewiges Leben ist aus sich selbst,
und das seiner höchsten, allumfassenden
Selbsterkenntnis als „Gottheit”,
in seinen Darstellungsformen zur
„Nahrung” dient...
Urewig schöpfungsträchtig wirken die inhae‐
renten Kräfte der Darstellungsform des ewigen
Lebens als physische Allnatur
formgestaltend und formzerstörend, um neue
Form zu gestalten.
177 Das Mysterium von Golgatha
.Welten entstehen und Welten zerstäuben
im All zu jeder Zeit, aber niemals hat es da
einen „Anfang” gegeben, der ein Anfang des
Alls gewesen wäre, niemals gibt es einen
„Untergang” dessen, das in sich selber Le
ben ist, das in sich selber als Leben schöp‐
ferisch sich auswirkt und aller Welten Wer‐
den und Vergehen in sich schließt für alle
Ewigkeit. ‒
.Wie es Kraftzentren gibt in dieser Dar‐
stellungsform des ewigen Lebens, die kein
Mikroskop und kein noch so verfeinertes In‐
strument der Forschung dem Menschen-Sinn
je erschließt, so gibt es hier auch unsichtbare
Träger höchster Intelligenz, deren
Fähigkeiten die Kraft des gewaltigsten mensch‐
lichen Denkens übersteigen, wie das Denken
eines Urwaldnegers von der Denkkraft
eines Philosophen vom Range Spinozas oder
Kants überstiegen wird.
.Gleichzeitig aber gibt es in dieser
selben Darstellungsform des Lebens auch un‐
sichtbare Wesen, denen kaum die „Intelli‐
genz” der Tiere innewohnt, die der Mensch
als Lasttiere braucht.
178 Das Mysterium von Golgatha
Alle diese unsichtbaren Wesenheiten sind je‐
doch keineswegs „geistiger” Natur, sind
auch in ihren höchsten Formen,
obwohl ihre individuelle Lebensdauer Jahr‐
tausende betragen kann, noch keineswegs „un‐
sterblich”. ‒ ‒
.Für die höchsten dieser Wesenheiten,
‒ in vielen Kulten alter Zeit wurden sie
als „Götter” verehrt, ‒ gibt es keiner
lei „Rätsel” der Natur.
.Alles, was die physische ‒ sichtbare wie
unsichtbare ‒ Darstellungsform des ewigen
Lebens ausmacht, ist ihnen, die durch
und durch Intellekt sind, bis ins klein‐
ste erschlossen.
.Aber alles, was über diese Darstellungs‐
form hinausreicht, ‒ das ganze un‐
ermeßliche Reich der flutenden
Seele und das Reich des Geistes,
ist ihnen nur absolutes Nichts. ‒ ‒
.Sie kennen keine „Gottheit” und sie ver‐
achten das ihnen bekannte, intellektuelle Stre‐
ben des Menschen, einen „Gott”, ein „Dasein
Gottes” beweisen zu wollen, da sie wis‐
179 Das Mysterium von Golgatha
sen, daß für den Intellekt tatsäch‐
lich kein „Gott” existiert...
.Ihrem Einfluß ist jede Überschätzung des
menschlichen Denkens, jede Hy‐
pertrophie des Intellekts in der Mensch‐
heit zuzuschreiben.
.In der physischen Darstellungsform
des ewigen Lebens erkennt sich das Leben
selbst nur als physische Allnatur,
ohne seiner höheren Darstellungsformen
als Seele und Geist in sich selbst be‐
wußt zu werden.
Scharf von der Darstellungsform als phy
sische Allnatur geschieden, durch un‐
überbrückbare Kluft der Empfindungsfähig‐
keit von ihr getrennt, und dennoch
diese erste Darstellungsform durchdrin
gend, offenbart sich das Reich der flu
tenden Seele mit seinen unendlichfäl‐
tigen Formen empfindender Kräfte und We‐
senheiten.
.Ihnen allen ist sowohl das Dasein der
physischen Allnatur wie das Dasein
180 Das Mysterium von Golgatha
des geistigen Reiches „bewußt”, im
Sinne einer Empfindung der Wir
kungen, die sie aus beiden Reichen
wahrzunehmen fähig sind.
.Von dem Reiche der flutenden
Seele wieder scharf getrennt, wie
auch von dem Reiche der physischen
Allnatur, obwohl beide Darstellungsfor‐
men des ewigen Lebens durchdringend,
ist das Reich des Geistes mit seinen
unermeßlichen Hierarchien selbstbewuß
ter, selbstempfindender, den
kender, fühlender und in di
rekterAnschauungerkennen
der, ewiger, der Vergänglich
keit ihrer Individualität entrückter,
reiner Geisteswesen, ‒ der höch
sten Form des Vielheitsempfin
dens im ewigen Leben.
In unermeßlicher Stufenfolge erhebt sich
ein Kreis der Vollkommenheit über dem
anderen, bis, in menschlicher Weise ge‐
sprochen, die höchste Spitze dieses
Lichtkegels im Eigenbewußtsein des
181 Das Mysterium von Golgatha
ewigen Lebens in höchster Er‐
kenntnis seiner selbst, die sein gan
zes Sein umfaßt, erstrahlt, im „Ur
licht” bewußt geworden, des Urlichtes
Sein erlebt, und in ihm zum „Urworte
wird, zur Selbstaussprache des
absoluten Seins, die wieder Leben
wirkt in allen drei Darstellungs
formen, die dem ewigen Leben eignen.
.Hier sind wir an der Quelle des Le
bens angelangt, an jener Quelle, die ewig
aus sich selber strömt, und ewig in
sich zurückfluten läßt, was ihr
entquoll.
Ich bin mir des Mangels wohl bewußt, daß
menschliche Sprache unweigerlich zum Stam‐
meln werden muß, will sie versuchen, diese
nur im Geiste und nur durch direkte
Anschauung” faßbaren Dinge zu be‐
schreiben, und dennoch glaube ich, daß für
manchen, der diese Worte lesen wird, etwas
wie fernes Ahnen aufdämmern mag, das
ihm sein Innerstes im freudigen Widerhall be
stätigt, ‒ und das ihm den Weg zum höch‐
182 Das Mysterium von Golgatha
sten Menschengeistesziele, den ich so mannig‐
fach zu zeigen suchte, besser erschließen wird,
als wenn ich geschwiegen hätte. ‒ ‒
.Gewiß ist hier alles nur durch Andeu
tung gegeben, allein man vergesse nicht,
daß sich hier das meiste völlig der Rede
entzieht, sodaß es auch dann noch
ein Geheimnis bleiben müßte, wenn ich
über jedes hier berührte Wort ein dickes
Buch zu schreiben gedächte. Aus tiefster
Ehrfurcht vor meiner Rede unergreifbar er‐
habenem Gegenstand, bin ich auch möglichst
allen konventionellen Wortprägungen ausge‐
wichen, die sich das menschliche Denken
schuf, wo es Ewiges spekulativ zu er‐
kennen versuchte. ‒
Ich glaube gehalten zu haben, was der Titel
dieser Betrachtung versprach, doch wird nur
der aus meiner Lehre Nutzen ziehen, der
selbst sich aufmacht, um nach der
Quelle des Lebens zu suchen und
nicht rastet, bis er ihre Spur in sich gefunden
hat, auch wenn ihr „lebendiges Wasser” ihm
nur durch jene Kanäle zuströmen kann,
die es sich selber bahnte, um für den
183 Das Mysterium von Golgatha
Menschengeist auf dieser Erde, trotz seines
„Falles”, noch faßbar zu werden, damit er
mehr davon verlange, um so nach Äonen
einst des ewigen Lebens ganze
Fülle durch alle Ewigkeiten zu genießen.
.Der einst auf Golgatha sein Leben ließ
und sterbend höchste Liebeskraft aus
Urgrundtiefen neu ins irdische
Dasein lenkte, hat allen, die ihm
wahrhaft folgen wollen, den Weg gebahnt,
der zu den Quellen des Lebens führt.
.Was er einst für die Menschheit wirkte,
kann erst der erfassen, der seinen eige
nen Erlösungsweg beschritten hat
und dann die Kraft erfühlt, die durch
das Werk des „großen Liebenden” ihm zu‐
strömt auf dem Wege, den er wählte...
.Ein solcher wird auch wissen, was des
hohen Meisters Wort besagt:
.„Und ich, wenn ich von der Erde er
höht bin, werde alles an mich ziehen.”
.Ein solcher wird allein erst imstande sein,
die „magnetische”, in das Ursein zurück‐
ziehende Kraft zu gebrauchen, die einst jener
Leuchtende aus ihrer Fessel riß durch seine
unbegrenzte Liebe!
184 Das Mysterium von Golgatha
DIE „AUFNAHME
IN DIE WEISSE LOGE”
Trotzdem ich an so vielen Stellen immer
wieder in der deutlichsten Weise Art und
Wesen jener geistigen Gemeinschaft erörtert
habe, als deren Glied mir die geistgegebene
unausweichliche Aufgabe wird, ihre Lehren
zu verbreiten, finde ich stets wieder aufs neue
Anfragen vor: „unter welchen Bedingungen”
man in diese Gemeinschaft, also in die
Weiße Loge”, aufgenommen werden
könne?
.Manche der so Anfragenden wissen auch
seltsamerweise zu berichten, irgend jemand
habe ihnen gesagt, er sei durch mich in die
„Weiße Loge” aufgenommen worden. ‒
.Ich kann wirklich kaum verstehen, daß
unter den hier in Betracht kommenden Per‐
sonen auch nur eine einzige sein könne, die
solchem Irrtum verfallen wäre.
.Wie dem aber auch sei, so diene allen hier
ein für allemal die unumstößliche Feststellung
187 Das Mysterium von Golgatha
zur Kenntnis, daß ich niemals irgend
eine Person, wer es auch sei,
in die geistige Gemeinschaft,
die man dieWeiße Logenennt,
aufnehmenkönnte, niemals
irgend einer Person daher sa
gen konnte, sie sei durch mich
in dieWeiße Loge” „aufgenom
men”, und daß ich niemals ir
gendwelche Personen als An
wärter zur Aufnahme vorschla
gen kann.
.Eine solche Feststellung scheint nötig zu
sein, trotzdem ich doch wahrlich keinen Zwei‐
fel offen ließ, daß während seines Erden‐
lebens kein Mensch jemals in die
„Weiße Loge” „aufgenommen” werden kann,
daß vielmehr jedes ihrer Glieder bereits als
solches geboren wird, nachdem es in sei‐
ner geistigen Existenz, Jahrtausende vor sei‐
ner erdenmenschlichen Geburt, die Ver
pflichtungen eingegangen war,
die allein die Zugehörigkeit zu
diesem geistigen Kreise bestim
men. ‒
188 Das Mysterium von Golgatha
Man sollte meinen, dies alles sei für einen
Menschen, der sich überhaupt mit geistigen
Dingen befaßt, doch nicht allzuschwer zu
verstehen.
.Vor allem aber sollte man eine etwas ge‐
klärtere Auffassung voraussetzen dürfen in
bezug auf die Änderungen des geistigen
Lebensbereiches, die eine „Aufnahme”
in die „Weiße Loge” doch mit sich brin‐
gen müßte, wenn sie tatsächlich während
des Erdenlebens möglich wäre. ‒ ‒
.Glaubt man denn wirklich, eine solche
„Aufnahme” ‒ einmal angenommen,
sie wäre möglich, ‒ würde keine anderen
Wirkungen zeitigen, als etwa die Aufnahme
in irgend eine Religionsgemeinde?!
.Jeder, der das, was ich geschrieben habe,
jemals las, muß doch wissen, daß da von
den verschiedensten geistigen Kräften
die Rede ist, die den wirklichen Gliedern
der „Weißen Loge” eignen, von den verschie‐
densten geistigen Fähigkeiten,
und vor allem, von der steten geistigen
Kommunikation untereinander!
189 Das Mysterium von Golgatha
.Einfachstes logisches Denken muß daher
doch auch dem in so seltsamen Irrtum Be‐
fangenen sagen, daß er all dies in sich
gewahr geworden sein müßte, wenn
er ein Glied der „Weißen Loge” gewor
den wäre. ‒
.Es zeigt sich da eine äußerst naive
Beurteilung realen geistigen Le
bens! ‒ Man verwechselt ganz offenbar das
geistige Erlebnis, dessen „Wirklichkeit” weit
stärker empfunden wird als die scheinbar noch
so kompakte Realität physischer Er‐
lebnisse, mit irgendwelchen Phantasievorstel‐
lungen, mit einer Art wachen Träumens, mit
Halluzinationen oder Wirkungen „spiritisti‐
scher” Einflüsse, ohne zu ahnen, daß ein
Mensch, der bewußt in den realen geisti
gen Welten zu leben fähig ist, ein völlig
andersartiges Leben kennt, dem ge‐
genüber alles, was man so im allgemeinen
Sprachgebrauch „geistiges” Leben nennt,
durchaus verblaßt, schattenhaft, künstlich und
unwirklich erscheint!
.Man kann sich, wenn man es nicht selbst
lebt, dieses reale geistige Leben nicht
190 Das Mysterium von Golgatha
einmalvorstellen”, aber man dürfte
doch wenigstens nach den sachlichen Schilde‐
rungen, die ich davon an so vielen Stellen
meiner Schriften gebe, sich einigermaßen auch
auf intellektuelle Weise darüber klar
werden, daß es sich da um das höchste Wirk
liche handelt, das je erlebt werden kann! ‒
Die Frage um die „Aufnahmebedin
gungen” der „Weißen Loge” und das An‐
erbieten, „Tochterlogen” gründen zu wollen,
zeigt weiter, daß sonst mit allerlei „okkulten”
Dingen vertraute Leute hier der Ansicht sind,
es handle sich um irgend eine äußere, der
Pflege der Mystik, oder des Okkultismus er‐
gebene Gesellschaft, etwa nach der Art der
alten Illuminatenorden oder der Logen der
Freimaurerei.
.Dazu kann allerdings die Bezeichnung
„Weiße Loge” beigetragen haben, die be‐
kanntlich nicht von mir gebildet wurde,
die ich aber beibehielt, eben weil mir doch
in weiten Kreisen ein Begriff damit verbun‐
den schien, der gerade die obigen Irrtümer
ausschließen müßte.
191 Das Mysterium von Golgatha
.Im großen und ganzen zeigte es sich ja
auch, daß die Beibehaltung dieses Wortes
nötig war, weil sich sonst die verwirrende
Ansicht hätte bilden können, es gäbe neben
der geistigen Gemeinschaft, aus der ich spreche,
noch eine andere geistige Gemeinschaft,
die sich eben die „Weiße Loge” nenne.
.Damit aber auch hier jede letzte Möglich‐
keit eines Irrtums schwindet, sei in dürren
Worten ein für allemal folgendes gesagt:
.Die geistige Gemeinschaft, deren Glied ich
bin und von der ich künde, ist eine real
geistige Vereinigung, ‒ eine Viel-Ein
heit von geistigen Wesenheiten, da‐
von die meisten entweder niemals den Erden‐
körper getragen haben oder längst ihn der
physischen Erde zurückließen, während zu je‐
dem Zeitalter auch einige wenige im Er
denkörper des Menschen dieser
Erde leben und wirken, im äußeren in
keiner Weise und durch keinerlei Be‐
freiung von den naturgesetzlichen Gegeben‐
heiten von ihren Mitmenschen unterschieden.
.Ein fundamentaler Unterschied besteht aber
in bezug auf das innere Leben!
192 Das Mysterium von Golgatha
.Während unsere Mitmenschen nur die äußere
physische Welt und das Leben der Seelen‐
kräfte wahrzunehmen vermögen, jedoch das
Dasein der realen geistigen Welten höch‐
stens ahnend gewahr werden, sind uns die
Welten des realen substantiellen Geistes bis
zu den höchsten Stufen, die ein gleichzeitiges
Leben im Erdenkörper noch zulassen, voll‐
bewußt erschlossen.
.Wir erleben zu gleicher Zeit die äußere
physische Welt, die Welt der Seelenkräfte
und die reale geistige Welt, ohne einer an‐
deren Vorbereitung zu bedürfen, als der be‐
wußten Einstellung auf dieses oder jenes Blick‐
feld.
Wir erleben die geistigen Welten nicht etwa
in „Ekstase” oder in einem sonstigen ab‐
normalen Zustand, sondern nüchtern und
wachend, ohne daß auch nur irgendwelche
äußeren Merkmale dem zufälligen äußeren Be‐
obachter verraten könnten, daß unser Be‐
wußtsein sich im gegebenen Moment nicht
allein auf das Äußerlich-irdische richtet.
193 Das Mysterium von Golgatha
.Wir stehen ferner in permanenter, bewuß‐
ter, geistiger Verbindung untereinander, so,
als ob ein steter gleichmäßiger elektrischer
Strom uns immerfort alle ‒ auch die nicht
im Erdenkörper Lebenden ‒ durchkreisen
würde.
.Ob wir uns im Erdenkörper äußerlich be‐
gegnen oder nicht, ist gleichgültig.
.Wenn wir uns begegnen, so gilt die äußere
Begegnung auch nur dem äußeren Erden‐
menschen.
.Auf geistig-reale Weise können wir uns
alle einander sichtbar und vernehm
bar machen durch bloßen Willensakt.
.Wir haben wohl eine Art „Zentralpunkt”
auf Erden, an dem stets einige aus uns in
tiefster Isolation von der übrigen Welt zu‐
sammenleben, aber wir haben keinerlei äußere
„Versammlungen”, schon weil das durch un‐
sere ständige geistige Kommunikation völlig
unnötig ist.
.Wir befolgen daher auch keinerlei
äußere Riten, kennen keinerlei
Zeremonien!
194 Das Mysterium von Golgatha
.Wer zu uns gehört, wissen wir ohne irgend‐
welche äußere Zeichen.
.Niemand kann zu uns gehören, der nicht
schon, wie oben bereits gesagt, vor seiner Ge‐
burt im Erdenkörper zu uns gehörte.
.Die „Aufnahme” ist nichts anderes als die
Folge einer Jahrtausende vor der Geburt frei‐
willig übernommenen Verpflichtung.
.Diese Verpflichtung geschieht in einem
geistigen Zustand, der dem Erdenmen‐
schen bewußtseinsfremd bleibt, obwohl ihn
jeder auf Erden Geborene einst durchlaufen
hat.
.Auch die Glieder unserer geistigen Ver‐
einigung wissen nur in ihrer rein geistigen
Wesenheit durch direkte Erinnerung von die‐
sem früheren Zustand ihres Seins.
.Der Erdenkörper und die seelischen Fähig‐
keiten eines solchen Menschen müssen erst
nach und nach, unter Anleitung Vollendeter,
tauglich gemacht werden zur Übertragung der
geistigen Kräfte und Fähigkeiten auf die Be‐
wußtseinssphäre seines Willens, aber diese
195 Das Mysterium von Golgatha
„Schulung” geschieht von innen her,
auch wenn der die Entfaltung leitende „Bru‐
der” äußerlich sichtbar in seinem Erdenkörper
in Erscheinung tritt.
.Die auf Erden lebenden Glieder dieser gei‐
stigen Vereinigung sind keine „Heiligen” und
menschlichem Fehlen nicht entrückt.
Wir sind ebenso wenig etwa „Fakire”, d. h.
wir geben uns, obwohl uns die betreffenden
Möglichkeiten durchaus bekannt sind und ob‐
wohl wir jederzeit des Erfolges sicher sein
könnten, niemals und unter keinen
wie immer gearteten Umständen
mit irgendwelchen „okkulten Künsten”, mit
zeremonieller Magie und ähnlichen Dingen ab.
.Unser Wirken kennt nur die Kräfte der
real-geistigen Welten, d. h. wir schaffen nach
streng verpflichtenden geistigen Gesetzen
jeweils geistige Ursachen, deren Fol‐
gen in der seelischen und physischen Welt
gewisse wohltätige Änderungen für die Mensch‐
heit zeitigen.
196 Das Mysterium von Golgatha
.Wir handeln dabei keineswegs nur nach
eigenem Ermessen, sondern als Ausführende
höherer geistiger Befehle, die wieder ganz be‐
stimmten Bedingungen entsprechen und nur
höchst selten durch unsere Wünsche modifi‐
ziert werden können.
.Man sieht, es handelt sich hier wahrhaftig
nicht um „Adeptenzirkel”, um eine mehr oder
weniger religiös gefärbte „geheime Gesell‐
schaft”, um eine Schule des „Geheimwissens”
oder überhaupt um eine „äußere”, durch
Konstitutionen oder Satzungen zusammenge‐
haltene Korporation!
.Wohl stellten sich zu Zeiten solche äußere
Vereinigungen unter die Leitung die‐
ser rein geistigen Vereinigung, aber nie hat
eines ihrer Glieder einer solchen äußeren Ver‐
einigung im äußeren Leben angehört, ‒
es sei denn als geistiger Leiter!
Wie geheimnisvoll daher die Berichte über
äußere, geheime Gemeinschaften auch lauten
mögen, so darf man doch niemals vermuten,
man habe es mit der „Weißen Loge” zu tun.
197 Das Mysterium von Golgatha
.Es handelt sich hier um etwas so we
sentlich anderes, um etwas so
einzig Dastehendes und so Ver
borgenes, daß alles Suchen im äußeren
menschlichen Gemeinschaftsleben nur Irrtum
und Verwirrung zutage fördert.
.Lediglich die Folgen des wohltätigen
geistigen Wirkens dieser geistigen Viel-Einheit
lassen sich von dem sorgsam suchenden Be‐
obachter der Geschichte der Menschheit zu‐
weilen feststellen.
.Um schließlich noch letzte Irrtumsmöglich‐
keit zu zerstreuen, sei ausdrücklich bekannt,
daß die Glieder dieser geistigen Vereinigung
zwar des öfteren auch durch das ge
schriebene Wort in der Menschheit
wirkten, daß aber, bevor man mir den geistig
verpflichtenden Auftrag gab, noch zu
keiner Zeit in einer allen ver
ständlichen Sprache offen über
alle diese Dinge gesprochen
oder geschrieben wurde, wie es
jetzt durch mich geschieht, und daß mehr als
nur ein Jahrtausend vergehen wird, bevor ein
198 Das Mysterium von Golgatha
späterer meiner Brüder im Geiste diese meine
Arbeit fortsetzen kann. ‒
.Daß auch dieses äußere Wirken seine Be
gündung in dem Gesamtplan gei
stigen Wirkens findet, dem die „Weiße
Loge” dient, bedarf für den Einsichtigen kei‐
ner besonderen Erörterung. ‒
Soviel mir aber auch zu sagen geboten
ist, so leugne ich doch keineswegs, daß weit
mehr, auch heute noch, Geheimnis
bleiben muß und für immer ein Ge‐
heimnis bleibt, weil es nur denen auf
Erden vertraut werden kann, die nach eigenem
Wollen eine Jahrtausende dauernde Erprobung
durchlaufen haben, bevor sie des Menschen
irdisches Kleid in einer Mutter Leib erhalten
konnten.
.Ich hoffe, daß diese Darlegungen genügen
werden, um endlich die Frage aus der Welt
zu schaffen: wie man „Mitglied” der „Weißen
Loge” werden könne, und daß sie darüber
hinaus noch manche Klärung bringen, die
vielen erwünscht sein mag. ‒
199 Das Mysterium von Golgatha
Die durch mich vermittelten Lehren tra
gen ihre Wahrheit in sich selbst,
aber sie können ihr Tiefstes stets nur denen
enthüllen, die diese Wahrheit im eigenen Da‐
sein erleben wollen... Möge auch dieses
Buch für Viele auf solche Weise zum Erlebnis
werden!
.Nur wenn es Erlebnis wird, nur wenn
seine Lehren aus der Sphäre theoretischer
Erwägungen herausgehoben werden, um das
Alltagsleben zu durchdringen, kann es
seinem Leser die Augen öffnen für die Er
lösung aus der Nacht der Nichterkennt‐
nis...
.Das Wissen um eine Lehre die zum
Leben führt, wird erst dann zum Heil, wenn
der also Wissende die Lehre auswirkt
in Leben und Tat.
.Der einst als wahrhafter Hoherpriester den
tiefgeheimnisvollen Segen herabzog auf alles,
was Menschenantlitz trägt, ‒ er, der auf
Golgatha die höchste Liebestat vollbrachte, ‒
200 Das Mysterium von Golgatha
was wollte er anders, als daß in tätigem
Leben seine Lehre zur Auswirkung
gelange!
.Wenn dieses Buch dir das Mysterium der
Liebe faßbar machen soll, das jener unver‐
gleichlich Liebesstärkste einst in seinem Erden‐
tode wirkte, so werden alle meine Worte den‐
noch nichts vermögen, solange du nicht selbst
in Tat und Wirken meiner Worte Wahrheit
zu erleben suchst.
.Aus gleicher Quelle strömte seine
Lehre, wie das Wort, das ich dir gebe!
.Wenn du erfassen willst, was hier zu fassen
ist, dann mußt du willens sein, dein ganzes
Leben einer Wirklichkeit zu weihen,
die keinem je erkennbar wird, der sie nicht
schlicht und alles Wissensdünkels ledig in
sich selbst zu finden sucht, in eige
nem Erleben. ‒
.Dann aber wirst du für alle Zeiten in
der Wahrheit geborgen sein!
201 Das Mysterium von Golgatha
.Dann wirst du erfahren, was es heißen will:
im ewigen Leben zu stehen!
.Dann wirst du selbst der Wahrheit
Zeuge werden!
*           *
*
202 Das Mysterium von Golgatha
TÖRICHTE ERFINDUNGEN
Gehorsam dem Ursprung meines geistigen
Seins, sehe ich mich hier verpflichtet,
vor einer Art „Weltanschauungsliteratur” ein‐
dringlichst zu warnen, die immer breiteren
Raum für sich beansprucht und immer weitere
Kreise von Suchenden suggestiv erfaßt, ‒ bei
Licht besehen aber nichts anderes darstellt
als eine jeweils auf neue, kuriose Weise um‐
geschichtete Aufspeicherung un
ausgereifter Lesefrüchte.
.Manche der Urheber solcher Literatur‐
erzeugnisse gehören zu der seltsamen Men‐
schensorte jener Selbstberufenen, die keine
fünf Bücher zu durchstöbern vermögen, ohne
die Gewißheit in sich zu verspüren, berechtigt
und reif zu sein, nun ein sechstes Buch über
ähnliche Materie selbst schreiben zu dürfen.
.Andere aber haben wirklich so ziemlich
alles gelesen, was jemals eines Menschen Hand
niederschrieb als erdachte oder geglaubte
205 Das Mysterium von Golgatha
Lösung jener Fragen des Verstandes wie
des Herzens, die hinausverlangen über eine
Welt, in der Leid und Tod, wie schreckende
Gespenster, hinter aller Freude lauern.
.Bestaunenswerte Belesenheit verbindet sich
dann oftmals mit wohlgeübtem spekulativen
Denken und einer nicht minder bedeutenden
Kraft des Sagenkönnens, aber der Schrei‐
bende mag in solchem Falle selbst nicht be‐
merken, daß er sich nur vom Herzen schreibt,
was er innerlich „loswerden” will, ‒ daß
sein Gehirn die wunderlichsten Gedanken‐
sprünge wagt, nur damit der Kopf endlich
frei werde von dem Wust gedächtnismäßig
angehäufter, angelesener Fallfrucht aus allen
Feldern des Denkens, allen Gärten mensch‐
licher Glaubenslehren.
.Selbst ehrfurchtgebietendes Wissen im
strengsten Sinne nüchterner
Wissenschaft schützt in keiner Weise
vor gleicher, notgetriebener Selbstberuhigung,
die allzu sicher Hand in Hand mit der Ein‐
rede läuft: ‒ so wie die auserdachte For
mulierung „müsse” auch die Wirk
lichkeit gestaltet sein.
206 Das Mysterium von Golgatha
Die Wirklichkeit ist aber in jeder Weise un
abhängig von den Vorstellungsbildern
und Gedankenkonstruktionen, die sich das
Menschenhirn reproduzierend schafft und aus
denen es seine Welt erbaut.
.Die Fülle der irdischen Erkenntnis, die der
Gedanke zu erarbeiten, die Vorstellung
zu erklären vermag, darf nicht zu der
Mutmaßung verführen, daß man im Denk
resultat und in der Erklärung nun
etwa Werkzeuge gewonnen habe, mit denen
die Wirklichkeit gewandelt werden
könne.
.Unveränderbar, ihrem eigenen Gesetz ge‐
treu, spottet sie jeglicher Absicht, ihr an
dere Formung schaffen zu wollen, und
keine menschliche Geisteskraft vermag das,
was wahrhaft Wirklichkeit ist, zu wan
deln, wenn auch recht geringe Weisheit
schon ausreicht, um in törichten Erfin‐
dungen sich zu ergehen, durch die der
Mensch sich die Wirklichkeit hörig zu machen
glaubt.
207 Das Mysterium von Golgatha
.Um solche törichten Erfindungen handelt es
sich ausnahmslos in einer Art Literatur, auf
die meine Worte hier deuten.
Relativ ungefährlich bleiben diese Schriften
und Traktätchen noch, wenn die Torheit so
zutage liegt, daß auch der Unbelehrte und
Nichtgewarnte sie alsbald entdeckt.
.Weit mehr Unheil aber bringen solche
Bücher, wenn in ihnen ein fanatischer Geist,
geübt in denkgerechter Darstellungsmethode,
die Gallerte seiner hirngeborenen Erfindungen
mit allerlei Erkenntnisfragmenten mischt,
die wahrhaftes Bildstück der Wirklichkeit
sind.
.Der Leser fühlt dann bei jedem solchen
Bruchteil, den er in der weichen Masse findet,
etwas Festes, ‒ fühlt mit Sicherheit,
daß diesem Stück der Darbietung eine
Wirklichkeitswahrheit entsprechen müsse,
und wagt daraufhin den unvorsichtigen Schluß,
daß dann auch wohl das ganze schwabbernde
208 Das Mysterium von Golgatha
Gemenge wahrhaftes Zeugnis der Wirklich‐
keit sei. ‒
.Die nächste Folge ist Furcht, durch
eigenes Prüfen und Wägen einer Wahrheit
verlustig zu gehen, und einmal im Banne
solcher Furcht, erlahmt zuletzt alle Fähig
keit zu eigener Kritik, die allenfalls den
geschickt Geköderten noch von der Angel
hätte befreien können.
.Es gibt recht viele hochachtbare Männer
und Frauen, die voreinst als ehrliche Suchende
das Wahrheitsbild der Wirklichkeit zu finden
hofften, und dann auf die geschilderte Weise
für ihre ganze Lebenszeit auf Erden der
Freiheit verlustig wurden.
.An die Vergeudung des Nationalvermögens,
die in fast allen „zivilisierten” Ländern der
Welt getrieben wird um die Köpfe solcherart
zu verwirren, und Angst in die Herzen
zu pressen, mag hier nur andeutungsweise
erinnert werden...
Keiner der Autoren der hier gemeinten
Literaturgattung scheint sich die Frage zu
209 Das Mysterium von Golgatha
stellen, ob er auch nach seinem irdischen Tode
noch verantworten könne, was er in
seinen Erdentagen mit so suggestionsbereiter
Stimme lehrt, und vielleicht auch vor sich
selbst für verantwortlich hält. ‒
.Vielen wird eine solche Frage auch wenig
Kopfzerbrechen bereiten, da sie im Ver
borgensten ihres Denkens der These
folgen, daß doch mit dem Tode des Erden‐
körpers ohnehin alles Erleben beendet sei.
.Aber auch dort, wo der Erfinder zu‐
gleich Sklave seines selbsterzeugten Vor‐
stellungsweltgemenges ist, scheint nichts ferner
zu liegen als auch nur der leiseste Gedanke
des Zweifels am eigenen Recht zur Ver
kündigung.
.Es fehlt da wie dort leider allzusehr am
Verantwortungsbewußtsein, und
bitter schmerzlich wird es mir, hier auszu‐
sprechen, daß auch bewunderungswürdige
dichterische Gestaltung keineswegs im‐
stande ist, die Giftwirkungen zu paralysieren,
denen der seelische Organismus allenthalben
sich ausgesetzt findet, wo über die letzten
210 Das Mysterium von Golgatha
Dinge ohne Ruf und Recht gesprochen wird,
als ob da ein Thema gegeben sei, das man
nach Geschmack und Laune abwandeln
könne...
Es läßt sich zur Not vielleicht noch ver‐
stehen, wenn der im Dienste einer Glaubens‐
gemeinschaft wirkende, auf ihren Vor‐
stellungsvorrat angewiesene Versorger der
Seelen weiterhin lehrt wie man ihn lehrte,
daß er lehren müsse, trotzdem sein Er‐
kennen längst schon solche Lehre über
wuchs, ‒ aber kaum wird ein freier Wort‐
gestalter, der nur seiner Kunst verbunden ist,
auf das gleiche Verstehen und ‒ Verzeihen
rechnen dürfen, verwendet er urheilige Be‐
griffe und der Menschheit gottesnächste Worte
um dem Tag zu dienen, wenn der Tag, ver‐
ehrungsfern, Dekoration verlangt, die trübe
Tünche trügerisch verstecken soll. ‒
Die Menschheit dieser Zeit ist wahrlich noch
nicht „entartet,” auch wenn das berufs‐
mäßige Nörgler gern wahrhaben möchten.
211 Das Mysterium von Golgatha
.Selbst die bisherige Unfähigkeit der Völker,
einander auf andere Weise Achtung ab‐
zugewinnen, als nur durch die Angsterzeugung
vor den schauerlichsten Vernichtungsmitteln,
‒ ist wirkliche „Unfähigkeit”, nicht
Entartung!
.Diese Menschheit ist noch nicht fähig,
den Sinn ihrer mechanischen Eroberungen
während der letzten hundert, ‒ und noch
weniger: während der letzten fünfzig
Jahre, ‒ zu begreifen!
.Sie ist eben dadurch auch nicht fähig, die
genannten Eroberungen wirklich als Besitz
zu beherrschen, sondern wird vielmehr
von dem, was ihr zu erobern gelang, vorerst
„besessen”...
.Ist dieser gespenstische Zustand erst ein‐
mal überwunden, dann wird sich auch Fähig‐
keit einstellen, die urgründigen geistigen
Lehren zu entdecken, die hinter allen tech‐
nischen Erfindungen der neuesten Zeit auf
Entdeckung warten. ‒
212 Das Mysterium von Golgatha
.Aber auch heute schon könnte offener Sinn
aus den Bezirken technischer Eroberungen
die Lehre mit nachhause nehmen, daß
bloßes Wissen um die Handbuchthesen
der Mechanik keineswegs genügt, um auch
hier die Wirklichkeit wahrzunehmen,
die erst erkannt werden muß, bevor der
rechnende Ingenieur an sein Werk gehen
kann, will er zum Erfolg seiner Mühe gelangen.
.Nur wenn er der unbeeinflußbaren Wirk‐
lichkeit sich sorgsam anzupassen weiß,
werden die von ihm ersonnenen Maschinen
brauchbar sein.
So aber ist auch jede Erfindung allzureger
Phantasie völlig unbrauchbar wenn jene
Dinge Darstellung finden sollen, die unseren
heute allein bekannten und gewohnten Tier‐
leibsinnen unzugänglich bleiben müssen.
.Auch hier muß einer erst der Wirk
keit kundig sein, bevor ihm die Ge‐
wißheit werden kann, daß seine Darstellung
die Seelen nicht im Dickicht wildester Ver‐
wirrung enden läßt.
213 Das Mysterium von Golgatha
.Es sind aber zu jeder Zeit, unter allen
Millionen Menschen der verschiedenen Rassen,
nur ein paar Männer, die derart vorbereitet
geboren werden, daß sich die Wirklichkeit
ihnen zeigen, und daß sie den Anblick
der Wirklichkeit ertragen können. ‒
.Das Wort der Alten: ‒ „Wer Gott
sieht, muß sterben!” ‒ hat, für
fast alle Menschen, seine tiefe Berechtigung,
und selbst die winzige Gruppe wirklich Be‐
reiteter muß sich diesem Satze beugen, wenn
sie seine Wahrheit auch nur zu empfinden hat
in abgeschwächter Form...
.Ich bin ja, so wenig, wie irgend ein anderer
Erdenmensch, wahrlich nicht Urheber
dieser Gegebenheiten, sondern vermag nur,
mitteninne stehend, sie zu bezeugen.
.Daß menschliche Phantasie sich das alles
auch anders „vorzustellen” vermag, än‐
dert nicht das Geringste daran, daß die Wirk‐
lichkeit bleibt, wie sie ist, und daß sie nur
ihrem eigenen, innewohnenden Gesetz ent‐
spricht.
214 Das Mysterium von Golgatha
Wenn ich hier zu warnen habe vor unbe‐
rufenen Lehrern, so will ich doch, menschlich
mitfühlend, hoffen, daß kaum ein einziger
auch nur ahnt, was er seinen Gedanken da
als Spielzeug überläßt.
.Wirkliches Wissen um die in Jahr‐
tausenden noch nicht aufzulösenden Fol
gen, würde auch selbst den gewissenlosesten
literarischen Glücksritter unbedingt davor
bewahren, die Erfindungen seiner Vorstellungs
kraft als Wahrbild der Wirklichkeit
in Kurs zu bringen...
.In Mythe und Sage, wie in Legenden und
mancherlei Lehren alter Religionen ist dieses
Wahrbild der Wirklichkeit noch zu finden,
wenn es auch heute derart übertüncht und
kerzenrauchgeschwärzt ist, daß wohl schon
Mühe und Sorgfalt aufgeboten werden müs‐
sen um es noch leidlich zu erkennen.
.Immerhin harrt hier Vieles noch der Ent‐
decker, die mit kundiger Hand das heute fast
Unerkennbare wieder sichtbar zu machen
wissen, denn die Errichter der alten hohen
215 Das Mysterium von Golgatha
Kulte wußten, daß „wer Gott sieht, sterben
muß”, und schufen daher die Wahrheits‐
Bilder der Wirklichkeit, für alle, die ihren
lebendigen Gott in sich selbst zu
finden hofften, wo er nicht „gesehen”, ‒
wohl aber in jedem Atom der Seele, in jeder
Zelle des Körpers, empfunden werden
kann: Segen, Kraft und Erleuch
tung spendend. ‒
Auch der große Liebende, der Held von
Golgatha, hatte Gott „gesehen”, als ein
zu seiner Zeit dafür Bereiteter, ‒ und da er
wußte, daß er seinem Volke nur in Wahrheits‐
Bildern Anschauung der ihm bekannten
Wirklichkeit vermitteln könne, lehrte er fast
stets in Bild und Gleichnisrede.
.Zuweilen aber suchte er auch Bild und
Gleichnis noch zu übersteigern durch Worte,
die seine Schüler kaum von ihm erwartet
hatten.
.„Du hast harte Worte, ‒ wer kann sie
hören!?”
216 Das Mysterium von Golgatha
.So war es auch wirklich ein gar „hartes”
Wort für sie, wenn der Meister mit mathe‐
matischer Schärfe lehrte:
.Das Reich Gottes ist in euch!”
.Sie hatten sich das anders „vor‐
gestellt”. ‒
.Nicht weniger wurde es ihnen schwer, ihm
zu folgen bei seinen Worten:
.„Ich und der Vater sind Eines! Wer
mich sieht, der sieht auch den Vater!”
.Aber:
.„Der Vater ist größer als ich!”
.Fast beängstigend nahe kommen solche
Worte an die Wirklichkeit heran, so daß sie
gewiß den „Kleingläubigen” recht bedenklich
erscheinen mußten, besonders, da sie ja noch
nicht ahnen konnten, wie schön dereinst
christliche „Gottesgelahrtheit” solche Sätze
zu interpretieren wissen würde.
.Man wird nun heute sehr bewußt wie‐
der solche Interpretation vergessen
217 Das Mysterium von Golgatha
müssen, will man die Sätze selbst erfassen
lernen. ‒
.Aber weit wichtiger als das selbstgesteckte
Ziel: was von des hohen Meisters wirklichen
Worten heute noch übrigblieb, auf rechte
Weise zu deuten, ist die Umstellung des ganzen
eigenen Erdenlebens auf das „Reich der
Himmel” in uns selbst!
.Auch wenn kein anderes Wort des großen
Liebenden erhalten wäre, würde allein der
Hinweis genügen, daß das wahre Reich der
Himmel für jeden Erdenmenschen nur in
ihm selbst zu finden ist, ‒ so, wie
gerade er es erleben, so wie gerade
seine Kraft es erfassen kann. ‒
.Hier aber hat sich denn auch jede Deutel‐
sucht respektvoll fern zu halten!
.Es handelt sich um das Reich der
Himmel, ‒ um das Reich der Welten
wesenhaften, ewigen Geistes, ‒ nicht etwa
um ein frommes Gefühl vermeintlicher Gott‐
wohlgefälligkeit! ‒
218 Das Mysterium von Golgatha
.Und nur in uns selbst sind uns die
Himmel offen, die uns ewig dereinst Heim‐
statt werden sollen. ‒ ‒
.In uns ist der Eingang zu allen Geistes‐
regionen, weil unser eigenes Geistiges von
allen durchdrungen wird.
.Doch auch in dir selbst wirst du
nur in den „Himmel” aufgenommen, der
deiner eigenen Bewußtseinsfähigkeit ent‐
spricht, die nur durch Tat und Wir
ken in der dir gemäßen Umwelt Signatur
und Gradbestimmung sich verschaffen kann!
.Sobald dereinst dein Erdenleib dir nicht
mehr dienstbar ist, wirst du mit jenem
„Himmel” dich begnügen müssen, dem dein
Verhalten gegen dich und deine Neben‐
menschen dich vereinbar werden ließ, und
erst in irdisch unbegreifbar langen Zeiten
wirst du derart zu wandeln sein, daß dir auch
eine höhere Region der wesenhaften Geistes‐
welten dermaleinst erfaßbar werden kann.
.Nicht nur dir selbst sollst du in diesem
Erdenleben deine Kräfte, deine Macht und
219 Das Mysterium von Golgatha
deine Sorge widmen, aber auch nicht nur
den Anderen!
.Auch hier mußt du mit unerbittlichen Ge‐
setzen rechnen...
.Je näher du der Harmonie, die geisti
ges Gesetz von dir verlangt, zu kommen
weißt, desto mehr wirst du an Bleibendem
gewinnen.
.Möge es dir gelingen auch dein geistiges
„Soll und Haben” derart in Ordnung zu
halten, wie es der gute Kaufmann innerhalb
der Welt der Erdenwerte von sich verlangt,
dann wirst du gewiß das Werk deiner Erden‐
tage niemals zu bereuen haben!
*           *
*
220 Das Mysterium von Golgatha
ENDE
PSALMEN
Verlagslogo
Verlag der Weißen Bücher München
1.-5. Tausend
Gedruckt im Jahre 1924 bei Emil Herrmann sen., Leipzig
Copyright 1924 by Verlag der Weißen Bücher, München
Printed in Germany
INHALT Seite
Inferno 9
Erlösung 19
Erkenntnis 29
Verheißung 41
Befreiung 51
Erfüllung 57
Originalscan
NICHT VON SEINEM EIGENEN WEGE
KÜNDET DER SCHREIBENDE!
ER GAB NUR FORM DEN WORTEN DES
SUCHENDEN, DEN ER AUS DER FIN‐
STERNIS ZUM LICHTE IN DER LIEBE
FÜHRTE.
HIER SOLL DER SCHÜLER DURCH DEN
MUND DES LEHRERS SPRECHEN.
OO
DER SCHÜLER, SOWIE ER TAUSEND
FACH BEREITS IN DER WELT ZU FINDEN
IST IN DIESEN TAGEN!
8 Psalmen
Die Stimme des Suchenden
ist es, die allhier vernommen wird:
9 Psalmen
INFERNO
DUNKEL ist um mich her und grauenvolle
Finsternis!
Wo finde ich Licht?!?
Wo finde ich auch nur einen Strahl des Lichtes?!?
Wo zeigt sich mir auch nur das fernste Leuchten?!?
Ach, ich bin eingeschlossen in Dunkelheit und
es ist kein Weg zu finden der mich aus der Düster‐
nis zum Lichte führen könnte!
*
Gibt es denn „Licht”??!
*
Höllische Antwort nur wird mir auf meine
Frage und weiß mir zu sagen:
Du eitler Tor!”
Der Finsternis entsprossen und dazu geboren,
eine kurze Spanne Zeit in Finsternis dein Spiel zu
treiben: ‒ bemerkst du noch nicht, daß auch dein
Traum vom Lichte nur ein Gaukelspiel deiner
Wünsche ist!? ‒
Spreize und strecke dich soviel du magst, aber
wähne nicht, daß es dir vorbehalten sei das Licht
zu finden!”
*
Ach, so ist denn Lüge das Licht??...
11 Psalmen
So ist denn Lüge alle Hoffnung einst das Licht
zu finden??...
So ist denn Lüge in mir selbst was mich zum Lichte
zog???...
Fluch dieser Lüge die mich höhnisch narrte!!
Fluch diesem Wahn der Torheit, der mich er
reichbar wähnen ließ, was niemals zu erreichen
ist!!!
Lange genug war ich nun meines Wähnens gequälter
Sklave!
Mögen mir alle ferne bleiben hinfort die mir noch
vom „Lichte” reden wollen!
Ich will weiser sein als sie, die noch den Traum von
der Erfüllung ihres Wunsches träumen! ‒ ‒
Erwacht bin ich endlich aus solchem Träumen und
weiß mich als Geburt der Finsternis in kurzem
Dasein, bis mich die Finsternis verschlingt!...
Erstorben sei mir die Klage über mein Los!
Nicht mehr will ich der Finsternis mich zu ent
winden suchen!
Ich will mich hinfort in alle dunkelwarme Wollust
stürzen die mir die Finsternis gewähren mag!
Gepriesen seiest du, düstere Nacht der Nicht
erkenntnis, die du meinem Auge gütig zu
12 Psalmen
verbergen weißt, was mich fürder schrecken
könnte!...
In der Finsternis aus der ich stamme, will ich mir
mein wohlumhegtes Dunkeldasein schaffen, das
mir kein Traum vom Lichte stören soll!...
*
Aber noch während ich fluche allem Lichte und
mich selbst der Finsternis gelobe, irrt meine Worte
eine andere Stimme die in mir reden will...
Mich aber soll sie nicht äffen können!
Ich fühle: ‒ sie will mich mit irgendeiner Torheit
dazu verleiten, daß ich, der ich endlich völlig finster
wurde, mein Gelöbnis breche, das ich der Finster
nis schwur.
Ich will sie dennoch hören, diese Stimme, um sie
am Ende ihrer Rede zu verlachen!
Ich will mich selbst an ihr erproben und mir selbst
vor ihr beweisen, daß ich nun nicht mehr zu be‐
tören bin!...
So möge sie denn reden!
Ich höre!...
*
Ach, was ich höre ist mir nur zu sehr vertraut!
13 Psalmen
Schon zum Voraus muß ich diese Stimme verlachen!
Sie redet mir von frühen Tagen: ‒ von der holden
Zeit der frommen Jugendgaukelbilder, da man mir
einst von einem sprach, der selbst „die Liebe” sei...
Ihn, den kein Name würdig nennen könne, will sie
mir wieder ins Gedächtnis rufen, das ihn gern ver‐
gessen hat...
O Torheit über Torheit!
*
Und dennoch fesselt mich hier eines das ich nicht
enträtseln kann. ‒
Ein unerfaßliches Fühlen will mich wieder in mir
selbst erregen, ‒ das ich einst fühlte, als ich ihm,
von dem sie sagten, daß er selbst die Liebe sei, zu
nahen suchte in der Liebe...
Wie soll ich mir dieses Fühlen deuten, das so mir
wiederkehren will, nachdem ich längst ihm ent
sagte um der Erkenntnis willen?! ‒
Ach, bin ich verdammt ein Tor zu bleiben, der sich,
in seinen Schlüssen eingeschlossen, stets im Kreise
drehen muß!!? ‒ ‒
Eben noch habe ich meiner Erkenntnis reifste
Frucht gepflückt, und nun schon faßt mich dieses
Unerfaßliche und will die Frucht, bevor ich sie
genießen konnte, mir entwinden...
14 Psalmen
Soll ich von neuem zweifeln, der ich eben noch
Gewißheit mir errungen glaubte?!?
Es ist nur schaurige Gewißheit, und dennoch
dünkte sie mir besser als der Zweifel. ‒ ‒
Was aber kann mir dieses Fühlen bringen??
Als der Erkenntnis reife Frucht ward mir Gewiß‐
heit, daß mir allein die Finsternis gegeben bleibt,
und daß nichts anderes mir werden kann, da ich
ja selbst der Finsternis entstamme...
Doch dieses Fühlen, dem ich lange mich ent
wunden glaubte, macht mich nun an mir selber
irre. ‒
Es ist von anderer Art als die Finsternis, der ich
mich eben noch verschworen habe...
O, daß ich zu erkennen wüßte, was aus ihm zu
erkennen ist, auch wenn es Ammenmärchen nur
entstammt von alters her! ‒
So sehr ich aber es auch lästern mag: ‒ es läßt sich
nicht verscheuchen. ‒
So sehr ich auch mit meiner Erkenntnis Waffen
ihm zuleibe gehe: ‒ es läßt sich nicht ertöten. ‒
Wenn die Finsternis alles wäre, was mir gegeben
ist, ‒ wie könnte sich dieses Fühlen in mir fin‐
den?? ‒
15 Psalmen
Dieses Fühlen, wie ich es zu fühlen wußte, einst‐
mals, wenn ich an ihn dachte, den ich glaubte, ‒
von dem man einst mir zu sagen wußte, daß erdie
Liebe” sei...
Ach, hätte ich doch dieser Stimme, die nun mich
aufs neue in Zweifel stürzt, kein Gehör gegeben!!
Allzufrühe habe ich sie verlacht!
Allzufrühe habe ich ihrer gespottet!
*
Oder ‒ ‒ sollte sie mir denn wirklich etwas zu
sagen haben, das all mein Erkennen mir nicht
sagen konnte?? ‒ ‒ ‒
Um der Gewißheit in der Finsternis willen habe
ich dem Suchen nach Licht entsagt...
Ist dieses Fühlen denn etwa Besseres als solche
Gewißheit?!...
Es ist nicht Finsternis und gleichwohl kann ich es
als Licht nicht gelten lassen. ‒
Licht müßte mir in der Erkenntnis werden, wenn
Licht für mich zu finden wäre! ‒ ‒ ‒
Dennoch erschüttert mich schon der Gedanke,
daß dies erneute Fühlen vielleicht zum Lichte leiten
könnte...
*
16 Psalmen
Ich fühle bereits: ‒ ich ahne, daß ich der Wahr‐
heit nahe bin...
*
Wahrhaftig!...
Aller Lichterkenntnis Mutter ist die Liebe!”
‒ ‒ ‒
So spricht es in mir...
*
Ich bin verloren!!
Taumelnd stürze ich zu Boden.
Verflucht bin ich, der ich dem Lichte fluchte!...
Ich selber habe mich gerichtet!...
*
Verruchte Stunde, die mich eben noch in läster‐
lichem Wort dem Lichte entsagen ließ!?
*
Noch eben ein Lästerer, fühle ich nun, ‒ noch eben
Frevler, ahne ich jetzt, daß nur in der Liebe das
Licht errungen werden kann!!
*
O törichtstolze Gewißheit, mit der ich vordem zu
erkennen glaubte!!!
*
Wahrlich: ‒ gewiß wird mir nun, obwohl ich es
nur ahnend erfühle, daß alle Scheingewißheit des
17 Psalmen
Erkennens recht eitler Schlüsse klüglich verbrämte
Torheit ist, so das Erkennen nicht in der Liebe
gründet, die allein Gewißheit geben kann!!
*
Dir fluchte ich, du ewiges Licht, weil du dich jeg‐
licher Erkenntnis zu verhüllen weißt die nicht
aus der Liebe geboren wurde!...
Wirst du den Frevel mir vergeben können??
*
Siehe ich liege am Boden wie ein Baum den der
Sturmwind fällte!
Wer wird mich wieder erheben und aufrecht
wurzeln lassen, außer dir, der du die Liebe bist!?
Befreie mich, du Ewiger, wenn meine Zunge mir
nicht selbst mein Urteil sprach, aus dieser Höllen
finsternis, die mich umgibt!
Du, den ich nun ahne, den ich nun fühle, ‒ der
selbst die Liebe ist, ‒ wie könntest du mich ver‐
stoßen, den du nun in der Liebe findest!!
All-Liebender errette den, der mit Frevel seinen
Mund besudelte, aus dieser Finsternis!!!
*
18 Psalmen
ERLÖSUNG
DA ich am Boden lag, bewußt des argen Frevels,
hast du mich alsbald erhoben, ‒ du, der du selbst
die Liebe bist!
Du sandtest Hilfe mir in meine Not: ‒ Hilfe, die
mir helfen konnte! ‒
Alsbald verlor die Finsternis ihre Schrecken und
ihre dunklen Lüste ließen ab von mir...
Noch ist mir nicht das Licht geworden, aber ich
weiß, daß ich ihm nahen werde...
Noch ist alles ringsum in Dunkelheit; doch ich
weiß, daß mir dein Leuchten wird...
Es fanden mich jene, die in deinem Lichte leuch
tend wurden und die Stimmen Liebender erhörte
ich in meinem Innersten...
Von ihnen kam mir hohe Führung: ‒ wahrlich
den Führer aus der Finsternis fand ich unter deinen
Leuchtenden!
Noch bin ich am Anfang des Weges, der zu dir, ‒
der zum Lichte führt.
Noch weiß ich wenig um des Weges Weise; doch
weiß ich, daß er mich zu dir, zu meinem höchsten
Ziele führen wird...
Siehe ich vertraue dir in dem, den du mir zur Füh
rung sandtest!
21 Psalmen
Ihm folgen meine Schritte, so wie er mich die Füße
setzen heißt...
Ich habe aufgehört die Wege zu gehen, die ich vor‐
dem meine eigenen Wege nannte...
Ich weiß, daß mein Führer allein mich auf meinem
einzigen, wirklich eigenen Wege zu leiten weiß! ‒ ‒
Noch muß ich ja im Dunkel schreiten und habe
selbst kein Licht.
Er nur, der mich führt, vermag in seinem Leuchten
meines Weges Fährte zu erkennen. ‒
Wie sollte ich ihm, den ich im Lichte weiß das aus
ihm leuchtet, nicht willig Folge leisten wollen!?
Du, den ich ahne, den ich fühle, den ich aber noch
nicht kenne: ‒ wie sage ich dir täglich Dank, da
du mir Hilfe sandtest aus deinem Heiligtum!
O, hätte man früher mir gesagt, daß Lichterkennt
nis nur die Liebe geben kann! ‒
O, hätte man früher mir vertraut, daß du, der selbst
die Liebe ist, inmitten dieser Finsternis dir selbst ein
Heiligtum der Liebe zu begründen wußtest! ‒ ‒ ‒
So aber führte man mich zu manchem Tempel, und
in jedem fand ich Opferpriester die da bekundeten,
er sei dein einzig wahres Heiligtum...
Wie konnte ich glauben dich noch zu finden, da
22 Psalmen
allerorten ich nur Menschenmeinung fand, die sich
in deinem Namen selbst die Weihe gab mit hohen
Worten!...
Wie konnte ich ahnen ‒ du, der du die Liebe bist
‒ daß dennoch in Verborgenheit dein wahres
Heiligtum inmitten dieser Finsternis zu finden
ist! ‒ ‒ ‒
Du hast es gut geborgen vor der Neugier frechen
Blicken und vor dem selbstgewissen Hochmut,
den ich in den Tempelhallen fand, da man der Men
schen Satzung stolz als deine heilighehre Offen‐
barung kündet! ‒
Erbarmen faßt mich, denke ich der Lehren jener
Eitlen, die der Weisheit hohe Worte ihrer Tor
heit einen und in deinem Namen Ehrfurcht für
sich selbst verlangen, die einstens mit der Macht der
Finsternis zu Ende ist...
Erbarmen faßt mich, denke ich an alle, die hier
in dieser Finsternis vor jenen sich in Ehrfurcht
beugen...
Es mögen Beherrschende und Beherrschte guten
Glaubens sein, doch muß des Irrtum's Saat, dem
treue Pflüger immer neue Furchen ziehen, auf solche
Art der Finsternis stets neue Nahrung geben...
Möchten die Redlichen unter denen die da pflügen,
23 Psalmen
säen und ernten, doch noch in ihren Tagen erken
nen, wie wahrlich trotz aller Finsternis das Licht
zu finden ist, und alte Weisheit scheiden lernen
von der Menschenmeinung, die ihnen selbst
zur Stunde noch der Weisheit hehrsten Sinn ver‐
birgt!...
*
Erbarmen aber faßt mich so in gleicher Weise, denke
ich an alle, die im Denken das Licht zu finden
glauben, durch Erkenntnis der die Liebe fehlt! ‒
Möchten auch sie, gleich mir, zur Liebe geleitet
werden, und in der Liebe dann die Führung fin‐
den, die allein hier führen kann! ‒ ‒ ‒
O wie viele weiß ich in der Finsternis, für die ich
um Erlösung bitte?!
Sie erstreben das Licht und erstreben es dort, wo
es nie zu finden ist...
Sie suchen auf irrigen Wegen und da sie so nicht
finden, lästern sie...
Der mir zum Führer wurde aber sagte mir, daß auch
sie einst gefunden werden, wenn ihre Zeit gekom‐
men ist.
So bitte ich darum, daß ihre Zeit bald vollendet
sei!...
*
24 Psalmen
Noch weiß ich selbst ja nichts aus eigenem Er‐
kennen. ‒
Noch ward ich selbst erst erkannt, als einer, der
nach dem Erkennen in der Liebe strebt. ‒
Noch weiß ich nicht zu sagen, ob mir Vieles, ob
mir Weniges, ‒ ob mir Großes, ob mir Geringes
werden mag. ‒
Doch ich vertraue dem, den du mir sandtest, da
ich im Innersten erfühle, daß du in ihm dich meiner
Seele offenbarst, und er dich meiner Seele offen‐
baren will...
Schon sehe ich in seinem Leuchten vieles, das sich
meiner eigenen Erkenntnis noch auf andere Weise
nicht enthüllt...
Siehe, es steht mein Verlangen nicht nach anderem
als nach dem, was er meiner Seele durch sein Leuch‐
ten erhellt!
Ich verlernte alles Wissenwollen, und alle Qual
des Willens zur Erkenntnis hat mich nun ver
lassen...
Meine Sorge ist einzig: ‒ in der Liebe zu bleiben,
und ich weiß gewißlich, daß mir einst Erkenntnis
wird nach meiner Kraft, so ich nur stetig in der
Liebe bin. ‒ ‒ ‒
Zu tief war ehedem meine Not, als daß ich erneut
25 Psalmen
dem Drange nach liebeleerem Erkennen folgen
würde!...
Erahnend hatte ich zuerst gefühlt, daß nur das
innere Erleben in der Liebe zu gesicherter Er
kenntnis führen könne, daß das Licht sich nur der
Liebe offenbare. ‒ ‒
Nun folgte Belehrung meinem Ahnen, und ich
weiß, daß er, der mich lehrt, die Worte deines
Mundes spricht. ‒
Zu klar schon hat er mir sich offenbart, als daß ich
noch an seiner Wahrheit zweifeln könnte!
*
Du hast, o Ewiger, der du die Liebe selber bist,
mit ganz untrüglicher Vollmacht jene ausgerüstet,
die du als Helfer sendest, wo da ein Mensch der in
die Liebe fand, nach Hilfe verlangt!
Sie sind nicht zu verkennen, auch wenn gar man‐
che die nach Ehrfurcht für sich selber gieren, in
dieser Finsternis sich selbst in ihrem Namen dar
zubieten suchen...
Die du dir selbst bereitet hast, damit sie deine Hilfe
bringen können wie sie der Irdische empfangen
kann, wird man vergeblich suchen unter denen,
die gleich Königen in Prunkgewändern schreiten
und sich Weihrauch opfern lassen!
26 Psalmen
Man wird sie auch nicht unter denen finden, die
aus alter Schriften buntvermengten Worten eine
Lehre formen, die da lehrt was Vorbedingung
ist, um einen der des Menschentieres Antlitz trägt,
erst vor sich selbst und anderen als einen Menschen
zu bekunden. ‒ ‒
Wohl sind es Könige, die deiner Weisheit dienen! ‒
Wohl lehren sie die Lehre, die zu sagen weiß, wie
aus dem Menschentiere du dir Ewigkeitsgezeugte
zeugst! ‒ ‒
Allein den Purpur können wahrlich sie entbehren,
und Gold und Hermelin ist nicht vonnöten um
ihre Königswürde allen darzutun, die würdig sind,
sich ihrer Führung zu vertrauen...
Ihr „Reich” ist nicht von dieser Welt, obwohl sie
alle hier in dieser Welt ein Königtum als Erbe in
sich tragen, das allen königlichen Schein der Erde
nur zum Maskenspiele werden läßt. ‒ ‒ ‒
Was sie zu lehren haben wird nicht durch die
alten Schriften erst bestätigt; dagegen aber sind
die alten Schriften jeweils totes Gut, solange einer
derer die du „in der Zeiten Fülle” sendest, den
Sinn der alten Worte, nicht erweckt zu neuem
Leben...
*
27 Psalmen
Ewig will ich danken dir o Ewiger, daß du meines
Frevels nicht geachtet hast und mir den hohen
Helfer sandtest aus deiner Leuchtenden Schar!
In ihm wird mir die Liebe kund, die allein mich
zum Lichte führen kann...
Zu dir, der du selbst das Licht: ‒ der du selbst
die Liebe bist! ‒ ‒ ‒
*
28 Psalmen
ERKENNTNIS
ANBETUNG dir, den ich nun weiß, da ich doch
vordem dich nur ahnen, dich nur fühlen konnte!...
Anbetung dir, den ich nun in mir selbst erkenne,
da ich doch vordem dich nur glauben konnte!...
Anbetung dir, den ich nun fand in meinem Aller
innersten, da ich doch vordem dich im Äußeren
suchte!....
Nun habe ich dich selbst als deines Lichtes Funken‐
strahl in mir erlangt: ‒ dich, meinen lebendigen
Gott! ‒ ‒ ‒
Nun ist mir alle Finsternis erhellt in deinem
Lichte! ‒
Nun sehe ich den Weg vor mir, den ich durch‐
wandeln muß, um einst durch dich in deinem Reiche
neu gezeugt zu werden: ‒ in deinem Lichte neu
geboren! ‒ ‒ ‒
Du, der sich selbst in mir geboren hat, wirst
mein Erzeuger: ‒ ewiglich in mir dich selbst
gebärend, und aus dir erzeugend mich in dir, zu
ewiger Neugeburt in deinem Lichte! ‒ ‒ ‒
Erkenntnis ward mir aus der Liebe, die du selber
bist, den ich in meinem Allerinnersten mir nun
vereinigt weiß! ‒ ‒ ‒
Liebe hat das Wunder vollbracht!
31 Psalmen
Der Liebende ward der Liebe geeint!
In der Liebe ward mir das Licht!
*
Nun ist die Finsternis, die alles Irdische umgibt,
mir hell geworden, und ich vermag es, denen die
im Dunkel sitzen Licht zu zeigen!
Ich will künden dich, du Ewiger, allen die dich
suchen, und allen die zum Lichte streben will ich
von dem Wege sagen, so sie in der Liebe sind!
*
In der Liebe allein wird euch Heil!
In der Liebe allein wird euch Erlösung!
In der Liebe allein kann euch gesichertes Erkennen
werden!
*
Bereitet euch alle, die ihr nach dem Lichte strebt,
euch in der Liebe zu finden!
Nur wenn ihr selber in der Liebe seid, kann ewige
Liebe euch zu neuem Dasein wecken! ‒ ‒
Nur wenn ihr in der Liebe seid, können die Lie
benden euch erreichen die in dieser Finsternis des
Lichtes Leuchten in sich tragen! ‒ ‒ ‒
Sie selbst sind wahrlich in der Liebe, und nur in
der Liebe vermögen sie zu wirken! ‒
32 Psalmen
Nur in der Liebe gründet alle Geistesmacht die
ihnen übertragen ist! ‒ ‒
Wahrlich: ‒ sie wissen jeden zu finden der in der
Liebe ist und es bedarf des Rufens nicht um von
ihnen gefunden zu werden! ‒ ‒ ‒
Im Urlicht, das die Liebe selber ist und nur aus
Liebe: Leben zeugt in allem was da lebt, wird ihnen
kund, wer in der Liebe ist, und keinen können je‐
mals sie vergessen...
Wer aber nicht in der Liebe ist, dem nützt kein
Rufen, Bitten und Flehen, denn noch ist sein Stern
im Urlicht nicht entzündet, noch ist er nicht reif,
auf den Weg geleitet zu werden...
*
Gar viele haben gerufen und wurden nicht ge‐
funden, obwohl sie glaubten, längst bereitet zu
sein! ‒ ‒
Andere aber verharrten in der Stille, und da man
sie in der Liebe fand, kam unvermerkt der Füh
rende und leitete sie auf den Weg...
Der Weg ist zwar steil, doch kann ihn jeder erstei‐
gen, der alles selbstgewisse Wissen von sich wirft
und nur des Führers Stimme lauscht, der ihn mit
Sicherheit emporzuführen weiß, ist er gefunden
worden in der Liebe...
33 Psalmen
Laßt aber alle Hoffnung fahren, etwa selbst zu fin
den, solange man euch selbst noch nicht gefun
den hat!
Man wird euch finden, so ihr unablässig in der
Liebe bleibet!
*
Dank sagt dir all mein Inneres, du Ewiger, daß
du den Menschen nicht verlassen hast in seiner
Finsternis!...
Allen die in der Liebe sind, sendest du deine Hilfe!
Alle die in der Liebe sind, finden Führung zum
Licht!
*
Du bist die Liebe, ‒ du das Licht, das aus der
Liebe lebt!
Nun trage wissend ich dich in mir, ‒ ich weiß
dich wie ich mich selber weiß!
In mir selber bin ich dir vereinigt, ‒ meiner Seele
bist du in mir geboren...
In deinem Lichte darf ich deine Herrlichkeit
schauen, ‒ das Auge des Geistes hast du mir ge‐
öffnet...
Ich sehe dich, du ewiges Urlicht, unerfaßbar für
dich selbst im Sein, ‒ ich sehe wie du selbst dich
ewiglich als Urwort fassest...
34 Psalmen
Du zeigst mir wie das Urwort ewiglich den „Ewi
gen Menschen” spricht: ‒ den Geistgeborenen,
der ewiglich in ihm verharrt...
Du zeigst mir, wie der Menschengeist in dieser
Finsternis nur Zeugnis jenes „Ewigen Menschen
ist, ‒ des „Alten der Tage”, ‒ des „Vaters” aller
deiner Leuchtenden...
Aus ihm nur kannst du in dir selbst dem Menschen
geiste dieser Erde fassbar werden...
Aus ihm hast du mir Erlösung bereitet...
Aus ihm ward mir der Führer gesandt...
*
Du allein bist der Seiende!
Als Urwort offenbarst du dich für dich selbst!
Im „Ewigen Menschen” schaffst du dir des
Urworts Offenbarung, die weiterzeugend alle
Hierarchien hoher Geister bis herab zum Men
schengeiste dieser Erde aus sich selber offen
bart...
Ruhe und Schaffen sind in dir...
Ruhe bist du in deinem Sein, ‒ als Schaffenden
spricht dich das Urwort aus...
Mann” und „Weib” bist du in deinem Sein, du
ewiges Urlicht, ‒ du ewiger Geist der Wahr
heit, ‒ du, der du selbst die Liebe bist...
35 Psalmen
Mann” und „Weib” spricht das Urwort aus...
Mann” und „Weib” ist der Ewige Mensch...
*
In einem Funkenstrahl deines Lichtes nur vermag
ich dich zu ertragen...
So bist du mir vereint, als mein lebendiger Gott! ‒
In dir erkenne ich, daß diese Liebe, die du selber
bist, stets Tat und Wirken aus weiser Ruhe will...
Alles Erkennen sehe ich fruchtlos und ohne Wert,
wenn es nicht gründet in dir, der du die Liebe
bist!
In der Liebe aber ist nur der Wirkende der in der
Tat der Liebe sich bewährt! ‒
Du willst nicht wohlige Träumer die nur in Ge
fühlen schwelgen denen keine Folge werden kann;
‒ in zeugender Kraft muß weiterzeugend wirken,
was der Menschengeist aus dir empfängt...
Wer da an andere verlieren will was er empfangen
hat, der wird mehr empfangen, ‒ wer es aber sich
allein erhalten will, der wird es verlieren...
Weise wirken deine hohen Kräfte: ‒ gegründet
sind sie in deinem Willen...
Wie die Sonne ihre Strahlen sendet, so sendest du
deine Kräfte aus: ‒ sie sind nicht mehr in dir, und
doch bist du in ihnen...
36 Psalmen
In allen Welten wirken sie auf gleiche Weise: ‒
auch diese Finsternis ist ihres Wirkens voll...
Liebe ist ihr innerstes Gesetz; ‒ nur wer in der
Liebe ist, dem können sie dienen...
*
Wahrlich, der Menschengeist kann sich nicht son
dern aus dem All des Geistes: ‒ was immer Geistes
zeugung ist, wird durchlebt von dem gleichen Le
ben. ‒
richt ist jeder der da handelt als ob ihm Tren
nung vom Ganzen möglich sei? ‒
Töricht ist jedes Streben das der Gemeinsamkeit
entraten will? ‒
Töricht ist jede Tat, wie hoch man sie auch an sich
selber werten möge, fügt sie sich nicht dem alles
Geistige vereinenden Gesetz der Liebe! ‒
Zahlreich ist solche törichte Tat in der Finsternis!
Die im Dunkel Träumenden erträumen sich eine
gesonderte Welt: ‒ jeder nach seinen Wünschen
und Begierden...
So ist all ihr Tun ein totes Mühen: ‒ die Kräfte
des Lebens sind ihrer Tat nicht verbunden!...
*
O ihr Menschengeister, die ihr in die Finsternis
geboren seid und nach dem Lichte verlangt, wisset,
37 Psalmen
daß ewige Geisteskräfte euch zu Dienern werden,
so all euer Tun in der Liebe bleibt! ‒ ‒ ‒
Letzter Antrieb zu allem Tun muß in der Liebe
gründen, soll eurer Tat die hohe Hilfe werden! ‒
Auf hohen Planen wirken die Kräfte des Gei
stes die euch dienstbar werden können: ‒ Ur
sache schaffen sie aller Wirkung in der irdischen
Welt...
Dort wo sie wirken, dort reicht euer Ruf nicht hin;
‒ nur eurer Tat Impuls kann sich zu jenen hohen
Reichen heben, so er aus der Liebe stammt! ‒ ‒ ‒
*
Die hohen geistigen Kräfte werden euch allezeit
dienstbar sein, wenn all euer Tun in Harmonie
bestehen kann mit dem Gesetz des Geistes das in
der Liebe gründet! ‒ ‒
Was nicht in Liebe sich dem Ganzen einen will,
läuft seinen leeren Lauf; ‒ im Reiche des Geistes
wird seine Spur nicht gefunden! ‒ ‒ ‒
Ach, es sind viele Taten in der Menschen Mund, die
als „groß” und „weise” gelten: ‒ im Reiche des
Geistes aber sind sie nie geschehen!...
Schein und Schatten nur vermochten sie zu be‐
wegen und in Schein und Schatten wirken ihre
Impulse fort!...
38 Psalmen
Sie waren nicht geboren aus der Liebe, und nur
was aus der Liebe stammt geht in die Liebe ein...
*
Nicht großer Taten Ruhm ebnet den Weg zum
Lichte: ‒ die Tat der Liebe allein besiegt die Fin‐
sternis!
Aus dunkler Todesnacht schafft sie Erlösung; ‒ die
Schrecken der Unterwelt überwindet sie!
Wo immer Liebe sich in Tat bekundet, dort finden
die Führer einen den sie führen können...
Zum ewigen Lichte werden sie ihn leiten, und zu
jener Erkenntnis die allein Gewißheit gibt!
Aus der Liebe wird ihm solche Erkenntnis geboren,
‒ ihm, den man in der Liebe fand! ‒ ‒ ‒
*
39 Psalmen
VERHEISSUNG
ALLEN die nach dem Lichte streben darf ich nun
verkünden, daß ihnen Erlösung werden wird!
Allen die in der Liebe sind darf ich sagen, daß sie
die Erkenntnis finden werden die allein Gewiß
heit gibt!
Eine Zeit der Erfüllung ist angebrochen und eine
Zeit des leichteren Erlangens!
Jeweils vor dem Nahen einer solchen Zeit, haben
die Drachen der Finsternis doppelte Macht...
Sie bäumen sich auf in ihrer Herrschaft: ‒ alle Sche‐
men des Grauens weckt ihr Brüllen...
Aus seinen Gräbern und Gruben scharren sie den
Unrat: ‒ die Luft verpesten sie mit giftigen Dün‐
sten...
Angst und Schrecken verbreiten sie über den Erd‐
kreis: ‒ mit dröhnenden Tritten treten sie nieder
alle Hoffnung...
Aber die Tage ihrer Macht sind wahrlich gezählt: ‒
an ihrem eigenen Greuel gehen sie zugrunde! ‒ ‒
Noch sind sie nicht erstickt an ihrem Fraße: ‒ noch
gieren ihre triefenden Lefzen nach neuem dampfen‐
den Blute...
Ihr Schnauben bläht noch ihre Nüstern: ‒ man
wird noch ihr Gebrüll vernehmen in der argen Fin‐
sternis...
43 Psalmen
Dennoch sind ihre Tage dahin und ihre Macht ge‐
brochen: ‒ mit eigenen Tatzen vernichten sie sich
selbst im letzten Krampfe...
Die Zeit der Erfüllung ist endlich angebrochen; ‒
nicht gibt sie neue Nahrung den Ungeheuern der
Finsternis...
Die Stimme der Liebe wird nicht mehr überwäl
tigt werden können, so sehr auch die Drachen der
Tiefe noch immer die Seelen schrecken...
Endlich werden sie verenden und Liebe wird neues
Leben schaffen!...
*
Dann aber wird man allerorten in sich selbst die
Führung finden, nach der man schrie in vergange‐
ner Not, da man sie außen suchte in der Finster
nis! ‒
Dann wird man nach bangen Schrecken wieder zu
sich selber kommen; ‒ in der Liebe wird man den
Weg zum Lichte finden! ‒ ‒ ‒
Noch konnte die Finsternis das Licht nicht ver
schlingen, und niemals wird sie es verschlingen
können...
Es war nur verborgen eine lange Zeit, da man die
Finsternis mehr liebte als das Licht...
Man wollte Erkennen ohne Liebe, und wußte
44 Psalmen
nicht, daß alles gewisse Erkennen nur aus der Liebe
kommt...
Man war gar hoch gestiegen im steten Dunkel,
und alles was sich nur im Dunkeln finden läßt,
hatte man abgetastet...
Mit allen Künsten wußte man im Dunkel sich
zurechtzufinden; ‒ des Lichtes glaubte man nicht
mehr zu bedürfen...
Wohlig wühlte man sich ein in das Staubmeer der
Dunkelheit, und suchte Nahrung die nur im Fin
stern nährt...
So glaubte man sich geborgen und aller Schrecken
Herr; ‒ die Tiere der Finsternis glaubte man be
zwungen...
*
Ach, trüglich war solche Täuschung, und die sich
selbst in solcher Weise trogen, wurden ihres Truges
nicht inne! ‒
Auf den Leibern der Drachen tanzten sie tolle Tänze:
‒ sie hielten für sicheren Boden der schlafenden
Ungeheuer Rücken...
In jähem Entsetzen erst erkannten sie was sie ge‐
tragen hatte; ‒ die Tiere, die zum Fraß erwachten,
schüttelten die Tänzer ab...
So kamen sie zum Erwachen, zum Erwachen in der
45 Psalmen
Finsternis: ‒ mit Weheklagen sahen sie einander
an: ‒ ihr Jammer drang, wie Windesbrausen in den
Bergen, durch dichte Mauern ein...
Wo sollten sie noch stehen, da der Boden der ihr
Tanzplan war, sich unter ihren Füßen bäumte?
Wo sollten sie noch ihren Standpunkt finden, da
alles was sie unverrückbar sicher wähnten, nun ins
Wanken geriet?! ‒ ‒
Ach, es war grause Not und man wußte nicht, wie
man noch festen Fußes sich halten sollte...
*
Das Licht aber war auch in jenen Tagen allen nahe
die sich in der Liebe fanden; ‒ der anderen Un‐
heil konnte sie nicht treffen...
Der Modergeruch verwesender Leiber ätzte sich allen
Sinnen ein; ‒ nur die in der Liebe waren, konnte
er nicht erreichen...
Ihr Mitleid kannte wahrlich keine Grenzen,
allein der Strom der Bosheit verebbte vor ihren
Füßen...
Unsagbares Entsetzen sahen sie vor sich aufge‐
türmt: ‒ die Schrecken der Hölle sahen sie wie
ein Schauspiel prunken...
Was sollte ihre Seele sagen, die der Menschheit
höchste Würde wie ein Dirnenspiel dem Zufall
46 Psalmen
preisgegeben sah: ‒ wie sollte Macht ihnen wer‐
den, solche Torheit zu verhindern?!?
Schwer lastete auf ihnen, was den anderen frohes,
frivoles Spielen war: ‒ der anderen Siegesfroh
locken roch ihnen nach dem Moder der Grüfte!...
*
Es waren Allzuwenige zu jener Zeit, die das Licht
zu suchen strebten in der Liebe...
Es waren Allzuwenige zu jener Zeit, die noch die
Macht erkannten, die nur die Liebe gibt...
Es waren Allzuwenige, die noch erkennen woll
ten, daß das Licht nur aus der Liebe lebt!
*
In geiler Wollust aber suchten alle anderen ihrer
frevlen Wünsche törichte Erfüllung: ‒ der „Gott”
von dem sie selber sagten, daß er die Liebe sei, ward
ihnen zum Makler ihres blöden Hasses...
Wo waren jene aus ihnen, die da in früheren Tagen
wohl auch in Worten die Liebe besungen hatten?!
Wo waren jene, die in anderen Tagen einst allen
Haß begraben wähnten?!
Ach, der gefallene Mensch der Erde in seinen
dumpfen Trieben, war zu jeder Zeit der Tierheit
Sklave: ‒ in seiner tiefen Umnachtung pocht er
47 Psalmen
auf seine „Menschenwürde” und wütet schlimmer
als jedes andere Tier!...
*
Zwar waren viele vordem ausgezogen, nach der
Wahrheit” zu suchen.
In liebeleerem Erkennen glaubten sie zu finden.
Ach, keiner wußte, daß es ein Erkennen gibt, das
anderer Artung ist, und das allein Gewißheit geben
kann; ‒ es wußte keiner, daß er sich erst selbst
bewähren müsse, um jener Erkenntnis einst zu
nahen, deren Mutter die Liebe ist!...
*
Nun aber ist angebrochen die Zeit der Erfüllung: ‒
die Tage der Finsternis, sie sind wahrlich gezählt!...
Blicke zurück soweit du blicken kannst, und ver
geblich wirst du den Beginn der Tage der Fin
sternis suchen!
Zu lange währte die Zeit der Verdunkelung!
Nun aber ist sie im Entschwinden, und so sie erst
beendet ist, wird keiner Hölle Macht sie wieder zu
rufen vermögen!...
*
Wisse, die Zeit der Erfüllung wird weitaus länger
währen als alle Zeit der Nacht der Nichterkennt
nis!..
*
48 Psalmen
Unsagbar lange währte diese Nacht!
Unendlich” schien sie denen, die das Licht auf
seinem Weg zum Siege glaubten!...
Und dennoch wird die Zeit der Erfüllung die nun
angebrochen ist, alle frühere Zeit der Umnach
tung unbeschreiblich überdauern!...
*
In dieser neuen Zeit aber werden endlich die Her
zen geöffnet werden!
In dieser kommenden Zeit wird die Liebe endlich
offene Herzen bereitet finden!
Schon schreiten viele die vor einer kurzen Zeit das
Licht kaum glauben konnten, nun liebenden Her‐
zens ihren Weg zur Lichterkenntnis; ‒ die Liebe
wußte sie zu erfassen: ‒ es verlor alle Macht über
sie die Finsternis!...
Mit jedem Tage wird man mehr und mehr der Lie
benden auf ihrem Wege finden!...
*
Sicher, wahrhaftig, wird man sie an der Hand des
Führers den Weg betreten sehen: ‒ leuchtenden
Auges werden sie ihre Bahn zum Lichte wandeln!...
*
An ihnen werden auch die anderen alsbald er‐
kennen, daß das Licht nicht über Wolkenhöhen
thront!...
49 Psalmen
Die da dem Dunkel noch verhaftet sind, und sich
im tiefen Dunkel tappend der Erkenntnis Früchte
noch ertasten die der Finsternis entstammen, sie
werden bald entdecken, daß auch dieses Erdenlebens
Dunkel sich für jeden hellt, der in der Liebe ist
und in der Liebe Lichterkenntnis fand...
*
Auch sie werden dann, des Dunkels müde, in die
Liebe gelangen!
Auch sie werden einst, in dieser Zeit der Erfüllung
in der Liebe gefunden werden!...
Wahrlich auch sie werden dann in der Liebe ver
harren: ‒ in sich selber werden sie die Führung
finden die sie zum Lichte leitet! ‒ ‒
Ewige Liebe wird sie zu neuem Leben wecken!
‒ ‒ ‒
Ewiges Licht wird sie erleuchten, da sie in der
Liebe sind! ‒ ‒ ‒
*
50 Psalmen
BEFREIUNG
IRRIG sind alle beraten und keine guten Zeichen‐
deuter, die da auf dieser Erde alle Finsternis be
siegbar wähnen!...
Vergeblich ist ihr Kampf: ‒ die Nacht des Grauens
bleibt immer an ihrem Ort!...
Solange Menschen auf der Erde wohnen, werden
auch Menschen sein, die mehr der Nacht vertrauen,
als dem lichten Tag! ‒ ‒ ‒
Aber ein jeder, der in die Liebe und in ihr zum
Lichte fand, mehrt wahrlich die Kraft des Lichtes,
mehrt die Kraft der Liebe in den Reichen der Fin‐
sternis!...
Ein jeder, der in die Liebe und in ihr zum Lichte
fand, ist gut geborgen und die Liebe wird durch
ihn auch andere zum Lichte leiten!...
Er selber schafft Gewähr, daß sicherlich durch
ihn zugleich ein anderer zum Lichte kommen
wird!...
So wird der Finsternis Macht immer mehr gebrochen;
‒ die Tiere des Dunkels finden keine neue Nah‐
rung mehr...
Was sie am Leben erhält, auch wenn sie schlafen:
‒ die Dünste dampfenden Blutes, sie werden von
der Erde verschwinden; ‒ der Haß wird sich in
Liebe wandeln!...
53 Psalmen
Gewiß wird der giftgeschwängerte Schlamm der
Finsternis stets wieder seine giftigen Tiere ge‐
bären, allein sie werden nicht mehr diesen Basilisken
gleich die nun verenden, mit Blut den Erdkreis
überschwemmen können...
Des Menschen Liebesmacht wird leichthin sie be
zwingen!
*
Ich sehe eine neue Menschheit, die sich erst ge
stalten will und deren Spuren dennoch schon zu
finden sind!...
Törichte Stumpfheit nur erkennt dieser neuen
Menschheit Zeichen noch nicht!!
Mählich wird sich wandeln der Erde Angesicht: ‒
die kommenden Geschlechter werden sich erst die‐
ser Wandlung wahrhaft freuen können!...
Wer heute Ehre sucht, der ehre sich selbst in der
Ehre der Zukunft: ‒ der fernsten Tage Finsternis
kann er erhellen, so er heute in der Liebe leben
will!...
*
In aller Kraft der Liebe wird die neue Mensch
heit dennoch stets bewußt sein der Grenzen ihrer
Macht! ‒
Sie wird nicht wähnen, daß sie alles was da Men
54 Psalmen
schenantlitz trägt, hinfort zu einen fähig sei in
hoher Liebe! ‒ ‒
Allein die neue Menschheit wird die Werte die
ihr überkommen sind, gar weislich zu prüfen wis‐
sen! ‒
Alles, was da in der Liebe seine Geltung nicht
erweist, wird dieser neuen Menschheit: Unwert
heißen! ‒ ‒
In siegreicher Arbeit um der Arbeit willen wird sie
ohne Schwertstreich zu besiegen wissen, was der
Liebe sich entgegenstellen möchte!...
Die „Ehre”, durch Mord sich Recht zu schaffen,
wird ihr verwerfliche Torheit sein!...
*
Nur denen, die ihr mordend nahen und in Mordlust
ihren Frieden stören, wird sie mit dem Schwerte
wehren, so sie anders sich nicht mehr schützen
kann. ‒ ‒
Sie wird das Schwert jedoch nicht länger führen,
als es zur Abwehr vonnöten ist! ‒
Nie wird sie Macht erstreben unter den Völkern, die
nur durch Menschenmord zu begründen wäre! ‒ ‒
Nie wird sie anderen das Ihre neiden und es durch
Mord in ihre Macht zu bringen suchen! ‒ ‒ ‒
Der Tierheit niedrige Gelüste werden der Freude
55 Psalmen
weichen; ‒ die Gier der Leidenschaft wird schwin‐
den in der Ruhe einer stillen Kraft!...
*
So wird die neue Menschheit wissend sich auf
neuen Wegen finden...
Der Mensch der neuen Menschheit wird den Füh
rer in sich finden: ‒ die Wege die er schreiten wird,
werden des Führers Wege sein!...
*
Die neuen Menschen unter allen Völkern dieser
Erde werden geführt sein von denen, die allein sie
führen können: ‒ der eitlen Willkür klüglichen
Errechnens und der schlauen Ränke Spiel sind sie
gar weit entrückt!...
Der Mensch wird wieder dem Menschen vertrauen
können: ‒ die Lüge wird des neuen Menschen
Lippen nicht entweihen!...
So werden sich diese neuen Menschen stetig in der
Liebe finden...
So werden jene Lichterkenntnis sie erlangen, die
nur in der Liebe zu erlangen ist!...
*
Durch sie wird der Geist des Menschen endlich Be
freiung finden!...
*
56 Psalmen
ERFÜLLUNG
IN dir, du Ewiger, habe ich Licht erlangt!...       
In dir, du Ewiger, sah ich am Werke die ewigen
Kräfte!...
Du hast mich erlöst aus den Schrecken der Hölle:
‒ in dir ward mir die Lichterkenntnis aus der
Liebe!...
*
Erschauernd denke ich des düsteren Tages da ich
einst dem Lichte fluchen konnte, da es dort nicht
war wo ich es suchte; ‒ erbebend sehe ich zurück
und sehe, wie die Finsternis mich Törichten einst
in Banden hielt!
*
Die Hand des Führers hast du mich finden lassen;
‒ es ward mir die Gewißheit, die nur Erkenntnis
in der Liebe geben kann! ‒
Erfüllung meines Sehnens bist du mir geworden: ‒
du mein lebendiger Gott, der da selbst die Liebe
ist! ‒ ‒ ‒
In dir bin ich erwacht zum Leben; ‒ in dir ward
mir die Finsternis erhellt! ‒ ‒
Mich selbst erkannte ich in dir, du Ewiger, und
in mir selber fand ich dich!...
Wo ist noch die Stimme der Hölle die vordem mich
ängsten wollte? ‒
59 Psalmen
Wo ist der Schlamm der Tiefe in dem ich einst
wühlte?...
*
Doch ‒ ich sehe viele noch im Finstern wandeln,
und was mir selbst die Finsternis erhellt: ‒ siehe,
ihnen ist es noch fremd!
Sie tappen noch im Dunkel und suchen tastend
nur ihren Weg; ‒ vom Lichte hören sie mich reden
und solche Rede ist ihnen trügliche Mär!...
Ach, daß auch ihnen alsbald Erfüllung werde!
Ach, daß auch sie alsbald zum Lichte in der Liebe
fänden!
*
Der Führer aber spricht zu mir:
„Sorge dich nicht um jene die noch im Finstern
träumen!
Auch ihre Zeit wird ihnen kommen und sie werden
in die Liebe finden!
Gib ihnen was du nun geben kannst, auch wenn
sie deine Gabe etwa nicht zu ehren wissen!
Du selbst aber sorge, daß das Licht in dir nicht mehr
verlösche!
Schaffe Zuwachs dem Lichte in der Finsternis!
Vermehre seine Kraft durch Tat und Wirken aus
der Liebe!
60 Psalmen
So wirst du am besten denen helfen, die noch im
Finstern sind!
So wirst du die Stunde ihres Erwachens ihnen näher
bringen können!”
*
Vertrauend danke ich ihm, der so mich belehrt...
In mir selbst erfühle ich seiner Worte Wahrheit...
Ja: ‒ es ist wahrlich Torheit, andere ihren Träu
men entreißen zu wollen, solange sie zum Erwachen
noch nicht bereitet sind!
Sie selber müssen erst erwachen wollen! ‒
Dann aber wird auch ihnen Hilfe nahe sein! ‒ ‒
Höher als alle höchsten Wünsche sich erheben, ist
die Erfüllung, die dem Suchenden wird der in die
Liebe gelangt!
Was er sich ferne glaubte über allen Sonnen, wird
er nahe finden in sich selbst! ‒
In seinem Allerinnersten wird ihm die Erlösung
werden! ‒
In seinem Allerinnersten wird ihm Erfüllung ge‐
geben! ‒
*
Im Lichte erlebt er sich selbst als des Lichtes Zeu
gung; ‒ das Innerste des Geistes wird seinem
Geiste erschlossen!
61 Psalmen
Gewißheit wird ihm seines ewigen Bestehens: ‒
das Ende dieser Erdentage ist ihm kein Ende seines
Lebens mehr!...
Ein neues Leben hat er in sich selbst gefunden, das
ewig währt, da es der Ewigkeit entstammt!...
Dort wo ihn ehedem, da er im Finstern war, die
bangen Fragen irren wollten, dort findet Antwort
er nun in sich selbst!...
Bleibt er nur in der Liebe allezeit, so kann ihm keiner
die Krone des Siegers rauben!...
*
An seines Erdenlebens letztem Tage weiß er sich in
guter Hut...
Emporgeleitet aus der Erde Niederung wird er die
hohen Reiche finden, da des Geistes Fülle sich in
Geisterhierarchien offenbart, und ewig weiter‐
schreitend einst in jenem Geistgewande, das der
Vater” ihm verleihen wird, sieht er von Lichter
kenntnis sich zu neuer Lichterkenntnis wandeln.
Ihm ist die Ewigkeit nicht mehr verhüllt durch
dichte Schleier: ‒ die Wahrheit offenbart sich ihm
schon während seines Erdendaseins!...
*
Wie hätte das liebeleere Erkennen, das die Fin
62 Psalmen
sternis den Ihren gibt, mir je des Lichtes Farben
reichtum offenbaren sollen! ‒ ‒
Wahrlich: ‒ töricht und arm sind alle, die da an
jener Scheinerkenntnis noch Genüge finden!
*
Mein Tun und Wirken will nun zum Preislied
werden, dir zu danken, dem ich mich selber
danke! ‒
Mit Worten dir, du Ewiger, zu danken, wäre ein
gar geringer Dank! ‒ ‒
Wie sollten Worte wohl die Weihe in sich tragen,
würdig dir zum Danke zu erklingen!
*
Vereint mit allen Geisterchören die sich meinem
Geiste in der Liebe zeigen, will ich mich selbst
nun in der Liebe erfüllen!
Erstorben bin ich allem was ich einst für mein Leben
hielt; ‒ das Leben des Lichtes fand ich in der
Liebe!...
Du hast mich gewandelt als ich zutiefst in der Dun
kelheit war; ‒ als ich wie ein Baum entwurzelt am
Boden lag, hast du mich aufgerichtet! ‒
In dir ward meinen Wurzeln neue Nahrung: ‒ in
dir ward meinen Zweigen Blüte und Frucht! ‒
Was ich vergeblich in den bangen Nächten meines
63 Psalmen
Irrens suchte, das hat in überreicher Fülle nun der
Suchende gefunden! ‒
All sein Sehnen ist ihm gestillt; ‒ all sein Verlangen
ist erfüllt! ‒ ‒ ‒
Dich selber hast du ihm gegeben: ‒ du selber bist
ihm Erfüllung geworden! ‒ ‒ ‒
Urgründiges Geschehen wird ihm offenbar in
dir; ‒ urewige Weisheit lichtet seine Seele! ‒ ‒ ‒
In dir, du ewiges Licht, ward ihm Erleuchtung! ‒
In dir, du ewige Liebe, ist der Suchende erstanden
als ein Liebender! ‒ ‒ ‒
In dir wird er ewig im Lichte, ‒ ewig in der Liebe
sein! ‒ ‒ ‒
Ich liebe dich, du Licht der Ewigkeit!...
*           *
*
64 Psalmen
ENDE
DER SINN
DES
DASEINS
Verlagslogo
1927
Kober'sche Verlagsbuchhandlung /Basel
UM DEN FORDERUNGEN DES URHEBERRECHTES
ZU ENTSPRECHEN, SEI HIER VERMERKT, DASS
ICH IM ZEITBEDINGTEN LEBEN DEN NAMEN
JOSEPH ANTON SCHNEIDERFRANKEN FÜHRE,
WIE ICH IN MEINEM EWIGEN GEISTIGEN SEIN
URBEDINGT BIN IN DEN DREI SILBEN:
BÔ YIN RÂ
BASEL 1927
COPYRIGHT BY KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
INHALT Seite
Zuruf 7
Die Sünde der Väter 21
Das höchste Gut 37
Der «böse» Mensch 57
Bekundung der Lichtwelt 87
Bedeutung des Schweigens 105
Wahrheit und Wahrheiten 123
Beschluß 139
Originalscan
ZURUF
DU bist müde geworden vom vielen
Suchen, und nun bist du des
Suchens selber müde! ‒
.Da nirgends zu finden war, was
du suchtest, willst allem Suchen du
hinfort entsagen! ‒
.Das Land der Lebendigen woll‐
test du einst finden, und den Tempel
der Ewigkeit!
.Aber wohin auch immer du deine
Schritte lenken mochtest, dort war
König: ‒ der Tod, und jeder Tem‐
pel barg in seinem innersten geheimen
Schrein nur ein machtloses Götzen
bild...
.Wahrlich, mein Freund, du mußtest
müde werden bei solchem Suchen,
9 Der Sinn des Daseins
wie so viele Andere müde wurden,
die einst in Hoffen und Zuversicht
ausgezogen waren, gleich dir!
.Kein Tadel soll dich treffen, und
keine harte Rede darf dein Ohr er‐
schrecken, denn es war nicht deine
Schuld, die auf den Fahrten in die
Ferne dich nicht finden ließ, wonach
du doch so voller heißer Sehnsucht
suchtest! ‒ ‒
.Man hatte dir Wege gewiesen, die
man selbst niemals gegangen war!
.Man hatte dir verheißen, was man
selber nicht gefunden hatte!
.Man schickte dich auf Pfade aus,
die man selber längst verlassen mußte!
10 Der Sinn des Daseins
.Wie hätte dir da Erfüllung werden
sollen, wo Andere nur Enttäuschung
auf Enttäuschung erlebten, bis sie er‐
mattet ihre Schritte wieder rückwärts
lenkten, sofern sie jemals die dir be‐
zeichneten Wege selber eingeschlagen
hatten!? ‒
.Wie hättest du auf solchen Wegen
deines Sehnens Ziel jemals erreichen
können!? ‒
.Zürne aber denen nicht, die dir
Irrwege zeigten, denn sie wußten es
selbst nicht besser, da sie des rechten
Weges nicht kundig waren!
.Wenn sie dir sagten: ‒ «Dahin, du
Suchender, mußt du dich wenden!» ‒
oder: ‒ «Dort, o Strebender, ist dein
11 Der Sinn des Daseins
rechter Weg!» ‒ so meinten die Meisten,
sie hätten dir gut geraten...
.Auch wenn sie dir Wege wiesen, die
sie selbst enttäuscht verlassen hatten,
waren sie doch noch des Glaubens, dir
könnte vielleicht gelingen, was ihrer
eigenen Kraft einst mißlungen war...
.Hatte dich aber wirklich nur ein
machtbegehrlicher Phantast ge‐
täuscht, oder gar ein Schurke, der
sehr wohl wußte, daß er dir Wege des
Irrtums zeigte, ‒ dann danke dem Him‐
mel, wenn du nun solcher Hörigkeit
entronnen bist, aber ‒ werfe dich auch
da nicht zum Richter auf, denn der,
dem du das Urteil sprechen willst, ist
längst durch sein eigenes Tun ge‐
richtet! ‒ ‒
12 Der Sinn des Daseins
.Beklage auch nicht dein Schicksal,
weil es dich bisher noch nicht finden
ließ, und schmähe nicht etwa dich
selbst, weil du nun müde und ent‐
täuscht dich wieder an der gleichen
Stelle siehst von der du einst hoff‐
nungsfreudig vordem ausgegangen
warst! ‒
.Was soll dir Klage und Verwünschung
helfen?! ‒
.Wenn diese Worte dich erreichen,
dann hast du wahrhaftig auch keinerlei
Grund mehr, deinem bisherigen Irren
noch fernerhin zu fluchen!
.Siehe: ‒ dein Weg wird gesegnet
sein von diesem Tage an, und fürder
wird man dich nicht mehr auf Irr
tumswegen gewahren!
13 Der Sinn des Daseins
.Hier spricht nun ein Mensch zu dir,
der wahrlich weiß um den Weg zur
Wirklichkeit!
.Hier spricht ein Mensch zu dir, der
diesen Weg dir auch wirklich zeigen
kann und zeigen will, auf daß du end‐
lich das Ziel deiner Sehnsucht errei
chen mögest! ‒ ‒
.Folge mir, und mit jedem deiner
Schritte wirst du die Kraft in dir wach‐
sen fühlen, um bis zum Ziele auszu‐
harren.
.Nicht ich habe dich gesucht und
nicht mir hast du es zu danken, daß
du mich fandest!
.Dein eigenes Suchen, das so lange
Zeit irre Wege ging, ward endlich frei,
14 Der Sinn des Daseins
nachdem du es entlassen hattest, da
du seiner müde geworden warst...
.Nun frei geworden, läßt es dich
heute endlich entdecken, was dir vor‐
dem verborgen war...
.Es ist nur dein Sucherwille, der
mich finden mußte! ‒ ‒
.Nicht vergeblich war es, daß du
auf irreführenden Wegen vorher
suchtest! ‒
.Nicht vergeblich war es, daß du
Lehren folgtest, die dich nicht zum
Ziele bringen konnten! ‒
.Wo immer du suchen mochtest, ‒
stets schaffte dein Suchen deiner Kraft
des Suchens weitere Verstärkung, so,
15 Der Sinn des Daseins
wie elektrische Kraft auf dem Wege
durch die Drahtspirale sich verstärken
muß, ‒ und heute, da du nun mein‐
test, all dein Suchen sei nur der Ver
wünschung wert, wird dir endlich
zuteil, was du nicht mehr zu er
hoffen wagtest! ‒ ‒ ‒
.Dort, wo wir alle, die allhier auf
Erden leben, bewußt und nicht be
wußt, im gleichen Geistes-Leben
gründen, dort hat man deine Not er
schaut, und wußte, wie man sie wen
den könne...
.Ich bin dir nun gesandt, und du hast
mich gefunden, weil ich dir wirk
lich helfen kann und weil kein an
derer in diesen deinen Erdentagen dir
die gleiche Hilfe bringen könnte...
16 Der Sinn des Daseins
.Es liegt wahrhaftig nicht an mir, daß
dem so ist, ‒ doch kann ich auch
nicht ändern, was ich selber nicht ge‐
ordnet habe, und vergeblich würdest
du die hier gegebene Ordnung stören
wollen: ‒ vergeblich würdest du
nach anderer Hilfe Ausschau hal‐
ten...
.Nach mir hast du gerufen, ohne
mich zu kennen! ‒ ‒
.Mein Wort erreicht dich, ohne
daß ich von dir weiß! ‒ ‒
.Noch kannst du auch nicht wissen,
wer in diesen Worten zu dir redet,
und ich verarge es dir wahrlich nicht,
wenn du, nach mancherlei Enttäu‐
schung, und verbittert durch gar grau‐
17 Der Sinn des Daseins
same Erfahrung, noch ängstlich zauderst,
ob du meiner Stimme folgen sollst! ‒
.Einem Verirrten bist du gleich, der
irgendwo in dunkler Nacht den Ruf
des Wegekundigen hört und ihm zu‐
erst erschreckt mißtraut, voll Furcht
und Argwohn, da an gleicher Stätte
mancher Raub und Mord geschah...
.Auch ich würde sicherlich zau
dern, stünde ich an deiner Stelle!
.Doch siehe: ‒ ich erwarte ja nichts
anderes von dir, als daß du, stetig
deines Weges achtend, der Leuchte
folgst, die ich vor dir entzünde!
.Ich trage sie voran, so daß du
selbst gar leicht gewahren kannst, wo
hin ich dich führe. ‒
18 Der Sinn des Daseins
.Woher ich selber kundig bin
des rechten Weges, und warum
gerade ich allein ihn heute zeigen
kann, braucht vorerst dich in keiner
Weise zu bekümmern!
.Laß dir einstweilen genügen, daß
du alsbald gewahren wirst, wie ich
den Weg dir aus der Wirrnis bahne!
.Wie oft man dich auch betrogen
haben mag: ‒ diesmal wirst du wahr
lich nicht betrogen sein!
.Schon nach den ersten Schritten
wirst du entdecken, daß dir auf mei
nem Wege nie der Trug begegnen
kann!
.Bis heute konntest du dich noch
berechtigt wähnen, alle zu verlachen,
19 Der Sinn des Daseins
die dir sagen mochten, daß es einen
Menschen geben könne, wissend um
den Weg zur Wahrheit, und bereit,
dich diesen Weg zu führen...
.Heute aber bist du diesem Men
schen nun begegnet!
.Entscheide du selbst, ob du mir
Folge leisten willst!
Entscheide selber, ‒ denn nur auf
dich selber kommt es an, ‒ ob
es dir noch der Mühe lohnt, das
langerstrebte Hochziel
deiner Sehnsucht
endlich zu erreichen!
*           *
*
20 Der Sinn des Daseins
DIE SÜNDE DER VÄTER
WAHRLICH: ‒ du bist dir selber
ein Rätsel, das du noch nicht
lösen kannst!
.Zwar hat man dich belehrt von frü‐
her Jugend auf, und dir gesagt, wie
Andere voreinst das Rätsel lösten,
das sie in sich selber fanden, allein ‒
es kam für dich ein Tag, an dem dir
jede Antwort Anderer nur neue
Frage weckte in dir selbst...
.Du wolltest in dir selbst zum
Frieden kommen und wurdest immer
mehr gewahr, daß dir gar wenig dabei
helfen konnte, was einst Frühere be‐
friedigt hatte...
.Nun hast du ‒ müde und ver‐
zichtend ‒ aufgehört zu suchen nach
der Lösung deines Lebensrätsels...
23 Der Sinn des Daseins
.Nun bist du angelangt bei der ver‐
meintlichen Erkenntnis, daß deinen
Fragen hier auf dieser Erde niemals
eine Antwort werden könne: ‒ eine
Antwort, die zum Frieden führen
würde...
.Und doch, mein Freund, soll
dir wahrhaftig solche Antwort
werden!
.Ich will dir gerne zeigen, wie du
selbst dich dir enträtseln kannst!
.Um aber dahin zu gelangen, wirst
du erst begreifen lernen müssen, daß
rechte Antwort immer nur der rech
ten Fragestellung folgen kann, ‒ so
daß die Vielen die du klagen hörst,
daß ihnen niemals die erhoffte Ant
wort wurde, weit eher zu beklagen
24 Der Sinn des Daseins
hätten, daß sie nie die rechte Frage
stellung fanden. ‒ ‒
.Du bist verbittert, weil auch dir
bis heute nicht die langersehnte Ant‐
wort kam, ‒ doch nie hast du daran
gedacht dich selbst zu prüfen: ob du
recht zu fragen wüßtest! ‒
.Zwar hast du immer wieder bitter‐
lich erfahren müssen, daß alle Ant‐
wort Anderer dir keinen Frieden
bringen konnte, allein ‒ die falsche
Fragestellung dieser Anderen hast
du getrost und unbekümmert trotzdem
übernommen...
.Wie durftest du bei solcher Frage
stellung jemals hoffen, deine Antwort
zu erhalten?! ‒
25 Der Sinn des Daseins
.Wie konntest du dich in den Wahn
verspinnen, daß dieser Anderen Art
zu fragen dennoch eine Antwort in
dir wecken müsse, ‒ verschieden
von der Antwort, die sie selbst er‐
halten hatten, die aber dir Befriedigung
versagte?! ‒
.Siehe: ‒ es ist die Sünde deiner
Väter, mein Freund, die heute dich
nun leiden macht, und du nur kannst
deiner Väter Erlöser werden, ‒ du nur
kannst jetzt ihre Sünde tilgen! ‒ ‒
.Was deinen Vorvätern einst genügte,
um Zufriedenheit für sich zu haben,
das eben raubt dir heute deinen
Frieden!
.Auch deine Vorväter waren sich einst
zum Rätsel geworden, und so suchten
26 Der Sinn des Daseins
sie sich ihre Lösung: ‒ eine Lösung,
die dich binden sollte...
.Was sie für sich voreinst gefunden
hatten, wurde dein Erbe, und wurde
dir Anlaß zu neuer Frage.
.Aber zugleich auch wurde eine Art
der Fragestellung dir vererbt, die nie
mals dir die Antwort bringen kann, in
der sich jede deiner Fragen auflöst, wie
sich Morgennebel lösen in dem Licht
der Sonne...
.Willst du nicht ewig dir nun ein
Rätsel bleiben, so wirst du verzich
ten müssen auf ein Erbe, das dir nur
noch zum Verhängnis werden kann! ‒
.Du wirst dir selbst nun eine neue
Fragestellung schaffen müssen, und dei‐
27 Der Sinn des Daseins
ner Väter Antwort darf dir nicht mehr
Anlaß werden, Fragen aufzuwerfen, in
der Art, wie sie einst fragten! ‒
.Nicht eher findest du deinen in‐
neren Frieden, als bis du gelernt hast,
auch auf deine Art zu fragen! ‒ ‒
.So frage denn fortan nicht mehr
nach dem «Gotte der Väter», ‒ son‐
dern nach deinem, in dir leben
digen Gott! ‒ ‒
.Frage nicht mehr nach dem «Wert
des Lebens», sondern nach dem
Werte, den du deinem Leben geben
kannst! ‒ ‒
.Frage nicht mehr nach dem «Sinn
des Daseins», sondern frage dich, wie
28 Der Sinn des Daseins
dein Dasein durch dich selber Sinn
erhalten könne!? ‒
.Frage nicht mehr: ‒ «Was ist der
Mensch!» ‒ ‒ sondern stelle dir hin‐
fort die Frage, ob du selber bist,
was du sein kannst!? ‒
.Frage nicht mehr: ‒ «Gibt es eine
Seele?» ‒ sondern frage dich, was
an dir selber «Seele» ist, und wie
du dessen bewußt werden könn
test!? ‒
.Frage nicht mehr: ‒ «Gibt es ein
Leben nach dem Tode?» ‒ ‒ son‐
dern frage dich, was du in deinem
Erdenleben tun kannst, um bewuß
tes Weiterleben in der Ewigkeit
dir zu erringen!? ‒
29 Der Sinn des Daseins
.Frage nicht mehr: ‒ «Was ist Wahr
heit?» ‒ ‒ sondern frage, ob du
selbst wahrhaftig bist, und willens,
nichts in dir zu dulden, was dir
deine Wahrheit trüben könnte!? ‒
.Wenn du auf solche Art deine
Fragestellung formulierst, dann wird
dir gewiß auch auf jede deiner Fragen
eine Antwort zuteil, die dir den heiß‐
ersehnten inneren Frieden bringt. ‒
.Man hat nach gar vielem schon ge‐
fragt, das zu wissen wahrlich nicht
nötig ist...
.So hat man sich selber denn Ant
wort gesucht, die nur scheinbar «Ant‐
wort» war, und jede solche vermeint‐
30 Der Sinn des Daseins
liche Antwort mußte neue Frage
wecken, auch wenn sie erst in Spä
teren erwachte....
.Willst du in gleicher Weise weiter
fragen, so wirst du nicht nur dich
selbst stets vor neuen Fragen sehen,
sondern auch der Nachwelt so manche
Frage hinterlassen, gerade in dem, was
dir Antwort geben schien! ‒
.Sorge daher, daß jede Frage, die
dich etwa bedrängen mag, in dir auch
stets die rechte Fragestellung finde,
auf die dir deine, dich befriedigende
Antwort werden muß!
.Kein Anderer kann jemals dir
deine Antwort geben! ‒
31 Der Sinn des Daseins
.Nur als Erlebnis ist sie in dir zu
erlangen, und erleben kannst du sie
nur in dir selbst! ‒ ‒ ‒
.Alles, was man so gemeinhin „Ant
wortauf letzte Fragen nennt, ‒
sei es auch das Wort eines Menschen,
den die Nachgeborenen als einen „Gott”
verehren, ‒ weckt ständig wieder
neue Frage von Geschlecht zu Ge‐
schlecht. ‒ ‒
.Es kann dir solche „Antwort” besten‐
falls nur Anlaß werden, die Frage
stellung in dir selbst zu finden, die
wirklich Antwort im Erleben bringt! ‒
.Die Vorväter aber glaubten, ‒ und
sie glaubten solches in der Zeiten Folge
wahrlich gar oft, ‒ daß äußere Antwort
die sie selbst zufriedenstellte, nun‐
32 Der Sinn des Daseins
mehr letzte, unumstößliche Antwort
sei, so daß nur Toren oder Frevler
noch nach anderer Antwort fragen
könnten....
.Wohl mochten sie guten Glaubens
sein, der Nachwelt so ein Erbe des
Segens zu hinterlassen....
.Du aber, mein Freund, hast an dir
selbst genugsam nun erfahren müssen,
welcher arge Fluch auf solchem Erbe
lastet! ‒ ‒
.An dir ist es jetzt, diesen Fluch
aus der Welt zu schaffen!
.Du wirst ihn aber nur vernichten
können, wenn du die Lösung, die
einst deine Väter sich erfanden, um
sich zu enträtseln, nicht unbesehen
33 Der Sinn des Daseins
weitergibst, und auch von denen, die
an deinen Worten hängen, nicht etwa
verlangst, daß sie die Antwort, die dir
selbst geworden ist, als ihre Antwort
anerkennen! ‒ ‒
.Wenn du die Antwort in dir findest,
die dir selbst den Frieden bringt,
so nütze sie allein, um Anderen zu
helfen, ihrerseits auf rechte Weise in
sich selbst zu fragen!
.Schaffe dir selbst stets rechte Frage‐
stellung, auf die dir Antwort kommen
muß, die wahrlich für dich selber
unumstößlich ist, ‒ aber glaube
nicht, daß deine Antwort nur von
Anderen übernommen werden müsse,
damit sie fortan auch der Anderen
eigene Antwort sei! ‒
34 Der Sinn des Daseins
.Jeder, der heute mit dir hier auf
Erden lebt, und jeder, der später nach
dir kommt, wird für sich selber
rechte Fragestellung lernen müssen, und
nur im eigenen Erleben wird dann
jedem seine Antwort auf die letzten
Fragen seines Daseins faßbar wer‐
den! ‒ ‒
.Wer aber das Rätsel für sich löste,
das er sich selber vordem war, der
suche lediglich die Anderen zu warnen
vor dem Irrtum, als ob je ein Erden‐
mensch des anderen Lebensrätsel lösen
könne! ‒ ‒
Er wehre einzig dort, wo er Gefahr
gegeben sieht, daß Suchende sich
durch der Väter Erbe irren
lassen! ‒ ‒ ‒
*           *
*
35 Der Sinn des Daseins
DAS HÖCHSTE GUT
ES wird hier füglich nur von deinem
«höchsten Gute» nun die Rede
sein, denn nur was dein Besitz ist, ‒
was nur dir allein gehört und dir von
keinem anderen, wer er auch sei, jemals
genommen werden kann, ‒ ist wirk‐
lich höchstes Gut für dich!
.Du selbst bist dieses höchste Gut
in jenem Allerinnersten der Seele,
das nie ein Anderer berühren kann,
und das selbst dir nur im Erleben
sich bezeugt, da nie dein Denken es
be-greifen wird! ‒ ‒
.Du fühlst dich selbst als «Ich», ‒
jedoch du ahnst vielleicht noch nicht,
daß alles, was du in dir selbst bis
jetzt als «Ich» empfindest, nur wie ein
matter Abglanz in dir lichtet, ‒ aus‐
39 Der Sinn des Daseins
gesandt aus deinem eigentlichen Sein,
jedoch verdeckt und arg umdüstert
durch die Wolkennebel, die auch noch
dein klarstes Denken hinterläßt....
.In seltenen und weihevollen Augen‐
blicken nur dringt dieses wahre Sein
durch alles Trübe in dir selbst hindurch,
um dein Gehirnbewußtsein zu er‐
reichen, das es alsdann erschreckt ver‐
nimmt und wie das Allerfremdeste
empfindet!
.Dennoch aber ist nur dieses wahre
Sein, das du in solchen Augenblicken
plötzlich fühlst und dann als fremde,
hohe Macht dir deutest, in Wirklich‐
keit dein eigenster Besitz! ‒ ‒ ‒
.Was immer du sonst noch in dir zu
besitzen glaubst, kann dir zu jeder
40 Der Sinn des Daseins
Zeit genommen werden, ‒ gehört
dir nur für eine kurze Spanne dieser
Erdentage! ‒
.Nur dieses wahre Sein, seit aller
Ewigkeit im Geist durch Geist er
zeugt, bleibt dir durch alle Ewigkeit
erhalten, sobald es dein Bewußtsein
einmal in sich aufgenommen hat. ‒ ‒
.Aus diesen Worten schon wird dir
erfühlbar sein, daß dieses Eine nur
als «höchstes» Gut zu werten ist, ‒
wenn auch dein irdischer Verstand
sich noch gar mancherlei erdenken
mag, das er vielleicht als höchstes
Gut bewertet sehen möchte. ‒
.Noch aber weißt du nicht dein höch‐
stes Gut zu nützen!
41 Der Sinn des Daseins
.Du gleichst einem Reichen dieser
Erde, den man, aus grausam wahn‐
betörter Laune, ganz in Dürftigkeit
erziehen ließ, auf daß er nicht um
sein Besitztum wisse, und der nun
ahnungslos sein Brot erbettelt, dort,
wo er selber Herr des Bodens ist...
.Dein Dasein bleibt wahrhaftig «sinn
los», gibst du ihm selber nicht den
«Sinn»: ‒ daß es dein höchstes Gut
dir durch den Gegensatz des Schein‐
besitzes in der Scheinwelt erst er
kennbar werden lasse! ‒ ‒
.Nur mußt du freilich auch erkennen
lernen wollen, was dein Dasein dir
zu offenbaren hat!
.Du darfst nicht deinem Schein
besitz dich so verhaften, daß jede Sehn‐
42 Der Sinn des Daseins
sucht in dir schwindet, die in dir noch
jene Kräfte wecken könnte, deren du
bedarfst, willst du die Wolkennebel,
die dein irdisch dumpfes Denken
schuf, zum Weichen bringen, um end‐
lich das in dir zu fassen, was ewig
dir erhalten bleiben muß, sobald du
einmal dein Besitzrecht geltend mach‐
test! ‒ ‒
.Noch ist der «Brennpunkt» deines
Bewußtseins von dir nach außen
hin ver-rückt!
.Es sei deine Sorge, mein Freund,
ihn wieder dorthin zu rücken, wo
er vor Ewigkeiten war, und wo er
dann ewig in deinem Eigentum ver‐
bleiben wird! ‒
43 Der Sinn des Daseins
.Sobald du dieses Erdendasein einst
verlassen mußt, ‒ ob du auch noch
so fest an deinen Scheinbesitz dich
klammern magst, ‒ würde der «Brenn‐
punkt» deines Bewußtseins sonst im
ewig Leeren sein, und erst nach
qualvoll durchlebten Äonen könntest
du ihn endlich wieder in dir selber
finden. ‒ ‒ ‒
.Es ist viel leichter, als du glauben
wirst, auf dieser Erde noch zurück in
dein innerstes Sein zu gelangen, und
dort dich zu empfinden, wo du in
deinem ewig Eigenen bist!
.Noch ist dies ja nicht die einstige
«Gottvereinigung», ‒ aber eher
kannst du nicht dich selbst in Gott dem
Göttlichen vereint erleben, als bis
44 Der Sinn des Daseins
du vorerst in dir selbst bewußt ge‐
worden bist in deinem wahren
Sein! ‒ ‒
.Hierher: ‒ in dieses Aller
innerste, muß all dein Selbst-Be
wußtsein kehren, soll dein Dasein
durch dich selber seinen «Sinn» er‐
langen!
.Du wirst erreichen, wonach du
strebst, wenn du ‒ trotz aller Freude
an der Außenwelt ‒ stets die Emp‐
findung in dir wacherhalten kannst, daß
noch ein Anderes in dir lebt, das
alles überragt, was je im Äußeren dir
begegnen könnte, und daß du dieses
«Andere» selber bist! ‒
.Du bist nur ein «Anderes» gegen‐
über der Außenwelt, und ein «An
45 Der Sinn des Daseins
deres» als das, was du, ‒ in diese
Außenwelt verflochten, ‒ gemeinhin
für dich selber hältst!
.So, wie du heute noch «Ich» sagst,
und der Inhalt dieser Ich-Empfindung
ist bedingt nur durch Verwesliches,
so wirst du, ‒ hast du einst dein
Allerinnerstes im «Brennpunkt» deines
Selbst-Bewußtseins aufgefunden, ‒ in
gleicher Weise «Ich» zu sagen wissen,
und der Inhalt dieses, dir so neuen
«Ich» wird nur aus Unvergänglichem
bestehen, kaum noch gestreift von dem,
was hier auf Erden auch noch fürder‐
hin verweslich bleibt! ‒ ‒ ‒
.Nicht anders sagt auch der wahrhaft
Gottvereinte: «Ich», nur ist bei ihm
der Inhalt dieses «Ich» zugleich durch‐
46 Der Sinn des Daseins
leuchtet von der Gottheit Strahlen‐
licht, in dem das Unvergängliche des
Menschen aufglüht wie ein Edelstein
im Licht der Erdensonne...
.Laß dich nicht irreleiten durch Be‐
richte von Menschen, die in der Ek
stase sich mit Gott vereinigt wähnten,
da sie ihr eigenes Allerinnerstes nicht
auf die Weise, die sie übten, fassen
konnten und darum dieses Aller‐
innerste als außer sich empfanden!
.Sich selbst erschauten sie in ihrer
«Ekstasis» als ein zweites, und dieses,
ihnen Fremde, war für ihr Empfinden
so erhaben, daß sie es anders nicht
zu deuten wußten, und also glaubten,
daß die Gottheit selbst in sie her
abgestiegen sei. ‒ ‒
47 Der Sinn des Daseins
.Dergleichen Irrwahn war zu allen
Zeiten zu finden und unter allen
Völkern!
.Zahlreicher wie die Herbstzeitlosen
auf nassen Wiesen wachsen auch heute
noch in manchen Glaubenskreisen sol‐
che scheinbar «Begnadete» hervor,
und nur die wenigsten von ihnen finden
gelegentlich ihre Chronisten!
.Dir diene zur Richtschnur das gewisse
Wissen, daß da alle geistige Erfahrung,
die im Ewig-Wirklichen wahrhaft
begründet ist, stets nur erlebbar wird
in reiner «Ich»-Erfahrung!
.Sei hier gewarnt vor jedem unsicht‐
baren «Du», das dir vernehmbar werden
48 Der Sinn des Daseins
will, etwa als geistiger «Berater»,
oder gar als «Gottes Stimme»!
.Du darfst in allen Fällen ohne jede
Frage sicher sein, daß dir auf solche
Weise niemals Botschaft aus dem
Reich des reinen Geistes kommt!
.Ich will dich nicht in Angst vor
allem Unsichtbaren sehen, allein es
wird mir hier zur Pflicht, dich vor
Verderblichem zu warnen, und willst
du mehr von diesen Dingen wissen,
so wirst du noch gar manches Wort
in meinen Schriften finden, das dir
allhier von ferne nur Gezeigtes aus der
Nähe deutet. ‒
.Es genüge dir hier, wenn ich dir sage,
daß alles, was vom Geiste Gottes
kommt, nur zu dir eingeht durch dein
49 Der Sinn des Daseins
Allerinnerstes, und nur vernehmbar
wird aus deinem wahren «Ich» in
deinem ewigen Sein! ‒
.Du empfindest dann: ‒ «Ich weiß!
‒ aber nun weiß ich wahrlich auf
andere Weise, als ich jemals ehedem
aus mir selbst zu wissen vermochte!» ‒
.Es «spricht» etwas in dir, ‒ aber
stets wird dieses «Etwas» aus deinem
innersten wahren Sein zu dir reden,
und dein wirkliches «Ich» wird dir
vermitteln, was es im Geiste der
Ewigkeit empfängt....
.So nur kann dir aus dem Geiste
her auch die Ein-sicht mitgegeben
werden, derer du bedarfst, sobald du
Geistiges mit sicherer Gewißheit
unterscheiden lernen willst von den
50 Der Sinn des Daseins
Gebilden deiner stets gestaltungsfrohen
Phantasie....
.Nicht anders ergeht es auch dem
wahrhaft geistig Schauenden, wenn
echtes Geistiges sich bis zur Sicht
barkeit vor ihm verdichtet!
.Stets bleibt er aktiv in seinem
Schauen!
.Es werden die Gesichte ihm nicht
aufgedrängt, sobald sie wahrhaft aus
dem reinen Geiste stammen....
.Auch wenn er noch nicht die Macht
hat, in sich selber zu bestimmen,
was er erschauen will, so weiß dennoch
jeder, der im Geiste zu schauen ver
mag, daß ihm die Freiheit bleibt, die
Geistesbilder aufzunehmen, oder
51 Der Sinn des Daseins
aber, ‒ wenn er ihrer nicht bedarf,
‒ sogleich zu bewirken, daß sie vor
ihm verschwinden!
.Niemals kann eine bildhafte Ge‐
staltung, die im wesenhaften, reinen
Geiste gründet, den Menschen quasi
«verfolgen», ‒ niemals wird sie sich,
von dem Schauenden ungewollt, auch
dann noch zeigen, wenn er sein Augen‐
merk auf andere Dinge richtet!
.Wer sich bei seiner Schauung unter
einem Zwange fühlt, der darf ganz
sicher sein, daß das, was er etwa er‐
schaut, gewiß nicht aus dem Rei
che reinen, wesenhaften Geistes
stammt, ‒ mag es auch scheinen, als
könne es nur aus den höchsten Sphären
des Lichtes kommen! ‒ ‒
52 Der Sinn des Daseins
.Hier überschwemmt noch heute
folgenschwerer Irrtum die Welt, sowie
er noch heute fast jedes Zeugnis der
Wahrheit aus alter Zeit mit seinem
zähen Schlamme bedeckt.
.Einst wird man aufs neue entdecken,
daß die Alten doch nicht ganz im Aber‐
glauben waren, wenn sie von der
Möglichkeit des «Besessenseins»
sprachen, und so manche Lehre, die
auch heute noch in manchen Köpfen
spukt, wird dann mit Gewißheit als
Bekundung solcher «Besessenheit» sich
enthüllen lassen müssen! ‒
.Willst du, o Suchender, in dir zu
deinem höchsten Gute finden, so
mußt du immer wissen, daß es dir nur
in der Freiheit deiner Selbstbe
stimmung werden kann!
53 Der Sinn des Daseins
.Du kannst es suchen und endlich
in dir finden, doch du hast auch die
Freiheit, es nicht zu beachten!
.Wenn du jedoch entschlossen bist,
danach in dir zu suchen, dann halte
dich sorglichst frei von jeder Fesselung
durch jene dunklen Mächte, die stets
im Unsichtbaren lauern auf Gelegen‐
heit, sich eines Menschen Seelenkräfte,
zu versklaven
.Es sind Wesen aus dem Unsicht‐
baren dieser physischen Welt, und
alles was sie je an Wunderbarem zu
bewirken wissen, ist im Bereiche dieses
unsichtbaren Teils der Welt beschlossen.
.Aber jegliches Mittel ist ihnen recht,
das dazu dienen kann, einen Menschen
seelisch ‒ und gar oft auch mit seinen
54 Der Sinn des Daseins
physischen Kräften ‒ in ihre Willens
macht zu bringen...
.Halte dich ferne, wenn du da und
dort zu Zeiten sehen wirst, daß man
in dieser Außenwelt vor Unbegreif‐
lichem sich gläubig beugt, nur weil es
eben «unbegreiflich» ist, und wenn man
so aus äußerer Erfahrung schließt: all‐
hier bezeuge sich der wahre Geist der
Ewigkeit durch seltsam krauses «Wun‐
der»! ‒ ‒
.Nur in dir selbst wirst du, wenn
du dich selbst soweit zu fördern weißt,
das echte Wunder einst erleben! ‒
.Nur in dir selbst ‒ in deinem
Allerinnersten ‒ trägst du dein höch
stes Gut, das alles in sich schließt,
was dir zum Frieden dient! ‒ ‒
55 Der Sinn des Daseins
.Es ist in deine eigene Macht ge‐
geben, dein «Ich» aus der Empfindung
dieser Außenwelt zu nähren und in
solchem Schein-«Ich» zu beharren,
oder aber wahrhaft und für alle Ewig‐
keit in deinem höchsten Gute «Ich»
zu werden und zu bleiben. ‒ ‒
In diesem, deinem Erdendasein
schon kannst du dein «ewiges Leben»
finden, wie es dir alle wahren Weisen
immerdar verheißen haben, da sie selbst
es in sich selbst gefunden hatten, ‒
und wahrlich: ‒ deine Freude an
des Erdenlebens zeitlicher Be‐
glückung wird alsdann
erst ohne Reue
sein! ‒ ‒ ‒
*           *
*
56 Der Sinn des Daseins
DER «BÖSE» MENSCH
EINST war einer in alter Zeit, der
wußte nichts Besseres vom Men‐
schen zu sagen, als daß des Menschen
Trachten «böse» sei von Jugend auf.
.Du müßtest fürwahr aber schon ein
arg verbitterter Vater sein, wolltest du
solchem Worte deine Zustimmung
geben...
.Bist du selbst nicht «böse», so wirst
du gewiß in deinem Kinde auch das
«Gute» finden, und du wirst nicht
erst an-erziehen müssen, was schon
an-geboren ist. ‒
.Ja: ‒ du wirst vielleicht entdecken,
daß auch das vermeintlich «Böse» in
den Regungen der kindhaften Natur
gewiß nicht aus bösem Willen stammt
59 Der Sinn des Daseins
und sehr leicht andere Erklärung
findet!
.Willst du hier gerechtes Urteil fäl‐
len, so wirst du wahrlich Vorsicht
walten lassen müssen, und schwerlich
wirst du deinen Vor-urteilen trauen
dürfen!
.Töricht aber wäre es freilich, woll‐
test du das «Böse», wie es sich im
Menschen später zeigen kann, zu
leugnen suchen, oder leichthin über‐
sehen...
.Was aber ist dieses «Böse» anderes,
als die Entartung eines Triebes der
menschlichen Tiernatur!? ‒
.Du wirst gewiß nicht diesen Trieb
zur Selbsterhaltung, der erst ent
60 Der Sinn des Daseins
artet: Trieb zum Bösen wird, als
ursprünglich «böse» bezeichnen
wollen! ‒
.Auch in den anderen Tieren, die
du so peinlich von deinem Mensch
lich-Tierischen zu scheiden suchst,
glaubst du das «Böse» zu finden, weil
du eben doch deine eigene Tiernatur
in ihnen wiederentdeckst und dich
verführen lässest, deine eigenen Tat‐
motive in des Tieres Trieb zu über‐
tragen.
.Siehst du aber näher zu, dann wirst
du leicht dich davon überzeugen kön‐
nen, daß du zu Unrecht hier von
«Bösem» sprichst, da jener Trieb zur
Selbsterhaltung ‒ mag er sich auch
61 Der Sinn des Daseins
grausam äußern ‒ im Tiere keines‐
wegs entartet ist...
.Du wirst ihn in allen deinen Neben‐
tieren stets in sehr bestimmt gegebenen
Grenzen finden, die jeweils in der
Sonderart des einzelnen Tieres gründen.
.Nur der Mensch reißt seine, auch
ihm in seiner Tiernatur gebotene
Grenze zuweilen ein, und nur im
Menschen kann der Trieb zur Selbst‐
erhaltung schauerlich entarten! ‒ ‒
.Du siehst diesen Trieb dann gren‐
zen-los wuchern, genährt durch des
Menschen Phantasie, gemästet durch
seine Vorstellungskraft! ‒
.Wenn du dein Nebentier betrachtest,
wie es vor dem Fraße seine Beute
62 Der Sinn des Daseins
quält, dann bist du gar schnell ver‐
sucht, das Tun des Tieres als ein
Zeugnis seiner eingeborenen «Bosheit»
zu bewerten, und doch ist hier nur
Äußerung der Freude an dem Fraße,
Äußerung des Wohlgefühls, die Beute
nun in seiner Macht zu haben, und,
nicht zuletzt, auch Äußerung der Lösung
jener scharfen Spannung, die bei
dem Lauern auf die Beute sich ergeben
oder eine heiße Jagd befeuert hatte. ‒
.Du hast gehört von wilden Tieren,
die ungefährlich seien nach der
Sättigung, und wieder von anderen,
die auch gesättigt sich auf jedes Lebe‐
wesen stürzen.
.Doch, auch das Tier, das nur aus
reiner «Mordlust» wütet, wirst du ge‐
63 Der Sinn des Daseins
wiß nicht «böse» nennen dürfen, willst
du nicht das Empfindenkönnen deiner
Menschen-Seele fälschlich seiner
Tiernatur zu eigen glauben!
.Wohl spricht man mit Recht von
der «Seele» des Tieres, und diese
Art «Seele» west auch in dir, allein
sie ist nur fluidisch-physischer Natur
und darf nicht verwechselt werden mit
der ewigen Seele aus dem Ozean der
Seelenkräfte, die nur im Menschen
Tiere und neben dessen «Tierseele»
sich erlebt. ‒
.Nur durch die Kräfte der ewigen
Seele bist du befähigt, dich in das
mutmaßliche Empfinden eines anderen
Lebewesens zu «versetzen»! Nur
durch diese Kräfte bist du imstande,
64 Der Sinn des Daseins
mit zu leiden, wenn du ein anderes
Lebewesen leiden siehst!
.Dein Nebentier aber mag vielleicht
einem anderen Nebentiere helfen,
wenn es bemerkt, daß das andere hilfs‐
bedürftig ist, allein niemals wird es
das Leid des anderen Tieres mit
empfinden können.
.Es weiß nur: ‒ hier ist etwas von
meiner Art in Gefahr und sucht ‒
im besten Falle ‒ in dem anderen
Tiere seine Art zu retten.
.Auch erstaunliche Anhänglichkeit
ist in des Tieres «Seele» zu finden,
und ebenso Schreck oder Trauer, wenn
es das Nebentier leiden sieht, wobei
auch der Mensch ihm «Nebentier»
65 Der Sinn des Daseins
ist, ‒ aber niemals gleichschwingendes
Mitgefühl, so sehr auch der Mensch
geneigt ist, gewissen Tieren solches
zuzusprechen.
.Der Hund, der seinen Herrn ver‐
mißt und unruhig wird oder gar das
Fressen verweigert, handelt aus dump‐
fer Angst um das gewohnte Wesen,
dessen Willen zu fühlen ihm Wohltat
war, aber sein Verhalten ist nicht
bestimmt durch Mitgefühl, und braucht
sich nicht im mindesten zu unter‐
scheiden, ob nun sein Herr ihn ver‐
kaufte und sich des besten Wohlseins
erfreut, oder gestorben ist...
.So hat auch das «wilde» Tier, das
seine Beute quält, durchaus keine
Freude an dieser Qual des anderen
66 Der Sinn des Daseins
Tieres, denn Freude an der Qual eines
Anderen setzt immer ein Mitemp
findenkönnen voraus, auch wenn
dieses Mitempfinden als Lust, statt
als Leid zu Bewußtsein kommt. ‒ ‒
.Auch das Tier, das ‒ wie der
Mensch zu sagen pflegt ‒ aus reiner
«Mordlust» tötet, ist entweder nur
lüstern auf Blut, als einer begehrten
Art der Nahrung, oder aber sucht aus‐
zurotten, was ihm je gefährlich werden
könnte, und weiß oft auch nur seiner
Jagdlust nicht zu wehren, wenn es
die ihm genehme Beute wittert. ‒
.Du wirst auch das grimmigste Raub‐
tier niemals einer «bösen» Tat, ‒ nie‐
mals der Lust am «Bösen», ‒ nie‐
67 Der Sinn des Daseins
mals, im menschlichen Sinne, der
«Bosheit» beschuldigen dürfen!
.Aber auch der «boshafte» Mensch
ist zuweilen nur Sachwalter seines
Selbsterhaltungstriebes, oder des
Triebes zur Erhaltung der Art...
.Was dir dann als «boshaft» an ihm
erscheint, kann immer noch in jenen
Grenzen bleiben, die Natur dem Selbst‐
und dem Arterhaltungstriebe gezogen
hat...
.Erst dort, wo diese Grenzen durch
den Menschen eingerissen werden,
entartet solcher Trieb ins Fürchterliche!
.Dann wird er zum Triebe, anderes
zu zerstören aus Lust am Leide, das
dem anderen dadurch entsteht...
68 Der Sinn des Daseins
.Erst hier aber stehen wir wirklich
vor dem «Bösen»!
.Hier wird das «Böse» erst durch
den Menschen erzeugt! ‒ ‒
.Hier aber ist es auch schon erzeugt,
wenn es dem Augenschein nach außen
hin noch verborgen bleibt, denn im
Denken wird alles «Böse» gezeugt
und geboren!
.Als Gedanke ist es zuerst im Da‐
sein, bevor es ‒ weiterzeugend ‒
Wort und Tat gebären kann! ‒ ‒
.Siehe, das «Böse» ist wider die
Natur und wird ihr erst aufgezwungen
durch den Menschen! ‒ ‒
69 Der Sinn des Daseins
.Sobald der Trieb zur Selbsterhaltung
übermächtig werden und entarten
muß, weil ihm des Menschen Denken
alle Grenzen einreißt, die ihm auch
in Menschentiernatur gezogen sind,
muß aus ihm der Trieb zum «Bösen»
werden, der schließlich Lust am «Bö‐
sen» schafft, und Lust am Leiden
machen anderer! ‒ ‒
.Von allen sichtbaren Geschöpfen
ist es nur der Mensch allein, der
in der Sichtbarkeit das «Böse» erzeugt!
.Unter allen physisch-sinnlich faß‐
baren Wesen ist nur er allein dazu
befähigt, da er allein nur durch sein
Denken jene Grenzen niederreißen
kann, die in der Tiernatur den Selbst‐
erhaltungstrieb umdämmen! ‒ ‒
70 Der Sinn des Daseins
.Aber glaube nun nicht etwa, daß
alles «Böse» nur auf diese Welt der
Sichtbarkeit beschränkt, und nur im
menschlichen Aktionsbereich erzeug‐
bar sei!
.Verhängnisvoll könnte dir solcher
Glaube werden! ‒ ‒
.Hier mußt du deine Vorsicht auch
auf Unsichtbares erstrecken, denn
was dir an der Welt der Außendinge
sinnlich wahrnehmbar erscheint,
ist wahrlich nur der kleinste Teil
dieser Welt, und es wäre töricht, woll‐
test du den größeren ganz unbeachtet
lassen...
.Im Unsichtbaren dieser Außenwelt
ist nun gar mancherlei zu finden, was
71 Der Sinn des Daseins
du in gleicher Weise «böse» nennen
würdest, wie du auch vom «bösen»
Tiere redest, und doch ist hier wie
dort nur Selbst- und Arterhaltungs
trieb am Werke. ‒
.Anderes ist hier zugleich verborgen,
das mehr der Wut des Tieres hinter
Gitterstäben zu vergleichen wäre, ‒
der Wut des Tieres, das in die Frei‐
heit möchte, die es vor Augen sieht
und die ihm dennoch unerreichbar
bleibt...
.Endlich aber gibt es auch Wesen hier,
die, ganz auf gleiche Weise wie der
sichtbarliche Erdenmensch, die Gren
zen ihres Triebs zur Selbsterhaltung
niederreißen können durch ihr Den
ken, denn der Gedanke ist im Kos‐
72 Der Sinn des Daseins
mos keineswegs bedingt durch physi‐
sche Gehirne, wenn er auch dem
Menschentiere hier auf Erden nur
durch das Gehirn erfaßbar wird. ‒ ‒
.So wie der Erdenmensch, so zeugen
und gebären diese Wesen «Böses» im
Gedanken, aber da hier der Gedanke
frei ist von dem Widerstand, den seine
Transformation in Gehirnbewegung
beim Menschen findet, so wirkt er
auch mit unvergleichlich stärkerer
Gewalt sich aus, und es ist nicht zu
ermessen, welche Flut des Unheils
ständig solcherart in die Sichtbarkeit
strömt, dem Menschen dieser Erden‐
welt verborgen für sein Bewußtsein
und dennoch von ihm aufgenommen, ‒
zumeist ohne jede bewußte Gegen‐
wehr! ‒ ‒ ‒
73 Der Sinn des Daseins
.Preise dich glücklich, daß du
immerhin in dieser Sichtbarkeit um
mauert bist und dich ‒ sobald du
wirklich willst ‒ vor jener Flut der
«Bosheit» in deine eigene Höhe
retten kannst! ‒
.Hüte dich, selbst die Bresche
zu schlagen, durch die dich der giftige
Bosheits-Schlamm dieser Unsichtbaren
erreichen könnte! ‒ ‒
.Unwissentlich aber durchbricht
gar mancher die Ummauerung durch
seine eigenen Gedanken....
.Jeder Gedanke der «Bosheit», oder
des Hasses ‒ sei auch, deiner Meinung
nach, das Gehaßte noch so sehr des
Hassens «wert» ‒ liefert dich, ohne
74 Der Sinn des Daseins
dein Wissen, den Unholden aus dem
Unsichtbaren in die Gewalt! ‒ ‒
.Du hast sie alsdann gerufen, ‒
hast ihnen den Weg zu dir bereitet,
‒ und wahrlich: sie wissen ihre Ge‐
dankenkräfte bei dir einzunisten! ‒
.So sind Unzählige schon zu «Be
sessenen» geworden ohne es zu
ahnen, und jeder Erdentag schafft die‐
ser Zahl der Unglückseligen reichen
Zuwachs! ‒ ‒
.Bist du aber einmal in solche furcht‐
bare Gewalt geraten, dann kann dich
nichts anderes daraus befreien, als
deine entschlossene, absolute innere
Abkehr von jedem, auch dem
leisesten Gedanken des Hasses,
75 Der Sinn des Daseins
gegen wen und was er auch gerichtet
sei, ‒ deine entschiedene und durch
nichts beirrbare Weigerung, hinfort
noch eine Regung der «Bosheit» bei
dir zu dulden!
.Es gibt Lehren, die dir sagen wollen,
alles Böse sei nur leerer «Schein»,
denn alles im Kosmos «müsse» ja
unweigerlich gut sein, da es letzten
Endes doch Gott zum Urheber habe,
und aus Gott nur Gutes kommen könne.
.Das ist nun eine sehr oberfläch
liche Betrachtungsweise, auch wenn
sie für manche Menschen zur Ursache
einer recht optimistischen Lebensauf‐
fassung werden kann.
.Die Schnellbefriedigten und mit
ihrer vermeintlichen Erkenntnis so Zu‐
76 Der Sinn des Daseins
friedenen sind etwa Bergsteigern zu
vergleichen, die, in Unkenntnis der Ge‐
fahr, über eine Schneewächte schreiten,
die jeder erfahrene Kenner der Berge
meiden und in weitem Bogen umgehen
würde....
.Auch über die Schneewächte kann
schließlich einer zum Gipfel gelangen,
‒ falls er mehr «Glück wie Verstand»
hat, und die dünne Brücke nicht ein‐
bricht unter seiner Last....
.So ist auch in diesen hier gemeinten
Lehren ein klein wenig Wahrheit ver‐
steckt, und wer sie zu finden weiß, dem
mag sie immerhin als Brücke über die
finstere Schlucht der irdischen Daseins‐
rätsel dienen.
77 Der Sinn des Daseins
.Wahrheit in solchen Lehren ist:
daß alles Böse nur in einer Schein
welt erzeugt wird, ‒ sei es im Sicht
baren oder im Unsichtbaren, ‒
und aufhört zu bestehen, für jeden,
der diese Scheinwelten überschritten
hat....
.Willst du jedoch dergleichen billige
Lehren, so, wie sie gegeben wer
den, in der gemeinten wörtlichen
Bedeutung übernehmen, dann mußt du
folgerichtig alles, was auf Erden dich
umgibt, als bloßen «Schein» bezeich‐
nen ‒ mithin auch das «Gute» ‒,
wobei du kaum wirst leugnen wollen,
daß denn doch diese «Scheinwelt» dir
oft recht empfindlich fühlbar werden
kann, denn sie ist eben keineswegs un
wesentlicher Schein, ‒ ist durch
78 Der Sinn des Daseins
aus nicht nur ein unfühlbares «Nichts»,
‒ und ihr Bestehen oder Nicht‐
bestehen ist gewiß nicht bestimmt durch
deine Macht. ‒ ‒
.Lasse dich darum nicht betören durch
die Trugschlüsse solcher schnellfertigen
Pseudoerkenntnis, die deiner wahrlich
allzu unwürdig wäre!
.Es soll dir aber auch jede Lehre
als irrig gelten, die dir vom «Bösen»
spricht als von einem Erbe, das dir
auf Erden in deinem Körper un‐
entrinnbar zu eigen sei! ‒
.Wahrhaftig, ‒ du kannst gewiß den
Hang zum «Bösen» von deinen Vor‐
vätern her nun in deinem Blute tragen,
79 Der Sinn des Daseins
aber ‒ keineswegs ist etwa das «Böse»
dir natur-gemäß!
.Wie stark auch in dir die vielleicht
vererbte Lust am «Bösen» dich locken
mag: ‒ solange du deinen Willen
dieser Lust nicht verbindest, wird sie
nichts über dich vermögenl
.Wer zur Beute seiner im Blute
lockenden verderblichen Gelüste wird,
der hat törichtes Spiel mit sich selbst
getrieben und ist ferne dem Wissen
um seine eigene Kraft!
.Die Ahnen, deren Blut in dir kreist
und die vielleicht dieses Blut vormal
einst in sich selbst nicht zu bändigen
wußten, haben wahrhaftig keine Macht
über deinen Willen!
80 Der Sinn des Daseins
.Dein Wollen aber wird jetzt ganz
allein entscheiden, ob du dein Blut
beherrschen lernst, oder dich zu
seinem Sklaven erniedrigen lassen
magst! ‒ ‒
.Freilich wirst du hier auch wirklich
wollen müssen!
.Dein bloßer Wunsch vermag hier
wahrlich nichts! ‒
.Die meisten Menschen aber täuschen
sich selber, wenn sie von ihrem «Wil
len» reden, denn sie meinen entweder
ihre Wünsche, oder gar ihres Blutes
Gelüste, das durch den Willen über
wunden werden soll. ‒ ‒
.So mancher weiß kaum, wie er sich
belügt, wenn er sich sagt, er sei «zu
81 Der Sinn des Daseins
schwach», um den Gelüsten seines
Blutes Widerstand zu leisten, während
er doch in jeder dunklen Stunde sich
dabei ertappen könnte, wie er sich eben
dieser Lust, die er bekämpfen wollte,
erfreut, und sie recht eigentlich bei
sich hätschelt...
.Unzählige treiben frivoles Spiel mit
ihren Wünschen, obwohl sie sehr
genau wissen, daß dieser Wünsche end‐
liche Erfüllung nur im «Bösen» er‐
folgen kann...
.Dann aber, wenn aus Gelüste und
Wunsch das «Böse» erzeugt und Ur
sache böser Folge wurde, klagt man
sein «Schicksal» an und wird zum
Virtuosen in der kläglichen Kunst, die
82 Der Sinn des Daseins
eigene Schuld von sich auf Andere
abzuwälzen! ‒ ‒
.Es könnte mancher Mensch sich
ein anderes Schicksal schmieden,
wollte er nur der Lust, die ihn zum
«Bösen» drängt, von allem Anfang
an ‒ sobald sie ihm auch nur leise
fühlbar wird ‒ jedes Zugeständnis
verweigern! ‒
.Wenn das in der Vorstellung er‐
zeugte «Böse» schon die Tat gebären
will, dann ist die Kraft des Menschen
bereits gebrochen, ‒ dann ist der
Wille bereits mit dem «Bösen» ver
bündet!
.Zur Selbstqual wird dann der aus‐
sichtslose Widerstand!
83 Der Sinn des Daseins
.Die erste leise Regung zum «Bö‐
sen» mußt du erwürgen, bevor sie
zum Gefühl erstarkt oder gar Ge
danke wird!
.Wenn du in dir wachsam bleibst,
dann wird es dir leicht, dich vor
Gefahr zu schützen!
.Dir selbst mußt du vertrauen und
deiner eigenen Kraft, die stärker ist
als jede mögliche Versuchung! ‒ ‒
.Nicht umsonst ist dir diese Kraft
gegeben, und nur durch steten Ge
brauch kannst du sie verstärken,
falls sie dir noch nicht genügen sollte! ‒
.Vertraust du mutvoll dir selbst,
dann darfst du wahrlich auch auf hohe
Geisteshilfe hoffen!
84 Der Sinn des Daseins
Sie wird dir dann auf eine Weise
werden, die mit Sicherheit be‐
wirkt, daß du dir ‒
selber helfen
kannst! ‒ ‒ ‒
*           *
*
85 Der Sinn des Daseins
BEKUNDUNG DER LICHTWELT
GEWISS, mein Freund, sind jene
Augenblicke dir nicht völlig
fremd, in denen ‒ scheinbar ohne
allen Grund ‒ dich plötzlich und
auch wohl inmitten vieler Menschen,
eine seltsame Empfindung grenzen
loser Fremdheit gegenüber deiner
Umwelt packte, zugleich mit dem Er‐
wachen einer unnennbaren Sehnsucht,
die oft stundenlang noch in dir weiter
wirkte. ‒
.Suchst du dich dieser Sehnsucht zu
erinnern, so wirst du heute mir zu
sagen haben:
.«Es war Sehnsucht nach er
ahnter, unerfaßlich ferner Heimat
meiner Seele
89 Der Sinn des Daseins
.«Es war Sehnsucht nach Ver
einigung mit lichten Wesen, die
mein Innerstes erfühlen und ver
stehen könnten
.«Es war wohldas Ersehnen
eines unbekannten hohen Glük
kes, das mir dennoch wunderbar
vertraut erschien
.Vielleicht war in dir auch ein Er
staunen über dein Erleben, denn du
wußtest dir nicht zu erklären, wo es
begründet sein könnte...
.Dort, wo du im Augenblick dich
verflochten fandest mit der Außenwelt,
war Ursache nicht zu finden.
90 Der Sinn des Daseins
.Weiter jedoch wolltest du dich
nicht wagen, da du nicht enden woll‐
test im Aberglauben. ‒
.So nanntest du dein Erleben: «eine
seltsame Stimmung», ‒ und dein
Sinnen ward müde des Suchens nach
Erklärung.
.Dennoch war wahrlich Grund vor‐
handen, nach so sonderbaren Erlebens
Ursache zu forschen, und hättest du
weiter suchen wollen, so würdest du
endlich auch gefunden haben, daß dein
Empfinden sich ergab aus unbewuß
ter Berührung mit einer dir un
sichtbaren Welt. ‒ ‒ ‒
.Du hattest nichts anderes erlebt als
eine wahrhaftige Bekundung der
Welt des Lichtes, mitten in deinem
91 Der Sinn des Daseins
Erdendasein, und es erschien dir
plötzlich alles allhier Gewohnte selt‐
sam «fremd», weil du einen Augenblick
lang überlichtet wurdest aus jenem
Lichtreiche, das die wahre Heimat
deiner Seele ist. ‒ ‒ ‒
.So mußte dich auch jene Sehn
sucht packen, da du in der Berührung
beider Welten unbewußt erfühltest,
daß die Außenwelt der Erde dir nur
wohlvertraute «Fremde» ist. ‒ ‒ ‒
.Ich rate dir: Achte hinfort auf
solche Augenblicke und nimm dank‐
bar an, was sie dir bringen!
.In diesen Augenblicken birgt sich
wundersame Macht, und sie können
92 Der Sinn des Daseins
großen Einfluß auf dein Leben ge‐
winnen
.Es kann sich Wesentlichstes in dir
wandeln, wenn du willig dich zu ihren
Wundern wendest! ‒
.Und wenn du dessen achten magst,
so wirst du bald gewahren, daß solche
Augenblicke stets in ganz bestimm
ten Zeitenfolgen wiederkehren! ‒
.Du wirst jedoch dann auch bemerken,
daß diese Zeitenfolgen immer kürzer
werden, je höher du zu werten weißt,
was die Berührung beider Welten dir
zu geben hat! ‒ ‒
.Viele suchen die Welt des Lichtes
zu erspähen und finden sie nicht.
93 Der Sinn des Daseins
.Hier aber kann jeder ihre Be‐
kundung erfahren, und diese Erfahrung
wird jedem, ob er sie auch niemals
suchen mag!
.Es meint nur mancher: ‒ was es
hier zu erleben gäbe, sei doch für ihn
zu unbedeutsam, da nach seiner
Vorstellung die Welt des Lichtes sich
in strahlend heller Klarheit offenbaren
müsse, solle er sie anerkennen...
.Sie soll sich gleichsam nach seiner
Vorschrift bekunden. ‒
.So hindert dann Überschwäng
lichkeit der Vorstellung, daß man
auf die leisen Regungen des Herzens
hört, die allein dem mit der Welt des
Lichtes noch nicht Vertrauten ihre
Bekundung bringen könnten! ‒
94 Der Sinn des Daseins
.Wunderliche Fabelei ist überall im
Schwange, und Ausgeburten irren
Wahns betören die Gemüter, so daß
es wahrlich «kein Wunder» ist, wenn
so wenige wissen von der Welt des
Lichtes, obwohl sie immerfort sich
ihnen bezeugt. ‒ ‒
.Man will nicht wahrhaben, daß
das Ewige sich so einfach erweist!
.Man möchte magischer Gewalten
Wirken bebend und erschauernd
«außer sich» erleben und findet nur
ein fernes Ahnen wundersamer Weihe
unfaßbarer Überwelt...
.Wenn du aber wirklich «wissend»
werden willst, so wirst du achten müssen
95 Der Sinn des Daseins
auf die zarten Zeichen, die dein Inner‐
stes empfängt!
.Die Welt des Lichtes ist dir nahe
wie die Welt der Außendinge, ‒ doch,
sie wird sich nimmermehr bekunden
können, wenn du dein Empfinden nicht
dazu erziehen willst, das feine Fluidum
zu fassen, das ihr Substanz und Lebens‐
odem ist. ‒ ‒
.Berührung beider Welten wird
allein bewirkt durch Wahrnehmung
der Schwingung wesenhafter Gei
stes-Licht-Substanz in deinem Be‐
wußtsein, auch wenn du nicht zu
deuten weißt, was dir bewußt ge‐
worden ist...
.Gewiß gibt es dann auch noch
Anderes, was weitaus deutlicher
96 Der Sinn des Daseins
in dir Erlebnis werden will, ‒ allein:
du wirst stets vor der Pforte des Er‐
lebens stehen bleiben, wenn du nicht
auf die hier gemeinten, leisen Regungen
in dir zu lauschen weißt!
.Sie können dir an allen Orten wer‐
den und in jeglicher Gemütsverfassung,
wenn du auf sie achten willst.
.Im dunkelsten Leid, wie im strah‐
lendsten Glücke kannst du sie erfah‐
ren, ‒ inmitten des Weltgetriebes,
wie in stillster Einsamkeit...
.Am Strande wildbewegten Meeres,
wie auf Bergeshöhen, ‒ in Feld und
Wald, wie in verschlossener Kammer...
.Ein Werk der Kunst kann dir zum
Anlaß werden, in dir selbst die Licht‐
97 Der Sinn des Daseins
welt zu berühren, und das kleinste
Wunder der Natur kann dich dazu
gelangen lassen...
.Du mußt nicht erst suchen, um den
rechten Ort zu finden, und keine Vor‐
bereitung ist vonnöten!
.Dagegen wirst du gut tun, stets auf
einer Höhe dich zu halten, die dich
mit Recht das Heilige erhoffen heißt! ‒
.Du sollst die Außenwelt, mit wachen
Sinnen, freudig, als das hier auf dieser
Erde dir Gegebene, verbrauchen, ‒
aber: sei auf deiner Hut, damit du dich
nicht in die Außenwelt ver-hängst
und so dir selber zum «Verhängnis»
wirst! ‒
98 Der Sinn des Daseins
.Was du auch in der Außenwelt er‐
leben magst, ‒ stets mußt du Herr
deines Erlebens bleiben! ‒ ‒
.Laß dich nicht fangen in den Fallen
falscher Freiheitstriebe, wie man Vögel
fängt mit Vogelfutter vor gespannten
Netzen!
.Nicht alles, was du dir erlaubst, ist
dir erlaubt! ‒
.Du kannst nicht den «Kontakt» er‐
reichen mit der Welt des Lichtes,
wenn du, dauernd in Verweslichem
verwühlt, dein Wohlsein suchst! ‒ ‒
.Was reiner ist als alles Reine dieser
Erdenwelt, kann nicht sich mischen
mit dem Moderstaub der Finsternis.
99 Der Sinn des Daseins
.Auch kannst du nicht die Lichtwelt
fassen, wenn sie deine Außenwelt be‐
rührt, solange du geblendet bleibst
durch trügerisches Flacker-Licht, und
Erdenwerte über ihren Wert verehrst,
die wertlos werden, wenn dereinst die
Bande brechen, die dich an das Feste
dieser Erde fesseln! ‒ ‒
.So fest auch Erdenfessel dich um‐
fassen mag, so bleibst du doch, in
aller Bindung, frei zu weiser
Wahl! ‒
.Du wirst von beiden Möglich
keiten, die dir jeweils offenstehen in be‐
stimmter irdischer Verflechtung, ferner‐
hin stets jene wählen lernen, die dich
höher führt, und meiden müssen, was
dich hindert, dich auf deiner Höhe
zu erhalten! ‒ ‒
100 Der Sinn des Daseins
.Bist du nur etwas wachsam, wenn
es so zu wählen gilt, dann wirst du im‐
mer wissen, welche Wahl zu treffen ist!
.Es läßt sich wahrlich sagen, daß «die
Gegensätze sich berühren», wenn die
Welt des Lichtes diese Erdenwelt in
dir berührt, und doch ist es allein
das Ähnliche, das hier Verbindung
schafft...
.Willst du in Wachheit des Bewußt‐
seins wissen um die Welt des wahren
Lichtes, wenn sie deinem Außenleben
sich berührbar naht, dann muß dein
Höchstes ihr entgegenstreben. ‒ ‒
.Nur das, was in dir selbst der Licht‐
welt ähnlich ist, wird sich mit ihrem
Lichte einen können...
101 Der Sinn des Daseins
.Bekunden wird sie sich auch dann,
wenn vorerst nichts in dir soweit er
leuchtet ist, daß es dem Geisteslicht
vereinbar wäre, aber wach und wis
send wirst du erst mit ihr verbunden
sein, wenn sie ein Ähnliches in dir
berühren kann! ‒ ‒
.So ist es denn wahrlich nötig, alles
Hohe in dir zu pflegen, und du wirst
gut tun, dein Bewußtsein stets in dir
in deiner höchsten Höhe zu erhalten!
.Du wirst es von allem abziehen
müssen, was mit dem Höchsten in
dir nicht vereinbar ist, und manches,
was dir leider längst Gewohnheit
wurde, wird fortan schwinden müssen,
willst du wachend mit der Lichtwelt
einst dich einen können! ‒ ‒
102 Der Sinn des Daseins
.Dann aber wird auch sicherlich der
Tag dir erscheinen, der dich fähig
finden wird, fast Unerfaßliches freud‐
bewegt zu erfassen.
.Alles Erdendunkel wird alsdann aus
hohem Leuchten dir überlichtet werden!
.Was früher dir nur ferne Ahnung
war, wird dann Gewißheit des Er
lebens sein!
Die Lichtwelt, die sich vordem dir
so oft bekundet hatte und immer wie‐
der dir alsbald entschwunden
war, ist dann für dich zu jeder
Zeit erreichbar, ‒ immer‐
dar dem wachen Sinne
offen! ‒ ‒
*           *
*
103 Der Sinn des Daseins
BEDEUTUNG DES
SCHWEIGENS
DIE nach dem inneren Lichte
streben und nach dem Frieden,
den die Außenwelt nicht geben kann,
müssen schweigen lernen, wenn sie
ihrem hohen Ziele näherkommen
wollen! ‒
.Mancher hätte längst das Licht in
sich erlangt, so er nur schweigen
könnte!
.Die allermeisten Menschen aber
glauben scheinbar, es dürfe nichts in
ihnen sich ereignen, dem nicht sogleich
die Rede ihres Mundes folgen könne...
.Leiseste Willensregung, etwas im
eigenen Innern zu suchen, wird schon
vor allem Beginn des Suchens ent‐
kräftet durch eitles Verkünden, ‒ läßt
107 Der Sinn des Daseins
aber gar ein inneres Erleben sich
erreichen, dann findet das Reden
darüber kein Ende, bis alle Wirkung
des Erlebens schließlich zer-redet
ist, und dennoch die Zunge nicht Ruhe
findet.
.In automatischer Weiterarbeit ent‐
deckt das Gehirn stets Neues, «was
wohl noch zu sagen wäre»...
.Ich rede hier nicht von jenen sel‐
tenen Fällen, in denen berufene gei
stige Führung verlangt, daß der Su‐
chende dem Lehrenden eröffne, was
Erlebnis ward.
.Hier kann das Redenmüssen
wirksamster Faktor der Schulung
sein, während andere Pflichten auf‐
108 Der Sinn des Daseins
erlegt sind, die wahrlich das Schwei
genkönnen erfordern.
.Auch hier aber wird der Suchende
schweigen lernen müssen über sein
inneres Erleben!
.Dem Einen nur wird er es offen‐
baren dürfen, dessen geistiger Füh
rung er sich anvertraute, mag dieser
Eine nun aus eigener Erleuchtung
handeln, oder von einem Höheren
ermächtigt sein...
.Nur auf ausdrückliche Erlaubnis
hin wird der Geleitete vor denen,
die gleich ihm geleitet werden,
sprechen dürfen über das, was er im
Inneren erlebte.
109 Der Sinn des Daseins
.So war es zu allen Zeiten, und
anders wird es auch nicht in Jahr‐
tausenden sein!
.Die diese Worte angehen, werden
mich gewiß verstehen...
.Alles Reden über irgend ein Stre‐
ben geistiger Art ist ärgste Kraft
verschleuderung, solange noch nicht
wirklich erreicht ist, was Ziel des
Strebens war! ‒ ‒
.Weit verhängnisvoller aber kann
das Reden werden, wenn der Suchende
vor anderen Suchenden von Dingen
spricht, die er bereits in sich erfahren
hat, die aber seinen Weggenossen
vielleicht in einer wesentlich ver
schiedenen Art dereinst erfahrbar
110 Der Sinn des Daseins
werden können, da alle geistige Er‐
fahrung individuell bestimmt und
unvermischbar bleibt. ‒ ‒
.Sich selbst und Anderen kann der
in solcher Weise seiner Rede Selige
unnennbaren Schaden schaffen!
.Nirgends wird in so unverantwort‐
licher Harmlosigkeit die übelste Quack‐
salberei betrieben, wie in den Kreisen
derer, die im Geistigen nach Licht
verlangen! ‒ ‒ ‒
.Hier glaubt jeder, der noch lange
nicht sich selber helfen kann, dem
Anderen helfen zu können, und wer
auch noch so sehr selbst der Hilfe
bedarf, meint dennoch, nur der Andere
sei hilfebedürftig...
111 Der Sinn des Daseins
.Veranlaßt wird solcher unbeholfene
Helferwille nicht zum Wenigsten durch
eine unbewußte seelische Eitelkeit,
aber sein breites Wirkungsfeld wird
ihm nur dargeboten von der unhemm‐
baren Redesucht der Anderen. ‒
.Man möge mir den Vergleich nicht
verübeln, wenn ich diese Redesucht
eine «seelische Verdauungsschwäche»
nenne, denn hier ist wahrlich ein so
drastisches Bild am Platz!
.Keiner vermag es mehr, etwas bei
sich zu behalten, so daß es nicht zum
Verwundern ist, wenn nur so wenige
durch ihr geistiges Erleben auch zu
geistigen Kräften kommen! ‒
.Die Buchhändler reichen mit ihren
Lagerräumen nicht mehr aus, da heute
112 Der Sinn des Daseins
jeder Zeitungsleser, der über irgend
etwas leidlich Bescheid zu wissen glaubt,
in sich Berufung fühlt, darüber ein Buch
zu schreiben.
.Nicht anders aber glauben die meisten
derer, die nach geistigem Lichte streben,
sogleich ihre kaum erlangte kleine Er‐
kenntnis, «Geistesverwandten» vorer‐
zählen zu müssen, sobald auch nur das ge‐
ringste innere Erleben sich in ihnen regt.
.Es wird dieses Mitteilungsbedürfnis
durch die Vorstellung erzeugt und im‐
merfort genährt, als könne hier Einer
vom Andern «etwas lernen», und
man verschließt sich der Erkenntnis,
daß es doch um ein «Erleben» geht,
das nicht zu «erlernen», sondern nur
zu erfahren ist. ‒ ‒ ‒
113 Der Sinn des Daseins
.Was aber wirklich, um dieses Er‐
fahrens willen, erlernt werden muß,
haben noch zu allen Zeiten die zum
Lehren Berufenen verkündet, und
aller Lehre gemeinsam war stets die
Forderung des Schweigens. ‒ ‒
.Selbst dort, wo man Schweigegebote
gab in Hinsicht auf Dinge, deren Ge‐
heimhaltung eher wie «Geheimnis‐
krämerei» anmuten könnte, ist das
wahre Motiv der Gebote zumeist in
einem hohen Wissen um den fördern
den Wert des Schweigens zu suchen...
.Soll eines Erdenmenschen inneres
Erleben seine Seele umgestalten, so
daß licht und klar wird, was ihm vordem
dunkel war, dann muß die Seele sorg‐
lichst in ihrer Ruhe erhalten werden!
114 Der Sinn des Daseins
.Kaum darf sich das eigene Denken
allzulaut im Innern mit solchem Er‐
leben befassen!
.Nur der geistig Vollendete weiß,
was da Wort werden darf, und leitet
er etwa einen Suchenden, so wird
er auch von ihm nur insoweit Wort‐
bericht verlangen, als solcher möglich
ist, ohne Schaden für das Werk der Seele,
das durch ihn gefördert werden soll. ‒
.Willst du, mein Freund, nicht selbst
dein hohes Streben hemmen, so wirst
auch du gewiß das Schweigen lernen
müssen!
.Wenig gilt mir dein inneres Suchen,
wenig all dein eifervolles Tun, wenn
du nicht schweigen kannst!
115 Der Sinn des Daseins
.Und nicht nur vor Andern sollst
du schweigen können...
.Auch vor dir selber mußt du
schweigen lernen! ‒ ‒
.Was hier dir gelingen soll, wird
wahrlich nicht schon von heute auf
morgen gelingen, und manche Ver‐
suchung wird in dir zu überwinden
sein! ‒
.Es gilt aber hier, dein höchstes
Ziel zu erreichen, und keiner hat
jemals sein höchstes Ziel erreicht,
der nicht schweigen konnte. ‒ ‒ ‒
.Zahllos aber sind die Schwätzer,
die sich verwundern, daß sie nichts
erreichen, obwohl sie doch alles getan
116 Der Sinn des Daseins
zu haben glauben, was man von ihnen
verlangen könne.
.Sie haben auch wirklich vielleicht
gar manches Richtige getan, aber den‐
noch Wichtiges unterlassen, denn sie
lernten das Schweigen nicht! ‒
.Du aber sollst nicht in den gleichen
Fehler fallen!
.Es werde dir heiligste Pflicht, dich
im Schweigen zu üben!
.Den Wert des Schweigens wirst du
kaum ermessen können, bevor du nicht
an dir erfahren hast, wie alle Seelen‐
kräfte erst im Schweigen sich in
ihrer höchsten Wirkung offen‐
baren! ‒ ‒
117 Der Sinn des Daseins
.Doch sollst du nicht nur über in
neres Erlebnis schweigen lernen,
sondern auch allenthalben dort, wo
Reden nicht geboten ist!
.Verfalle nicht in den Fehler so Vieler,
stets in dir zu suchen, was du noch
reden könntest, sondern suche lieber
nach allem, was durch Schweigen
Kraft gewinnen könnte.
.Wie sehr dein Schweigen deine
Kraft erstarken läßt, kannst du schon
bald erfahren, wenn du nur eine Stunde
lang ein Wort bezwingst, das immer‐
fort sich wieder auf die Lippen drängen
möchte.
.Dein Schweigenkönnen aber darf
hinwieder dich auch nicht verführen,
in steter Stummheit zu verharren, wenn
118 Der Sinn des Daseins
man mit gutem Recht von dir erwarten
darf, daß du dich redend mitzuteilen
weißt!
.Nur dann wird Schweigen dir von
Nutzen sein, wenn nie ein Mensch
bemerkt, daß du dich zwingst, zu
schweigen! ‒ ‒ ‒
.Bist du mit einem Menschen im
Gespräch verbunden, so wird er nie
gewahren dürfen, daß du dennoch über
Dinge, die zur Rede kommen könnten,
schweigst, noch darf ihm fühlbar
werden, über was du schweigst, soll
nicht dein Schweigen allen Sinn ver‐
lieren! ‒
.Auch jenes unerzogene Schweigen
bleibe dir fremd, dem sich so manche
119 Der Sinn des Daseins
hemmungslos ergeben, wenn ihnen,
mitten im Gespräch, Gedanken kom‐
men, die geraume Zeit zu innerer
Erfassung brauchen!
.Die Zeit, in der ein Anderer von dir
erwarten darf, daß er in deinem Den‐
ken gegenwärtig ist, ist wahrlich nicht
die Zeit, um schwebenden Gedanken
nachzuhängen! ‒
.So soll denn niemals sich im Äußeren
verraten, daß du dich im Schweigen
üben willst, ‒ und du allein nur
sollst dir Zeuge deines Schweigens
sein! ‒ ‒
.Freilich aber wirst du immer wissen
müssen, wo du ein Recht zum Schwei‐
120 Der Sinn des Daseins
gen hast, und wo hingegen Andere ein
Recht auf deine offene Rede haben! ‒
.Wolltest du schweigen, wo du reden
solltest, so würdest du dich nur mit
Schuld beladen, und um so schwerer
müßte solche Schuld dann auf dir
lasten, je mehr dir offenkundig wäre,
daß deine Pflicht von dir das Wort
gefordert hätte...
.Nicht minder wie dein Reden,
wirst du auch dein Schweigen stets
zu verantworten haben, und keine
Macht der Erde wie des Himmels wird
dich von dieser Selbstverantwortung
jemals befreien können! ‒ ‒
.Wenn auch das Schweigen, als Er‐
fordernis der seelischen Entfaltung,
121 Der Sinn des Daseins
gar nicht hoch genug zu werten ist, so
ist doch immer sorglichst zu beachten,
daß aller Wert sich hier ins Gegen
teil verkehrt, sobald der eigene Ge‐
winn auf Kosten Anderer errungen
werden soll. ‒
.Es sei darum dein Reden wie dein
Schweigen stets geleitet durch die
Liebe und bewahrt durch deinen
wachen Willen!
.Noch mehr aber, als dein Reden,
wird dein Schweigen für dich zu be‐
deuten haben! ‒
Wohl dir, wenn du recht
zu schweigen
weißt! ‒ ‒ ‒
*           *
*
122 Der Sinn des Daseins
WAHRHEIT UND WAHRHEITEN
SUCHST du die ewige Wahrheit
als das allem Scheinen entrückte
«Sein», so wirst du unterscheiden lernen
müssen zwischen diesem tiefsten, quel‐
lenden Urgrund alles «Wahren» und
den unzähligen Wahrheiten, die ihm
ewiglich neu und gar wechselbereit
entströmen! ‒ ‒
.Unwandelbar in sich selbst,
bleibt Wahrheit nur im reinen «Sein»,
‒ in sich selbst begründet, aus sich
selber quellend, ‒ aber unendlich
fältig stellt sie sich dar in Raum und
Zeit....
.Niemals würdest du die absolute
Wahrheit fassen können, die auch im
Reich des wesenhaften Geistes ewig
125 Der Sinn des Daseins
unerfaßbar bleibt und nur sich
selber faßlich ist! ‒ ‒ ‒
.Allem, was der «Vater» aus der
Wahrheit in ihrem Quellgrunde
zeugt, kann Wahrheit nur in gleicher
Weise faßlich werden: ‒ als Selbst
erfassung!
.So wird es für dich denn wahrlich
«nur eine Wahrheit» geben, ‒ nur
eine Wahrheit, die du fassen kannst:
die Wahrheit deiner selbst! ‒ ‒
.Unzählige Wahrheiten aber um
strömen dich von allen Seiten, und
jede dieser Wahrheiten strebt nach ihrer
Anerkennung....
.Es wird deine eigene tiefste Wahr‐
heit oft gar sehr bedrängen, daß sie
126 Der Sinn des Daseins
Wahrheiten anerkennen soll, die ihr
«fremd» erscheinen und nur schwer
mit ihr selbst vereinbar.
.Doch wirst du dich daran nicht
stören dürfen!
.Erwäge, daß jede Wahrheit in Raum
und Zeit ihre eigene Formung hat,
und nur umfaßt, was ihrer Formung
entspricht.
.So sollst auch du deiner eigenen
Wahrheit entsprechen!
.Das aber wird geschehen, wenn du
selbst dir zu gebieten weißt, so daß
dein Denken, Reden oder Handeln
stets von Grund aus wahrhaft ist und
bleibt. ‒
127 Der Sinn des Daseins
.Kennst du dich selbst als durchaus
wahr, so wirst du allenthalben auch
die vorher scheinbar «fremden» Wahr‐
heiten fassen, ‒ in der Art, wie sie
allein dir faßbar werden können: ‒
eingewoben in die Wahrheit deiner
selbst! ‒ ‒
.Siehe: ‒ ein jeder Erdenmensch
trägt alle unendlichfältigen Formen der
Wahrheit verhüllt in sich selbst, aber
nur eine dieser Formen kann sich in
ihm entfalten, kann ihm Gewißheit
und Bestimmtheit geben!
.Er darf nicht bald dieser, bald
jener Form der Wahrheit sich ergeben,
sonst wird er sicher seine Form der
Wahrheit niemals finden....
128 Der Sinn des Daseins
.Die aber findet er, wie ich schon
sagte, wenn er durchaus wahr wird
in allem Denken, Reden oder Tun,
‒ in aller Äußerung des Lebens!
.Was dann in seiner Wahrheit Licht
sich ihm als wahr erweist, das wird
wahrlich Wahrheit sein, denn Trug und
Lüge haben keine Macht, wo eines
Menschen eigene Wahrheit Leitstern
seines Daseins wurde. ‒ ‒
.Du siehst jedoch, daß viele Men‐
schen glauben, «in der Wahrheit» zu
sein, und dennoch offenkundig irgend
eines folgenschweren Irrtums, oder
einer nichterkannten Lüge Sklaven
sind...
129 Der Sinn des Daseins
.Werde nicht irre an solcher Ver‐
blendung und lasse dich nicht fangen in
den Fallen ihrer trügerischen Schlüsse!
.Halte auch nicht jeden für «schlecht»,
der solcher Trugschlüsse Beute wurde!
.Sei gerecht und erkenne ruhigen
Blutes, daß die allermeisten dieser
Sklaven irgend eines Wahns, ehrlich
bei sich überzeugt sind, wirklich
in der Wahrheit zu sein!
.Sie alle freilich wären alsbald ihrer
Fesseln ledig, wollten sie nur selbst
erst wahrhaft werden, statt sich um‐
spinnen zu lassen von Gedankenge
spinsten, in denen sie der Wahrheit
urgewisse Selbstbezeugung zu erfassen
glauben! ‒ ‒ ‒
130 Der Sinn des Daseins
.Andere wieder wirst du allzusehr
im Banne gewisser Wahrheiten sehen,
so daß sie keine andere Wahrheit
daneben gelten lassen können...
.Wenn du solchen begegnest, so sei
nicht ebenso unduldsam, und trachte
nicht danach, sie gewaltsam ihrem Banne
zu entreißen!
.Es gibt vielerlei Wege, auf denen ein
Mensch zuletzt denn doch zu seiner
eigenen Wahrheit finden, ‒ ja selbst
zur Wahrheit werden kann, und
manche Seele muß erst lange im Banne
der verschiedensten Wahrheiten
verweilen, bevor sie zu sich selber
findet, um vor sich selber wahr zu
werden. ‒ ‒
131 Der Sinn des Daseins
.Wahr zu sein vor sich selbst, ist
nicht gar so einfach, und wenn du es
versuchen willst, dann wirst du bald
bemerken, daß du dir oftmals schon
als wahr erscheinen wolltest, wo noch
vieles in dir der Lust am Trug und
leeren Scheine unterworfen war..
.Wahr sein heißt aber auch nicht
etwa: ‒ nur Wahrnehmungen und
Empfindungen registrieren, wie eine
Maschine sie aufzeichnen
könnte! ‒ ‒
.Auch wenn du mit maschineller
Genauigkeit und schärfster Präzision
dir stets Rechenschaft gibst über Wahr‐
nehmung und Empfindung, kannst du
dennoch von Grund aus ‒ unwahr
sein! ‒
132 Der Sinn des Daseins
.Du brauchst sogar einen gewissen
«Spiel-raum» zwischen der exakten
Analyse deiner Wahrnehmungen und
Empfindungen, und ihrer Ausdeu
tung für dich selbst, sonst wird dich
gerade dein Wahrheitsfanatismus
in das Trugfeld der Selbsttäuschung
locken, das erfüllt ist von Irrlichtern
über dunklen Morasten! ‒ ‒ ‒
.Wenn du auch mit glühender Wahr‐
heitsliebe dich bemühst, dich von
Täuschungen über dich selber freizu‐
halten, so hast du doch noch recht
wenig erreicht, solange dein Bemühen
nur darauf gerichtet ist, in der Be
stimmung alles dessen, was dich inner‐
lich bewegt, zu schonungsloser Klarheit
zu kommen....
133 Der Sinn des Daseins
.Deine Einzelurteile können wohl in
jedem der geprüften Fälle richtig sein
und doch kann dein ganzes Dasein
ein wesentlich anderes Bild ergeben,
als es aus der bloßen Summierung
deiner einzelnen Urteile über Wahr‐
nehmung und Empfindung in dir resul‐
tieren würde. ‒ ‒
.Es ist auch irrig, zu glauben, man
sei schon wahr, wenn man nur seine
Rede frei von Lüge und Täuschungs‐
absicht hält!
.Wahr sein, heißt vor allem: ‒ seine
Gedanken stets an straffem Zügel
führen, damit sie nicht, durch Wunsch,
Furcht oder Träumerei verleitet,
die nüchterne Straße sachlicher Er‐
kenntnis verlassen und in ungewisse
134 Der Sinn des Daseins
Weiten schwärmen, allwo sie meist
recht schwer wieder einzufangen sind...
.Bist du in deinen Gedanken wahr,
so wird auch Rede und Tat von
deiner Wahrheit Zeugnis geben, selbst
wenn deine Rede irren, oder deine
Tat dich zuweilen ins Unrecht set
zen mag! ‒ ‒
.Besser ist es fürwahr, man kann dich
eines Irrtums oder eines Unrechts
überführen, so nur dein Wille beidem
fernestand, als einer Unwahrheit
gegen dich selbst, ‒ auch wenn
sie begangen wurde, um Irrtum und
Unrecht zu meiden! ‒ ‒
.Sobald du aber einmal wirklich wahr
geworden bist in dir selbst, werden
135 Der Sinn des Daseins
tagtäglich dir neue Wahrheiten be‐
gegnen, und sie werden dir nicht mehr
«fremd» erscheinen, wie einst! ‒
.Du wirst entdecken, daß du auch
eines jeden anderen Menschen Wahr‐
heit in dir selber trägst, auch wenn
sie in dir nur eine Nebenwahrheit
ist, ‒ nicht, wie deine eigene Mittel
punktswahrheit, Weg und Ziel be‐
stimmend. ‒
.So wirst du duldsam gegen andere
werden, und du wirst keinen anderen
darum geringer schätzen, weil er nicht
deiner Wahrheit folgt, wenn du ihn
nur auf seine Weise seiner Wahrheit
Folge leisten siehst! ‒ ‒
.Du wirst erkennen, daß die absolute
Wahrheit, die allein sich selber
136 Der Sinn des Daseins
«fassen» kann, in unzählbaren
Formen sich der Fassungskraft des
Menschen offenbart, und daß auch
noch die fernste dieser Formen Licht
von ihrem Lichte enthält. ‒
.Wohl darfst du dich glücklich
schätzen, weißt du deine eigene
Wahrheit eingeordnet in den nächsten
Graden der Durchlichtung aus dem
Inbegriff der absoluten Wahrheit,
doch wirst du gewiß auch die Wahr‐
heiten fernerer Durchlichtungsgrade
nicht mehr verachten, und in allen un‐
zählbaren Graden nur die
eine ewige Wahrheit
schauen! ‒ ‒
*           *
*
137 Der Sinn des Daseins
BESCHLUSS
MIT gutem Rechte hat der Spott,
der so manche, sonst unheil‐
volle Spannung entspannt, sich der
«Frommen» bemächtigt, die aus der
Frömmigkeit ein Paradieren mit «Ge‐
sangbuch» und Andachtsrequisiten,
ein himmelndes Augenverdrehen, ein
selbstgerechtfertigt-salbungsvolles Ge‐
tue zu machen wußten.
.Es darf aber doch auch nicht ver‐
gessen werden, daß es nun manchen
Menschen schwer fällt ‒ und es
dürften nicht wenige sein ‒, über‐
haupt noch an den Wert der echten
«Frömmigkeit» zu glauben. ‒
.Auch wenn sie im besten Sinne
«fromm» zu sein vermöchten, fühlen
sie sich doch zu sehr bereits mitbe‐
141 Der Sinn des Daseins
troffen durch den berechtigten Spott,
auch wenn der nur Frömmelei und
Pharisäertum zu treffen sucht, als daß
sie noch wagten, offen einzugestehen,
wie schal und gehaltlos ihnen ein Dasein
ohne wahre Frömmigkeit erscheint.
.Man mag es töricht schelten, wenn
zaghafte Seelen solcherart ihrem besten
Fühlen mißtrauen, und doch ist in
dieser Scheu zugleich eine hohe Wer‐
tung echter Frommheit, echter
«Frömmigkeit» enthalten, denn die
Ängstlichen fürchten im Grunde nur
die Entweihung einer inneren Er‐
fahrung, die ihnen heilig ist...
.Dennoch könnte man wohl hier
sagen, daß nur subjektive Werte in
Frage stünden, so daß alsdann die echte
142 Der Sinn des Daseins
Frömmigkeit denn doch nur Wenigen
Bedürfnis, Wenigen, ihrer Art nach,
«angemessen» wäre? ‒
.Da ich dir jedoch versprochen habe,
dich recht zu leiten und auf sicheren
Weg zu führen, der du nach dem
«Sinn des Daseins» suchst, so muß
ich dir nun am Beschluß der Führung
auch zu zeigen suchen, daß du den
Sinn des Daseins nie erfassen und be‐
greifen kannst, wenn dich nicht echte,
reine Frömmigkeit erfüllt! ‒ ‒ ‒
.Ich sagte dir schon bald, daß du
in neuer Weise fragen lernen müß‐
test: ‒ daß du nicht fragen solltest
nach dem «Sinn des Daseins», son‐
dern danach, wie du deinem Dasein
«Sinn» verleihen könntest...
143 Der Sinn des Daseins
.Fragst du jedoch, wie ich dich fragen
lehrte, so weiß ich dir wahrhaftiglich
zuletzt nichts Besseres zu sagen, als
den hier nun folgenden Rat:
.Erfülle dein Herz mit wahrer,
echter, lauterer Frömmigkeit!
.So nur wirst du deinem Dasein ewig
gültigen «Sinn» verleihen! ‒ ‒ ‒
.Ich hoffe allerdings, daß du deine
Frage nach dem «Sinn des Daseins»
nicht aus jener platten Oberflächen‐
Neugier stelltest, die nur danach fragt,
wie erdenhaft enger Verstand ‒ und
sei es auch der Verstand des Weisesten
der Weisen ‒ sich dieses Dasein
leidlich «erklärbar» machen kön‐
ne?! ‒
144 Der Sinn des Daseins
.Solcher Neugier Nahrung zu bieten,
ist wahrlich nicht Aufgabe meiner
Lehre, und ferne stehen mir die selbst‐
süchtig-ängstlichen «Kinder dieser
Welt», die immer nur erfahren wollen,
was ihrer einst wartet, statt immer
so zu handeln, daß nur das Beste
ihnen zum Erbteil werden kann...
.Wer sich hier «getroffen» fühlt,
den mag es wie Peitschenschlag
treffen, damit er aus seinem Dämmer‐
traum endlich erwache und zu seinem
Besten reif, ‒ zu seines Erbes Er‐
werb berechtigt werde!! ‒
.Wenn ich davon rede, daß du dei‐
nem Dasein «Sinn» zu geben vermagst,
so ist mir nur daran gelegen, dir zu
zeigen, daß dieses Dasein, ‒ obwohl
145 Der Sinn des Daseins
an sich schon so vieler «Ursache»
unabänderliche «Folge», ‒ wieder
nur neuer Folge Ursache wird, und
daß du Macht hast, die Folge nun‐
mehr zu bestimmen, soweit deine
Macht reicht, dieses Dasein um‐
zugestalten! ‒ ‒ ‒
.Es handelt sich keineswegs nur
etwa darum, erhabene Gefühle in
dir zu erzeugen, oder gar den kindisch‐
eitlen Glauben in dir wachzurufen, als
hättest du eine «Mission», und seiest
der Gottheit überaus wichtig in allem
deinem Tun! ‒
.Du magst auf dieser Erde wohl der
Mächtigste und Erhabenste sein, der
Erbe alter Geschlechter, vererbten
Herrscherwillens und unermeßlichen
146 Der Sinn des Daseins
Besitzes, und bleibst doch als Erden‐
mensch vor dem Werturteil der Ewigen
ein armer, törichter Wurm, den
ein Fußtritt zertreten kann, auch wenn
das Herz, das diesen Fuß bewegt, dich
gerne schonen möchte!!!
.Die Umgestaltung deines Daseins,
die deines Daseins Folge umgestaltet,
erfordert mehr von dir, als nur einen
Wandel deiner Gefühle, ‒ eine Trans‐
ponierung deines seitherigen Erden
geltungswillens in die Bereiche
ewigen Erlebens! ‒
.Magst du unter Herrschern der Aller‐
mächtigste sein, oder unter Bettlern
der Allerärmste, so mußt du in beiden
Fällen wissen, daß alles das wahrhaft
irrelevant, ‒ in jeder Hinsicht we
147 Der Sinn des Daseins
senlos ist, vor dem Angesicht Derer,
die des wesenhaft-wirklichen, ewi
gen Geistes Priester und Könige
sind, auch wenn sie dich hier auf dieser
Erde nach deiner irdischen Geltung
gelten lassen, soweit du selbst es
ihnen möglich machst! ‒ ‒ ‒
.Was geistiges Gesetz von dir
erheischt, ist wache, wohlüberlegte
Tat! ‒ ‒
.Es wird gewiß nicht etwa «zuviel»
von dir verlangt!
.Du mußt nur beweisen, daß es dir
ernst ist mit deinem Streben, und
diesen Beweis kannst du lediglich
erbringen, indem du die Macht, die
dir über Irdisches gegeben ist, ge‐
148 Der Sinn des Daseins
brauchst, um dir im Ewigen Schätze
zu sichern, die «weder Rost noch
Motten fressen» können! ‒ ‒ ‒
.Hier gibt es keinen «Erlaß» und
keine «Umwandlung» des Geforder‐
ten, so gerne dir auch die ewige Liebe
Erlaß und Umwandlung nach deinem
Ermessen gewähren möchte! ‒
.Auch wirst du dich hüten müssen,
etwa zu glauben, daß du den Geist
der Ewigkeit vielleicht ein wenig
täuschen könntest, um scheinbar zu
tun, was von dir verlangt wird, und doch
zu unterlassen, was deiner irdisch‐
engen Eigenliebe widerstrebt! ‒ ‒
.Du wirst nicht «gerichtet», sondern
richtest dich selbst durch die Be‐
149 Der Sinn des Daseins
nützung dessen, was deiner Macht auf
Erden untertan ist!
.Bist du ein armer Bettler, so darfst
du sicher sein, daß das, was du aus
deiner Armut wirken wirst, gewiß
nicht geringeren Wertes ist, als die
Großtaten eines Reichen, ‒ doch lebst
du im Reichtum, so wird dein Erden‐
wirken nur insoweit geistig gelten,
als es eben diesem Reichtum ange
messen ist...
.Du wirst dann aus dem, was dir
übergeben ist, auch deinen gerechten
Beitrag leisten müssen, um das Kapital
des Geistes hier in dieser Sichtbarkeit
zu mehren! ‒
.Du selbst mußt wissen und erfühlen,
was der Geist der Ewigkeit, dem
150 Der Sinn des Daseins
du entstammst, von dir verlangt an
materiellem Einsatz in dieser Welt
materieller Außenwerte, ‒ und du
wirst gewiß im Geistigen nicht weiter
kommen, suchst du dich zu entziehen,
wo du auch in erdengültigen Werten
darbringen sollst, was du vermagst...
.Es handelt sich keineswegs etwa
darum, dein Hab und Gut zu ver‐
teilen, ‒ aber aus dem, was du besitzest,
ergibt sich, was du darbieten kannst,
um Geistiges in dieser Erdenwelt zu
verankern, wie auch nach gleichem
Maße das Maß deines dir übertragenen,
dich verpflichtenden Wohltuns sich
bestimmt. ‒ ‒
.Vom Geiste her ist nur gefordert,
daß dein geistiges Streben stets auch
151 Der Sinn des Daseins
dein äußeres Dasein mit erfasse,
und somit alle äußere Macht, die dir
gegeben ist, in den Dienst der
Ewigkeit stelle....
.Niemals wird etwa mehr von dir
verlangt, als was du wirklich leisten
kannst, ohne Pflichten, die aus deinem
äußeren Dasein sich ergeben, zu ver‐
säumen. ‒
.Es kommt jedoch bestimmt ein
Tag, an dem du es bitterlich bereuen
würdest, des Geistes Forderung nicht
erfüllt zu haben! ‒ ‒ ‒
.Da du aus deinem ewigen Leben
niemals entfliehen kannst, so ist es
wahrlich Weisheit, auch in dieser
152 Der Sinn des Daseins
Erdenzeit bereits nach seinen Ge‐
setzen sich einzurichten.
.Auch dieses Erdendasein ist ja
nur begründet in deinem ewigen Leben,
dem es wenig verschlägt, auch wenn du
es leugnen zu dürfen glaubst!
.Du wirst diesem Dasein wohl nicht
anders einen «Sinn» zu geben ver‐
mögen, als dadurch, daß du es wach
und bewußt als Teil deines ewigen
Lebens zu erleben suchst! ‒ ‒
.Das aber vermagst du nur, wenn
du dem argen Irrtum entsagst, der dir
vorgaukeln will, du könntest dereinst
bewußt im ewigen Leben stehen, auch
ohne vorher dein Erleben dieses
Erdendaseins geistgerecht ge
staltet zu haben! ‒
153 Der Sinn des Daseins
.Willst du deinem Dasein «Sinn»
verleihen, so ordne alles was du hier
beginnen magst, stets derart, daß auch
ewige Werte durch dein Tun gefördert
werden! ‒ ‒
«Sinn» hat dein Dasein wahrlich nur
wenn es weiterzeugend wirkt,
und seine Früchte dir er
halten bleiben für alle
Ewigkeit! ‒
*           *
*
154 Der Sinn des Daseins
ENDE
DAS BUCH
DES
TROSTES
Verlagslogo
Zweite Auflage
6.-10.Tausend
Kober'sche Verlagsbuchhandlung
1948
Copyright by
Kober'sche Verlagsbuchhandlung Basel
1948
Buchdruckerei Prokop & Co. Zürich
INHALT Seite
Von Leid und Leidestrost 5
Von des Leides Lehre 13
Von allerlei Torheit 23
Von der Trostkraft der Arbeit 37
Vom Troste der Trauernden 51
Originalscan
VON LEID UND LEIDESTROST
.Es sind wahrlich nur recht wenige durch
die Täler und über die Höhen dieses
Erdengestirns geschritten, von denen etwa
zu sagen wäre, daß sie des Trostes allzeit
hätten entraten können. ‒
.Gewiß waren es auch keineswegs die
Tiefsten, und sicherlich beweist es kei‐
nen besonderen Vorrang seelischer Stärke,
des Trostes nicht zu bedürfen. ‒
.Gleichwie ein tiefes Meer weit längere
Zeit braucht, um seine sturmgepeitschten
Wogen zu glätten, als ein seichter Tüm
pel, also auch wird die reiche, tiefe Seele
weit stärker von jeglichem Erleben er‐
griffen, und vermag noch gar lange daran
zu leiden, während die seichten Seelen,
bei denen nichts in die Tiefe dringen
kann, da sie keine Tiefe in sich haben,
vom Abend bis zum nächsten Morgen
mit ihrem Schmerze fertig werden. ‒
.Trost aber braucht nur der Leidende,
den sein Leid bis in seine tiefste Tiefe
7 Das Buch des Trostes
erfaßte, und dem des Leides bittere Wasser
fürderhin die Quellen seines Erdenglückes
ungenießbar zu machen drohen.
.Es gibt mehr solcher Trostbedürftigen
auf dieser Erde, als es Arme an irdischen
Gütern gibt, und deren gibt es wahrlich
doch genug...
.Im Leide offenbart sich erst leider für
viele etwas von ihrer Tiefe, denn in der
Freude, die wahrlich zu gleicher Tiefe
leiten kann, begnügt man sich schon mit
dem Wenigen, das die Oberfläche ge‐
ben mag.
.Wohl ist alles Leid dieses Erdenlebens
in höherem Erkennen nur als Lüge zu
werten und als trüglicher Schein; allein:
es gibt keine Lüge, die nicht zuletzt der
Wahrheit dienen müßte, und so auch
muß das Leid, das diese Erde überreich‐
lich aus sich selbst erzeugt, zuletzt denn
doch der Freude noch zum Sieg verhelfen.
.Hierin liegt alle Kraft des wahrhaften
8 Das Buch des Trostes
Trostes beschlossen, soll Trost nicht nur
ein Überreden sein, um dich das Leid
vergessen zu lassen. ‒
.Willst du es vergessen, so wird es erst
recht als Lüge dich betrügen!
.Willst du dein Leid jedoch der Wahr
heit dienstbar machen, so wirst du es ge‐
wiß nicht zu vergessen suchen! ‒
.Du wirst mutig, Aug in Auge, dem Leid,
das dich betroffen hat, gegenüberstehen
und es überwinden lernen müssen; doch,
Überwinden heißt hier nicht: Ver
gessen, und noch weniger würde dir ge‐
holfen sein, wolltest du feige dem Emp‐
finden deines Leides dich entziehen, woll‐
test du Lüge auf solche Art durch Lüge
bannen. ‒
.Siehe: die großen Meister der Kunst
des Lebens sind niemals feige dem Leide
aus dem Wege gegangen!
.Sie wußten zu leiden, so wie sie der
Freude sich hinzugeben wußten.
9 Das Buch des Trostes
.Sie wußten, daß alles Leid nur der
Freude Bedingnis und Unterpfand wird,
sobald nur die Leidempfindung erlöst
wird aus der Lüge und dem Reich des
Scheins. ‒
.Du kannst das Leid gewiß nicht aus dei‐
nem Erdenleben tilgen; allein dein Emp
finden kannst du wandeln und also auch
das Leid entwerten, denn alles Leid ist
nur dir dargeboten, damit durch dich es
die Ent-wertung finde. ‒
.So erst wirst du aus einem Sklaven des
Erdenleides sein Herr und Bezwinger
werden!
.So nur wirst du das Leid auf solche
Weise erleben, daß es dich fördern muß,
obwohl es vorher dich zu vernichten
drohte! ‒
.Es ist gewiß nicht allzuschwer, auf sol‐
che Art dem Leide dieser Erde zu begeg‐
nen; doch wirst du nie zum Herrn des
10 Das Buch des Trostes
Leides werden, willst du der Leid-Emp
findung dich entziehen! ‒
.Nur wer das Leid in tiefster Seele zu
empfinden fähig ist, der wird zuletzt
auch fähig werden, es als Lüge zu er
kennen. ‒
.Dann erst wird er sein Leid zu besie
gen wissen und den Trost erlangen, der
aus der innersten Gewißheit der Erkennt‐
nis aller Wahrheit ihm entgegenleuchtet.
.Von diesem einzig würdigen Troste
soll hier die Rede sein.
.Ich will dir zeigen, daß du seiner teil‐
haft werden kannst in deinem eigenen
Innern, und dann nicht nötig hast, bei
anderen dir Trost zu suchen.
.Der Trost, den andere dir bieten kön‐
nen, wird dir nur dann aus deines Lei‐
des Fesseln helfen, wenn er dir zeigt, wie
du dich selbst befreien kannst, und diese
Kunst wirst du aus dieses Buches Worten
lernen können.
11 Das Buch des Trostes
VON DES LEIDES LEHRE
.Hart mögen schwere Schicksalsschläge
dich betroffen haben...
.Du fühlst dich ihnen ausgeliefert und
siehst dich wehrlos einer Macht verhaftet,
die dich zu leiden zwingt nach unerklär‐
lichem Gesetz.
.In alter Enge dürftiger Erkenntnis ein‐
gesponnen, suchst du vergeblich eine
„Schuld” an dir, als deren „Sühne” du be‐
werten könntest, was dir widerfahren ist.
.Hier bist du schon der ersten groben
Täuschung ausgeliefert, denn nirgends
ist ein „Rächer” deiner Schuld, der dir
nach jenes engen Wähnens Weise „Sühne”
auferlegen könnte.
.Wohl trägt zwar jede Tat in sich die
unabänderlich gesetzte Folge, und nie‐
mals wirst du es vermögen, solcher Folge
zu entrinnen, allein es kann dich herbstes
Leid auch hart in Banden schlagen, das
keineswegs aus deiner Tat erwachsen ist.
15 Das Buch des Trostes
.Gib deinem Leid nicht selbst noch Zu‐
wachs, indem du quälenden Gedanken
Raum in dir bereitest, dem Wahn verhaf‐
tet, daß dein Leid gemildert werde, wenn
du eine Schuld als dieses Leides Ursache
in dir erkennen würdest!
.Trifft dich ein Leid, so lasse ihm vor
allen Dingen keine Zeit, dich erst zu bin‐
den, denn wenn es dich bereits in Fesseln
schlug, wirst du mit großer Kraft es nur
vermögen, dich aus seinen Fesseln zu be‐
freien. ‒
.Recke alsbald dich auf und suche
irgendeinen festen Halt in dir, so daß
du erfolgreich ringen kannst mit dem,
was dich fesseln will!
.Du mußt Herr sein in dir selbst und
darfst auch deinem Leide nicht erlauben,
sich gegen diese Herrschaft zu kehren,
wie tief du auch dein Leid empfinden
magst! ‒
16 Das Buch des Trostes
.Nur in solcher Haltung wirst du dem
Troste begegnen können in dir selbst!
Trost hat nur wert als Gegenkraft,
um die Kraft des Leides zu überwinden.
.Dein Leid wirst du gewiß ergründen
müssen, wenn du starkem Troste begeg‐
nen willst.
.Dann aber wird es dir also ergehen:
.Auf dem Grunde deines Leides wirst
du die Lüge geschäftig am Werke finden,
die dich betören will, zu glauben, nun sei
alles Licht erloschen, und alles was strah‐
lend war in deinem Leben, versinke nun
in grauenhafte Finsternis.
.Glaubst du der Lüge, dann wird sie
zu einer fast unbezwinglichen Macht
durch deinen Glauben!
.Sie nährt sich dann aus deinem Herz‐
blut, und wahrlich: sie wird wie ein Vam‐
pir dir alle Lebenskraft zu entziehen
wissen!
.Dann wird dir in Wahrheit alles, was
17 Das Buch des Trostes
Licht und strahlendes Leuchten war, in
graue, dumpfe Nacht versinken.
.Darum rate ich dir: ‒ sei wachsam und
schenke der Lüge des Leides keinen
Glauben!
.Kehre entschlossen ihr den Rücken zu,
damit ihr Medusenblick dich nicht ver‐
wirrt, und sage dir selbst stets wieder mit
Beharrlichkeit:
.Es ist nicht wahr, daß alles Strah
lende nun unterging!”
.Es ist nicht wahr, daß alles Licht
mir nun erloschen ist!”
.Es ist nicht wahr, daß je das Leid
die Freude verschlingen könnte!”
.Vor allem aber sage dir, daß eben die‐
ser Schmerz, der dir so unerträglich schei‐
nen will, nur darum dich in Banden hält,
weil du die Wahrheit noch nicht sehen
kannst, die jene Lüge auf dem Grunde
jedes Leides dir verbirgt! ‒
18 Das Buch des Trostes
.Je entschlossener du dich abkehren
wirst von der Lüge höhnischem Grinsen,
desto eher kann dir die Wahrheit, die
hinter deinem Schmerze steht, in ihrer
strahlenden Größe sichtbar werden! ‒
.Wer sie erblickt, der wird auch des herb‐
sten Leides Herr, denn alsbald wird er
gewahr, daß alles Leid in sich zusam
menfallen muß, wenn seine Zeit been‐
det ist. ‒
.Alles Leid ist vergänglich, und nur
du selbst kannst ihm längere Dauer ge‐
ben, als ihm seiner Art nach innewohnt. ‒
.Ein jedes Leid aber ist einer späteren
Freude vorgesandtes, geheimnisvolles
Zeichen, auch wenn es dir wie erbärm‐
liches Höhnen erscheinen will, wenn man
dein Leid, das an dir zehrt, auf solche
Weise dir im Lichte der Wahrheit zeigt. ‒
.Du bist des Leides Lüge noch allzu‐
sehr verhaftet, und sie lehrt dich hegen
dein Leid, so daß du unwillig wirst, wenn
19 Das Buch des Trostes
man dir die Freude zeigen will, die eben‐
so in Dauer steht, wie alles Leid in Ver
gänglichkeit. ‒
.Du hörst noch das laute Weheklagen
deiner Sinne, bist noch des Jammers
nicht Herr, der deine Gedanken durch‐
tobt. ‒
.Noch schaffst du dir immerfort Vor
stellungsbilder dessen, was einst ge
wesen war, bevor dein Leid dich nieder‐
beugte, so daß du wahrlich nicht zu er‐
kennen weißt, was nunmehr Gegenwart
geworden ist, und nur das Verlorene
gigantisch aufwächst vor deinem Blick. ‒
.Aber dein Leid ‒ wie schwer es auch
sei ‒ kann dir zum Segen werden, wie
es dir auch gleicherweise nur neues Un
heil bringen wird, wenn du es nicht in
deine Herrschaft zu zwingen weißt...
.Du selbst allein entscheidest, was aus
dem Samen des Leides dir ersprießen
soll! ‒
20 Das Buch des Trostes
.Nur wenn du aufhören wirst zurückzu
blicken und alle Aufgabe vor dir siehst,
wirst du den Segen des Leides ernten! ‒
.Dein Schicksal will etwas von dir, so‐
bald es dich durch Leid und Leiden
führt! ‒
.Ein jedes Leid-Erleben ist Abschluß
und Neubeginn.
.Wenn bei dem Abschluß du zu lange
verweilst, wirst du die beste Kraft in dir
erlahmen lassen, die dir zu neuem Be
ginnen dienen sollte!
.Ich gehöre wahrlich nicht zu denen, die
dich in dem Wahn erhalten möchten, als
sei das Leid auf dieser Erde „gottgewollt”
und auch in seinen furchtbarsten Formen
eine eherne Notwendigkeit.
.Vielmehr weiß ich dir zu sagen, daß
das allermeiste Leid auf dieser Erde ver
schwinden könnte, würde der Mensch
das Leid nicht mehr erwarten.
21 Das Buch des Trostes
.Niemals aber wird diese Erde darum
völlig leidfrei sein.
.Erwarte nicht das Leid und suche es
nicht geflissentlich, durch deine Angst
davor, herbeizuziehen; aber wo es dich
traf, da wisse, daß dein Leben dich in
irgendeiner Weise aufwärts führen will.
.Stelle dich nicht dir selbst in den Weg,
indem du deinen Blicken Richtung in die
Tiefe gibst, sondern blicke empor ‒ über
dich hinaus ‒ und lerne so erkennen, was
dein Leben von dir noch zu fordern hat,
statt daß du selber stetig Forderungen
an dein Leben stellst, die allermeist nur
aus der Enge deines erdgefesselten Blickes
her, sich als „berechtigt” erweisen möch‐
ten! ‒
.Aus deiner Erkenntnis dessen, was
dein Leben von dir verlangt, wenn es
dich dem Leide begegnen heißt, wird dir
die Kraft des Trostes werden, die du ver‐
geblich suchst, solange du rückwärts
deine Blicke wendest. ‒
*
22 Das Buch des Trostes
VON ALLERLEI TORHEIT
.Wühle nicht in deinem Schmerz und
reiße Wunden, die vernarben wollen, nicht
immerfort von neuem auf, wenn du die
Kraft des Trostes in dir selbst er‐
langen willst!
.Weise jedem die Türe, der da kommt,
um dich zu „trösten” und nichts Besseres
weiß, als frische Gräber aufzuscharren! ‒
.Was einmal erlebt ist, will Ruhe fin‐
den in dir, damit es in deine tiefste Tiefe
sinke.
.Nur wenn es unverlierbar in deiner
Seele Tiefe ruht, wird es dir zu lebenzeu‐
gendem Gewinn.
.Alles Leid ist nur in seiner Macht, so‐
lange du es hegst und willig seine Herr‐
schaft anerkennst! ‒
.Wenn du, nachdem du es empfunden
und erlitten hast, ihm keine Macht über
dich mehr zugestehst, dann ist seine
Macht zu Ende! ‒
25 Das Buch des Trostes
.Darum sucht es dich immer von neuem
an sich zu erinnern!
.Wie alles Vergängliche möchte es län
ger in Macht und Wirkung sein als seine
zugemessene Zeit dies zulassen will. ‒
.Dazu aber bedarf es deiner, denn es
ist nicht ohne dich!
.Um dir wert zu werden, wählt es stets
die besten Masken...
.Wie hat es die Hirne der Menschen zu
allen Zeiten umnebelt, um ihnen als Göt
terbote, ja als Zeugnis göttlicher Liebe
zu gelten! ‒
.So hat man es gar lieben gelernt und
dabei nicht geahnt, daß man ‒ nach
eingewobenem Gesetz der Kräfte dieses
Universums ‒ durch solche Liebe nur
das Leid auf dieser Erde mehrte...
.Es gibt aber unsichtbare Gewalten
in diesem Kosmos der Kräfte, die daran
allergrößtes Interesse haben, daß der
26 Das Buch des Trostes
Mensch der Erde leide, da sie sich aus
des Menschen Kräften nähren und er
neuern, und da der Mensch zu keiner
anderen Zeit so willig ihnen seine Kräfte
überläßt, als wenn er sich im Leide
findet. ‒
.Je mehr sein Leid aus einem Empfin‐
den, das er selbst noch beherrscht, zu
seinem Beherrscher und Tyrannen
wird, desto leichter wird es jenen Un‐
sichtbaren, seine Kräfte, die sie brauchen,
ihm zu entziehen.
.Darum versuchen sie, was da in ihre
Macht gegeben ist, um ihn nur möglichst
lange in seinem Leide zu erhalten...
.Nicht umsonst sagt man von einem, der
lange litt: ‒ er ist von seinem Leide „ent
kräftet”. ‒
.Wahrhaftig, man hat ihm seine Kräfte
nach allen Regeln ausgesogen, während
er sein Leid fast mit Genuß zu hegen
wußte und ihm die schönsten Namen gab,
um es ins Heilige zu erhöhen, und sich so
27 Das Buch des Trostes
recht in seines Leides Macht zu füh‐
len. ‒
.So liefert selbst sich der Mensch als
Beute aus, an jene Werwölfe und Vam‐
pire der unsichtbaren Welt der siderischen
Kräfte! ‒
.Soll diesem Treiben aber endlich Ein‐
halt werden, dann muß, bewußt des wirk‐
lichen Geschehens, alle Lust am Leiden
aus den Seelen schwinden, und solche
„Lust” ist mehr in allem Leiden, als die
allermeisten, die da leiden, auch nur
ahnen. ‒
.Wohl ist gewiß keine „Lust” vorhan‐
den, in das Leid zu gelangen!
.Auch in der Leidempfindung, die der
Mensch noch zu beherrschen weiß, ist
wahrlich keine „Lust”!
.Allein, sobald das Leid den Menschen
überwältigt, also daß er weiter leiden
will, folgt er, und wenn er es auch keines‐
wegs erkennt und eingestehen könnte,
28 Das Buch des Trostes
einer dumpfen Lust, die ihn verleitet,
immerfort aufs neue seine Wunden auf‐
zureißen, damit an seinem Blute sich die
Unsichtbaren laben können, die als ekle
Parasiten sich von seinen Kräften nähren.
.Ihnen gilt es zu entrinnen, und wenn
auch nie das Leid von dieser Erde schwin
den wird, so läßt sich doch solcherart
dann wirklich auf das Äußerste be
schränken, was die Gesetze dieser äuße‐
ren Erscheinungswelt in ihrer Auswirkung,
als beigegebene Folge, zeitigen müssen.
.Alles was diese Folge übersteigt
alles was außer ihr liegt, soweit sie be‐
gründet ist in „naturnotwendigem” Ge‐
schehen ‒ kann aus dem Leben der Men‐
schen allmählich ausgeschieden werden
und wird es im Leben eines jeden Ein‐
zelnen, wenn jeder für sich selbst erkennt,
daß er sich nur den unsichtbaren Unhol‐
den zum Opfer bringt, solange er dem
Wahn ergeben bleibt, der seit Jahrtausen‐
den das Leid der Erde heiligspricht. ‒
29 Das Buch des Trostes
.Doch deute man meine Worte auch
nicht irrig!
.Wohl weiß ich Ehrfurcht in mir vor
jedem Leidenden, der großes Leid, das
ihn betroffen hat, mit hoher Menschen‐
würde trägt, solange er es tragen muß,
um es alsdann zu überwinden und in
sich den starken Trost zu finden, der ihn
zu neuem gesteigertem Leben ruft, und
der durch keine „Tröstung”, die von außen
kommt, gegeben werden kann.
.Allein ich warne vor der Hingabe an
das Leid und vor dem grenzenlosen Irr
tum, der da im Leide etwas „Heiliges
und „Gottgewolltes” sieht, während
alles Leid nur Lüge und Übel ist ‒ selbst
dort nur nothafte Un-Vollkommen
heit, wo es als unvermeidbare Folge der
Gesetze dieser irdischen Erscheinungswelt
erduldet werden muß. ‒
.Ich erachte es als eine grobe Blasphe
mie, wenn man sich nicht entblödet, einen
30 Das Buch des Trostes
ewigen „Gott”, von dem gesagt ist, daß
er die Liebe sei, den unsichtbaren Vam
piren gleichzusetzen, die sich im Dunst‐
kreis dieser Erde aus den Kräften des Men‐
schen nähren ‒ indem man unbewußt
lästernd zu sagen weiß:
.Wen Gott lieb hat, den züchtigt
er.” ‒
.Wäre nicht eines Weisen Torheit die‐
ses Wortes Vater, dann wäre es ein Ver
brechen an der Menschheit zu nen‐
nen! ‒
.In seinen Auswirkungen allerdings
ist es gewiß nichts anderes, und gut wuß‐
ten jene Unsichtbaren, die es einstens
einem Menschenhirne einzublasen verstan‐
den, dafür zu sorgen, daß aus der Torheit,
die es aufnahm, stetig weitergehendes
Verbrechen werde...
.Wer sich nicht schuldig machen will
des Unheils, das aus diesem Worte schon
geboren wurde und noch geboren wer‐
31 Das Buch des Trostes
den kann, da es den Menschen dieser
Erde das Übel lieben und hegen lehrt,
der trage mutig, herb und würdebewußt
das Leid der Erde, das er tragen muß,
bis er es jeweils überwunden hat, aber
er vermesse sich nicht ‒ dadurch ver‐
führt, daß ihm die Art, wie er es trägt,
zur Läuterung werden kann ‒ das Übel
selbst als „gottgewollte” Schickung auf‐
zuwerten! ‒
.Es ist nicht „Schickung”, sondern je‐
weils Folge unabänderlicher Geschehens‐
abläufe in dieser irdischen Erscheinungs‐
welt, soweit es nicht unbewußt herbei
gezogen wird und vermehrt, durch die
Kraft des Glaubens an seine „Gottge‐
wolltheit” und „Heiligkeit”. ‒
.Magst du im Leide sein oder dich leid‐
frei wissen zu dieser Zeit ‒ stets sage dir
an jedem deiner Tage:
.„Alles Leid ist ein Übel, das ich
überwinden muß!”
32 Das Buch des Trostes
.„Alles Leid ist ein Übel, und ich
bitte im Geist, daß ich vor ihm Be
wahrung finde, soweit es irdischer Ge‐
schehensablauf zuläßt!”
.„Alles Leid ist ein Übel, und ich
will nicht dem Übel Zuwachs geben
auf der Erde, sei es durch meine Furcht,
die es anzieht, sei es durch meinen
Glauben an seine vermeintlich hei
ligende Kraft!”
.Wie alles, was du zu erleben hast, dir
dienen kann, dich in deinem Erleben zu
bewähren, so auch das Leid; jedoch
wirst du noch keinen je gefunden haben,
der sich in anderem Erleben nicht in
Bewährung erwiesen hätte und dann im
Leide plötzlich Größe offenbarte.
.Wenn es dir dennoch so scheinen möch‐
te, so hattest du gewiß vorher das Er‐
leben eines solchen Menschen irrig ge
wertet!
33 Das Buch des Trostes
.Doch darfst du niemals vergessen,
daß jedes Erleben den Menschen för‐
dern kann, und ich sage hier nicht, daß
im Erleben des Leides keiner gefördert
werden könne ‒ allein, es ist mitnich‐
ten das Leid, das ihn fördert, sondern des
Menschen Erlebnis-Einstellung, die
auch noch im Leide offenbaren kann,
was wahren Wertes ist in ihm. ‒
.Die vielgepriesene „Schule des Lei
dens” hat freilich manchen stolzragenden
Geist gebrochen, so daß er „zu Kreuze”
kroch; allein, man blende sich nicht selbst
und prüfe erst, ob solche Schulung wirk‐
lich den Menschen zu seiner höchsten
Entfaltung brachte, oder ob er nur müde
wurde und mürbe, und so zerschlagen,
daß er sich nicht mehr voll hohen Mutes
erheben konnte! ‒
.Gar oft wird müder Verzicht dir wie
unbegreifliche Güte erscheinen, wo nur
ein Wille im Leid zerbrach ‒ wo jeder
Wunsch seine Triebkraft verlor
34 Das Buch des Trostes
wo durch die Unfähigkeit, zu überwin
den, jeder Erdenwert entwertet wurde...
.Verdächtig dürfen dir alle erscheinen,
die angeblich durch das Leid erst zu „bes
seren Menschen” wurden! ‒
.Entweder: sie waren vorher schon
weit besser, als du annehmen wolltest,
verstanden so die Forderung des Schick‐
sals und stiegen über das Leid hinaus
zu neuem Beginnen, oder aber du siehst
Zerbrochene, deren müde, gewährende
Geste nun wie „Güte” wirkt. ‒
.Die Menschen, die das Leid bis in seine
Tiefe kosten, um alsbald sich zu erheben
und das Leid zu überwinden ‒ empor
über sich selber blickend und mutigen
Schrittes neuem Beginnen entgegen‐
schreitend, werden dir oft kaum vom
Leiden berührt erscheinen, und doch
sind sie es, denen vor allen anderen aus
dem Leide Segen erwächst. ‒
35 Das Buch des Trostes
.Sie sind die Menschen, die in sich sel
ber die Kraft des Trostes fanden und sie
in ihrem Wirken für sich selber offen‐
baren. ‒
.Schwerlich aber werden sie der Tor
heit verfallen, das Leid, das ihnen wider‐
fahren ist, für einen Beweis der Liebe
des Himmels zu halten. ‒
*
36 Das Buch des Trostes
VON DER TROSTKRAFT
DER ARBEIT
.Arm ist ‒ wirklich bettelarm, und
wenn er über alle Schätze der Erde ver‐
fügen würde ‒ wer die unerschöpfliche
Verstärkungsmöglichkeit aller seiner
Kräfte nicht kennt, die in der Fähigkeit
zur Arbeit ihm gegeben ist. ‒
.Nun gibt es gar vielerlei Arbeit auf
dieser Erde zu leisten und viele werden
meinen, daß ihre Arbeit auch einer er
habenen Sache gelten müsse, solle sie
ihre höchsten Kräfte also fördern.
.Wer so denken mag, der kennt den
„Segen der Arbeit” noch nicht und würde
sehr irrig deuten, was ich ihm zu sagen
habe...
.Ich rede nicht davon, daß diese oder
jene Arbeit dir besondere Freude brin‐
gen kann, auch wenn ich dir gewiß alle
Freude an deiner Arbeit wünsche.
.Ich rede auch nicht davon, daß
Arbeit an einer Sache, die du als „er‐
39 Das Buch des Trostes
haben” empfindest, dein Fühlen erheben
kann.
.Zudem ist hier ein Irrtum gleich im
Anfang zu berichtigen!
.‒ Du siehst einen Menschen einem er‐
habenen Werke sich widmen, während
du selbst vielleicht im Taglohn dich mühst,
eine Pflicht des Alltags zu tun, sei es durch
deiner Hände oder deines Kopfes Arbeit.
.Vielleicht empfindest du leise etwas wie
Neid dabei, da dir dein äußeres Schick‐
sal oder deine Begabung und Schulung
gleiches, von dir als „erhaben” empfun‐
denes Tun versagt. ‒
.Doch, du hast keinen Grund, den an‐
deren zu beneiden!
.Du selbst ‒ was immer auch dein
Tagewerk bilden mag ‒ bist an seinem
Tun beteiligt. ‒
40 Das Buch des Trostes
.Der Lastträger, der im Hafen die
Schiffe entladet, hat nicht minder Anteil
an allem Großen und Bedeutenden, das
sein Volk durch einen seiner Söhne her‐
vorbringt, wie der Arbeiter an der Ma‐
schine, die jene Lasten aus fernen Ländern
zu brauchbarer Nahrung und Kleidung
verwandelt.
.Der Bauer hinter dem Pfluge wie der
Schreiber am Pult: ‒ sie alle sind ver
eint am Werke mit dem „Anderen”, in
dessen Hirn schon die Entdeckung vor‐
bereitet ruht, die Krankheit Heilung brin‐
gen soll, oder der über einem Werke brü‐
tet, das seines Forschens Resultate, zum
Besten aller, der Mit- und Nachwelt dar‐
zubieten haben wird. ‒
.Der „Andere” aber wäre ein arger Tor,
wollte er sich allein hinter seinem Werke
wähnen...
.Gewiß ist er, als Dichter, Künstler,
als ein Beherrscher seiner Wissenschaft
41 Das Buch des Trostes
der Schöpfer seines Werkes, allein sein
Schaffen wird ermöglicht erst durch jene
vielverzweigte Arbeit aller, die nötig
ist, damit die Vorbedingungen des Le‐
bens sich ergeben, die der Schaffende nicht
missen kann. ‒
.Ich hörte einst von einer kleinen Ge‐
meinschaft, die das Heil zu finden glaubte,
wenn sie von allem sich entblößte, was
nicht durch ihrer eigenen Hände Arbeit
gefertigt war.
.So strebten die edlen Schwärmer „zu‐
rück zur Natur” und ließen in der Ein‐
samkeit sich nieder.
.Nur eines wollten sie nicht missen: ‒
Bücher ‒ und noch eines: ‒ einen herr‐
lichen Flügel, auf dem ein Hochbegabter
aus ihnen die Werke der Tonkunst zu Ge‐
hör bringen konnte.
.Auf solche Weise führten sie ihr eige‐
nes Evangelium ad absurdum und merk
ten es seltsamerweise nicht. ‒
42 Das Buch des Trostes
.Man überlege wenige Minuten, welche
vielfache Arbeit vieler dazu gehört, das
Material allein zu schaffen, aus dem ein
Buch besteht, und denke daran, wie
viele Hände und Maschinen nötig sind,
um einen klangreichen Flügel herzustel‐
len! ‒
.Ich erwähne hier abschweifend diese
Erfahrung, weil sie zum Greifen deutlich
zeigt, wie alles, was eine Kultur an hohen
geistigen Werten hervorbringen und ver‐
mitteln kann, stets bedingt ist durch un‐
zähliger Hände und Köpfe Alltagsarbeit.
.Es mag das Tun eines Menschen ihm
selbst auch noch so alltäglich erscheinen,
so kann er dennoch sicher sein, daß es
auf irgendeinem Umweg in den höch
sten Werken der mit ihm Lebenden zu‐
tage tritt, und wiederum sind die Werke
der schöpferischen Geister ‒ mögen
sie auch aller Alltagssorge weit entrückt
43 Das Buch des Trostes
erscheinen ‒ die einzige Gewähr dafür,
daß ein Kulturkreis sich erhält und allen,
auch den Kleinsten, gutgelohnte Arbeit
bieten kann. ‒
.Nachdem so ein folgenschwerer Irrtum
Berichtigung fand, sei hier nun die Rede
von der bedeutsamen Kraft der Seele,
die durch jede Art von Arbeit ‒ jedoch
allein nur, wenn sie in der intensivsten
Art betrieben wird ‒ gewonnen werden
kann, und die in allem Leid auch die
Kraft des echten inneren Trostes fördert.
.Du weißt es sicher aus Erfahrung, daß
schon die bittere Notwendigkeit, dich mit
den Dingen beschäftigen zu müssen, die
dein Leid im Gefolge haben kann, dich ab‐
lenkt von quälender Selbstzerfleischung,
‒ dich zu dir selber bringt ‒ und so
dich befähigt, das, was dich betroffen hat,
in ruhigerer Weise zu betrachten.
44 Das Buch des Trostes
.Soll aber der starke Trost in dir selbst
dir werden, dann ist es vor allem nötig,
daß deine Gedanken nicht dauernd sich
in deinen Schmerz verkrampfen.
.Du wirst dies am sichersten und leich
testen verhüten, wenn du in deine Ar
beit dich so vertiefst, daß während dei‐
ner Arbeitszeit nichts anderes als deine
Arbeit dir zu Bewußtsein kommen kann.
.Die Zeit deiner Arbeit ‒ wenn du recht
zu arbeiten weißt ‒ ist stets im Leid eine
Zeit der Erholung von quälenden Ge‐
danken. ‒
.Wer freilich mit dem Kopfe oder den
Händen zu arbeiten glaubt, während
er fast gewohnheitsmäßig über andere
Dinge sinnt ‒ für den sind meine Worte
nicht geschrieben, und ich bezweifle sehr,
daß ein solcher des Trostes bedarf, es sei
denn, er suche „Tröstung” nach seiner
Weise im „Vergessen” des Leids...
.Ich rede hier zu Menschen, die das Leid
45 Das Buch des Trostes
in seiner Tiefe kosten und bereit sind, es
überwinden zu wollen!
.Nichts schafft dir eher den inneren Trost,
der sich als Kraft dir offenbart, und lehrt
dich mit seiner Hilfe auch das herbste
Leid bezwingen als Arbeit, die du so
verrichtest, wie jede Arbeit getan werden
will, soll sie dein Seelisches fördern!
.Nichts führt dich eher zum Neube
ginn!
.Da ich in dir einen Menschen sehe, der
zum Geiste strebt, so ist es mir selbst‐
verständlich, daß es für dich keine noch
so „mechanische” Arbeit geben kann, die
dir gestattet ‒ den alten guten Weiblein
gleich, wenn sie Strümpfe stricken, was
für sie mehr ein nützliches Spiel mit den
Händen ist und dann und wann nur
Aufmerksamkeit verlangt ‒ zugleich an
andere Dinge zu denken, die außerhalb
deiner Arbeit liegen. ‒
46 Das Buch des Trostes
.Ja, ich muß von dir, der den Weg zum
Geiste betreten will, erwarten, daß du
selbst keine Pause in deiner Arbeit kennst,
es sei denn, daß dich wirkliche Ermü
dung dazu zwingt. ‒
.Nur solche Arbeit schafft die seelische
Förderung, die du auf deinem Wege
brauchst ‒ sie wird dich nebenbei zum
Tüchtigsten unter deinen Arbeitsgefähr‐
ten machen, und solche Arbeit wird dir
auch im Leide in dir selbst die Kraft
des Trostes erschließen. ‒
.Wer solche Art der Arbeit kennt, der
allein hat auch ein Recht, nach getaner
Arbeit zu ruhen, aber auch seine Ruhe
wird ihm fruchtbar werden, weil ihm als‐
dann die Frucht der Arbeit anderer Gei‐
ster durch mentale Influenzen dargeboten
wird, nach seiner Fassungskraft. ‒
.Und ebenso wird dir, wenn du im
Leide stehst und die Kraft des Trostes
durch deine Arbeit zu erreichen suchst,
47 Das Buch des Trostes
nachher in deiner Ruhe großer Trost
im eigenen Innern werden, der von gei
stiger Seite stammt, und den du in sol‐
chem, durch die Arbeit wiederhergestell‐
tem Gleichgewicht allein zu empfangen
fähig bist. ‒
.Ich selbst weiß von Kindertagen an von
Leid und von Arbeit genugsam zu sagen,
und rede zu dir als einer, der beides aus‐
giebig kennt! ‒
.Du könntest mir vertrauen, auch wenn
ich sonst kein Recht zur Lehre hätte! ‒
.Ich wurde als Kind schon mit man‐
chem Leid bekannt, und wurde später‐
hin alle Wege geführt, die ich kennen‐
lernen mußte, um heute helfen zu kön‐
nen, wo durch Lehre zu helfen ist. ‒
.Es ist eine große Müdigkeit in der
Welt in diesen Tagen nachschwingender
Schrecken, und man versteht noch nicht,
daß auch diese Müdigkeit nur durch Ar
48 Das Buch des Trostes
beit um der Arbeit willen zu überwin‐
den ist. ‒
.Auch da ist starker Trost im eigenen
Innern nur zu erlangen, durch der inten‐
sivsten Arbeit wundersame regenerieren‐
de Kraft. ‒
.Ich fordere wahrlich keinen „Glauben”
an diese Worte!
.Wer da im Leide ist oder müde wurde
seiner Last und Sorge, der stelle die Probe
an!
.Er wird nicht lange zu warten brau‐
chen, um zu sehen, ob ich wahr geredet
habe! ‒
.Die Kraft des Trostes wird ihm aus
der Arbeit kommen, eher als er es ver‐
muten möchte, und wird ihn stark und
lastfrei machen zu neuem Beginn! ‒
*
49 Das Buch des Trostes
VOM TROSTE
DER TRAUERNDEN
.Hebe dein Haupt, du, der du trauerst
um einen Menschen, der deinem Herzen
teuer war und ist, und den du begraben
mußtest!
.Du Mutter, die ihr Kind verlor, du
Vater, dem der Sohn entrissen wurde,
als er dir schon Freund geworden war,
du, der des Vaters, der seiner Mutter
Sarg auf das Totenfeld geleiten mußte!
.Wohl dir, wenn jene Lehren, die man
einst als Kind dir gab, dir solchen Glau‐
ben schufen, daß er auch heute noch dich
halten kann!
.Man sagte dir, die Seele gehe ein zu
Gott in ihre Herrlichkeit, und selbst
der Erde Leib erfahre einstens seine Auf
erstehung...
.Wenn du solches glaubst: ‒ wie kann
ich dich dann in trostloser Trauer sehen!?
53 Das Buch des Trostes
.Ich fühle mit dir und weiß, was du ver‐
loren hast für dieses Erdenlebens Dauer.
.Du hast wahrhaftig Grund, zu klagen,
und ich weiß um deinen wehen Schmerz...
.Aber siehe: ‒ nach deines Glaubens
Lehre ist doch der Sieg des Todes dahin!
.Es ist doch nur kurze Trennung, die
du beweinst, und wenn du wahrhaft in
deinem Glauben stehst, dann wirst du zu‐
gleich in innerer Freude beben bei der
Vorstellung, daß dein Geliebtes nun von
allem Erdenleid befreit, in seliger Ver
klärung bei den Seligen lebt. ‒
.Wohl dir, wenn du wirklich so glaubst
und nichts dich an deinem Glauben je‐
mals irre werden lassen könnte!
.Gib dem Schmerz, was des Schmerzes ist,
und beweine immerhin, was du für dei‐
nes Lebens weitere Dauer hier auf dieser
Erde nicht mehr sehen, nicht mehr hören,
nicht mehr fühlen kannst! ‒
54 Das Buch des Trostes
.Du hast Grund, zu weinen, da du hier
zurückbleiben mußt, und nirgends mehr
findest du während dieses Erdenlebens, was
du liebst! ‒
.Aber wenn einst auch für dich dein
letzter Tag gekommen ist, dann ‒ sagt
dir dein Glaube ‒ wirst du wiedersehen,
was du verloren hattest für eine gewisse
Zeit, und dann wird der Freude kein
Ende sein...
.Wohl dir, wenn du noch solches glaubst!
.Deine Tränen werden in Bälde versie‐
gen, und du wirst allen Trost in deinem
Glauben finden!
.Ich fand aber viele, die da vorgaben,
solchen Glaubens zu sein, und doch sich
in ihrer Trauer nicht zu fassen wußten. ‒
.Ich fand viele, die mit den Lippen
glaubten und im Herzen fühlten, daß
sie solchen Glauben logen, weil es ein‐
mal das Herkommen wollte, daß man
55 Das Buch des Trostes
zu diesem Glauben sich äußerlich be‐
kenne. ‒
.Überviele aber fand ich, die längst
kein Hehl daraus machten, daß solcher
Glaube ihnen nichts weiter mehr sei als
eine fromme Mär. ‒
.Unter diesen fand ich die meisten,
die Trostkraft in sich selber vonnöten
hatten, und die auch Trost in sich zu fin
den wußten, wenn man ihnen die rechten
Wege wies...
Einmal sagte mir einer:
.„Ja, warum lehrt man uns nur diese
Dinge, die in sich die Wahrheit ber‐
gen, wie man die Kindermärchen
lehrt, so daß sie uns verloren gehen
müssen, wenn wir der Zeit entwach‐
sen sind, die uns an Märchen glauben
ließ?”
Ihm wußte ich zu sagen:
.„Ereifre dich nicht gegen jene, die dich
56 Das Buch des Trostes
einst lehrten, wie sie eben zu lehren
wußten, sondern sorge du selbst, daß
du anderes zu lehren weißt.”
.Wahrlich, die alten Glaubenslehren
können guten Trostgrund geben, und
wer noch an sie glauben kann, ist letzten
Endes gewiß nicht betrogen, auch wenn
die Vorstellungen, die sich solcher Glau‐
be schafft, nicht ganz der Wirklichkeit
entsprechen. ‒
.Sie lassen dennoch die Wahrheit ah
nen: ‒ zeigen, daß dieser Erde sterblicher
Leib nur zeitliche Ausdrucksform
eines Wesens war, das nicht von dieser
Erde ist, und darum auch jeweils nur so
lange faßbar bleibt für irdische Sinne,
solange es sich in sinnenfälliger Form
offenbart, die dieser Erde entstammt.
.Gewiß ist es töricht, wenn man den
Glauben nährt, als werde einstens ein
neuer Leib erstehen aus dem gleichen
57 Das Buch des Trostes
Stoffe, der den Erdensinnen faßbar ist,
allein auch diese Lehre birgt in sich die
Wahrheit: daß die bleibende geistige
Form des Menschen insofern seiner frü‐
heren irdischen Erscheinungsform ent‐
spricht, als es auf Erden schon das Gei
stige war, das der gegebenen Erdenform
seine eigenen Züge mehr oder weniger
einzuprägen wußte. ‒
.Auch ist es Wahrheit, daß sich die
hier auf Erden durch den Tod Getrenn‐
ten einstmals „wiedersehen” werden,
wobei sie sich in ihrer geistigen Form
viel sicherer erkennen, als etwa Menschen
in der Erde Leib, die einige Jahre lang
sich nicht gesehen haben.
.Von Grund aus irrig ist aber die Vor‐
stellung, als ziehe des Menschen Geistiges,
sobald es dieser Erde Leib verlassen hat,
nun in alle „Wonnen des Himmels
ein oder könne in einen Zustand ewiger,
58 Das Buch des Trostes
grauenhafter Qual verfallen, aus der ihm
keine Rettung mehr werde. ‒
.In dieser letzteren Vorstellung ist in‐
sofern eine Spur der Wahrheit enthalten,
als gänzlich vertierte, nur an Irdischem
haftende Naturen wohl Äonen in seeli‐
scher Finsternis verharren können, bevor
sie geeignet werden, seelisch-geistiges
Licht zu schauen.
.Jedoch auch hier ist das Gesetz des
Geistes, dessen Leben Liebe ist, unend‐
lich milder als die Unbarmherzigkeit des
Menschenurteils, und wer auf Erden Liebe
hinterlassen hat, kann nie und nimmer
solcher äonenlanger Umnachtung verfal‐
len, so fehlbar er auch war. ‒
.Ich habe in meinem „Buche vom Jen
seits” ausführlich von dem Zustande ge‐
sprochen, in dem sich des Menschen Gei‐
stiges nach seines Erdenkörpers Erkalten
findet, und dort, wie in vielen anderen
59 Das Buch des Trostes
meiner Bücher, habe ich auch dargelegt,
woher mir Gewißheit gegeben ist, über
diese Dinge zu sprechen.
.Es genüge, hier zu sagen, daß diese Ge‐
wißheit aus gesichertster Erfahrung
stammt, so töricht und vermessen es auch
Menschen dieser Zeit in der westlichen
Welt erscheinen mag, wenn man ihnen
sagt, daß es Menschen auf der Erde gibt,
die in solcher Hinsicht Erfahrung zu
machen fähig sind ‒ Erfahrung, die nur
sehr wenigen allerdings zugänglich ist. ‒
.Was aber den Zustand des Bewußtseins
anlangt, in dem ein von der Erde Abge
schiedener sich findet, so sei hier gesagt,
daß er zuerst nach seinem Erdentode er‐
wacht in einer niederen geistigen Region,
die dieser Erde noch sehr nahe ist.
.Ist er geistig durch sein Erdenleben be‐
reits bereitet, so verläßt er diese niedere
Region alsbald an der Hand von siche‐
ren Führern, die einst auf der Erde lebten
60 Das Buch des Trostes
wie er, oder auch niemals der Erde Leib
getragen haben.
.Auf seiner Höhenwanderung, die aller‐
dings nicht mehr mit dem Zeitbegriff der
Erde rechnet, begegnet er sodann auch
Helfern, die auf der Erde noch im Erden
leibe geistig wirken, dort in der geisti‐
gen Region aber in ihrer Geistesform
zugegen sind, und wird auch von ihnen
stets weitergeleitet, immer lichterem Er‐
kennen und Empfinden des geistigen
Lebens zu. ‒
.Dies ist der Weg des Menschengeistes,
der geistig sich während seines Erden
lebens in Liebe, Tat und Wirken an
sich selbst dazu geschult hat, auch seither
unbekannte Wirklichkeit in ihrem We‐
sen zu erkennen, und denen Folge zu
leisten, die allein ihn dort weiter
führen können. ‒
.Die allermeisten aber, die zu jeder Zeit
die Erde verlassen, finden sich jedoch ‒
61 Das Buch des Trostes
nachdem sie erfassen, daß sie gestaltet,
bewußt und handlungsfähig sind ‒
recht wohl in dem niederen geistigen
Zwischenreiche und suchen dort zu fin
den, was ihren Vorstellungen ent‐
spricht. ‒
.Da hier die Vorstellung, wie im Trau‐
me, als Wirklichkeit erscheint, so sind
sie benommen von ihrer selbstgeschaffe‐
nen Welt, und sie hören ebensowenig auf
die Stimme derer, die sie höher führen
könnten, wie etwa ein in tiefem Schlafe
Träumender oft nicht erwacht, auch wenn
Stimmen in seiner Nähe zu hören sind.
.Da auch der Geist des Schuldbewuß
ten immer Gründe kennt, die ihn vor sich
selber entschuldbar erscheinen lassen,
so wird er sehr bald mit Vorstellungen
fertig, die etwa zuerst seiner Furcht vor
ewiger „Strafe” oder quälender Läute
rung entsprachen, um nun ein „Him
melreich” zu schauen, in dem er alles
62 Das Buch des Trostes
genau so findet, wie es seiner Erden‐
vorstellung nach seinem Glauben ent‐
spricht. ‒
.Der aber ehemals glaubte, nach dem
Tode des Körpers sei sein Leben zu Ende,
erschafft sich auf gleiche Weise Vorstel‐
lungen erdenhaften Weiterlebens, und
jeder derer, die an solchen „Strandrei‐
chen” beteiligt sind, ist auf seine Art
glücklich, bis auch für ihn allmählich
das Erwachen kommt und er die gemein‐
sam mit anderen erträumte, scheinbare
Erfüllungswelt durchschaut, wie ein
auf Erden aus dem Schlaf der Nacht
Erwachter seinen allein geschaffenen
Traum. ‒
.Dann erst ist er reif, die Stimme des
Helfenden zu hören und seine Hand
zu ergreifen, um den Weg in die höhe
ren geistigen Welten anzutreten, in be‐
wußter Arbeit an sich selbst, von Stufe
zu Stufe, immer mehr dem wesenhaften
Lichte des Geistes zu, in der Liebe er‐
63 Das Buch des Trostes
starkend und von dem Urquell der
Liebe angezogen. ‒
.Hatte der Menschengeist, der sich auf
dieser Erde darstellen wollte, aber erst in
eines Kindes Körper Darstellung gefun‐
den, und war dieses Kind auch nur so lange
im Erdenleben, daß die Vereinigung des
Geistes mit den gegebenen Seelenato‐
men erfolgen konnte, dann ist er wohl
seiner selbst bewußt, entbehrt aber noch
der Fähigkeit, sich aus irdischen Erinne‐
rungsbildern eine Vorstellungswelt zu
schaffen, oder besitzt sie nur in so gerin‐
gem Maße, daß er dennoch verschont
davor bleibt, den bei Erwachsenen oft
sehr lange währenden Kollektivtraum
einer Scheinglückseligkeit zu träumen.
.Er wird dann sogleich von den geisti‐
gen Helfern gleichsam an die Hand ge‐
nommen und höhergeleitet, und wenn
er auch weit länger braucht, um seine
Stufen zu ersteigen, da ihm auf Erden
64 Das Buch des Trostes
gesammelte geistige Erfahrung fehlt, so
ist er dafür von Anfang an in der lich‐
ten Wahrheit und in der Hand der
sicheren Führer. ‒
.Ein „Wiedersehen” und Erkennen
kann erst erfolgen, wenn entweder die
„Strandreich”-Sphäre der erträumten
Erfüllung nie betreten worden war, es
sei denn als eilig zu durchwanderndes
Land, oder aber nachdem das Erwachen
aus solcher erträumter „Seligkeit” bereits
erfolgte und bewußt an der Hand des
Führers höhere geistige Welten betreten
wurden.
.Es ist dann jederzeit ein „Wieder‐
sehen” möglich zwischen allen, die sich
in ihren Erdentagen kannten oder auch
nur voneinander wußten, jedoch nur
insofern, als sie durch innere Sympathie
verbunden waren, mögen sie nun auch
auf sehr verschieden hohen Stufen ihrer
Entfaltung angelangt sein. ‒
65 Das Buch des Trostes
.Das Kind, das die Mutter hier in sei‐
nen frühen Tagen verlor, wird sich zu
erst ihr in der Erscheinung zeigen, in der
sie es kannte, und vor ihren Augen wird
es sodann sich wandeln in die Geist
form, die ihm dauernd bleibt...
.So wird jeder den anderen erst so er‐
blicken, wie es seiner Erdenerscheinung
entsprach, um dann ihn zu sehen in sei‐
ner bleibenden geistigen Erschei‐
nungsform, denn die Substanz, die das
geistige Bewußtsein trägt, schmiegt sich
jeder Vorstellung an, die das Bewußtsein
des Menschengeistes von sich haben kann,
so daß, um nur ein Beispiel zu nennen,
ein Mensch, der krüppelhaft auf Erden
geboren wurde, zuerst für die ihn Wie‐
dersehenden, die nur so ihn in der Vor
stellung tragen können, sich auch zeigt
in Form dieser Vorstellung, um sie, die
er wahrlich hinter sich gelassen wissen
will, sogleich wieder zu verlassen und sich
66 Das Buch des Trostes
als der Gleiche in seiner vollkommenen
Geistform zu zeigen. ‒
.All diese Dinge klingen wie die Schil‐
derungen der Märchenbücher und sind
dennoch so getreu der Wirklichkeit ent‐
sprechend, wie wenn ich hier eine Reihe
von irdischen Vorgängen zu schildern
hätte, die dir so vertraut sind, daß du so‐
fort sie wiedererkennen würdest. ‒
.Vielleicht darfst du dich fragen, ob nicht
so manche Märchenvorstellung hinauf
in des Menschen Urheimat weist, und
sei es auch nur, daß die Schöpfer des Mär‐
chens unbewußt sie erahnten...
.Du siehst aber, daß auch dir, der du
nicht mehr glauben wolltest, was man
dich in deiner Kindheit einstens lehrte,
die gleichen, ja weit sicherere Gründe
des Trostes gegeben sind wie denen, die
noch in dem Glauben ihrer Kinderzeit
Genüge finden! ‒
67 Das Buch des Trostes
.Du weißt, daß ich gewiß den Schmerz
um den Verlust der Gegenwart geliebter
Menschen in der irdischen Erscheinung
verstehe.
.Aber über diesen Schmerz hinaus ist
wahrhaftig kein Grund zur Trauer, auch
wenn die Heimgegangenen nach ihrem
Wechsel der Anschauungsform gewiß
nicht sofort in höchsten Geistesstufen
sich erleben, sondern dort in gleicher
Weise an sich selber noch zu wirken
haben, wie ein Mensch auf dieser Erde
an sich wirken muß, will er im Geistigen
erreichen, was auch schon während die‐
ses Erdenlebens sich erreichen läßt, da‐
von dir alle meine Bücher Kunde bringen.
.Überdies bist du von deinen Lieben, die
den Erdenkörper hier verlassen mußten,
keineswegs geistig getrennt!
.In dir selbst ‒ in deinem eigenen
Geistigen ‒ bleibst du mit ihnen ver
bunden, und wenn du lernen willst, zu
68 Das Buch des Trostes
lauschen in dein Allerinnerstes, dann
wird dir mehr und mehr Gewißheit
werden, daß du mit ihnen noch in geisti
ger Verbindung bist...
.Hüte dich aber vor allen Versuchen,
die Geschiedenen in das Reich der Sicht
barkeit dieser Erde ‒ in den Bereich
der äußeren Sinne rufen zu wollen!
.Sie selbst kannst du nicht rufen!
.Sie sind dir, auch wenn du alle Be‐
schwörungsformeln törichter Nekroman‐
ten alter Zeiten kennen würdest, weit
entrückt für deine Sinne.
.Was du aber rufen könntest, würde
dich nur zum Narren eines Gaukel
spiels werden lassen, und wäre dir außer‐
dem schadenbringend an deines Kör
pers und deiner Seele besten Kräften. ‒
.Du wirst auch über diese Dinge vieles
69 Das Buch des Trostes
in ausführlicher Weise in meinen ande‐
ren Büchern nachlesen können, auf die
ich hier mich beziehen muß, will ich nicht
alles bereits Gesagte wiederholen.
.Wie du wahrhaften Trost in dir findest,
habe ich dir gezeigt.
.Nun kehre dich von deiner Trauer um
die Heimgegangenen!
.Sie haben ihren Weg jetzt zu durch‐
schreiten, wie du den deinen! ‒
.Erhebe dich zu neuem Beginnen, und
wenn du so auf den Weg zum Geiste
finden willst, dann wird auch dir hier
auf dieser Erde unsichtbare hohe Hilfe
nahe sein: ‒ die gleiche Hilfe, die auch
deine Heimgekehrten nun zum Lichte
leitet. ‒
.Vor allem aber trage Sorge, daß man
dich stetig in der Liebe finde!
.Nur, die in der Liebe sind, können
Führung finden hier wie dort, und erst
70 Das Buch des Trostes
wenn das Traumreich selbstischer
Wünsche dich verläßt, wirst du in die
Liebe gelangen, die alles Trostes hehrste
Quelle ist! ‒
71 Das Buch des Trostes
ENDE
DER WEG
MEINER SCHÜLER
Verlagslogo
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASEL-LEIPZIG 1932
COPYRIGHT BY
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASLE 1932
BUCHDRUCKEREI WERNER-RIEHM IN BASEL
INHALT Seite
Wer mir als Schüler gilt 7
Notwendige Unterscheidung 27
Unnötige Selbstquälerei 51
Unvermeidliche Schwierigkeiten 69
Dynamischer Glaube 93
Das ärgste Hindernis 107
Der Schüler und seine Gefährten 121
Innenleben und Außenwelt 145
Wie meine Bücher gebraucht werden wollen 177
Originalscan
„Daß wir solche Dinge lehren,
Möge man uns nicht bestrafen:
Wie das alles zu erklären,
Dürft ihr euer Tiefstes fragen.”
Goethe
(„Höheres und Höchstes”)
I Der Weg meiner Schüler
WER MIR ALS SCHÜLER GILT
.Daß ich gewiß nicht alle, die sich so
nennen, als meine Schüler anerkennen
kann, soll denen nicht zum Hemmnis
werden, die sich wirklich in Tat und Ver‐
halten als meine Schüler erwiesen haben,
oder bereit sind, sich als wahre geistige
Schüler zu bewähren.
.Jeder Mensch ist sein eigener Richter!
.Ein Richter über sich selbst, gegen
dessen Wahrspruch es in aller Ewigkeit
keine „Berufung” gibt!
.Und sein Urteil ist nicht eine Rechts‐
findung im Denken, sondern Rechts‐
bestätigung durch Tat!
.Jeder bestimmt sich selbst durch sein
eigenes Verhalten, so, daß er nichts Anderes
9 Der Weg meiner Schüler
zu sein vermag, als eben das, wozu ihn
dieses Verhalten fähig zeigt.
.Die äußere Geste, oder eine Selbstbe‐
zeichnung, kann zwar das eigene Urteils‐
vermögen betören und die Nebenmenschen
täuschen, aber an der durch das eigene Tun
bestimmten Stellung im substantiellen gei‐
stigen Leben nicht das mindeste ändern.
.Wer mir wirklich Schüler ist, weiß es,
weil er sich handeln weiß, wie mein
Lehren Alle handeln heißt.
.Er braucht nicht meine ausdrückliche
Anerkennung, weil sein Tun ihm mit aller
Sicherheit sagt, ob ich ihn den Meinen zu‐
zählen kann, oder nicht.
.Ich kann keinen Menschen der Welt zu
meinem wirklich mit mir im Urlichtgeist
verbundenen Schüler machen, der es nicht
durch sein Denken, Empfinden, Wollen,
Reden und Handeln von sich aus ist!
10 Der Weg meiner Schüler
.Ob einer meiner Schüler mich persönlich
kennt, ist das Allerunwesentlichste für ihn.
.Der vergängliche, mängelreiche, sich selbst
in allerlei Pein erleidende Körpermensch,
als der ich im Irdischen wese, ist mir für
diese Sichtbarkeit nichts anderes, als was
der sichtbare Uhrzeiger ist für das ver‐
borgene Werk der Uhr.
.Mit der von mir dargebotenen Lehre
hat er nur als Mittler zu schaffen.
.Es ist auch gänzlich bedeutungslos, und
bringt mir keinen Menschen in Schüler‐
nähe, daß einer etwa von sich, auf peinlich
konventikelmäßige Weise, sagt: er „stehe
in der Lehre”, weil er sich so ziemlich alles
gemerkt” hat, was in meinen Schriften
steht.
.Solange das aus meinen Worten Auf‐
genommene nur Gehirnbesitz bleibt,
11 Der Weg meiner Schüler
wird es auch nur so lang Besitz sein, als
das Gehirn es „behalten” kann.
.Nichts davon geht in die Dauer ein!
.Nur was umgesetzt wurde in Wirken
und Lebensform, bleibt für die Dauer
erhalten: ‒ dann, wenn kein Atom des
Gehirns mehr in der gleichen Form be‐
steht, die voreinst nötig war, das von mir
Übernommene aufzugreifen. ‒
.Mein Schüler zu sein, ist keine Folge
einer Art Auszeichnung, die ich etwa
zu „verleihen” hätte.
.Mein Schüler ist jeder Mensch der sich
in die von mir dargebrachten Lehren ver
tieft, und sich vor sich selbst ver‐
pflichtet: soweit es ihm möglich ist, sein
eigenes Leben fortan nach den Konse‐
quenzen einzurichten, die sich aus meinen
Lehren dem logisch Folgernden ergeben.
.Mit mir hat das nur insofern etwas zu
tun, als ich der sprachliche Former der
12 Der Weg meiner Schüler
Mitteilungen eigener Erfahrung, und der
Ausleger uralter Lehren wurde, deren Wahr‐
heit ich erproben durfte.
.Es handelt sich hier freilich um Er‐
fahrungsbezirke, die keinem meiner Mit‐
menschen auf der westlichen Seite des Erd‐
balls zugänglich sind, ‒ auf der anderen
Seite aber auch nur verschwindend Wenigen,
von denen keiner die Aufgabe hat, Mit‐
teilungen an die Öffentlichkeit gelangen
zu lassen.
.Ich kann es einem meiner Schüler kaum
verbieten, mich seinen „Meister” zu nennen,
nachdem bekannt ist, daß man in den
Ländern des Sonnenaufgangs Menschen
meiner Art, wie überhaupt jeden geistigen
Lehrer, mit Worten bezeichnet, die diesem
Begriff am nächsten kommen, ‒ ja ich
könnte hier wirklich auf geistig begründete
„Berechtigung” verweisen, ‒ aber ich sehe
in diesen Bezeichnungen nur dann Sinn
13 Der Weg meiner Schüler
und Wert, wenn der sie Gebrauchende der‐
gleichen Worte mit seinem Wissen um die
damit bezeichnete Wirklichkeit zu er‐
füllen vermag.
.Da das aber nur den Allerwenigsten
möglich wird, bitte ich immer wieder da‐
rum, die Bezeichnung „Meister” zu unter
lassen, denn keinesfalls tritt man durch die
Bezeichnung oder Anrede mit der man mich
benennt, in ein Verhältnis der Schüler‐
schaft zu mir.
.Es ist keine geringe Torheit, wenn man
eine über alles Erdendasein weit hinaus‐
wirkende, rein geistige Beziehung, von
irgend einer äußeren Anerkennungs-Be‐
zeugung abhängig glaubt!
.Eine nicht ganz richtige Auffassung
meiner geistigen Lehrtätigkeit verrät sich
auch dadurch, daß man, in der an sich
lieben Absicht, eine Freude zu bringen, es
sich nicht versagen zu dürfen meint, mir
14 Der Weg meiner Schüler
jede Zeitungsbesprechung, deren Urheber
Gutes über meine Bücher zu sagen hat,
beglückt zuzusenden, während man mir
wahre Kondolenzbriefe schreibt, wenn irgend
ein namenloser Hinterwäldler in einem
Bierbankblättchen, dessen Liebhaber ganz
gewiß niemals als Schüler meiner Lehren
in Betracht kommen können, sich sein gutes
Recht auf knabenhafte Ungezogenheit nicht
nehmen läßt, das er braucht, will er seinen
Lesern etwas gelten.
.Ich betrachte im allgemeinen die Bücher‐
besprechungen gutgeleiteter Zeitschriften
und Tageszeitungen mit aller nur wünsch‐
baren Ehrerbietung, die man der Meinungs‐
äußerung eines Mitmenschen, der selbst
etwas zu sagen hat, unbedingt schuldet.
.Es ist ja auch meistens am ersten Satz
schon zu sehen, „wes Geistes Kind” der
Rezensent ist, und welchen Grad der Be‐
achtung seine Meinungsäußerung verdient,
auch wenn man nicht schon sein Signum
oder seinen Namen kennt.
15 Der Weg meiner Schüler
.Würde ich rein dichterische Werke
schaffen, oder wissenschaftliche Bücher
schreiben, dann wären mir die Besprech‐
ungen meiner Bücher schon deshalb recht
wichtig, weil ich mich verpflichtet fühlen
würde, die Widerspiegelung meiner Arbeit
im Urteil urteilsreifer Mitmenschen darauf‐
hin zu untersuchen, ob und wie sie meinem
ferneren Schaffen nutzbar zu machen sei.
.Da ich aber nicht als Dichter und nicht
als Vertreter einer Wissenschaft oder einer
Religionsgemeinde vor der Öffentlichkeit
stehe, sondern nur aus Ergebnissen meiner
individuellen Erfahrungen, und aus einer
mir gewordenen Möglichkeit der Wahr‐
nehmung, die heute in Europa kein ande‐
rer Mensch besitzt, meine Lehrtexte forme,
so hat auch der wohlwollendste Rezensent
es nicht leicht mit dem, was ich schreiben
muß, und mir kann sein Urteil wenig
helfen, wenn seine Besprechung der Bücher
auch sehr viel dazu beitragen kann, daß
16 Der Weg meiner Schüler
sie in die Hände derer kommen, die sie
nötig haben und bisher noch suchen.
.Ich glaube aber, daß gerade die vielen
ernst zu nehmenden Rezensenten, denen
meine Bücher auf solche Weise ihre Ver‐
breitung mit zu verdanken haben, am
ehesten verstehen werden, daß mein Lehr‐
werk erst dann beurteilt werden kann,
wenn der Urteilende bereits begonnen
hat, nach meinen Anweisungen zu
handeln.
.Von ganz abwegigen Einordnungen
meiner Schriften oder meiner Person lohnt
sich im übrigen nicht zu reden, wenn mir
auch abseits der Öffentlichkeit immer
noch Seltsames genug begegnet: bald in
drolligster Verkleidung, bald mit anmaß‐
licher Gebärde, ‒ in manchen der vielen
Briefe, die ich niemals beantworten
kann.
17 Der Weg meiner Schüler
.Hier dürfte nun wohl der Ort sein,
ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß ich
auch meinen wirklich echten und erprobten
Schülern gegenüber unmöglich die Ver‐
pflichtung zu brieflichem Austausch ein‐
gehen könnte, so daß die Nichtbeantwortung
an mich gerichteter Briefe niemals so
aufgefaßt werden darf, als wolle ich nach
dem bekannten Sprichwort: „Keine Ant‐
wort ist auch eine Antwort”, etwa meiner
Beurteilung des an mich gelangten Briefes,
oder gar seines Schreibers, Ausdruck geben.
.Ein Brief kann mich leidenschaftlich
interessieren oder zu brennendem Mitfühlen
zwingen, ‒ ich kann sehr vieles zu seinem
Inhalt zu sagen haben, ‒ und muß mir
doch die Antwort darauf verbieten, weil
sich der gegebene Umkreis meiner Korre‐
spondenz schon längst nicht mehr erweitern
läßt, ‒ ja nicht einmal aufrecht erhalten
werden kann, wenn ich meine wesentlichen
Lebensaufgaben nicht schädigen soll durch
18 Der Weg meiner Schüler
Zersplitterung von Kräften, die nach inner‐
ster Konzentration verlangen. ‒
.Das wissen und beachten meine nächsten
Schüler aus eigener Erwägung, aber auch
fernerstehende zeigen die gleiche Einsicht,
was sich aus den zahlreichen Briefen ergibt,
die nur als herzwarmer Gruß genommen
werden wollen, so daß die Absender zu‐
meist nicht einmal ihre Adresse erwähnen.
.Ihnen allen sei an dieser Stelle mein
besonderer Dank gesagt!
.Deutlichst muß ich hingegen einer Auf‐
fassung der Pflichten des Schülers entgegen‐
treten, die sich leider da und dort, auch
bei im übrigen recht bewunderungswür‐
digen und weit vorangeschrittenen Schülern,
findet! ‒
.Ich meine hier das Bestreben, Pro
selyten machen zu wollen: ‒ das Be‐
streben, für die Aufnahme der von mir
vertretenen Lehren eine Art „Missions‐
19 Der Weg meiner Schüler
tätigkeit” zu entfalten, und sich als „Apo‐
stel” der von mir gegebenen Lehren aus‐
zuzeichnen.
.Nichts kann mir fataler sein, und nichts
steht der ruhig würdigenden, nüchternen
Aufnahme dessen, was ich zu sagen habe,
mehr im Wege, ‒ ja, nichts hat bisher
mein Wirken auch nur annähernd so sehr
gehemmt, ‒ als solcher irrende Eifer ge‐
treuer Schüler!
.Ich verstehe wahrhaftig die gute Absicht,
und kenne auch gewiß alle Erwägungen,
die zu derart unlöblichem Übereifer ver‐
führen, aber ich kann solchem ungedul‐
digen Verkündigungswillen leider die bittere
Wahrheit nicht vorenthalten: ‒ daß er
weit mehr Menschen von einer vorurteils‐
losen Beschäftigung mit dem Inhalt meiner
Bücher abschreckt, als er jemals zu ihr
hinzuführen vermag. ‒
.Außerdem offenbart sich in dieser Un‐
geduld stets eine kleine, wenn auch ver‐
20 Der Weg meiner Schüler
zeihliche Überschätzung der eigenen Kraft,
zu überzeugen, und zugleich eine arge
Unterschätzung der urgeistigen Gewalten,
von denen allein die Auswirkung meiner
Lebensaufgabe abhängig ist.
.Deutlich zeigt mir die Erfahrung, daß
unter allen Menschen, die ich heute als
meine wirklichen geistigen Schüler an‐
erkennen kann, nur ein ganz winziges
Häuflein solcher ist, die zuerst durch einen
„missionierenden” Schüler von meinen
Büchern hörten. Zu allen anderen sind
die Bücher selbst auf irgend eine Weise
gekommen”, ‒ mochte es auch auf selt‐
samsten Wegen geschehen, und sich zuweilen
um recht robuste Menschen handeln, denen
jede Absicht fehlte, Geistiges aufzunehmen.
.Manche meiner Schüler sehen offenbar
achtlos über den Unterschied hinweg, der
zwischen ihrer so gut gemeinten Missio‐
nierungsarbeit und der kaufmännisch
21 Der Weg meiner Schüler
geforderten Verlagswerbearbeit be‐
steht. ‒
.Hier aber handelt es sich um Wesent
liches!
.Während bei aller persönlichen Einzel‐
werbung immer die willkürliche Auswahl
der Umworbenen durch den Werber im
Vordergrund steht, bringt der Verleger
seine Werbung vor die allgemeine Öffent‐
lichkeit, und überläßt es der geistigen
Führung eines jeden Einzelnen, wem sie
die Bücher bereits zuführen will, und wem
nicht.
.Alle Verlagswerbearbeit geht von der
Überzeugung aus, daß es unzählige Men‐
schen gibt, die meine Bücher dringend
brauchen könnten, aber noch nichts von
ihnen wissen. Der Verlag richtet seine
Werbung an jeden Leser seiner Propaganda,
und hütet sich, irgend eine Auswahl treffen
zu wollen. Die Auswahl Derer, denen
meine Bücher durch Verlagswerbearbeit
22 Der Weg meiner Schüler
nahekommen, bleibt geistig gelenkter
Seelensichtung anheimgegeben, die sich
niemals irrt.
.Demgegenüber ist auch die bestgemeinte
private Einzelwerbung ‒ bis auf seltene
Sonderfälle ‒ ein recht grober Eingriff in
die seelische Rechte-Sphäre des Neben‐
menschen.
.Ein solcher unerbetener und zumeist
unzeitiger Eingriff kann dazu führen, daß
der so voreilig bearbeitete Mensch, dem
meine Bücher vielleicht noch durchaus nicht
gelegen kommen, obwohl mein eifriger
Schüler darüber anders dachte, ‒ nun eine
wahre Abneigung gegen das ihm so dring‐
lich Empfohlene faßt, zumal es ja auch
zahlreiche Leute gibt, die nur das gelten
lassen, was sie selber für sich gefunden
haben.
.Möglicherweise aber ‒ hätte der nun
Abgeschreckte in wenigen Tagen oder
23 Der Weg meiner Schüler
Wochen von sich aus meine Bücher ent
deckt, die er jetzt, durch den Übereifer
meines Schülers veranlaßt, geflissentlich
von sich fern hält, ‒ bis er, vielleicht
dann erst nach Jahren, endlich in der ihm
gemäßen Weise zu ihnen hinfindet.
.Ich kann mich leider auf zahlreiche
Fälle berufen, in denen allzueifrige Schüler
versucht hatten, andere Menschen für meine
Schriften zu gewinnen, und nur heftigste
Abwehr erzielten, bis endlich die auf solche
Weise Behinderten doch zu mir hinfanden,
wonach sie mir dann Bericht von ihrem
vorherigen Ergehen gaben.
.Wer also in diesen Dingen richtig han‐
deln will, der überlasse es den geistigen
Mächten, in deren Obhut meine Bücher
stehen, wem sie zugeleitet werden sollen.
.Das heißt durchaus nicht, daß es etwa
schon vermieden werden müsse, von den
Büchern auch nur zu reden! Ich will
24 Der Weg meiner Schüler
nichts anderes vermieden sehen, als das
missionierende „Bearbeiten” und „Über‐
reden” Anderer!
.Da es aber zumeist sehr bewährte
Schüler sind, die sich gedrängt fühlen, nun
auch bei Anderen für das einzutreten, was
ihnen selbst Licht und Erleuchtung brachte,
so sehe ich diesen Hinweis ganz besonders
am Platz.
.Zugleich muß ich hier schon jeden
meiner Schüler davor warnen, allzuviel
von sich selbst oder seinen ihm bekannten
Mitschülern zu verlangen.
.Ich habe den Weg, auf dem der Schüler
zum substantiellen Geiste und damit in
das sichere Bewußtwerden der eigenen
Geisteszugehörigkeit gelangt, als arbeitsamer
Wegewärter, von sehr vielen Hemmnissen
freigelegt, die ehedem fast übermenschliche
Anstrengung verlangten, um überwunden
zu werden.
25 Der Weg meiner Schüler
.Ich bin aber außerstande, auch alle
Steigungen, die nur mit Ausdauer zu
bezwingen sind, aus dem Wege zu räumen,
denn der Weg führt seit Urzeittagen her
über gewachsenen Fels!
.Keinem meiner Schüler kann ich die
Mühe des Steigens ersparen, ‒ keinen
kann ich auf meinen Schultern zum Gipfel
tragen!
.Es wird aber jeder steile Anstieg am
ehesten überwunden, wenn der Wanderer
nicht hetzt und drängt, sondern seine Kräfte
stets solcherart in weiser Mäßigung zu ge‐
brauchen weiß, daß er niemals eine Beute
der Übermüdung werden kann. ‒
.Ruhige Zuversicht und wacher Glaube
an seine eigene Kraft, bringen den Stre‐
benden viel eher seinem hohen Ziele nah,
als alle Willensverkrampfung, zu der sich
der Ungeduldige so leicht verleitet sieht!
26 Der Weg meiner Schüler
NOTWENDIGE UNTERSCHEIDUNG
.Was ich unter „Geist” verstanden
wissen will, dürfte in allen meinen Büchern
klar erkennbar sein.
.Da aber im alltäglichen Sprachgebrauch,
und selbst in der Terminologie der Ge‐
lehrten, das gleiche Wort auch als Bezeich‐
nung für die Funktionen des menschlichen
Gehirns, und ihre Resultate, gebraucht
wird, so sehe ich immer wieder den oder
jenen meiner Schüler das Wort: „Geist”,
wo es ihm in meinen Büchern begegnet,
gewohnheitsmäßig mißdeuten.
.Das ist gewiß nicht verwunderlich, da
man ja im Alltag doch von „geistiger” Ar‐
beit, „geistiger” Ermüdung, „geistvoller”
Diktion, „geistreichen” Bemerkungen, „gei‐
29 Der Weg meiner Schüler
stiger” Frische, wie auch von „geistiger”
Umnachtung spricht, und bald den solcher
art gemeinten „Geist” auf den höchsten
Thron erhebt, bald ihm, zu Gunsten der
Seele, den Krieg erklärt.
.Was aber da mit dem Worte „Geist”
bezeichnet wird, ist Gehirnarbeit, ‒ ist
Äußerung angeborener und durch stete
Übung vervollkommneter Gehirnfunk
tion, ‒ Zeugnis besonders rascher Arbeit
des Gehirns, oder seiner anhaltenden Lei
stungsenergie, wie andererseits das, was
man „Geisteskrankheiten” nennt, Ge
hirn-Krankheiten sind, mögen diese Er‐
krankungen durch erkennbare physische
Ursachen, oder durch Einwirkungen okkul
ter Art entstanden sein.
.Es ist nur ein Zeichen der eigenen
Geistferne, daß der aus dem bewußten Sein
des substantiellen Geistes „gefallene” Erden‐
mensch die Manifestationen seines Gehirns
als etwas „Geistiges” empfindet, so daß man
30 Der Weg meiner Schüler
von einem „regen Geiste” spricht, wenn man
ein regsames Gehirn meint.
.Nur dort, wo das Wort „Geist” ein
normalerweise unsichtbares, entkörpertes
Einzelwesen: eine „Erscheinung aus dem
Jenseits”, bezeichnen soll, flimmert noch
der letzte, vom Dunkel fast aufgesogene
Strahl eines Urerlebens substantiellen
„Geistes” auf, mögen auch die Vorstellungs‐
bilder, die sich der Erdenmensch schuf, um
sich Unsichtbares faßlich zu gestalten, mit‐
unter recht phantastisch-schauerlich-groteske,
abgeschmackte Formen zeigen.
.Hingegen wird in den Bezirken europäi‐
sierter Religionen zwar sehr viel vom Geiste
gesprochen, ‒ hört man aber auf der
Worte wirklich erfühlten Ton, so gewahrt
man alsbald, daß auch dann nur eine sub‐
tilere Art der Gehirnfunktion als „Geist”
bezeichnet wird, wenn vom Geiste der Ewig
keit, vom Geiste Gottes, vom „heiligen
Geiste die Rede ist.
31 Der Weg meiner Schüler
.Gott ist zwar Geist, und „die ihn
anbeten” sollen ihn „im Geiste” und somit
in „Wahrheit” anbeten, aber unter diesem
Geiste, der Gott ist, wird nur eine, der
menschlichen Gehirnerfahrung analoge, ins
Gigantische gesteigerte gehirnmäßige Be‐
wußtheit verstanden, und das Anbeten im
Geiste wird nicht viel anders, als ein An‐
beten in Gedanken aufgefaßt.
.Vom substantiellen ewigen Geiste,
als dessen durchleuchtende Strahlung uns
Gott allein in uns lebendig erfahrbar
werden kann, hat man keine Ahnung.
.Kein Wunder, wenn sich Kampfstimmen
erheben gegen die Suprematie des in so
vielerlei verdächtigen Farben schillernden
„Geistes” der Gehirne!
.Kein Wunder, wenn man der Seele
Rechte ihm gegenüber zu verteidigen sucht!
32 Der Weg meiner Schüler
.Impuls zu solchem Kampfe gibt die er‐
fühlte Gewißheit, daß der irdische „Geist”
der Gehirne unmöglich das höchste uns
innerlich erlebbare Gut sein kann.
.Mit „hellfühlenden” inneren Sinnen
tastet man sich der Seele zu, in deren
Äußerungen eine Kraft erspürt wird, die
dem Gehirnwissen um sich selbst unendlich
weit überlegen ist.
.Man muß, notgedrungen, das Wort des
Paulus verwerfen, daß der Geist alles durch‐
dringe, selbst „die Tiefen der Gottheit”,
‒ solange man bei diesem Ausspruch an
„Geist” denkt, der nichts anderes ist, als
Resultat der Gehirnzellenbewegung. ‒
.Daß hier jedoch vom substantiellen, das
Gehirn aus sich erst schaffenden, in
keiner Weise gehirnabhängigen, ewigen
Geiste die Rede geht, ist leider längst Ge‐
heimnis geworden...
33 Der Weg meiner Schüler
.Immer differenzierteren Denkaufgaben
hat sich der Erdenmensch zugewandt, stets
im Banne des Irrglaubens, daß sein gehirn‐
bedingtes Denken „Geist” sei vom Geiste
der Ewigkeit, ‒ und nur in Seltenen konnte
sich noch eine leise Ahnung erhalten, daß
Erkenntnis möglich sein müsse, die niemals
durch Gehirnarbeit erreichbar werden könne,
‒ Erkenntnis aus dem wirklichen Erleben
des Geistes, ‒ nicht aus verstandesmäßigem
Folgern, Erschließen und Erspüren.
.Wie man aber zu dieser geahnten Er‐
kenntnis gelange, wußte kaum einer zu
sagen, obwohl es nicht an Zeugnissen fehlte,
daß solches möglich sei.
.Möglich ist es aber zu allen Zeiten nur de‐
nen geworden, die „in den Geist” gelangten:
in” den substantiellen, aus sich selbst
lebendigen, unzerstörbaren, unveränder‐
lichen Geist der Ewigkeit!
34 Der Weg meiner Schüler
.Dieser „Geist” ist ebensowenig im ge‐
hirnlichen Denken, wie mit irdisch‐
tierischen Sinnen zu fassen.
.Wir müssen „in” ihm sein, wenn wir
in ihm erkennen, ergründen, erforschen
wollen, und wir können in ihn gelangen,
weil wir ‒ auch physisch ‒ von ihm durch
lebt werden: ‒ weil er in uns „lebt”,
auch wenn wir noch nicht in ihm zu leben
vermögen...
.Niemals aber können wir mit Hilfe
irgend einer Art Gehirntätigkeit „in den
Geist” kommen!
.Es handelt sich ja um ein Geschehen,
und nicht um ein Erdenken oder Vorstellen!
.Dieses Geschehen kann zwar vom Gehirn
„registriert” und dann als gesichertes Faktum
ins Denken einbezogen, aber unmöglich
durch das Gehirn herbeigeführt werden.
35 Der Weg meiner Schüler
.Wie man dahin gelangt, es zu erleben,
zeige ich in meinen Büchern.
.Nur um das hier Nötige aufzuzeigen,
habe ich sie geschrieben! Wahrlich: mit
meinem Herzblut geschrieben!
.Da es aber viele Möglichkeiten gibt,
das hier gemeinte Geschehen auszulösen,
so zeige ich auch die Besonderheiten der
einzelnen, individuell verschiedenen For
men, den Weg zu durchschreiten, der zum
Ziele führt.
.Dem Aufzeigen des Weges, so, daß jeder
Einzelne, der ihn beschreiten will, mit
wenig Mühe, die seinen Befähigungen ent‐
sprechende Form, ihn zu bewältigen, finden
kann, dient jedes Wort, das ich geschrieben
habe, auch wenn ich nicht nur den Weg
abstecke, sondern zugleich manchen Aus
blick schaffe, der sich von gewissen Weg‐
stationen, oder vom Endziel des nur so
Wenigen bekannten Weges her ergibt.
36 Der Weg meiner Schüler
.Es ist ein nicht ganz unbedenklicher
Irrtum, wenn manche Leser meiner Schriften
glauben, ihre Fähigkeiten seien unbe
grenzt, so daß es in des Einzelnen Belieben
stünde, in dieser und jener, von mir ge‐
wiesenen Form, oder auch in allen zugleich
den Weg zu beschreiten.
.Jeder Mensch bringt eine andere Ver‐
anlagung mit auf diese Erde, jeder wird
dann, von Jugend auf, durch Menschen und
Verhältnisse, durch Erfahrungen, wie durch
eigene und fremde Vorstellungsbilder be‐
stimmt, so daß sich aus alledem auch ergibt,
nach welcher Form er den Weg beschreiten
muß, will er „in den Geist” gelangen.
.Ich glaube deutlich genug in meinen
Büchern zu zeigen, was jeweils der einen,
und was wieder einer anderen Form Be‐
dingnisse sind.
.Menschen meiner Art, die, ebenso wie
ich, die verschiedenen Formen, den Weg
zu durchschreiten, kennen, aber in der
37 Der Weg meiner Schüler
unerbittlichen, uns „grausam” erscheinen‐
den Zucht östlicher Weisheitslehrer auf‐
gewachsen sind, empfinden den Inhalt meiner
Schriften als „allzu leicht verstehbar” da
sie der Ansicht sind, der Weg, in den
Geist zu kommen, könne gar nicht genug
mit Hindernissen verbaut werden, weil nur
der des Zieles würdig sei, der sich auch
durch das furchtbarste Hindernis nicht ab‐
schrecken lasse.
.Ebenso dachten die echten Eingeweihten
antiker „Mysterien” in China, Indien,
Babylonien, Persien, Aegypten, Griechen‐
land und Rom, soweit es sich noch um
ein wirkliches Wissen der gleichen Gescheh‐
nismöglichkeiten handelte, von denen in
meinen Büchern gesprochen wird.
.Man darf mir aber, trotz alledem, nicht
zutrauen, daß ich so „deutlich” wurde, wie
ich es in meinen Texten bin, ohne ver‐
antwortungsgültige Gründe dafür zu haben!
38 Der Weg meiner Schüler
.Wohl lag hier die Entscheidung nur
bei mir, aber ich wußte zugleich, weshalb
sie gerade mir anheimgestellt blieb.
.Ich bin weder ein Mensch der Antike,
noch ein Asiate, obwohl ich, zeitlich wie
räumlich, beide Lebenskreise geistsub
stantiell in den meinen einbezogen finde,
‒ aber als Europäer des nach der christ‐
lichen Zeitrechnung zwanzigsten Jahrhun‐
derts, weiß ich leider um die Ungeduld,
als Charakteristikum der Menschheit meiner
Zeit, und weiß damit auch, daß nur recht
Wenige der gleichzeitig Lebenden Hoffnung
hegen dürften, aus meinem Lehrwerk Nutzen
zu ziehen, wollte ich in meinen Lehrworten
eine geheimnisverbündete Sprache sprechen,
und möglichst verbarrikadieren, was ich
allen zugänglich machen möchte.
.Wohl aber handelt es sich in all meinem
Schriftwerk um Dinge, die sich gewiß nicht
willig der Sprache ergeben.
39 Der Weg meiner Schüler
.Was ich zu sagen habe, mag sich nicht
gerne in Worte einfangen lassen.
.Auch habe ich es nicht etwa mit einer
genügend vorbereiteten Leserschaft zu
tun, denn bei aller Vulgarisierung jeglichen
Wissens um vergangene oder westferne
Kulturkreise, weiß man doch selbst unter
den hier in Betracht kommenden Gelehrten
nicht um die Merkmale, die innerhalb solcher
Wissensgebiete Aberglaube von echter Wirk
lichkeitserkenntnis abscheiden könnten.
.Um diese Merkmale können nur Men‐
schen wissen, die bereits „in den Geist”
gefunden haben und somit „aus dem
Geiste” zu erkennen vermögen.
.Aber für solche Menschen schreibe ich
nicht, und sie können meine Mitteilungen
leicht entbehren.
.Wer jedoch mein Schüler sein will,
weil es ihm darum geht, in seiner ihm
40 Der Weg meiner Schüler
wesenseigenen Weise den Weg „in den
Geist” zu finden, der wird gut tun, wenn
er die verschiedenen Formen, wie dieser
Weg zu erwandern ist, nicht willkürlich
untereinander vermengt, sondern sich
aussucht, was ihn besonders anspricht, wo‐
nach er dann unbesorgt die anderen von
mir aufgezeigten Möglichkeiten auf sich
beruhen lassen kann.
.Ich gebe nicht Kunde vom substantiellen
Geiste, um eine harte Lehre aufzustellen,
der nur die Härtesten zu folgen vermöchten.
.Ich zeige aus dem Geiste der die Liebe
ist, die Weise der Liebe und allewig un‐
erschöpfbaren Barmherzigkeit: ‒ den Weg
des sich selbst verströmenden Erbarmens.
.Ich weise nicht nur den Weg, sondern
gebe auch seine Merkmale an, soweit der
Suchende sie kennen muß.
.Jeder kann die ihm am leichtesten
faßbare Wegmarke sich merken, und soll
41 Der Weg meiner Schüler
sich dann nicht beirren lassen durch die
Zeichen, denen andere Sucher besser zu
folgen vermögen.
.Was ich in meinen Schriften mit dem
Worte „Geist” bezeichne, läßt sich irdisch
Bekanntem nicht vergleichen.
.Es ist die wesensgemäßeste Darstel‐
lungsform für das Ur-Sein aus dem alles
Dasein ausgeht, ‒ von dem alles Dasein
Leben” empfängt, solange es bestehen
bleibt in seiner jeweiligen Eigenform.
.Wenn ich sage: es ist wie freie, unfaß‐
bar hochgespannte Elektrizität, die jeden
in ihr Kraftfeld gebrachten Körper durch
dringt, und je nach seiner Eignung sich
in ihm manifestiert, ‒ so ist das gewiß
kein Vergleich, wohl aber doch ein brauch‐
bares Bild, das Irrtum verhüten helfen
kann.
.Wir tragen ein Erlebnisvermögen für
dieses Ur-Seiende in uns, aber ohne unser
42 Der Weg meiner Schüler
bewußtes Mitwirken vermag auch keine
„Gnade” das hier gemeinte Vermögen so
zu entfalten, daß es uns die ihm zugäng‐
liche Welt des wesenhaften substantiellen
Geistes zu offenbaren imstande ist.
.Diese Welt des urewigen Geistes, die
wieder unzählige Einzelwelten in sich faßt,
ist kein unwandelbar Starres, kein unge‐
ordnetes Chaos, sondern ein stets Beweg‐
tes: ‒ ein Kosmos klarster, in steter Ver‐
wandlung begriffener, dennoch im Sein mit
sich selbst identischer Formen.
.Wer im Geiste die Welt des Geistes
erleben lernen will, der muß zuvor in sich
selbst die Hemmungen beseitigen, die ihm
aus der Vorstellung erwachsen sind, als
sei das dem irdischen Auge unerfaßbare
Geistige in keiner Weise sinnengemäß, viel‐
mehr ein flüchtiges, in sich ungegliedertes
Wehen und Wogen ohne bestimmte For‐
menerzeugung.
43 Der Weg meiner Schüler
.Er wird sich klar darüber werden müssen,
daß seine eigene letzte Lebensursache
der Geist ist, ‒ daß auch in irdischer Ver‐
körperung der Organismus des geistigen
„Leibes” zur Tätigkeit kommen kann, und
daß dann rein geistige „Sinne” an Stelle
der Körpersinne sich entfalten.
.Allerdings wird sich der Suchende auch
sagen müssen, daß im Geiste nur erlebt
werden kann nach geistiger Anschauungs‐
weise, genau so, wie die uns hier auf Er‐
den umgebende und leibvertraute physische
Welt nur infolge physisch-sinnlicher
Anschauungsart erlebbar ist.
.Und wie in der physischen Welt das
Welterlebnis durch die physischen Sinne
bedingt ist, so kann auch im Geiste nur
das erlebt werden, was der jeweilige Ent‐
faltungszustand der geistigen Sinne des
Einzelnen erlebensmöglich werden läßt.
.So, wie nun in unserer physischen Er‐
denwelt die irdischen Sinne ganz verschie‐
44 Der Weg meiner Schüler
dene Entwicklungsmöglichkeiten aufweisen,
wodurch denn das Welterlebnis eines je‐
den Menschen anders bestimmt wird, je
nachdem der eine oder der andere Sinn
die Führung übernimmt, so ist auch das
Geisterlebnis von der in jedem Menschen‐
geist anders geordneten Entfaltungsfähigkeit
der geistigen Sinne abhängig.
.Soll die Reihe der Analogien, die ich
hier aufzeige, aber vollständig sein, so muß
ich den Schüler noch auf eine sehr wesent‐
liche Gleichheit aufmerksam machen, die
zwar alles Vorgenannte voraussetzt, aber
für die Beurteilung geistigen Erlebens
keineswegs etwa erst an letzter Stelle steht.
.Ich meine hier die Tatsache, daß wir
das Geistige ebenso wie das Physischsinn‐
liche sowohl kalt-sachlich erkennend,
wie auch mit der ganzen Wärme seelischen
Einklangs erleben können.
.Beim erdensinnlichen, wie beim
geistsinnlichen Erleben handelt es sich
45 Der Weg meiner Schüler
immer nur um das Erleben von verschie‐
denen Aspekten der gleichen Urkraft,
die ich in einem meiner Bücher daher gerade‐
zu als „das einzig Wirkliche” bezeich‐
net habe.
.In dieses „Einzigwirkliche” vermag
in aller Ewigkeit kein anderes, als sein
eigenes „Bewußtsein” einzudringen, so
daß es selbst den höchsten, irdisch schon
unvorstellbaren Stufen ewigen Geistesmen‐
schentums wie nicht vorhanden wäre, be‐
wirkte sein Dasein nicht die Influenz-Er‐
scheinung der Seelenkräfte, die sich so‐
wohl im physisch-sinnlichen wie im
geistsinnlichen Leben in uns auszuwirken
trachten, wenn wir dieses Wirken nicht
selbst unterbinden.
.Darum ist es so überaus bedeutsam,
welche Seelenkräfte wir in unserem innersten
Wollen zu einen, ‒ mit diesem Wollen
zu identifizieren wissen. ‒
46 Der Weg meiner Schüler
.Nicht nur für unser erdenzeitliches, son‐
dern in noch weit höherem Maße auch für
unser geistig-ewiges Erleben!
.Darum ist es Denen, die in den Geist
gelangen wollen, höchste und strengste
Pflicht, ihre Seelenkräfte vor „Schaden”
zu wahren, damit nicht höchstes Streben
mit dem „Tode” der Seele ende, denn
jenes kalt-sachliche Erkennen, dem die
Inbrunst der Seele fehlt, ist Selbstver
dammnis die sich nicht eher endigen läßt,
als bis sich das Individualbewußtsein im
Laufe von Aeonen darin verbrauchte...
.Darum sind die ungestümen Streiter für
die Seele, denen es darum geht, daß der
„Geist” der Gehirne nicht die Seele töte,
zwar in Unkenntnis des ewigen substan
tiellen Geistes, aber innerhalb ihrer Er‐
lebnisweite keineswegs im Irrtum. ‒
.Das Erleben des ewigen, substantiellen
Geistes ist an sich gänzlich unabhängig
47 Der Weg meiner Schüler
vom „Geist” der Gehirne: ‒ vom Denken
und gedanklichen Erschließenkönnen.
.Nur zur Widerspiegelung und Mit
teilung des geistig Erlebten bedürfen wir
hier, im physisch-sinnlichen Zustand, der
Arbeit des Gehirns.
.Hingegen sind die Seelenkräfte, die ‒
wenn ich ohne Gefahr, irriges Verstehen
zu begünstigen, so sagen darf ‒ in unserem
geistgeformten „Ich” an Stelle des phy‐
sischen Gehirns treten, erst dieses Erlebens
ewige Rechtfertigung.
.Nach allen diesen Erörterungen, die
dazu dienen sollen, meinen Schülern
die Lebensgestaltung nach den Anweisungen
meiner Bücher zu erleichtern, muß ich
aber doch wieder darauf hinweisen, daß es
mir selbst am meisten bewußt ist, wie alle
menschliche Sprache nur ein recht unzu‐
längliches Mittel bildet, um geistige Wirk‐
lichkeit zur Darstellung zu bringen.
48 Der Weg meiner Schüler
.Ich muß also darum bitten, daß sich
mein Schüler nicht das billige Vergnügen
mache, an meinen Worten seinen unzweifel‐
haft vorhandenen Scharfsinn zu üben, indem
er aufzuspüren sucht, ob man ihnen nicht
auch vielleicht anderen Sinn geben könne,
als den von mir gemeinten, den ich immer‐
hin deutlich genug bestimmt zu haben glaube.
.Es ist nun einmal nicht anders möglich,
von einem Erleben, das man erfahren haben
muß, um es zu kennen, anders zu sprechen,
als in Umschreibungen, Bildern und Gleich‐
nissen.
.Ich muß den aufrichtigen Willen zum
Verstehen bei meinen Schülern voraussetzen!
.Andererseits kann ich kaum scharf genug
davor warnen, meinen Büchern gegenüber
einen starren Wortkultus zu treiben.
.Mein Schüler soll aus meinen Worten
den gemeinten Sinn erfühlen lernen und
diesem Sinne gemäß handeln.
49 Der Weg meiner Schüler
.Ich will wahrlich keine neue Orthodoxie
ins Leben rufen!
.Jeder mag ruhig meine Worte in seine,
ihm persönlich näherliegende Sprache über‐
setzen, wenn ihm das zur Erleichterung
des Verständnisses hilft.
.Je weiter aber dann der Suchende auf
seinem Wege voranschreitet, desto weniger
wesentlich wird ihm alle Gleichniswahl,
oder die gegebene Unzulänglichkeit der auf
irdisch-äußere Verhältnisse eingestellten
Worte der Sprache sein, denn was er be‐
reits aus eigener Erfahrung bestätigt fand,
wird ihm für alles Kommende als auf‐
schlußgewisser Schlüssel dienen.
50 Der Weg meiner Schüler
UNNÖTIGE SELBSTQUÄLEREI
.Die meisten Menschen des abendländ‐
ischen Kulturkreises ‒ einerlei welcher
Religionsgemeinschaft sie zugehören ‒
wissen nichts von der Möglichkeit, hier
schon, während des irdischen Lebens, den
substantiellen geistigen Organismus, der uns
nach der Beendung erdenkörperlichen Da‐
seins allein noch Bewußtseinsträger ist, zur
Erlebnisfähigkeit zu entfalten.
.Andere haben wohl von solcher Ent‐
faltungsmöglichkeit gehört, ‒ wenn auch
von fragwürdigster Seite her, ‒ und ver‐
mögen es nicht, daran zu glauben.
.Noch andere endlich ahnen, daß die
auf eigenes Erleben gegründete Kenntnis
der nicht mit erdenkörperlichen Organen
erfahrbaren Welt: ‒ der Welt des ewigen
53 Der Weg meiner Schüler
Geistes ‒ möglich ist, und suchen ver‐
geblich nach einer „Methode” um zu sol‐
cher Kenntnis zu gelangen.
.Weit verbreitet ist unter diesen Suchen‐
den der Glaube, als handle es sich bei dem
Ziel ihres Suchens um eine „Vergeistigung”,
‒ und da sie nichts anderes an sich kennen,
als ihre erdenkörperlich bedingte Art des
Daseins, so glauben sie ihrem Ziele am
ehesten sich zu nähern durch eine ver‐
meintliche Vergeistigung des Erdenleibes.
.Dieser arme Erdenleib aber ist zwar nur
im Leben durch den Geist, kann aber
niemals Geist werden.
.Da man nun sehen muß, daß er sich
gegen die ihm ungemäße Zumutung auf
seine Weise wehrt, so strebt man danach,
ihn zu „überwinden” und hält es für
seine Besiegung, wenn man des geistbelebten
Körpers beste Kräfte endlich „abgetötet
zu haben meint.
54 Der Weg meiner Schüler
.Die in solcher „Abtötung” besonders Ge‐
waltsamen gelten nun als die am meisten
„Vergeistigten”, und sie selbst werden in
diesem Wahn vor sich bestärkt durch die
Halluzinationen und sonstigen vermeint‐
lichen „Begnadungen”, die in Wahrheit
nichts anderes sind, als Folgen der dem
Körper ungemäßen, feineren oder gröberen
Folterung.
.Die Geschichte aller Religionssysteme ist
reichlich bedacht mit Beispielen solcher
Sinnverkehrung, und leider auch mit Zeug‐
nissen ihrer Verherrlichung.
.So sehr der Mensch aber auch bewun‐
dern mag, daß einer seinesgleichen den
Mut zur Selbsttortur zu finden wußte, so
wenig ist solches Unmenschentum bewun‐
derungswürdig.
.Wir Menschen hier auf Erden sind weder
dazu im Leben, um nur das, was des Tieres
an uns ist, zu pflegen, und uns durch die
55 Der Weg meiner Schüler
Lustsucht, oder die Bequemlichkeitsliebe
des tiergleichen Körpers bestimmen zu
lassen, noch haben wir die Aufgabe, die
Tiernatur in uns zu quälen.
.Wohl aber handeln wir richtig, wenn
wir den erdenhaften Körper dazu erziehen,
Ausdruck des uns belebenden substan‐
tiellen Geistes zu werden.
.Dazu ist aber alles andere eher tauglich,
als Selbstquälerei und Körpertortur!
.Ich rede hier nicht etwa wie einer, der
seinem Körper nichts zu versagen vermag.
.Vor Zeiten einst selbst der Meinung ver‐
bunden, „Fasten und Kasteien” sei „gott‐
wohlgefälliges” Tun, hielt ich viele Jahre
lang nicht nur die vorösterliche vier‐
zigtägige Fastenzeit weit strenger als ein
Büßermönch, sondern wußte es auch zu
anderen Zeiten durchzuführen, mich tagelang
jeder Nahrung, außer Quellwasser, zu ent‐
halten.
56 Der Weg meiner Schüler
.Es mag in solchen Künsten Geübtere
geben, und ich lasse ihnen gewiß gerne
jeden Vorrang, denn mit meinem Erwachen
im Erleben des substantiellen, ewigen Gei‐
stes, ist mir jeglicher Ehrgeiz auf dem Ge‐
biet der Askese abhanden gekommen.
.Ich weiß seitdem, daß alle Motive as‐
ketischen Lebens auf folgenschweren Irr‐
tümern beruhen, ‒ ja, daß es nur eine
einzige Berechtigung zur Askese gibt: ‒
ihre Forderung durch die Therapeutik, zum
Heile des Erdenkörpers selbst. ‒
.Dahin gehört auch die persönliche Nei‐
gung Einzelner zu frugaler oder gar spar‐
tanisch-strenger Lebenshaltung, solange diese
nur durchgeführt wird um ‒ vermeintlich
oder tatsächlich ‒ die Gesundheit und
das Gedeihen des irdischen Körpers zu
fördern.
.Sobald jedoch das Motiv solcher Lebens‐
haltung aus der Meinung erwächst, asketisches
57 Der Weg meiner Schüler
Leben könne dem ewigen Geiste näher‐
bringen, ist sie verwerflich.
.Was die Athleten der Askese für „Er‐
lebnisse im Geistigen” halten, ist, ohne jeg‐
liche Ausnahme, recht bedenklicher Natur!
.Entweder handelt es sich dabei um Re‐
aktionen des geschwächten Körpers auf das
Gehirn, oder aber: der mißhandelte Kör‐
per ist schon zur Beute lemurischer Ge‐
walten der unsichtbaren physischen Welt
geworden, die ihr armes Opfer gutwillig
nicht mehr loslassen, es aber mit allem
zu „unterhalten” suchen, was sich ihnen
geeignet erweist, seine Kritikfähigkeit nicht
aus ihrem Schlaf zu erwecken...
.Was der Getäuschte dann für ein Er‐
leben des Geistigen hält, ist Nervener‐
regung, und gespenstiger Spuk recht wenig
erfreulicher, ihrer Natur nach dem körper‐
lichen Auge unsichtbarer Halbtierwesen,
die zur physischen Welt gehören, auch wenn
58 Der Weg meiner Schüler
sie durch kein Ultramikroskop jemals „nach‐
gewiesen” werden können.
.Über ihre Lebensauswirkung, ihre na‐
turhaft geforderte Betätigung, wie über
deren perverses Ausarten, durch Anreize
von seiten des Erdenmenschen her, habe
ich in verschiedenem Zusammenhang die
deutlichsten Aufklärungen in meinen
Büchern gegeben.
.Wer etwa glauben sollte, es erübrige
sich, solche Dinge ernsthaft zu erörtern,
der ahnt nicht, wie viele seiner Mitmen‐
schen in den Fußangeln der unsichtbaren
physischen Wesen hängen, von denen
hier die Rede ist. ‒
.Aber nicht nur vor der asketischen
Selbstpeinigung des Erdenleibes und den
aus ihr erwachsenden psychischen Gefahren
habe ich zu warnen, sondern auch vor
einer anderen Art Selbstquälerei zu der viele
Suchende neigen.
59 Der Weg meiner Schüler
.Es sind durchaus nicht die Schwächlich‐
sten der zum Lichte Strebenden, die am
meisten in Gefahr sind, ihre Kräfte zu über‐
schätzen!
.Aus solcher Überschätzung heraus mei‐
nen sie ihren Weg in wilden Sprüngen
zurücklegen zu dürfen, und bilden sich allen
Ernstes ein, in wenigen Monaten schon das
Ziel erreichen zu können, zu dessen Er‐
langung Andere viele Jahre, ‒ öfters gar
ein ganzes Menschenleben, ‒ brauchten.
.Die tobende Ungeduld des Gehirnbe‐
wußtseins, ehestens erfahren zu wollen, wie
das Erleben des substantiellen ewigen Geistes
empfunden werde, erzeugt dann eine
Unrast, die nur dem psychischen wie dem
physischen Leben schwere Schädigung
bringen kann, aber niemals zu dem führt,
was man, verquält und fast verzweifelnd,
erstrebt. ‒
.Bei dieser Art von Suchenden besteht
die unnötige Selbstquälerei in einem un‐
60 Der Weg meiner Schüler
ausgesetzten Zermartern des Gehirns, das
doch gerade zur Ruhe gelangen muß, und
zu bewußtem geduldigen Zuwarten-Wol
len, wenn der Weg, der „in den Geist”
führt, wirklich beschritten werden soll. ‒
.Ungeduld und ungezügelte Sehnsucht
leiten nicht nur vom Wege ab, der zum
Ziel führt, sondern fördern auch die gleiche
Gefahr, getäuscht zu werden, wie sie für
den Asketen besteht. ‒
.Zwar wurde einmal das Wort geprägt,
vom „Reich Gottes”, das nur jene an sich
zu ziehen vermöchten, die „Gewalt” ge‐
brauchten, ‒ aber was hier als „Gewalt”
bezeichnet ist, läßt sich nur dann richtig
erkennen, wenn man die Worte des mit
dem Engel ringenden Jakob zum Vergleich
heranzieht: „Ich lasse dich nicht, bevor du
mich gesegnet hast!”
.Es ist keine „Gewalt” im Sinne des
Überwältigenkönnens gemeint, sondern ein
61 Der Weg meiner Schüler
zähes Festhalten, bei allem Wissen um die
eigene Ungewalt, Schwäche und Kleinheit.
.Fühlt sich ein Suchender aber diesem
Wort so verhaftet, daß er nicht davon los‐
zukommen vermag, dann ist ihm zu raten,
die „Gewalt”, die er nicht entbehren zu
können meint, auf die dauernde Nieder‐
haltung aller in seinem rastlos grübelnden
Gehirn erzeugten Hemmnisse zu lenken,
die ihm das Erreichen seines Zieles er‐
schweren wollen.
.Wer, als mein Schüler, den Weg zu
seinem Ziel, den ich ihm zeige, auf die
seiner Art entsprechende Weise einmal be‐
schritten hat, für den darf es kein Hasten,
Drängen und Jagen nach dem Ziele geben!
.Mit sicherer Zuversicht muß er einen
Schritt an den andern reihen, ausdauernd
und mit Bedacht, immer auf seine ihm
eigene Weise, wie er sie in meinen Worten
62 Der Weg meiner Schüler
beschrieben fand und sonach wählte, ‒
denn dieser „Weg” wird beim endlichen
Erreichen des Zieles nicht „aufgegeben”,
wie etwas, das man nun nicht mehr braucht,
sondern wird ewiger geistiger Besitz des
zum Ziele Gelangten.
.Der bedarf dieses, nun für ihn ‒ weil
durch ihn ‒ „geöffneten” Weges, soll sein
erlangtes ewiges Geistesbewußtsein mit dem
vereinigt bleiben, was ihm die Identität
verbürgt in seinem geistigen und irdischen
Erleben...
.Das „Durchschreiten” des Weges, der
in den Geist gelangen läßt, ist ein „Schrei‐
ten” in der äußeren Zeit, aber im eigenen
inneren, geistigen Raum!
.So ist auch das Ziel zwar in der äußeren
Zeit, jedoch nur im inneren, geistigen
Raum zu finden. ‒
63 Der Weg meiner Schüler
.Darum nutzt es nichts, nach außenhin
zu suchen, und es ist verkehrt, zu glauben,
daß sich das Ziel an einem Orte leichter
erlangen lasse, als an einem anderen.
.Das Gleichnis des „Weges” ist aber für
das Vorwärtsgelangen im eigenen Innern,
und während des ununterbrochenen Ab‐
laufs der äußeren Zeit, durchaus nicht will‐
kürlich gewählt.
.Nicht „zufällig” gebrauchten, seit den
ältesten Zeiten, alle „aus dem Geiste” Leh‐
renden immer wieder den Hinweis auf die
hier bestehende Analogie.
.Obwohl der Suchende sein Ziel nur im
eigenen inneren, geistigen Raum finden
wird, kann er doch im gleichen inneren
Raum noch unendlich fern von seinem
Ziele sein. ‒
.Er muß die äußere Zeiterwandern”,
die ihn Tag um Tag näher an den Tag
der Erlangung bringt.
64 Der Weg meiner Schüler
.Es sind erfühlbare Zustände des Empfin‐
dungsvermögens, die sich da aneinander
reihen.
.Jeder folgende ist durch den zu Bewußt‐
sein gelangten vorhergehenden bedingt, und
keiner kann etwa „übersprungen” oder er‐
lassen werden!
.So ist es denn auch unnötige Selbst‐
quälerei, wenn der Suchende sich sorgt,
weil er nur langsam vorwärts kommt, oder
weil ihm deutlich bewußt ist, daß er erst
noch am Beginn steht, während er den
Tag der Erlangung lieber heute als morgen
erleben würde.
.Es ist nur fördernd, zu wissen, wo
man wirklich steht, während der allzu hoch‐
gemute Glaube, man habe wohl schon den
größten Teil des Weges durchmessen, zu
arger Enttäuschung umschlagen kann...
.Manche, die schon der Meinung sind,
meine Schüler zu sein, weil sie alles „kennen”
65 Der Weg meiner Schüler
was ich geschrieben habe, verschärfen sich
ihre unnötige Selbstquälerei auch noch, in‐
dem sie danach trachten, ihr ureigenes
Tempo zu beschleunigen, durch oft sehr
fragwürdige Befeuerung aus allerlei philo‐
sophischer, oder okkultistischer Literatur,
die mit dem, was ich lehrend in Worte
forme, weder in der Strebensweise, noch
in Bezug auf das zu erreichende Ziel, nur
das allermindeste zu tun hat, mögen auch
die dort gebrauchten Worte zugleich zu
meinem Sprachgut gehören.
.Ich könnte lächelnd, wie man törichtes
Tun urteilsunreifer Kinder betrachtet, vor‐
übergehen an diesen Versuchen: selbst
„nachzuhelfen”, indem man von ander‐
wärts her zuzufügen sucht, was ich ver‐
meintlich vorenthielt, ‒ wenn ich nicht
immer wieder gewahren müßte, wie sich
die so Beflissenen ihren Weg verbauen...
.Daher muß ich denn wohl oder übel,
im allereigensten Interesse der Suchenden,
66 Der Weg meiner Schüler
deutlichst jede Verantwortung ablehnen für
das, was aus solchem „überklugen” Zu‐
sammenkleistern des niemals Vereinbaren
resultiert, und naturnotwendig zu gröbster
Selbsttäuschung der Eigenmächtigen führt!
.Wer dennoch glaubt, auf eigene Faust
besser voranzukommen, als wenn er meinen,
im Wissen um meine ewige Verantwortung
gegebenen Anleitungen ‒ und diesen, so
wie sie gegeben sind ‒ folgt, dem ist
nur zu raten, meine Bücher ungelesen zu
lassen, damit er sich wenigstens nicht ihres
Mißbrauchs schuldig mache.
.Es könnte aber mancher, der sich als
mein Schüler fühlt, obwohl er das Meine
mit allerlei unverantwortlichem Gedanken‐
wust in einem Atem nennt, vielleicht doch
eine Lehre daraus ziehen, daß unter den
von mir anerkannten Schülern, die ich heute
am weitesten vorangekommen sehe, kein
einziger ist, der sich nicht in strenger Selbst‐
67 Der Weg meiner Schüler
disziplin darauf konzentriert hätte, den von
mir gegebenen Anweisungen ‒ und nur
ihnen allein ‒ bei der Gestaltung seines
Strebens Gehör zu schenken.
.Das ist gewiß nicht verwunderlich, da
die Lehren, denen ich Wortgewandung schuf,
so wie ich sie gegeben habe, erprobt sind
seit Jahrtausenden.
.Aller Folgerichtigkeit im Geistigen zu‐
widerlaufend aber ist es, zu glauben, man
erlange noch mehr, als durch die in meinen
Büchern enthaltenen Anleitungen zu er‐
langen ist, wenn man zugleich auch jedwedes
menschliche Meinen und Wähnen sich zur
Richtschnur dienen lasse...
68 Der Weg meiner Schüler
UNVERMEIDLICHE
SCHWIERIGKEITEN
.Jede menschliche Mitteilung, die aus
nicht allgemein zugänglichen Bezirken
stammt, hat mit Schwierigkeiten der Über‐
tragung sowohl, wie auch im Aufnahme‐
vermögen der Angesprochenen, zu rechnen.
.Verstärkt werden diese Schwierigkeiten,
wenn es sich um Berichte über Erfahrungen
handelt, die anders sind als das, was all‐
gemein zu erfahren ist, so daß direkter
Vergleich fast ausgeschlossen bleibt, und
die Verständigung nur möglich wird durch
Umschreibung, bildhafte Rede und Gleichnis.
.Es kann nicht dem leisesten Zweifel
unterliegen, daß bei dem, was ich zu sagen
komme, alle diese Schwierigkeiten vorliegen.
.Würde mein Lehrwerk nur asiatischen
Völkern gelten, denen viele der Begriffe,
71 Der Weg meiner Schüler
die ich voraussetzen dürfen sollte, seit
Jahrtausenden lebendig sind, wenn sie
nicht gar zum Urerbe der Rasse gehören,
dann wäre mir Pflicht und Aufgabe weit‐
aus leichter gemacht, aber keineswegs wären
alle Schwierigkeiten etwa behoben.
.Sie würden nur wechseln, indem sich
die irrigen Auffassungen meiner Worte,
vermeintliche Bestätigung aus anderen re‐
ligiösen und philosophischen Vorstellungs‐
welten zu holen berechtigt sehen möchten.
.Die Männer, von denen ich, als von meinen
geistigen „Brüdern” zu sprechen habe, und
die alle in Asien leben, wenn auch nicht
alle asiatische Arier sind, wissen das ganz
genau, und halten es darum für ein Opfer,
das nicht die entsprechenden Früchte
bringen würde: auch nur versuchsweise
mit gleicher Lehre vor ihre Völker zu treten.
.Sie sind sogar des Glaubens, daß weit
eher die durch mich bewirkte Verkündigung
von Europa her ihr Heimatland erreichen
72 Der Weg meiner Schüler
und dort in beträchtlichem Umkreis die
dafür reifen Seelen ergreifen könne, als
daß es einem Asiaten möglich wäre, alle
die durch religiöse Vorstellungen bedingten
Irrtümer und grotesken Deutungen des
wunderlüsternen Aberglaubens fernzu‐
halten, die seiner Selbstoffenbarung auf
dem Fuße folgen würden, wollte er das
Gleiche sagen, was ich in meinen Büchern
vorzubringen habe.
.Finden sich also die Verhältnisse selbst
dort derart gelagert, wo seit Jahrtausenden
unzählige Menschen, die allerdings über
kontinentgroße Länder hin verstreut sind,
durch Erbmitteilung und selbsterlangte
Schülerschaft von den Dingen wissen, die
ich in meinen Büchern dem europäischen
Kulturkreis verstehbar darzustellen suche, ‒
um wieviel sicherer darf dann die durch
mich verbreitete Lehre damit rechnen, auf
der westlichen Erdhälfte erheblichen, wenn
auch andersartigen Schwierigkeiten in
den Gehirnen zu begegnen.
73 Der Weg meiner Schüler
.Ich betrachte diese Schwierigkeiten aber
keineswegs als „unüberwindbar”, wenn ich
auch bekennen muß, daß es mich ebenso
wenig von meinem Lehrauftrag befreien
könnte, sähe ich mein Lehrwerk mit pessi‐
mistischen Bedenken an, und zweifelte an
seiner Durchführbarkeit.
.Auch ich würde vermutlich, ‒ wenn
ich nicht der wäre, der ich nun einmal
ohne mein irdisches Zutun bin, ‒ gewiß
große Schwierigkeiten in mir gewahren,
sähe ich mich unvorbereitet, und an alt‐
überkommene Apriori-Annahmen reli‐
giöser und philosophischer Art gefesselt,
dem Lehrwerk gegenüber, das heute meinen
Namen trägt.
.Es darf keiner glauben, ich könne viel‐
leicht selbst nicht nachfühlen, wie schwer
es einem Menschen der westlichen Welt in
diesen Tagen werde, ‒ angefüllt bis oben‐
hin mit einem vermeintlich todsicheren
Wissen um die Ursachen allen Geschehens,
74 Der Weg meiner Schüler
‒ nun alles das auch nur von Anfang an
„ernst zu nehmen”, was ich ihm zu sagen
habe!
.Ich bin ja doch selbst ein Mensch dieser
Übergangszeit, kenne ihre Bildungsbezirke,
die Formen ihres wissenschaftlichen Denkens,
ihre wirklichen Verdienste und ihre allzu‐
sicheren Ambitionen, wozu aber ‒ ich kann
es nicht leugnen ‒ noch die Tatsache
kommt, daß ich infolge der in mir wir‐
kenden substantiellen geistigen Organe,
auch Zusammenhänge und Gegebenheiten
zu durchschauen vermag, die nicht gerade
jeder durchblickt, auch wenn er noch so
sicher zu sein meint, daß vor seinem Scharf‐
sinn sich nichts zu verbergen vermöge.
.Ich weiß also nur zu gut, was europäisch,
oder auch amerikanisch gezüchtetes Denken
an Schwierigkeiten zu überwinden hat,
wenn es wirklich das erfassen will, was in
den Lehrtexten meiner Bücher dargeboten
wird: ‒ dargeboten in meinen Worten,
75 Der Weg meiner Schüler
aber wahrlich nicht erst von mir erdacht,
sondern vorgefunden im ewigen Geiste, wo
es seit Beginn der Menschenverbreitung
auf diesem Planeten allen zugänglich war,
die sich zu meiner Art rechnen durften.
.Daß das zu jeder Zeit nur sehr wenige
Menschen waren, ist geistig geforderter
Notwendigkeit Folge.
.Aber die Schädeldecken der mensch‐
lichen Häupter bilden durchaus keinen her‐
metischen Abschluß der Gehirne gegen ge‐
hirnlich wahrnehmbare Außenschwingungen,
‒ und die Kräfte aus denen sich organisch
die Seele formt, lassen sich nie und nimmer
so vollkommen isolieren, daß sie dem All‐
bewußten, Allfühlenden, Allerlebenden im
unermeßlichen Meere der bindungsfreien
Seelenkräfte unzugänglich würden.
.So kommt es denn dazu, daß jedem
Menschen viel mehr bekannt ist, als er
weiß, auch wenn dieses hier gemeinte „Be‐
76 Der Weg meiner Schüler
kannte” erst einen Anruf braucht, um be‐
wußt zu werden, ‒ sei dieser „Anruf” ein
Wort, ein sichtbares Ding, oder ein inneres
Erleben.
.Und auf diese Weise ist einer unver‐
krüppelten Seele denn auch von dem, was
ich ihr nahezubringen habe, bereits weit
mehr „bekannt”, als der nur gehirnerleuch‐
tete Mensch beim Schein seiner immerfort
unruhig flackernden Lichtquelle sich träumen
läßt...
.Um aber vielleicht naheliegende Irr
tümer zu vermeiden, muß ich betonen,
daß sich die Begriffe des „Unbewußten”,
unter der „Schwelle des Bewußtseins” Ge‐
lagerten, oder auch des „Kollektivbe
wußten”, wie sie heutigentages durch die
Popularisierung der Psychoanalyse und ihrer
Seitenzweige weithin zu begrifflichem Klein‐
geld geworden sind, in keiner Weise mit
dem hier von mir Gemeinten decken.
.Es handelt sich hier auch durchaus nicht
um etwas, dem Gehirnbewußtsein einst‐
77 Der Weg meiner Schüler
mals Zugängliches, das ihm abhanden ge‐
kommen wäre, sondern um der ewigen
Seele Bekanntes, das aber noch nicht
vom Gehirnbewußtsein erfaßt werden konnte.
.Am wenigsten wird man in Gefahr ge‐
raten, sich irrtümlichen Vorstellungen hin‐
zugeben, wenn man ruhig meine Weise,
etwas Erlebtes zu erklären, für sich be‐
stehen läßt, und ganz davon absieht, das
von mir Vorgebrachte, einer, den Begriffs‐
inhalt immerfort wechselnden, wissenschaft‐
lichen Terminologie anzupassen.
.Ich vermöchte gewiß, mich einer solchen
Terminologie anzubequemen, befinde mich
aber wohler dabei, wenn ich mir die Frei‐
heit lasse, die Worte, als Mittel zur Ver‐
ständigung, jeweils nur nach ihrer von mir
erfühlten Brauchbarkeit zu wählen, und
sie den Meinigen einzuordnen, unbeküm‐
mert um ihren konventionellen Wert.
.Es ist schon manche Schwierigkeit aus
dem Wege geräumt, wenn man sich klar
78 Der Weg meiner Schüler
macht, daß ich in allererster Linie mit
dem von mir charakterisierten, noch nicht
dem Gehirn Faßbaren, aber der Seele be‐
reits „Bekannten”, als Verständigungsfaktor
rechne.
.Wenn der Leser meiner Bücher ‒ einst‐
weilen ‒ den stets vordringlichen, immer
vorlauten Einreden des seiner selbst so
ahnungslos „sicheren” Verstandes einiger‐
maßen zu wehren weiß, so daß jenes der
Seele „Bekannte”, wenn auch dem Gehirn‐
bewußtsein noch nicht Nahegekommene,
überhaupt aufgerufen werden kann, dann
hat er sich selbst den Zugang geöffnet, um
auf den Weg „in den Geist” zu gelangen,
wie meine Worte ihn zeigen und beschreiten
lehren.
.Dann wird er schwerlich noch beson‐
deren „Schwierigkeiten” begegnen, voraus‐
gesetzt, daß er die Ausdauer wirklich be‐
sitzt, die unerläßliche Vorbedingung für
Alle ist, die den Weg in den Geist be‐
schreiten lernen wollen.
79 Der Weg meiner Schüler
.Gewiß muß das, was ich mitzuteilen
habe, solange auf Treu und Glauben an‐
genommen werden, bis der Schüler selbst
zu inneren Einsichten gelangt ist, die ihm
ein Urteil möglich machen.
.Gewiß wird der Suchende, in seinem
eigenen Interesse, sich auf seine Weise klar‐
machen müssen, was ich in meinen An‐
leitungen ihm nahelege, und wird es nicht
mit anderweitigen Anweisungen ‒ aus
welcher Quelle sie ihm auch zufließen
mögen ‒ vermengen dürfen.
.Selbst Anweisungen, denen gegenüber
nicht der leiseste Zweifel erlaubt ist, daß
sie von den lautersten und erhabensten
Menschen stammen, muß der Schüler, der
zu eigener Einsicht kommen will, vorläufig
auf sich beruhen lassen, wenn die Befolgung
meiner Anleitungen ihm nützen soll.
.Erst wenn er selbst erlangte, was ihm
zu erlangen möglich wird, können ihm die
weisen Ratschläge, wie er sie etwa in der
80 Der Weg meiner Schüler
mittelalterlichen, und ‒ anders gefärbt
‒ in der östlichen Mystik findet, in ihrer
ganzen Tiefe erfaßbar werden.
.Gleichzeitig aber wird er auch dann die
unbewußt zwischen diese Bekundungen der
Wahrheit geratenen zahlreichen Irrtümer
erkennen, und bei aller Ehrfurcht vor den
Zeugnissen geistnahen, oder geistgeeinten
Menschentums, sich nicht zu scheuen brau‐
chen, die „Spreu”, auch wenn sie reichlicher
vorhanden ist, als er vordem ahnte, vom
keimlebendigen „Weizen” zu sondern. ‒
.Bevor er aber einmal soweit ist, wird
er gut tun, alles, was ihm etwa an solchen
Anweisungen bekannt ist, zeitweilig zu
vergessen.
.Daß er die Entwicklungsrezepte neuerer
Mystagogen, denen er etwa bisher folgte,
für immer beiseite legen muß, ist eine
Selbstverständlichkeit!
.Wenn ich nun auch im Namen dessen,
was ich niederschrieb, ein gewisses Vertrauen
81 Der Weg meiner Schüler
zu verlangen habe, bevor die eigene Urteils‐
fähigkeit des Schülers einsetzen kann, so
ist hier doch keinesfalls ein „Glaube” im
Sinne einer endgültigen Entscheidung ge‐
fordert, sondern nur das gleiche Vertrauen
wollen, wie man es beispielsweise einem die
hohe See befahrenden Schiffskapitän entgegen‐
bringt, von dem man ohne weiteres gläubig
annimmt, daß er die Schiffahrtswege kenne,
und die ihm Anvertrauten in den rechten
Hafen zu bringen wisse, ‒ oder auch einem
verantwortungsbewußten Bergführer, der
sehr wohl weiß, daß von seiner sicheren
Wegekenntnis und Beurteilungskraft das
Leben des Touristen abhängt.
.Wie man nun aber dem Bergführer
das Recht zugesteht, Ratschläge über das
beste Verhalten beim Klettern im Fels, oder
schon bei schwierigeren Gletscherübergängen,
zu erteilen ‒ so und nicht anders wird
mein Schüler die Ratschläge gutzuheißen
haben, denen er in meinen Büchern be‐
gegnet.
82 Der Weg meiner Schüler
.Ich weiß von den Gefahren seines
Weges, und weiß ihm zu raten, wie sie zu
überwinden sind!
.Hingegen steht mir nichts ferner, als
die Forderung eines blinden „Kadaverge‐
horsams”, zu der ich mir weder ein Recht
erteilen würde, noch sie von irgend einem
Standpunkt her, als im Interesse des Schülers
liegend, oder auch nur als wünschenswert,
betrachten könnte.
.Soweit es nur irgend möglich ist, soll
der Suchende wissen, oder doch sich vor‐
stellen können, was er zu erhoffen hat, und
weshalb ich ihm diesen oder jenen Rat‐
schlag zu erteilen habe, ‒ weshalb ich
ihn vor einer Gefahr warne.
.Es steht in meinen Büchern sehr vieles
zu lesen, was mir unsagbar schwer nie‐
derzuschreiben war, weil es mich nötigte,
mit dürren Worten eigenes Erlittene, Er‐
lebte und Empfangene zu berühren, das
83 Der Weg meiner Schüler
ich so unbeschreiblich hoch über allem sonst
irdisch Erlebbaren, Erleidbaren und Em‐
pfangbaren weiß, daß ich mich selbst der
Erinnerung daran nur nach würdiger
Vorbereitung zu nahen wage...
.Ich hätte mir die „Selbstzermalmung”
sparen können, die nötig war, um auch
nur einen der Sätze, auf die ich hier deute,
darzubieten, wenn ich mich vor der geistigen
Pflicht, dem Suchenden sozusagen „stereo‐
skopischen”, plastischen Einblick in geistige
Vorgänge zu vermitteln, auf andere Weise
hätte verantworten können!
.Alle diese Dinge sind dem Leser meiner
Bücher nur deshalb dargeboten, weil er nicht
in bloßer Vertrauenseligkeit den Ratschlä‐
gen folgen soll, die ich ihm zu geben habe,
sondern in freier Entscheidung vor sei
nem Gewissen, nachdem es ihm ermög‐
licht wurde, die geistigen Zusammenhänge,
auf denen meine Ratschläge beruhen, wenig‐
stens in der Vorstellung zu erfassen.
84 Der Weg meiner Schüler
.Unerbittlich muß ich jedoch darauf be‐
stehen, daß der Suchende bei seiner Ent‐
scheidung nur vom textlichen Inhalt
meiner Bücher ausgeht, und mich als
außenmenschliche Person gänzlich unbeach‐
tet läßt!
.Wenn er mein Schüler sein will, so
muß er wissen, daß ich mich ihm in mei‐
nen Lehrtexten ohne jeden Vorbehalt
dargeboten habe, und daß er nur in dem
Sinne „mein” Schüler ist, als er Schüler
dieser Lehrtexte zu sein vermag, deren
absolute Wahrheit, als Darstellung substan‐
tiellgeistiger Wirklichkeit, ebensowenig je‐
mals erschüttert werden könnte, wenn
diese Bücher nicht aus tiefster geistiger
Verantwortung heraus, von einem seiner
Sinne Mächtigen, niedergeschrieben wor‐
den wären, sondern wenn sie, ‒ falls es
möglich wäre! ‒ ein Narr geschrieben
hätte! ‒ ‒
.Bei dem Worte: „geistsubstantiell
bitte ich zu bedenken, daß ich überall, wo
85 Der Weg meiner Schüler
ich vom substantiellen Geiste spreche, ‒
im Gegensatz zu dem Geistbegriff, der den
menschlichen Verstand und die Äußer‐
ungen der Gehirnbewegungen meint ‒
unter den Worten geistige „Substanz” das
Allerwirklichste: ‒ die Fülle aller Ur‐
seinskräfte, verstanden wissen will!
.Diese Geistes-„Substanz” ist nichts Starres,
sondern aus sich selbst heraus das Aller
freieste, durch nichts zu Behindernde,
ewig Bewegliche, ewig sich Bewegende.
.Sie ist nicht etwa „geschaffen”, sondern,
ohne besonderen Willensakt, ‒ gege
ben durch das bloße Vorhandensein des
Urseins”, wie ich das Allerinnerste des‐
sen, was „ist”, nennen muß, wenn es be‐
zeichnet werden soll.
.Auch die, heute kaum erst von genialen
Theoretikern der Physik erahnten aller
subtilsten Kräfte des Weltalls sind nur
als eine Art „Induktionswirkung” der
von mir gemeinten geistigen „Substanz”
86 Der Weg meiner Schüler
zu verstehen, während die „gröberen” ir‐
dischen Kraftäußerungen, wie etwa alles,
was wir elektrische oder magnetische Er‐
scheinungen nennen ‒ um nur ein Bei‐
spiel zu geben ‒ erst gleichsam Reflex
wirkungen dessen sind, was ich, ‒ in
bildmäßiger Erinnerung an die Induktions‐
spule, in der ein indirekt bewirkter elek‐
trischer Strom entsteht, ‒ als „Induktions‐
wirkung” bezeichne...
.Es ist mir unmöglich, hier noch deut‐
licher zu werden, aber ich habe Anlaß zu
glauben, daß die kommende wissenschaftliche
Forschung zu irdisch belegbaren Erkennt‐
nissen gelangen wird, die das von mir gleich‐
sam nur stammelnd Bedeutete in einen
ganz neuen, umfassenden Darstellungsbe‐
reich einführen werden.
.Das wirkliche Bewußtwerden in der
Substanz des ewigen Geistes steht aber
außerhalb aller Wissenschaft, und selbst
87 Der Weg meiner Schüler
die größten und höchsten wissenschaftlichen
Erkenntnisse werden niemals auch nur um
Haaresbreite dem eigenen Erleben des
substantiellen Geistes näher bringen können.
.Es dürfte begreiflich sein, daß der Su‐
chende, der „in den Geist” gelangen will,
‒ außer dem Deuter und Wegbereiter, als
der ich in meinen Lehrworten zu wirken
habe, ‒ auch noch andere Hilfe braucht,
sobald er sich, wenn auch fast überreich
belehrt, selbst auf dem Wege findet!
.Für diese Hilfe aber ist dann gesorgt,
und um ihrer habhaft zu werden, braucht
es nur die innere Haltung der Zuversicht
eines im voraus Dankenden.
.Dem Menschen kann aber kein „Gott”
unvermittelt helfen, sondern nur der Mensch,
und, wenn es sich um „göttliche” Hilfe
handelt: ‒ nur ein Mensch, der zum Trans‐
formator substantieller geistiger Kräfte wurde!
.Was dann den Menschen an geistiger
Hilfe erreicht, ist seiner Aufnahmefähigkeit
88 Der Weg meiner Schüler
angepaßt, und bleibt ihr angepaßt, bis
er selbst das substantielle ewige Geistige,
in seinem, aus der Latenz erweckten geistigen
Organismus zu erleben vermag, ‒ einerlei,
ob der dazu nötige Prozeß während des
irdischen Leibeserlebens schon beendet wer‐
den kann, oder ‒ wie zumeist ‒ hier nur
begonnen wird, um in nachirdischen Er‐
lebenszuständen seine Vollendung zu finden.
.Es gibt da unzählige, verschiedene
Stufen der Entfaltung, und das Gleiche gilt
von dem einzig möglichen, wahrhaft wirk
lichen Gotteserlebnis, das dem Menschen
werden kann: ‒ dem Erleben seines „leben‐
digen” Gottes in der eigenen Seele. ‒ ‒
.Dieses einzige wirklich „reale” Gott‐
erlebnis („Gott” ist nicht nur „Geist”, son‐
dern, vergleichungsweise gesagt: die subtilste
Eigengestaltung des Geistes! ‒) ist keines‐
wegs erst zu erlangen nach der Vollendung
des substantiellgeistigen Organismus, wohl
89 Der Weg meiner Schüler
aber muß dieser tatsächlich „erweckt” worden
sein, so daß er bereits das distinkte Bewußt‐
sein der Identität des „Ich” (als der singu‐
lären Erlebensform aller ewigen Bezirke) in
der Seele zum Aufleuchten bringen konnte.
.Der Mensch, dem dann solches Erleben
wirklich wird, fragt nicht mehr, und kann
nicht mehr fragen, ob es ihm nun auch
wahrhaft geworden sei, oder ob er nicht
nur einer Selbsttäuschung erliege, denn was
er erlebt, durchstrahlt seine Ich-Form mit
der unangreifbar sichersten Gewißheit,
die es in Zeit und Ewigkeit gibt!
.Wer sich aber ‒ wenn auch nur in
seinen, zeitweise im Erdenleben unvermeid‐
baren, dunkleren Stunden ‒ überhaupt
noch der Frage gegenübersieht, ob denn
sein erhabenes Erlebnis etwas Wirkliches
gewesen sei, der darf sicher sein, daß er
vorerst selber „nachgeholfen” hatte, und so
denn in einer der vielen Fallen der Selbst‐
täuschung hängen blieb, aus der er sich
90 Der Weg meiner Schüler
gar nicht bald genug befreien kann, will er
dereinst doch noch zum wirklichen Er‐
leben seines lebendigen Gottes kommen...
.Dieses einzige mögliche reale Gott‐
erleben ist auch kein Überstürzen der Seele
mit einem Erlebniszwang, den sie kaum
auszuhalten vermag, sondern, wo immer
es Ereignis wird, ist es der jeweiligen
Eigenart des Menschen entsprechend.
.Darum ist in meinen Lehrworten gesagt:
daß jeder nur seinen lebendigen Gott er‐
leben kann, und daß er seinen lebendigen
Gott niemals, hier auf Erden und in aller
Ewigkeit, seinem Bruder zu zeigen vermag.
.Jeder Versuch, dieses Erleben „mit
Gewalt” herbeiführen zu wollen, muß
zur Selbsttäuschung führen!
.Wenn man hingegen das so viel miß‐
brauchte (und darum von mir fast niemals
verwendete) Wort: „Gnade”, hier um der
91 Der Weg meiner Schüler
Verdeutlichung willen heranziehen, und so
verstehen will, daß es eine Beglückung
bedeutet, für die man die Voraussetzung
erfüllt hat, so daß eben diese Beglückung
eintreten muß, weil sie von keinem, auch
nicht von einem göttlichen Willen zurück‐
gehalten werden kann, ‒ dann kommt
man in Wahrheit dem Verständnis für
dieses Erlebendürfen ziemlich nahe...
.Ob es einer einmalig, immer erneut,
oder für die Dauer ununterbrochen zu
erleben vermag, hängt nur von ihm selbst:
‒ von seinen seelischen Möglichkeiten ab,
aber jeder, dem es in der für ihn möglichen
Weise einmal wurde, tritt damit in ein
neues Leben ein und findet sich in einer
Erneuerung, die nur von dem, der sie weiß,
empfunden, aber niemals in Worten dar‐
gestellt werden kann.
92 Der Weg meiner Schüler
DYNAMISCHER GLAUBE
.Es ist ja eigentlich eine Binsenweisheit,
daß jegliches menschliche Bestreben nur
dann erfolgreich wird, wenn der Glaube
an die Möglichkeit, ja an die Sicherheit
des Erfolges hinter ihm steht.
.Wer es nicht an sich selbst erfahren
hat ‒ und es wird wenige geben, die es
nicht im Laufe ihres Lebens wieder und
wieder erfahren mußten ‒ der wird in
seinem Umkreis nicht lange zu suchen
brauchen, um Menschen zu finden, die ihm
sowohl Beispiel wie Gegenbeispiel
liefern.
.Stärkste Begabung, die zu allen Hoff‐
nungen berechtigt hatte, versagt, und er‐
reicht nicht ihr Ziel, nur weil der Glaube
fehlt an die eigene Kraft, während da‐
neben der kaum mittelmäßig Talentierte
95 Der Weg meiner Schüler
von Erfolg zu Erfolgen schreitet, geführt
von dem Glauben an sein Können...
.Und wie gar oft wird eine Idee, an deren
Verwirklichung ein Leben verblutete, erst
nach dem Tode ihres Schöpfers zum Siege
geführt, aufgegriffen durch selbst un‐
schöpferische Naturen, die aber den Glau
ben mitbringen, den der erfolglose Ur‐
heber, bei aller Energie seines Strebens,
vermissen ließ. ‒ ‒
.Obwohl aber solche Erfahrung wahrlich
leicht zu erlangen ist, kann man dennoch
auf allen Gassen Unzähligen begegnen, die
zwar recht guten Willens sind und mit
aller Zähigkeit einem Ziele zustreben, da‐
bei aber selbst kaum glauben, es jemals
erreichen zu können.
.Ist es verwunderlich, daß da so wenige nur
jenes Ziel erreichen, zu dem ich in allen
meinen Büchern den Weg aufweise, und
das doch allen erreichbar ist, die den
Glauben in sich tragen: ‒ den Glauben
an sich selbst!? ‒
96 Der Weg meiner Schüler
.Das Sprichwort redet die Wahrheit,
wenn es zu sagen weiß:
.Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!”
.Hier wird göttliche Hilfe keineswegs in
Frage gestellt, aber die Bedingung wird
aufgezeigt, die erfüllt werden muß, soll
göttliche Hilfe ermöglicht werden. ‒ ‒
.So ist auch aller vorgebliche „Glaube
an Gott” nur Selbstbetrug, so lange er
nicht durch den felsenfesten Glauben an
sich selbst gerechtfertigt wird.
.Glaube aber ist Wille, und jene wissen
nichts vom „Glauben” die ihn nicht als eine
Form des Willens kennen!
.Hier ist jedoch der Torheit zu wehren,
die den eigensinnig und krampfhaft gehegten
Wunsch als „Wille” wertet. ‒
.Wohl mag der Sprachgebrauch auch
leichthin vom „Willen” reden, wo nur der
ungezähmte Wunsch ein Ziel erstrebt,
97 Der Weg meiner Schüler
während der Wille, der es erreichen
könnte, tief im Schlafe ruht.
.Wenn aber gesagt wird: „Glaube ist
Wille”, so ist auch weiter zu sagen: ‒
Wille, wie er hier gefordert wird, ist
nichts anderes als die hohe Kraft der
Imagination”, durch die der Mensch in
seinem Innern sich die Form seines Schick‐
sals gestaltet, sei es in Bezug auf sein
äußeres Dasein oder im Hinblick auf das
Erreichen seines höchsten Zieles in der
geistigen Welt. ‒ ‒
.Man weiß das längst, wo es gilt, Ge‐
breste des Körpers zu heilen, und kluge
Ärzte suchen vor allem in solchem Sinne
den Willen zur Gesundung im Kranken
von den Fesseln zu befreien, in die ihn
der Kranke selbst geschmiedet hat.
.Ob „wunderbare” Heilungen einst dem
Asklepiosheiligtum zu Epidauros ho‐
hen Ruf verschafften, oder ob heute Lour
98 Der Weg meiner Schüler
des für seine Gläubigen in gleichem Rufe
steht: ‒ in beiden Fällen ist die Anregung
des Willens zur Gesundung, die Auslösung
der Imagination, der Glaube an die
Möglichkeit der Genesung das „wunder‐
wirkende” Agens, auch wenn es nur die
Vorbedingung erfüllt, um helfenden Kräften
anderer Art den Weg frei zu machen. ‒ ‒
.Zu allen Zeiten hörte man in gleicher
Weise nicht nur von „heiligenStätten,
an denen Kranke Genesung fänden, sondern
auch von Menschen, die da noch zu heilen
wußten, wo Tränke und Mixturen nichts
erreichen konnten, und auch bei dieser
Menschen oft sehr segensreichen Wirk‐
samkeit ist das „Wunder” nur darin zu
sehen, daß es ihnen gelang, den echten
dynamischen Glauben in den Kranken
zu erwecken, den Glauben, der da „Wille
zur Gesundung ist und das Bild der wieder‐
zuerlangenden Gesundheit an die Stelle
des Bildes der Krankheit setzt, wie es vor‐
99 Der Weg meiner Schüler
dem der gleiche Wille ‒ nur mißleitet ‒
geschaffen hatte.
.Gewiß war zu keiner Zeit eine jede
Krankheit auf solche Weise heilbar, und
gar zu leicht übersehen Enthusiasten, daß
sowohl menschliche Heiler wie jene „Gna
denstättenfrommer Gläubigen so
manchen geplagten Kranken wieder ziehen
lassen mußten, ungeheilt, oder nur dem
augenblicklichen Scheine nach gebessert. ‒
.Torheit aber nur wird leugnen wollen,
daß die Macht des Glaubens ganz erstaun‐
licher Wirkung auf den Körper eines
Menschen fähig ist. ‒
.Was nun dem dynamischen Glauben
aber möglich ist, dort, wo es gilt, auf
Körperliches einzuwirken, wird weit
übertroffen durch die Wirkungen, die
rechtgeleiteter Glaube im unsichtbaren
Organismus des Geistes hervorzubringen
vermag. ‒ ‒
100 Der Weg meiner Schüler
.So, wie jedoch der körperlich Kranke,
dessen Krankheit von einer Art ist, die
durch den Glauben geheilt werden kann,
das Bild der Gesundheit in sich aufrich‐
ten muß, und zwar aus gleicher Kraft, durch
die er bisher in sich das Bild der Krank‐
heit aufgerichtet hatte, so muß auch der
Suchende, der sein höchstes Ziel im
Reiche des Geistes erreichen will, aus
der Kraft des Glaubens in sich selbst die
geistige Form erschaffen, in die er sich
wandeln will...
.Noch nie hat auch der glühendste
Wunsch aus einem Suchenden einen Fin
der werden lassen im Reiche des Geistes!
.Auch hier muß die Möglichkeit des
Findens erst zur Gewißheit geworden
sein, bevor das hohe Ziel erreicht werden
kann.
.Der Glaube an sich selbst ist der
einzig wirksame Wille zu Gott, und dieser
formgebende Wille allein errichtet „das
101 Der Weg meiner Schüler
Bildnis dessen, was er werden soll”, im
Innern des Suchenden. ‒
.Nach diesem Bildnis wandelt sich dann
der unsichtbare geistige Organismus des
Suchenden dergestalt um, daß er mehr und
mehr des Findens fähig wird.
.Verkehrte Lehre und ärgster Mangel
des Vertrauens zu sich selbst haben
den Glauben der Allermeisten dazu miß‐
leitet, daß er in ihrem eigenen Innern das
Bild ihrer selbst errichtet, als das eines,
seiner Natur nach, von höchstem und
sicherem geistigen Erkennen Ausgeschlos
senen, und richtig geleiteter Glaube
muß anstelle dieses Irrtumsbildes das Bild
des Berufenendes Berufenen zur
Gottvereinigung ‒ setzen!
.Vertrauen und Gewißheit, daß sein
höchstes Ziel für ihn erreichbar ist, muß
zu allererst in einem Menschen lebendig
werden, wenn er dem Reiche wesenhaften,
102 Der Weg meiner Schüler
reinen Geistes und dem, was dort seiner
wartet, wirklich nahen will!
.Alle Zaghaftigkeit ist vom Übel, denn
das ewige Heil läßt sich nun einmal nicht
„in Furcht und Zittern” erwirken, auch
wenn man solchen, aller Wirklichkeit un‐
endlich fernen Worten seit Jahrtausenden
gewichtige Bedeutung hier auf Erden gab!
.Unzählige haben da ihr Leben lang ge
sucht und konnten doch nicht finden, nur
weil sie einem solchen üblen Worte sich
vertrauten und also alles Selbstvertrauen
in sich niederhielten!
.Es ist aber ohne den Glauben, von
dem ich hier rede, keinem Erdgeborenen
möglich, wieder in den Geist zu gelangen,
und dieser dynamische Glaube kann nur
in rechter Weise wirksam werden, so er
den Menschen im unerschütterlichsten Ver
trauen zu sich selber findet ‒ im Ver‐
103 Der Weg meiner Schüler
trauen darauf, daß er fähig ist, sein gei
stiges Hochziel zu erreichen.
.Alle geistige, hohe Hilfe, die dem Men‐
schen stetig dargeboten ist, damit sie er‐
setze, was ihm noch mangeln muß, wenn
er, aus irdischer Dunkelheit heraus, sich
auf den Weg zum Lichte wendet, bleibt
völlig machtlos, so lange sie nicht das
Vertrauen zu sich selbst in dem Su‐
chenden wirksam findet. ‒
.Nur einer, der sich selbst vertraut,
vermag es auch, der hohen Hilfe zu ver‐
trauen, die er auf seinem steilen Höhenpfade
nicht entbehren kann. ‒
.Nur einer, der sich selbst vertraut, ist
des rechten dynamischen Glaubens fähig:
‒ steht im Willen zu seiner Erlösung,
entwunden dem bloßen Wunsche!
.Bei allen meinen Anweisungen und
Ratschlägen, setze ich dieses Jasagen zu
104 Der Weg meiner Schüler
sich selbst, ungeachtet aller Fehler und
Mängel um die er wohl wissen soll, bei
meinem Schüler voraus.
.An vielen Stellen meiner Bücher wird
aufs deutlichste gezeigt, wie der Mensch
erst dessen gewiß werden muß, daß er aus
dem ewigen, substantiellen Geiste stammt,
bevor er Hoffnung hegen darf, wieder „in
den Geist” zu gelangen.
.Es ist dem Suchenden, auch beim besten
Willen, nicht einmal möglich, die ihm von
mir erteilten Anweisungen zu gebrauchen,
solange er noch nicht in sich den festen
Glauben an sich selbst und seine ewige
Geistigkeit geschaffen hat.
.Dieser Glaube darf aber nicht ein Für‐
wahr-halten sein, oder eine bloße Annahme.
.Nur der dynamische Glaube: ‒ dieser
Glaube, der Kraft ist und Kraft aus sich
erzeugt, ‒ kann auch die innere Sicher
heit geben, die jeder besitzen muß, der
den Weg in den Geist beschreiten will.
105 Der Weg meiner Schüler
.Hingegen ist das „Glauben” an irgend‐
welche Vorstellungsbilder ‒ mögen sie
nun der Wirklichkeit entsprechen oder nicht
‒ eher ein Hemmnis als eine Hilfe. ‒
.Nicht um Vorstellungsbilder im Gehirn
des Schülers schaffen zu helfen, versuche ich
die dem physischen Auge entrückten Welten
in Worten darzustellen, sondern um eine
Brücke zu schlagen für das voraufgehende
Verstehen der Forderungen, die ich im Inter‐
esse des Suchenden an seinen Tatwillen stel‐
len muß.
.Wo man in solchen Darstellungen „Wider
spruch” zu finden glaubt ‒ was zuweilen
nicht schwer ist, ‒ dort lasse man vorerst
alles auf sich beruhen, bis eigener dyna
mischer Glaube scheinbaren Irrtum auf‐
zulösen lehrt.
.Dynamischer Glaube ist gesichert in
sich selbst und kann niemals durch Fehl‐
deutung eines Wortbildes erschüttert werden.
106 Der Weg meiner Schüler
DAS ÄRGSTE HINDERNIS
.Das ärgste Hindernis auf seinem inneren
Wege ist für den Suchenden nicht etwa
eine allezeit zu vorschnellem Zweifel be‐
reite, hypertrophierte Skepsis, sondern die
in vielerlei Masken ihn bedrängende ‒
Angst!
.Selbst die vermeintliche Skepsis ist aller‐
meist Angst, die sich nur im Mantel der
Zweifelsucht zu verstecken trachtet.
.Angst, einem Irrtum, oder gar Schlim‐
merem anheimzufallen, ‒ Angst, sein
eigenes Weltbild revidieren zu müssen, ‒
und schließlich Angst, etwa von Anderen
verlacht zu werden.
.Die Menschen nennen einander gar zu
gerne große und beachtenswerte Gründe
109 Der Weg meiner Schüler
für ihr Tun, indessen sich hinter ihm nur
irgend eine Form der Angst verbirgt.
.Oder, sie verstecken sich vor ihr hinter
hohle Wortvorwände, um sie nicht sehen
zu müssen...
.Es gibt mehr Opfer der Angst in der
Welt, als je eine mörderische Seuche an
Menschenopfern für sich verlangte!
.So ist es kein Wunder, daß auch der
Suchende nach sich selbst und seinem in
ihm verborgen thronenden lebendigen
Gott, von mancherlei Formen der Angst
bedrängt wird und harte Hemmung durch
sie erfährt.
.Es wird nicht Allen ganz leicht, alle
Angst zu besiegen, ‒ doch ist es weitaus
leichter als das Aufspüren der Angst
in ihren vielen, und sie gar gut verber‐
genden Masken...
110 Der Weg meiner Schüler
.Der Suchende kann nicht sorgfältig ge‐
nug prüfen, ob sich hinter dem, was er
seine Gründe, seine Motive, seine Absich‐
ten nennt, nicht irgend eine Form der
Angst verbirgt.
.Übersieht er auch nur eine solche
Maskierung, dann hat er dauernd die Be‐
feindung quasi: „im eigenen Haus”, und
vermag sie nicht hinauszuweisen, da er sie
als solche ja nicht erkennt.
.Die Angst ist für viel mehr Torheit
und Greuel in der Welt verantwortlich,
als die Verängsteten ahnen, und zugeben
möchten. ‒
.Wo man auch hinsehen mag, dort wird
man in unzähligen Fällen hinter den Ent‐
scheidungen der Menschen die Angst ge‐
wahren!
.Angst um dieses und jenes, ‒ Angst
um tausenderlei, ‒ Angst in den trüge‐
rischsten Masken.
111 Der Weg meiner Schüler
.So quält sie den Suchenden vor allem
gerne als „Gewissensangst”, weil er nicht
zu fassen vermag, daß ihm, trotz seinen
Fehlern und Mängeln, der Zugang zum
ewigen Geiste offenstehen soll.
.Aber „Gewissensangst” hat es durchaus
nicht immer mit dem Gewissen zu tun!
.„Gewissensangst” hat nur zu viel „auf
dem Gewissen”, womit Gewissenhaftigkeit
den Menschen nie belastet haben würde. ‒
.In solchen zeitweiligen Nöten tut der
Suchende gut, seine innere Entfaltung
einige Zeit unbeachtet zu lassen, und sich
in keiner Weise mit sich selbst zu be‐
schäftigen, bis es ihm gelang, die offene
oder verkappte Angst zu besiegen, und
sie dann von ihm gewichen ist.
.Er wird dadurch nicht das Geringste
verlieren, denn: ‒ niemals kann aus der
Angst Gutes kommen!
112 Der Weg meiner Schüler
.Hat ihn die Angst verlassen, ‒ einerlei
in welcher Form sie zu ihm gekommen
war, ‒ dann wird er gewahren, daß seine
Entfaltung in der selbstauferlegten Warte‐
zeit keineswegs wirklich unterbrochen war.
.Angst ist nur, wo Mangel an Vertrauen
in die eigene Selbstberechtigung aufkommen
konnte, ‒ aber in Zeiten solchen Ver‐
trauensmangels zu sich selbst, soll man
nicht an sich arbeiten wollen!
.Vergebens wird man die ganze Welt
durchsuchen nach irgend einer fördernden
Tat, die in Angstbesessenheit gewirkt
worden wäre!
.Dort, wo man behauptet, irgend ein
Gutes sei aus irgend einer Angst hervor‐
gegangen, liegt nur ein Übersehen vor,
weil man nicht beachtet, daß das spätere
Gute keineswegs aus der Angst, sondern
aus dem dazwischenliegenden Moment plötz‐
113 Der Weg meiner Schüler
licher Angstüberwindung seine Kraft
empfing um ins Dasein zu kommen.
.Angst ist schlimmer noch als bloße
Furcht”, weil sie alle Lücken stopft,
durch die noch der Mut Zugang finden
könnte, der von der Furcht nur „vergessen”
wird, um, im Moment des Wiedererinnerns,
oft plötzlich mit erneuter Kraft herbeige‐
rufen zu werden.
.Angst aber will keinen Mut! ‒
.Der geängstete Mensch betrachtet den
Zuruf: seine Mutlosigkeit von sich abzutun,
als feindliche Einmischung in seine ver‐
meintlichen Rechte.
.Angst ist wie ein Zustand der Selbst‐
hypnose, aus dem es nur dann ein baldiges
Erwachen gibt, wenn es zu angstfreier Zeit
energisch „befohlen” wurde.
.Der irgendwelchen Formen der Angst
leicht Zugängliche kann sich kaum oft ge‐
nug solchen Befehl erteilen.
114 Der Weg meiner Schüler
.Der Schüler im Geistigen aber würde
allen Erfolg seiner Arbeit an sich selbst in
Frage stellen, wollte er Angstzustände in
sich gewähren lassen.
.Immer wieder muß er sich selbst be‐
lehren, daß es tatsächlich nichts gibt, vor
dem er Angst haben müßte.
.Solange sein Wille nicht sein hohes
Streben verneint, sind ihm außerdem jeder‐
zeit hohe Helfer zur Seite, die seine Abwehr
durch ihre eigenen Kräfte auf höchste Wirk‐
samkeit steigern.
.Hat der Suchende seine Angst über
wunden, dann wird er jedesmal aufs neue
entdecken, daß all sein Sich-ängsten nur
durch ein von ihm selbst erzeugtes Schreck‐
gespenst verursacht war.
.Durch solche selbstgeschaffene, ihre Kräfte
zersprengende Bedrohung haben sich schon
viele Menschen selbst getötet, ohne es zu
wollen!
115 Der Weg meiner Schüler
.Tod aus bloßer Angst ist viel weniger
selten, als gemeinhin angenommen wird.
.Angst ist nichts außer uns Seiendes,
sondern empfängt all ihr Leben nur durch
den Menschen.
.Angst ist natürlich nicht gar etwas
„Geistiges”, und ebensowenig etwas „Seeli‐
sches”, obwohl man das Wort „Seelenangst”
geprägt hat!
.Diese „Seelenangst” ist wie alle andere,
als solche erkennbare, oder maskierte
Angst, nichts anderes als eine Art „Krampf”
gewisser allerfeinster Nerven, der durch
die Rückwirkung bestimmter Vorstellun
gen auf die Gehirnbewegung erregt wird:
‒ also eine nur in der Physis und dem
rein physischen Gehirnbewußtsein sich
abspielende Störung. ‒
.Daß es sich bei den Vorstellungen,
deren Rückwirkung den speziellen Angst‐
116 Der Weg meiner Schüler
krampf auslöst, um solche aus dem gei
stigen, oder dem seelischen Gebiet eben
so handeln kann, wie um solche aus dem
Gebiet der physisch-sinnlichen Welt, darf
nicht dazu verführen, das Phänomen der
Angst in seelische oder gar geistige Bereiche
zu projizieren!
.Die Bekämpfung der Angst wird nur
dann erfolgreich vor sich gehen, wenn, die
im jeweiligen Fall wirksamen, angsterzeu‐
genden Vorstellungen klar erkannt, und
die angstbewirkenden Momente dieser
Vorstellungen durch nüchterne Betrachtung
zur Zersetzung gebracht werden.
.Da diese Vorstellungen nicht nur in den
einzelnen angstanfälligen Menschen ver‐
schieden sind, sondern auch im Einzelnen
selbst vielfältig wechseln können, so ist es
ratsam, sich immer wieder den schon er‐
wähnten Gehirnbefehl zu geben, sofort aus
dem eingetretenen Angstkrampf zu „er‐
wachen”.
117 Der Weg meiner Schüler
.Danach aber muß unbedingt die angst‐
bewirkende Vorstellung gedanklich isoliert
und auf ihre angsterzeugenden Momente
hin untersucht werden.
.Hat man diese Momente genau festge‐
stellt, dann sind sie leicht im Denken auf
zulösen und können dann fernerhin nicht
mehr zur Wirkung kommen.
.Ich will hier nicht Dinge erörtern, die
den Arzt angehen, sondern nur meinem
Schüler Anweisung geben, wie er das ärgste
Hindernis seines inneren Voranschreitens
auf seinem Wege zu beseitigen vermag.
.Das ist umsomehr nötig, als auch die
im Außenleben mutigsten Menschen zuwei‐
len in die wunderlichsten verkappten Angst‐
zustände verfallen, nachdem sie begonnen
haben, an der Entfaltung ihres geistigen
Organismus ernstlich zu arbeiten.
.Erklärbar wird das, wenn man sich vor
Augen hält, daß zwar viele Menschen ge‐
118 Der Weg meiner Schüler
wohnt sind, ihren physischen Körper
irgendwie zu trainieren, andere, ihr Gehirn
auf die höchste Leistungsfähigkeit zu bringen
suchen, und wieder andere ihr seelisches
Empfinden pflegen, ‒ daß aber für die
Allermeisten der eigene substantiell-gei
stige Organismus, ‒ vom Erdentier her
instinktiv gemieden, ‒ durchaus im Latenz‐
zustand bleibt, so daß er eine vollkommen
unbekannte, dem Gehirnbewußtsein „un‐
heimliche” Region darstellt.
.Das Ungekannte, nicht Durchforschte,
bildet jedoch immer den unbestimmtesten,
und darum am liebsten vorgestellten
Schauplatz aller durch die Angst erzeugten
Schreckbilder menschlicher Phantasie.
.Solange solche Schreckbilder, ‒ aus
den im Gehirn verbliebenen Ablagerungen
frühgehörter Kindermärchen, einst ge‐
glaubter Behauptungen des überkom
menen Religionssystems, und den Vor‐
119 Der Weg meiner Schüler
stellungen selbstbegangener, vermeintlicher
oder wirklicher „Schuld” gebildet, ‒ nicht
endgültig gebannt sind, ist ein resolutes
Weiterschreiten auf dem Innenwege, der
„in den Geist” führt, noch kaum möglich.
.Daher erwächst dem Suchenden die
Pflicht zu tagtäglich wiederholter Über‐
prüfung der wirklichen Motive seines
Denkens, Redens und Handelns, um so
allmählich die Angst in allen ihren Mas‐
kierungen zu erkennen, und aus ihren
Schlupfwinkeln zu treiben.
.Das ist wahrhaft fördernde Kontrol‐
lierung des innern Lebens, und hilft weit
mehr, als alle „Gewissenserforschung”, die,
nach jedem Splitterchen wirklicher oder
nur eingebildeter „Schuld” sucht, und da‐
durch zu einem Fluch werden kann, dem
gerade die gewissenhaftesten Naturen am
ehesten zum Opfer fallen...
120 Der Weg meiner Schüler
DER SCHÜLER
UND SEINE GEFÄHRTEN
.Weniges verträgt wirkliche geistige Schüler‐
schaft so schlecht, wie den Ehrgeiz!
.Während bei allem anderen menschlichen
Tun das Bestreben, mehr zu wissen, mehr
zu können als Andere, den so Beflissenen
voranbringen kann, wirkt für den Schüler
im Geistigen schon der leiseste Wunsch,
seine Gefährten und Mitstrebenden über
flügeln zu wollen, retardierend.
.Eine Regung des Neides gar, die nicht
augenblicklich bekämpft und zum dauern‐
den Verlöschen gebracht wird, bringt
alles geistige Wachstum zum Stillstand,
‒ wie sehr sich der Schüler auch weiter‐
hin mühen möge...
.Erst wenn er auch die letzte Neidregung
in sich spurlos ausgetilgt hat, darf er
auf wirkliches Weiterschreiten hoffen.
123 Der Weg meiner Schüler
.In diesen Dingen gibt es keine „Aus‐
nahme”: ‒ keine Sonderstellung für ein‐
zelne Menschen, ‒ mögen sie auch an er‐
habenster Stelle stehen, oder sich in be‐
wunderungswürdigster Weise um die ganze
Erdenmenschheit verdient gemacht haben. ‒
.Was sich mit solcher Unerbittlichkeit
auswirkt, ist das allem substantiellen gei‐
stigen Leben innewohnende, ihm selber
entstammende, und von ihm nicht geson‐
dert zu denkende „Gesetz” allen geistig
realen Geschehens, das in aller Ewigkeit
keinen Übertreter zu befürchten hat.
.Es kann niemals im Bereiche geistigen
Geschehens ‒ bis an seine äußerste Pe‐
ripherie hin ‒ auch nur das Geringste
geschehen, was diesem „Gesetz” nicht
entsprechen würde, das inhärente und inte‐
grierende Bestimmtheit des substantiellen
ewigen Geistes ist.
.Dem hier gemeinten eigenen „Gesetz”
des substantiellen, ewigen Geistes gegen‐
124 Der Weg meiner Schüler
über gilt nur das am Menschen, was des
Geistes ist.
.Ob das, was an ihm „des Geistes” ist,
bereits zu seinem Bewußtsein erwachte,
ist zwar für den einzelnen Erdenmen
schen wichtig, aber niemals für den Geist,
dem es ja angehörig bleibt, auch wenn es
nicht in einem Menschenbewußtsein ver‐
nehmbar wird.
.Man darf sich nicht irreführen lassen,
durch die zwar Dichtern allenfalls erlaub‐
ten, aber so wenig wirklichkeitsnahen ele‐
gischen Träumereien von einer Gottheit,
die des Menschen Leid als das ihre er‐
lebt, und vom Menschen her ihre eigene
Erlösung erwartet!
.Die Dinge liegen in Wirklichkeit recht
wesentlich anders...
.Stets soll sich der Schüler gegenwärtig
halten, was ich von unser aller ewigem Seins
125 Der Weg meiner Schüler
grund zu sagen suche, wenn auch gerade
bei diesem Sagenwollen die Unzulänglich‐
keit aller erdenmenschlichen Worte noch
quälender empfunden und dennoch hin‐
genommen werden muß, als bei jedem
anderen Darstellungsversuch...
.So über alle Begriffe erhaben das auch
ist, von dem ich da in meinen Büchern
immer wieder zu handeln habe, so darf
doch der natürliche Drang des Menschen,
sich von Allem Vorstellungen bilden zu
wollen, nicht ganz ohne Hinweis und An‐
deutung gelassen werden.
.Ich spreche in erlebender Ehrfurcht von
einer höchsten Triade, die ich: Ursein,
Urlicht und Urwort nenne, ‒ von ihrer
Selbstdarstellung, die ich in Menschen‐
worten faßlich zu machen suche in der
Trias: Urlicht, Urwort, Ur-Geistes
mensch, ‒ und ich zeige, wie das, was
ich voll erschauernder Anbetung als „Ur‐
Geistesmensch” zu benennen versuche,
126 Der Weg meiner Schüler
Vater” ist ‒ und auch „Mutter” zugleich:
‒ der erscheinenden Dreiheit des gei
stigen, seelischen, und verstandesartig
begreifenden Menschen...
.Ich versuche, zu zeigen, wie solcher‐
weise der wirkliche „Mensch” hinauf- und
hineinreicht in die innerste Gottheit, die
sich ihm liebend erlebensfaßbar macht, als
sein, ihm individuell vereinter „leben
digerGott...
.Ich habe schließlich darzulegen, wie in‐
folgedessen begriffen werden muß, daß das,
was man auf Erden als den „Menschen”
bezeichnet, nicht etwa der ewige Mensch
ist, sondern das erdgehörige Tier, in dem
sich ewige Menschenemanationen zu erleben
suchen, die über den Kulminationspunkt
ihres Individualzustandes hinausgelang
ten, was für sie ein Fallenmüssen zu
bedeuten hatte, ‒ einen „sündhaften”,
weil verschuldeten „Fall” aus höchstem
Leuchten, ‒ für den es keinen, den Wieder‐
127 Der Weg meiner Schüler
aufstieg ermöglichenden Ausgleich gibt, als
die Inkarnation in einem der schuldfreien,
physischen Wesen des Weltalls: ‒ einem
Tiere, ‒ wobei allerdings nur eine Tier‐
form in Betracht kam, die Eignung zeigte,
ewig Menschlichem dereinst Ausdruck
werden zu können.
.Wir kennen diese Tierform nur zu gut
aus eigenem physischen Erleben! ‒
.So gut wir aber auch unsere Tierform:
das „Menschtier”, in seinen Bedürfnissen,
Neigungen und Trieben selbsterlebend
kennen, so sehr finden wir uns bereit, ihm
vieles abzusprechen, was ihm in Wahr‐
heit zukommt, ‒ nur, weil wir es schwer
ertragen, daß wir weit mehr, als wir wün‐
schen könnten, mit den anderen Tieren ge‐
meinsam haben, während gerade das Eine,
was wir ‒ als Tiere ‒ nicht mit unseren
Mit-Tieren zusammen uns zurechnen dürfen:
die Schuldlosigkeit ‒ Gegenstand
128 Der Weg meiner Schüler
heißen Sehnens für uns wäre, könnten
wir hieran noch Anteil haben, nachdem
die in rein tierhafter Unschuld verbrachten
allerersten Kindheitsjahre hinter uns lie‐
gen. ‒
.Nicht nur, daß wir unseren gehirnbe‐
stimmten irdischen Verstand gar zu gerne
aus dem Bereiche der Tierheit lösen möch‐
ten, wie ein reichgewordener Emporkömm‐
ling sich gerne aus seinem Herkunfts-Milieu
zu lösen sucht, ‒ sondern es liegt uns
auch recht nahe, unseren Mit-Tieren das
abzusprechen, was wir nach landläufigem
Gebrauch unsere „Seele” nennen, und was
sich nur durch bewußte Entwicklung
über die primitivere Region, die es in an‐
deren Tieren bildet, in uns erhebt. ‒
.Um hier sich kein Hindernis der Ent‐
faltung zu schaffen, muß der Schüler er‐
kennen, daß fast alles, was wir gemein‐
hin „seelische” Regungen nennen, noch der
vergänglichen Tierseele zugeschrieben wer‐
den muß, die wir mit allen anderen Tieren
129 Der Weg meiner Schüler
gemeinsam haben, auch wenn sie in uns, ‒
durch die Influenz der nur dem Menschen
eigenen, aus unvergänglichen Kräften
der Gottheit hervorgegangenen Seele, ‒
für ihre irdisch begrenzte Lebensdauer
eine reichere Empfindungs- und Ausdrucks‐
fähigkeit erlangt.
.Aus der tierischen „Seele”, und nur
aus ihr, stammt aller Ehrgeiz, alle Wett‐
bewerbsucht und aller Neid, die dem Schüler,
der die Entfaltung seines Geistigen er‐
strebt, so überaus verhängnisvoll werden
können! ‒ ‒
.Es liegt auf der Hand, daß es Sache
des Schülers sein muß, die vergängliche
tierhafte „Seele” den ewigen Seelen
kräften, die ihm als gottgezeugten seeli‐
schen „Menschen” eignen, so weit es nur
möglich wird, zu unterordnen.
.So müssen alle tierseelischen Regungen,
die mit der erstrebten Einung der ewigen
130 Der Weg meiner Schüler
Seelenkräfte in der Erlebensform ‒ „Ich
übereinstimmend gefunden werden,
während dieser erdbegrenzten Lebensdauer
des Tiermenschenleibes erhalten, gepflegt,
und zur Erleichterung des Einheitserlebens
der ewigen Seele eingesetzt werden.
.Alle Regungen der Tierseele aber, die
der Einung ewiger Seelenkräfte in der
Identitätsform: ‒ „Ich” ‒, oder der Ent‐
faltung des substantiellen, ewigen mensch‐
lichen Geistorganismus entgegen wirken,
müssen nach und nach zum austönenden
Abklingen gebracht werden, ‒ und wenn
auch dieser Prozeß mit der alle Verwand‐
lung fördernden Zeit zu rechnen hat, so
muß doch schon vom Anfang an allem
Störenden gewehrt werden.
.Das Trachten nach der Überflügelung
des Mitstrebenden in der geistigen Schulung,
oder gar der Neid auf den Grad geistiger
Entfaltung, den der Andere bereits erreichte,
sind bloße Äußerungen der Tierseele,
131 Der Weg meiner Schüler
und haargenau dem Kampf der Tiere um
das Futter, und dem wohlbekannten Futter‐
neid gleichzusetzen.
.Der Suchende aber muß nicht nur Herr
über derart niedere Tierseelenregungen sein,
sondern die gegenteiligen Empfindungen
in seiner ewigen Seele erwecken.
.Er darf nicht rasten, bis es ihm gelingt,
beglückende Freude zu empfinden bei der
Wahrnehmung, daß seines Mitschülers gei‐
stige Entfaltung schon viel weiter gediehen
ist, als die eigene!
.Es muß ihm zur Selbstverständlichkeit
werden, dem hinter ihm Zurückbleibenden
alle nur mögliche Hilfe zu bringen!
.Auch die Menschen, die als „Meister”
der Kunst des Lebens in den drei Welten
(‒ der Welt des verstandesartigen Begrei‐
fens, der Welt der Seelenkräfte, und der
Welt des substantiellen ewigen Geistes! ‒)
angesprochen werden, handeln niemals
anders.
132 Der Weg meiner Schüler
.Sie sehen einzelne ihrer „Brüder” in
fast unerreichbaren Höhen wandelnd, und
andere noch in Niederungen, die sie
selbst lange schon überstiegen haben, oder
niemals zu durchmessen hatten.
.Würde es mir, oder einem aus meinen
Brüdern, auch nur noch möglich sein,
die glühende Freude vermissen zu lassen
beim Hinaufblick zu dem erhöhten Bru‐
der, oder den brennenden Helferwillen dem
vorerst noch durch seine Tiefen schrei‐
tenden gegenüber, ‒ so hätten wir auf‐
gehört, das zu sein, was wir sind, und un‐
ser Leuchten im Urlicht wäre unmöglich
geworden. ‒ ‒
.Eine weitere Regung der Tierseele,
die der Geistschüler von allem Anfang an
überwinden lernen muß, ist der hämische
Trieb, die Fehler und Mängel des Mit‐
strebenden zu entdecken, und sie womög‐
lich Anderen auch noch aufzuzeigen.
133 Der Weg meiner Schüler
.Auch diese Regung bildet ein verhäng
nisvolles Hemmnis wirklicher geistiger
Entfaltung, und ehe sie nicht bis auf die
letzte Spur getilgt ist, bleibt alles ver‐
meintliche „Weiterschreiten” auf dem Wege,
nichtige Selbsttäuschung...
.Der Schüler, der vom ewigen, substan‐
tiellen Geiste her Belehrung und Hilfe er‐
wartet, darf die Fehler und Mängel seines
Gefährten nicht einmal sehen wollen,
und wenn sie ihm unvermeidbarerweise
dennoch bekannt geworden sind, dann hat
er die Pflicht sie zu ignorieren!
.Sollte es sich aber um Dinge handeln,
die dem Fehlenden selbst und Anderen
wesentliche Schädigung bringen könnten,
sodaß sie also nicht ignoriert werden dür
fen, dann möge der unfreiwillige Ent‐
decker solcher Mängel sie nur solchen
Menschen offenbar machen, von denen er
mit aller Bestimmtheit weiß, daß sie kein
anderes Bestreben leiten wird, als den Feh‐
134 Der Weg meiner Schüler
lenden vor sich selbst und die Anderen
vor ihm zu schützen.
.Es findet sich auch da eine Parallele
zu den im Urlicht Leuchtenden.
.Da es sich bei ihrer biologischen We‐
sensart um Jahrtausende vor der irdischen
Geburt erlangte Bestimmtheit des Da‐
seinswillens handelt, so muß im vorausge‐
gebenen Zeitpunkt Geburt angenommen
werden, die alle psychophysischen
Voraussetzungen für die übertragene
Aufgabe verbürgt, auch wenn in ihr
zugleich Erbteil mitgegeben ist, das der
Geborene während seines Erdendaseins
nur gerade im Zaum zu halten suchen
kann, weil er seine Kräfte anderwärts
braucht, und weil zugleich ein Nieder
ringen des Nichtgewollten, so wünschens‐
wert es auch wäre, die physische Basis
seines Wirkens in nicht zu verantworten‐
dem Grade verengen würde.
135 Der Weg meiner Schüler
.Die in seiner vergänglichen physischen
Natur ihm solcherart „mitgegebenen” offen‐
sichtlichen Fehlneigungen können auf je‐
dem Gebiet erdenmenschlichen, durch die
physisch-tierischen Kräfte bedingten Han‐
delns sich bis zu einem gewissen Grade
zeigen, auch wenn der Leuchtende des Ur‐
lichts immer erneut Barrieren aufrichten
wird, um allzudrastische Äußerungsformen
unmöglich werden zu lassen.
.Kein Leuchtender im Urlicht hatte
jemals den kinderhaft törichten, eitelkeit‐
genährten Ehrgeiz, als ein „Heiliger” gelten
zu wollen, und keiner wird je solchen Ehr‐
geiz in sich nähren können!
.Wehe aber dem Leuchtenden, ‒ und
stehe er auch auf menschlich kaum vor‐
stellbarer geistiger Höhe, ‒ der die Äußer‐
ungen physisch-erdenmenschlicher Mängel
an einem seiner geistigen „Brüder” etwa
in anderer Art aufnehmen wollte, als
mit humorgetränkter, wissender Nachsicht!
136 Der Weg meiner Schüler
.Da eine andere Haltung in diesem gei‐
stigen Kreise unmöglich ist, darf es hier
nur als dem Verstehen dienende Fiktion
aufgefaßt werden, wenn ich, um der gei‐
stigen Bedeutung dieser Dinge willen er‐
klären muß, daß auch schon die leiseste
Neigung eines Leuchtenden im Urlicht,
sich über den in physisch-irdischen Dingen
fehlbar gewordenen Bruder „erhaben” zu
fühlen, die Selbstvernichtung des eigenen
Geistesorganismus bedeuten müßte...
.Der Schüler des substantiellen, ewigen
Geistes kann nur dann auf den wirklichen
Erfolg seiner Mühen rechnen, wenn er in
jedem Mitstrebenden, ‒ sei er ihm per‐
sönlich nahe, oder ganz unbekannt, ‒ alles
vergängliche, physischirdisch Bedingte, in
wahrer Herzensgüte und verstehender Nach‐
sicht betrachtet, jedoch mehr und mehr dahin
gelangt, zu begreifen, daß der individuelle
Geistorganismus, den sein Gefährte in
sich bewußtseinsnahe erreichen will, glei
cher Substanz ist, wie sein eigener.
137 Der Weg meiner Schüler
.Wer ein großes Erbe in einer bestimmten
irdischen Geldwährung erhalten soll, der
wird schwerlich darauf ausgehen, eben diese
Währung zu entwerten, nur weil ihm ei‐
nes Anderen Gehaben wenig zusagt, der
Reichtümer in der gleichen Geldwährung
besitzt, oder zu gewärtigen hat.
.Wenn aber schon aus diesem Beispielsfall
klar hervorgeht, daß sich ein unvernünftiger
Erbe um sein ihm zugedachtes Gut bringen
würde, gelänge es ihm, die Geldwährung sei‐
nes Erbes zu schädigen, so dürfte erst recht
begreifbar sein, daß man im Geistigen nicht
das, wonach man selber in sich strebt, ‒
für sich selbst bejahen, im Anderen aber
zugleich verneinen kann. ‒
.Es handelt sich hier um ein Gut, das
zwar mit dem Gut des Anderen keineswegs
identisch, wohl aber seiner Qualität und
seinem Ursprung nach, dem Gut des Anderen
in jeder Beziehung „gleich” ist!
138 Der Weg meiner Schüler
.Wer die Erlangung dieses urgeistigen
Gutes einem Anderen verwehrt sehen möchte,
der entzieht es sich damit selbst.
.Wurde nun bisher bezeichnet, was ver‐
mieden werden muß, so sei hier jetzt ge‐
sagt, was sein soll:
.Die Erlangung identischen Bewußtseins
im verstandesartig-begrifflichen, im
seelischen, und im substantiell-geisti
gen Erfassen ist gewiß ein Postulat der
substantiell-geistigen Welt, aber keineswegs
lautet diese Forderung etwa dahin, daß der
Inhalt des verstandesmäßig-begrifflichen
Bewußtseins einfach nur gewechselt werden
solle, so daß fortan lediglich Begriffe von
geistsubstantiellen Dingen aufzunehmen
wären.
.Es handelt sich vielmehr um drei, dis
tinkt in ihrer Erlebensart voneinander
geschiedene Bewußtseinsarten, die in der,
selbst dem innersten Göttlichen eigenen,
139 Der Weg meiner Schüler
Erlebnisform: ‒ „Ich” ‒ gemeinsamer
Besitz eines Individuums werden sollen!
.Darum hängt so Außerordentliches hier
vom Willen des Menschen ab: ‒ von seiner
Bereitwilligkeit, ganz neue Bewußtseins‐
formen in sich kennenzulernen, die mit dem
ihm bisher bekannten verstandesartig
begrifflichen Bewußtsein sehr wenig ge‐
meinsam haben, und sich auch in Worten
nicht schildern lassen, da sie nur durch
eigenes „Innewerden” erfahrbar sind.
.Es würde den Suchenden aber in keiner
Weise weiter bringen, wenn er sich nun
darauf verlegen wollte, sich allerlei „aus‐
zumalen” um zu irgend einem Begriff von
der besonderen, ihm noch nicht bekannten
Eigenart des Bewußtwerdens in den ewigen
Kräften der Seele, und im substantiellen,
ewigen Geiste zu gelangen.
.Was wirklich vom Geiste her von je‐
dem Schüler des Geistes erwartet wird, liegt
auf physisch greifbarem Gebiet, wenn die
140 Der Weg meiner Schüler
Auswirkungen auch bereits weit darüber
hinaus in rein seelische und geistsubstan‐
tielle Gefilde reichen.
.Hier ist nun die Rede von der Ver‐
pflichtung eines jeden Geistes-Schülers, im
Leben der Außenwelt, und den ihm etwa
verbundenen Gleichstrebenden gegenüber,
seiner, wenn auch noch in der Latenz ver‐
harrenden Geistigkeit jederzeit ein würdiger
und währender Ausdrucks-Schöpfer zu sein.
.In dem Augenblick, in dem sich ein
Mensch entschließt, Schüler des Geistes zu
werden, um sein ewiges seelisches, und
das Bewußtsein des ewigen Geistes im
eigenen geistigen Organismus zu erreichen,
hat er zugleich, auch wenn das Selbstver‐
ständliche hier keine Gelübde benötigt,
sich willentlich von allen Daseinsäus‐
serungen seiner Mitmenschen zurückge
zogen, die der Entfaltung seines geistigen
Organismus hemmend im Wege stehen,
oder sie ganz unmöglich machen.
141 Der Weg meiner Schüler
.Das alltägliche Vergnügungsleben unserer
Zeit ist eine wahre Sammlung von „Schul‐
beispielen” solcher, die Erlangung des Be‐
wußtwerdens im Geiste sabotierenden Da‐
seinsäußerungen des zu mancherlei Raffine‐
ment gediehenen Menschentieres, ‒ aber
auch auf anderen, sehr ernst zu nehmenden
Gebieten, fehlt es nicht an Daseinsbekun‐
dungen, die kaum noch auf der Höhe der
Tierseele stehen.
.Wer mich verstehen will, der wird
mich verstehen! ‒
.Dem allem aber soll der Schüler des
Geistes nicht kämpferisch begegnen, son‐
dern nur dadurch, daß er Derartiges für
seine Person ignoriert, ‒ daß er dem
ewigen Geiste Entsprechendes an die
Stelle des Abgeschmackten, Tierbrün
stigen, und der manischen Lebensver
zerrung zu setzen sucht, soweit es in sei
nen Kräften steht, ‒ und daß er nicht
müde wird, im eigenen Verhalten Anderen
142 Der Weg meiner Schüler
zu zeigen: wie es sich bei alledem über‐
haupt nicht um wünschbare und beachtens‐
werte Dinge des Lebens handelt.
.Nur bitte ich dringend darum, mich
nicht falsch zu verstehen!
.Ich kann keine Art der Ablehnung
geistig geächteter Lebensäußerungen ernst
nehmen, der das Lachen und Auslachen
können nicht mehr recht gelingen will!
.Sauertöpfisches Abseitsstehen, Nörgeln
und Räsonnieren sind schlechte Mittel,
Anderen die Augen dafür zu öffnen, daß
sie Sklaven törichter Selbstsuggestionen und
überreizter Nerven wurden! ‒
.Wirksamer als alles Andere vermag
immer das Beispiel zu wirken, und bei
spielgebend voranzugehen, ist daher die
vornehmste Aufgabe eines Menschen, der
„in den Geist” gelangen will.
.Eine einzige beispielhafte Handlung kann
dem Gefährten weit wertvollere Lehre
143 Der Weg meiner Schüler
sein, als stundenlange Disputation, und so
wird auch das Wirken eines Geistschülers
in engerer oder weiterer Öffentlichkeit
desto wertbringender sein, je mehr er sich
ganz auf die Wirkung seines Beispiels
verläßt, und infolge eigener straffer Selbst‐
erziehung auch jederzeit verlassen kann...
.Der Schüler wird scharf der Tatsache
bewußt werden müssen, daß er tief im
trüben Nebel törichten Verstandesdünkels
steckt, solange er noch glaubt, ein Sieg in
der Disputation mit seinen Gefährten sei
etwa gleichbedeutend mit dem Besiegen
eigener innerer Finsternis. ‒
.Nicht durch Worte, sondern nur durch
sein Beispiel kann er erweisen, daß er in
sich selber wirklich Sieger wurde.
144 Der Weg meiner Schüler
INNENLEBEN UND AUSSENWELT
.Daß Suchende nur insofern „meine”
Schüler sein können, als sie sich bei der
Richtung und eigenen Bestimmung ihres
Strebens an die in meinen Büchern nie‐
dergelegten Mitteilungen, Anweisungen und
Lehrtexte halten, ohne in meiner Person
anderes sehen zu wollen, als den berufenen
Vermittler und Former der dargebotenen
Einblicke und Ratschläge, habe ich hin‐
reichend deutlich ausgesprochen.
.Es handelt sich um ein rein geistiges
Schülerverhältnis, bei dem ich für jeden
Suchenden, der sich in solcher Weise nach
meinen Lehren richtet, daß er wahrhaft
ein Recht hat, sich meinen „Schüler” zu
nennen, ewige Verantwortung trage.
.Das ist hier nicht etwa gleichzusetzen
mit dem von allen gewissenhaften Seel‐
145 Der Weg meiner Schüler
sorgern der Religionsgemeinschaften gefühl‐
ten und geäußerten „Verantwortungsbe‐
wußtsein” gegenüber ihren Gläubigen, ‒
sondern meine Verantwortung für den Su‐
chenden, der exakt den von mir erteilten
Ratschlägen folgt, um „in den Geist” zu
gelangen, besteht in einer unablösbaren
Verpflichtung, die auch in den kommen‐
den nachirdischen Zuständen weiter ihre
Forderungen stellt, und nicht eher erfüllt
ist, als bis der Suchende, der sich meinen
Lehren anvertraute, erreicht hat, was ich
ihm versprechen konnte. ‒
.Allerdings muß ich darum bitten: ‒
genau unterscheiden zu wollen, was ich
in meinen Büchern als geistig möglich,
und unter gewissen, klar gezeigten Vor‐
aussetzungen erlebbar bezeichne, und nur
darstelle, um die verschiedenen Stufen
geistigen Erlebens zu schildern, die ganz
fraglos nicht allen Menschen schon auf
Erden erreichbar werden können, ‒ und
was ich deutlich und ganz unmißverständ‐
148 Der Weg meiner Schüler
lich von jedem Geistschüler während seines
irdischen Lebens erreicht sehen will.
.Daß ich den Strebenden lebendigen An‐
teil nehmen lasse, auch am Erleben der
höheren, ihm möglicherweise hier auf
Erden noch unerreichbaren Stufen geistiger
Erlebensfähigkeit, ist nötig, um ihm zu
ermöglichen, sich selbst „Richtung” zu
geben, heißt aber gewiß nicht, daß ich ihm
das Erreichen dieser Erlebensfähigkeit im
Geiste etwa versprechen könne.
.Alles, was ich als erreichbar aufzeige,
setzt einen gewissen geringeren oder höheren
Grad der Entfaltung des substantiell-gei‐
stigen Organismus voraus, und an jeder
Stelle meiner Bücher, die von im geistigen
Leben erreichbaren Erlebnissen handelt,
zeige ich auch auf, was jeweils bereits er‐
reicht sein muß, soll die nächst höhere
Stufe des geistgemäßen Erlebens ersteigbar
sein.
149 Der Weg meiner Schüler
.Der Schüler im Geistigen kann nach
aufnahmebereitem Lesen meiner Schilder‐
ungen selbst genau erkennen, wo er steht,
wobei er sich natürlich hüten muß, die
Charakteristiken der jeweiligen Erlebens‐
fähigkeit, die ich unmißverständlich gebe,
zu seinen Gunsten umzumodeln.
.In irdischen Dingen kann einer mit‐
unter Grade der Vollendung vortäuschen,
so, daß Andere glauben, er besäße sie be‐
reits, ‒ aber im geistigen Leben muß
jeder Versuch, sich „emporzutäuschen”, er‐
barmungslos mißlingen, da ja der zu solcher
Vortäuschung Bereite, nur ‒ sich selber
täuschen kann.
.Die geistige Stufe, die er wirklich er‐
reicht hat, ergibt sich allein aus seiner er‐
langten Erlebensfähigkeit im substan‐
tiellen ewigen Geiste.
.Daß es sich nicht um „Stufen” oder
„Grade” handelt, die etwa nach einer fest‐
gesetzten „Rangordnung” einmal für alle‐
150 Der Weg meiner Schüler
mal starr bestimmt wären, sollte dem
Suchenden außer Frage stehen.
.Nachdem ich aber immer wieder sehen
muß, daß man gar zu gerne die Stufen der
Jakobsleiter „numeriert” sähe, und weil
ich dabei einem Fehlverstehen auf die Spur
kam, das unbedingt behoben werden muß,
sei hier das Folgende gesagt:
.Geistiges kann nur Geistigem „be‐
wußt” werden!
.Geistiges wird nur erlebt in der Ver
einung, und was sich Geistigem vereinen
will, muß selbst des Geistes sein.
.Alles Nichtgeistige ist dem Geiste
nicht „real”: ‒ nicht „wirklich”!
.(‒ Ich rede vom ewigen, substantiellen,
allein wahrhaft unzerstörbaren, ewigen
Geiste, ‒ nicht von den Resultaten der
Bewegungen verweslicher Gehirne! ‒)
151 Der Weg meiner Schüler
.Niemals könnte der Erdenmensch „in
den Geist” gelangen, wäre er nur das, was
an ihm auf Erden sinnenfällig in Erschei‐
nung ist.
.Nur weil er zugleich substantieller,
ewiger Geist ist, kann er nach vollbrach‐
ter Vereinung Geistiges erleben, ‒ kann
er in sich selbst, als Geist vom Geiste der
Ewigkeit, seiner selbst geistbewußt wer‐
den. ‒
.Es ist dazu vonnöten, daß ein bestimmtes
Verhalten, ausdauernd für lange Zeit, ein‐
gehalten wird.
.In meinen Lehrtexten sind die verschie‐
denen Formen, in denen sich dieses Ver‐
halten darstellen kann, genau beschrieben.
.Zweck dieses Verhaltens ist in erster
Linie: ‒ die Gewohnheit, das Leben zu
denken, statt es zu leben, mehr und mehr
aufzuheben, und wirklich aktiv und be‐
wußt leben zu lernen. ‒
152 Der Weg meiner Schüler
.Aktives Leben soll an Stelle des „Ge‐
dankenlebens” treten.
.Vollkommen hat solches Streben seinen
Zweck dann erreicht, wenn auch das Denken
gelebt wird, nicht mehr nur: „gedacht”. ‒
.Was hier gemeint ist, kann ich nicht
deutlicher sagen, weiß aber wohl, daß sich
Keiner, der noch gewohnt ist, sein Leben
zu denken, auch nur schattenhaft vor
stellen kann, was ich hier meine...
.Das ist auch nicht notwendig, denn es
handelt sich nicht um ein Vorstellenkönnen,
sondern um das Lebenlernen!
.Der sein Leben denkende Mensch glaubt
in dem Denken: daß er lebe, und dessen,
was er erlebt, sein Leben zu umfassen, ‒
aber dem Denken ist das Leben nur Ge
genstand, wenn auch der Gegenstand,
der alle anderen möglichen Gegenstände
des Denkens in sich schließt, ‒ und das
Leben ist für das Denken im gleichen
153 Der Weg meiner Schüler
Moment erloschen, in dem das Denken
selbst erlischt.
.Nun kann aber das Leben immerhin
doch gedacht werden, und ungezählte
Millionen kennen es nur im Denken, ‒
aber niemals ist der substantielle ewige
Geist im Denken erfaßbar, sondern nur
im Leben: ‒ im geschehenden, ‒ nicht
gedankenbedingten, ‒ Erleben! ‒ ‒
.Während im Denken das Leben immer
nur gedacht wird: ‒ nur als Gedanke
Realität aufweist, ‒ bildet das wirkliche
Leben des Lebens ein Geschehen in das
man einverwoben ist.
.Daher ist „leben lernen” die Aufgabe
dessen, der „in den Geist” gelangen will,
denn in den Geist gelangt man nicht im
Denken, sondern durch ein erhabenes
Geschehen, das nur dem erfahrbar ist,
der dort, wo Andere zu leben denken,
erfahrungsfähig im aktiven Leben wurde.
154 Der Weg meiner Schüler
.Dieses Leben-lernen wird nicht „mit
einem Schlage” erreicht, und das Leben‐
können kommt nicht über den Menschen
wie eine „urplötzliche Erleuchtung”.
.Es muß vielmehr erarbeitet werden!
.Es ist ein „Lernen”, ‒ wenn auch
kein Lernen mit dem Verstand, ‒ und
wie jedes Lernen hat es seine verschiedenen
Stufen, oder, wenn man bei dem Gleichnis
des inneren Weges bleiben will, ‒ seine
verschiedenen Wegstationen! ‒
.Um einen verstandesmäßigen Begriff des
Aufeinanderfolgenden zu vermitteln, da
doch der Suchende vorerst nur denkt und
begreift, aber nicht lebt (vom passiven
Gelebtwerden des Körpers, das man als
„leben” bezeichnet, rede ich hier nicht!)
haben zu allen Zeiten die „Meister” der
Kunst des Lebens von aufeinanderfolgenden
„Stufen”, oder nacheinander zu erreichenden
Wegstationen gesprochen, aber niemals soll‐
155 Der Weg meiner Schüler
ten dadurch starr bestimmte Lehrplan
stufen, im Sinne einer Lehr-„Methode”,
bezeichnet werden.
.Man könnte statt dem Bilde des Weges,
oder der Stufen einer Treppe, einer Leiter,
auch das Bild des wachsenden Baumes
wählen, an dem vielleicht klarer würde,
wie sich bei dem Vorgang des Leben
lernens im Laufe der Jahre ein Wachstums‐
zustand an den anderen reiht, ‒ wie einer
in den anderen übergeht. ‒
.Ich kann natürlich das Wachstum des
Baumes nach den verschiedensten Systemen
einteilen, und ebenso das Vorangelangen
beim Lebenlernen, ‒ aber alle solche
Einteilung mag zwar das Verständnis für
das Allmähliche, Aufeinanderfolgende des
Wachstums beim Baum, des Voranschreitens
beim Lebenlernen, wecken, ‒ kann aber
jederzeit auch durch andere Einteilung
ersetzt werden.
156 Der Weg meiner Schüler
.Der Vorgang des Vorangelangens wird
in keiner Weise verändert, ob ich ihn nun
in sieben, in achtundsechzig, oder zwei
tausend Stationen, Stufen, Grade, einteile! ‒
.Man kann also nicht sagen: ‒ „Der,
oder Jener, steht auf der soundsovielten
Stufe”, sondern nur: ‒ „er steht wohl erst
am Anfang, er ist schon ziemlich, oder
schon sehr weit vorangekommen”. ‒
.(Abzusehen ist natürlich hier von „Gra‐
den” im Sinne der Freimaurerei, oder ähn‐
licher Orden, in denen der erlangte „Grad”
vergleichsweise dem erlangten militärischen
„Rang” entspricht.)
.Alles Andere ist Unsinn!
.„Unsinn”, weil ohne wirklichkeits‐
entsprechenden Sinn!
.Das scheint aber manchen meiner Schü‐
ler noch nicht überzeugend klar geworden
zu sein, weshalb ich es nun so deutlich wie
nur möglich dargelegt habe.
157 Der Weg meiner Schüler
.Ich trage hier keine Theorien vor, bei
denen sich „B” aus „A”, und „C” aus „B” er‐
gibt, sondern spreche aus eigenem Erleben!
.Ich denke mein Leben seit vielen Jahren
nicht mehr, sondern lebe es, ‒ und ebenso
lebe ich seitdem mein Denken!
.Ich war durchaus nicht „bevorzugt” auf
meinem Wege, sondern mußte das „Leben
können” in unvergleichlich intensiverer
und schwererer Art lernen, als das einem
meiner Schüler möglich würde!
.Es wurde mir wahrhaftig nichts „ge‐
schenkt”!
.Auch gibt es bei diesem „Lernen” kein
Ende, denn es fordert immerwährende Aus
übung, sobald es „gelernt” ist.
.Der Tod des Erdenleibes berührt diese
„Ausübung” des „Gelernten” nur insofern,
als danach dieser Leib nicht mehr gelebt
wird, ‒ wohl aber das von diesem Leibe
158 Der Weg meiner Schüler
gelernte Denken, das ein Mensch im ewi
gen Leben nur dann zugleich zu leben
weiß, wenn er es hier im irdischen Leibe,
durch den Leib, „gelernt” hat...
.Wer es nicht „leben” lernte im Leib,
der kann es auch nach des Leibes Tod nur
träumend denken, wie er auch sich selbst
noch lange Zeit ‒ bis er das Geistige leben
lernt ‒ traumhaft denkt, wenn auch die
ses Denken nicht mehr in einem Gehirn
registriert wird.
.Ich rede auch nicht umsonst von unserem
substantiell-geistigen Organismus!
.Ein „Organismus” ist mir etwas aus sich
selbst Erwachsenes und im eigenen Leben
Stehendes.
.Der irdische Leib ist mir in meinem
Sinne kein „Organismus”, sondern eine
Kombination von Organen.
.Ich weiß wohl, daß man auch in anderer
Terminologie denken kann, und als ich noch
mein Leben dachte, war sie auch die meine,
159 Der Weg meiner Schüler
‒ aber seitdem ich mein Denken zu leben
vermag, kann ich sie nicht mehr brauchen...
.Es mag aber jedem meiner Schüler un‐
benommen bleiben, sich alles, was ich ihm
in den mir möglichen Worten sage, in seine
eigene Redeweise zu „übersetzen”.
.Ich meine: ‒ man sollte das Wort nicht
„lassen stahn”, sondern man soll es vielmehr
wandeln und sich bewegen lassen! ‒
.Aber ich werde hier meinem Schüler
noch sagen müssen, weshalb ich leider in
meinen Büchern auch recht viel von mir
zu berichten habe: ‒ weshalb ich mich
immer wieder erwähnen muß, obwohl mir
nichts schwerer ankommt, als mich im irdi‐
schen Leben auch nur genannt zu finden.
.Daß ich also ganz gegen alle Lust und
Neigung zu verfahren gezwungen bin, hat
zweierlei Ursachen:
160 Der Weg meiner Schüler
.Erstens bin ich, zu meinem nicht geringen
Leid, vom Geiste her verpflichtet, mich
vor denen, die meine Worte lesen, quasi
„auszuweisen”, ganz einerlei, ob mir das
gefällt, oder nicht, und ohne Rücksicht dar‐
auf, wie ich die Art der Aufnahme meiner
Mitteilungen durch Andere empfinden mag.
.Ich bin, kurzweg gesagt, geistig in Pflicht,
den Lesern meiner Bücher Einblick zu ge‐
ben, auf welche Weise ich dazu gelangte, das
niederzuschreiben, was ich niederschrieb.
.Zweitens aber bin ich natürlich mir selbst
das nächstgelegene und bestbekannte, sowie
in allen Stücken bestkontrollierbare
Erlebensfeld.
.Da ich mich nun bis in die unwahr‐
nehmbar winzigsten Neigungsfalten absolut
frei weiß, auch vom leisesten Schimmer
persönlicher, wenn auch noch so „unschul‐
diger” Selbstbetonungslust, sondern mich
selbst, weit mehr wie jeden anderen Men‐
161 Der Weg meiner Schüler
schen, sachlich nüchtern zu betrachten ge‐
wohnt bin, so weiß ich mir auch am besten
Rede und Antwort zu stehen, wenn es sich
um Dinge handelt, deren Erleben mir ver‐
traut ist, und die ich Anderen verstehbar
machen soll.
.Es wird kein Mensch, der mich auch
nur einigermaßen kennt, den törichten Ge‐
danken je erwägen können, ich würde mir
etwa deshalb Material der Darstellung, weil
es mir dabei in irgend einer Weise um
meine, mir wahrhaftig nur in strengen
Diensten stehende Person gehe.
.Hätte ich Neigung zu persönlichem
Selbstgenuß in eitler Eigenbespiegelung,
dann wüßte ich ihn mir wahrlich auf mir
wünschenswerte Weise zu bereiten, denn
ich bin kein Asket, und die wunderliche
Lust des Asketen, sich an dem zu freuen,
was ihm Pein bereitet, ist mir fremd...
.So, wie ich aber wahrlich sagen darf,
daß ich nicht mich selbst suche in meinem
162 Der Weg meiner Schüler
Wirken, so muß ich doch auch sagen, daß
mir nicht nur „das ewige Heil” meiner
Schüler Motiv meines rastlosen Wirkens
ist, sondern in gleicher Weise die Aus‐
lösung ihrer sichernden, zu jeglichem Auf‐
bau in der Außenwelt nötigen Kräfte.
.Scharf wird freilich der Schüler schei‐
den müssen, was ich um seinetwillen gei
stig zu wirken vermag, und was an all‐
täglicher Arbeit an sich selbst von ihm
allein getan werden kann...
.Das Leben im Geiste ist keineswegs
dem Alltag feind, und so muß auch der
Suchende nach geistiger Erlebnisfähigkeit,
in allererster Linie seinem Alltag Ge‐
nüge leisten lernen.
.Man darf sich nicht durch die über‐
spannten Phantasten aller Zeiten einreden
lassen, der Geist der Ewigkeit sei nur dann
erreichbar, wenn der Suchende aller er
denhaften Darstellung des Wirklichen
den Rücken kehre.
163 Der Weg meiner Schüler
.Das Gegenteil von solcher Annahme
entspricht der Wahrheit!
.Wohl darf der Suchende sich niemals
derart kurzkettig an die Erde verhaften,
daß er sich nicht mehr zu „erheben
vermag, doch muß er jederzeit wissen, daß
auch das Irdische von Ewigkeit umschlos‐
sen ist.
.In der irdischen Außenwelt wird zwar
nur das mehrfach umgewandelte, letzte
Resultat, vom ewig Wirklichen ausgehen‐
der Kräfte ‒ in der Reflexwirkung die‐
ser Kräfte aufeinander ‒ erfahren, aber
damit ist dem Erdenmenschen keineswegs
nur ein Schein und Schatten gegeben!
.Alle irdische Erscheinung läßt sich für
den seiner geistigen Sinne bereits Mäch‐
tigen zurückverfolgen bis zur Anschau
ungswende, von der an die alle Form
wirkenden Urseinskräfte dann als ein sub‐
stantielles Geistiges erlebbar werden.
164 Der Weg meiner Schüler
.So ist das Alleräußerste kontinuierlich
dem Allerinnersten verbunden, wenn das
Äußere”, seiner Darstellungsform nach,
auch der ewigen Starre: ‒ dem absoluten
„Nichts”, ‒ schon zu nahe ist, als daß es
jemals in das Allerfreieste, das in ewiger,
unfaßlicher Bewegung verharrende „In‐
nere” einzugehen vermöchte.
.Da der Erdenmensch aber ein in das
Alleräußerste verirrtes Inneres ist, so darf
er auch nur dann hoffen, wieder seiner
selbst als eines substantiell wirklichen
Inneren bewußt zu werden, wenn er von
dem Punkte ausgeht, auf dem er sich nun
einmal findet, ‒ also vom Alleräußer
sten: ‒ von seiner eigenen leiblichen, und
der dieses Erdenleibliche umgebenden „Aus
senwelt”. ‒
.Diese Außenwelt wird ihm, soweit es
sich um sein eigenes Leibliches handelt,
empfindungsbewußt, und alle Zustands
165 Der Weg meiner Schüler
veränderung wird fühlend wahrge‐
nommen.
.Was aber außerhalb des eigenen Erden‐
leibes, diesen umgibt, gelangt nur inso‐
weit zu einer Wahrnehmung im leiblichen
Fühlen, als es eben dieses Leibliche be
eindruckt, mögen die Einwirkungen kaum
wahrnehmbar oder überaus heftig sein,
‒ mögen sie das Gefühlsvermögen ange
nehm oder quälend erregen.
.All dieses sinnenfällig Wirkende ist je‐
doch dem Fühlen nur für den jeweiligen
Augenblick gegeben und wird sogleich
durch neues Fühlen abgelöst, mag auch
dieses Aneinanderreihen von Augenblicks‐
inhalten zuweilen als konstantes Währen
des Fühlens erscheinen, wie die unzähligen
Projektionsbilder, die von einem Film‐
streifen herrühren, als währendes Bild
aufgenommen werden, solange in dieses
Bild keine Bewegung der Darsteller oder
anderer bewegungsfähiger Erscheinungen
eintritt.
166 Der Weg meiner Schüler
.Für begrenzte Zeit, ‒ im äußersten
Falle bis zum Tode des Erdenleibes, ‒
können sich dem Bewußtsein Erinner
ungsbilder ehemaligen Empfindens der
eigenen leibesbedingten Existenz, sowie des
jeweiligen Gefühlswertes der sinnenfälligen
Beeindruckungen durch die Außenwelt, er‐
halten.
.Alle weitere Beziehung zur Außenwelt
wird dem Erdenmenschen nur durch sein
Vorstellungsvermögen, ‒ aber die Pro
dukte, die das Vorstellungsvermögen her‐
vorbringt, sind derart dem menschlichen
Willen ‒ in seinem Aspekt als Glaube
unterworfen, daß der philosophische Irrtum
auftauchen konnte, als sei „die Vorstellung”
Schöpferin der außenweltlichen Erschei‐
nungsformen.
.Wenn sie das nun auch freilich gewiß
nicht ist, sondern vielmehr das Resultat
des Vermögens darstellt, sinnlich unerfaß‐
167 Der Weg meiner Schüler
bare Wirkungen der Ur-Seinskräfte in Bild
form zusammenzufassen: ‒ gleichsam Ab‐
breviaturen komplizierter Geschehensab‐
läufe, in einer, den menschlichen Sinnen
angepaßten Formierung zu gestalten, ‒ so
bildet doch die Welt der Vorstellung auch
keineswegs die wirkliche, den physischen
Sinnen zugängliche Welt.
.Wie tiefgründig verankert dem Einzelnen
seine Vorstellungswelt auch erscheinen mag,
so wird es doch für ihn zuweilen Momente
geben, in denen er sich vor der Erkenntnis
findet, daß er noch sehr weit davon ent‐
fernt ist, die seinen physischen Sinnen mög
liche Aufnahmefähigkeit vollständig in Ge‐
brauch genommen zu haben. ‒
.Die Welt der Vorstellung ist aber un‐
streitig die für den Einzelnen maßgebende
Welt, einerlei, wie wenig sie der Welt ent‐
spricht, die ihm bei gänzlicher Ausnützung
der Möglichkeiten seiner Erdensinne erfaß‐
bar werden könnte.
168 Der Weg meiner Schüler
.Nun ist aber diese, für das menschliche
Handeln so folgenschwer bedeutungsvolle
Welt der selbsterzeugten Vorstellungsbilder
ein sehr variables Gebilde, das nicht nur
durch eigene Einsichten und Erfahrungen
beeinflußt wird, sondern gleichzeitig auch
durch die Vorstellungswelten der Anderen.
.So bilden sich denn Menschengruppen
aus vielen Einzelnen, die ihre Vorstellungs‐
welten sehr weitgehend einander angeähnelt
haben, und aus der Feststellung solcher
Ähnlichkeit wird den Einzelnen ein schein‐
bar „schlagendes” Argument für die „Rich‐
tigkeit” ihrer Vorstellungsbilder, obwohl
diese vielleicht nur Karikaturen der Welt
sind: der Welt, die unverblendeten phy‐
sischen Sinnen wahrnehmbar ist.
.Der Schüler im Geistigen wird also nicht
nur immer wieder sein eigenes Vorstellungs‐
weltbild zu überprüfen haben, sondern auch
das der Gruppe, zu der er im Verlauf
seiner Lebensumstände hinfand, ‒ oder
169 Der Weg meiner Schüler
auch der, viele Untergruppen oder „Par‐
teien” umfassenden Volksgruppe, in die
er sich hineingeboren weiß.
.Da die Forderungen des Geistes die glei‐
chen bleiben, ob es sich um den Einzelnen,
oder um eine „Masse” Einzelner handelt,
so kann man nicht als Einzelner den For‐
derungen nachleben, deren Erfüllung Vor
aussetzung sind für Jeden, der „in den
Geist” gelangen will, ‒ und gleichzeitig,
ohne klaren Vorbehalt, dem Vorstellungs‐
weltbild einer Gruppe dienen, deren Äus‐
serungsformen automatisch den inneren Weg
in den Geist verbauen.
.Es ist eine wahnwitzige Verkennung
der Universalität des substantiellen, ewi‐
gen Geistes, etwa zu glauben, man könne
„in den Geist” gelangen, während man noch
irgend etwas, das dem Geiste zugehört,
mißachtet, oder gar mit Haß verfolgt!
.Da aber alle Erdenmenschheit laten‐
tes Geistiges in sich birgt, so ist sehr sorg‐
170 Der Weg meiner Schüler
lich zu unterscheiden zwischen der strikten
Ablehnung dieser oder jener, im Tier‐
menschlichen verankerten Meinung oder
Haltung, und der überheblichen Ab‐
schätzung anders Meinender, handle es sich
nun um Einzelne, um Gruppen, Völker,
oder Rassen. ‒ ‒
.Daß ein Hegen von Haßgefühlen
„geistestaub” und „geistesblind” macht,
wird leicht verstehbar sein. ‒
.Wohl soll die Fähigkeit, Haß empfin‐
den zu können, nicht etwa ausgerottet
werden, denn mit ihr wäre auch die Fähig‐
keit, urgeistige, ewige Liebe zu empfinden,
ausgerottet, ‒ aber die aufkeimende Empfin‐
dung des Hasses darf nicht gehegt, sondern
nur „konstatiert” werden, wonach für
den Schüler im Geistigen die große Tat
beginnt, den eben in seiner ganzen Wucht
in sich vernommenen Haß ‒ in Liebe
umzuwandeln, deren Gegenpol er ist, als
171 Der Weg meiner Schüler
Äußerungsform einer und der gleichen
Kraft...
.Wo also Haß ‒ gegen Einzelne, gegen
Parteigebilde, oder gegen andere Völker
gehegt wird, dort ist für den Schüler des
Geistes keine Entfaltungsmöglichkeit, und
er möge füglich den ihm dargebotenen, oder
bereits eingenommenen Platz einem über‐
lassen, der nicht über seine mehr oder
weniger emporgezüchtete Tiernatur hinaus
will! ‒
.Welcherlei Einflüssen der Außenwelt
ein Suchender aber auch gegenüberstehen
mag, ‒ er muß stets dessen bewußt bleiben,
daß ihm nichts in dieser Außenwelt den
Weg in den Geist ungangbar machen kann,
solange er in genauer Befolgung den Rat‐
schlägen nachlebt, die ich ihm überreichlich
in meinen Lehren dargeboten habe.
.Aber auf das „Nachleben” kommt es
an, ‒ nicht auf das Gutheißen und dafür
Schwärmen!
172 Der Weg meiner Schüler
.Das Nachleben meiner Lehren bedingt
aber, daß der Schüler zum allerersten:
Ordnung schaffe in Bezug auf seinen ganz
persönlichen Alltag. ‒
.Erst wenn da alles „im Reinen” ist, ‒
in allen Stücken und in jeglicher Be‐
ziehung, ‒ hat sich der Suchende das Recht
erworben, weiterstreben zu dürfen, und
erst dann ist auch seine Erwartung be
rechtigt, daß er das ihm auf Erden Er
reichbare im Geiste, auch wirklich wäh‐
rend seiner Erdenlebenszeit erreichen werde.
.Die sehr verbreitete und beliebte „Groß‐
zügigkeit”, die da glaubt, im Streben nach
dem Geiste alles Alltägliche als Bagatelle
behandeln zu dürfen, ist sehr vom Übel!
.Mag auch eine Sache an sich wirklich
„Bagatelle” sein, so ist doch nie und nim
mer Bagatelle, ob sie geistgemäß behandelt
wurde, oder nicht. ‒ ‒
.In einem Gleichnis der Evangelien wird
dem getreuen Haushalter gesagt: „Da du
173 Der Weg meiner Schüler
Weniges getreu verwaltet hast, will ich dich
über Vieles setzen!”
.Was da gleichnishaft geformt ist, be‐
trifft aber eine der wichtigsten Forderungen
des Geistes!
.Wer es nicht dahin bringt, daß er in
seinem vergänglichen irdischen Leben be‐
reits sich so zu verhalten weiß, daß sein
Denken, Reden und Handeln vom Geiste
her anerkannt werden kann, der hat noch
nicht begriffen, wozu ihm die Außenwelt
zu dienen vermag, und all sein Streben
nach urgeistigem Bewußtwerden kann ihm
nichts nützen.
.Wer aber hier in seiner Alltagswelt
auch die kleinste Entscheidung zum Han‐
deln, ‒ und werde sie auch in äußerster
Eile von ihm verlangt, ‒ mit aller Selbst
verständlichkeit in solcher Weise trifft,
als sei sein ewiges Heil nur von dieser
einen Entscheidung abhängig, der steht
dem geistigen Bewußtwerden schon viel
174 Der Weg meiner Schüler
näher als er ahnt, und selbst wenn seine
vererbten Anlagen einer vollen Entfaltung
hier in seinem Erdenleben entgegenstehen
sollten, geht er doch als ein Bewußter
in die Ewigkeit ein! ‒
.Weniges ist im Verlauf der Mensch‐
heitsgeschichte ‒ auf allen Weltteilen und
jeder Kulturstufe ‒ derart mißverstan
den worden, wie die in jedem Erdenmen‐
schen mehr oder weniger regsame Erahn‐
ung des substantiellen, ewigen Geistes im
eigenen menschlichen Selbst!
.Verführt durch platte gedankliche Schluß‐
folgerung, meinte und meint heute noch
der dem Geistigen suchend Zugewandte, es
müsse das alltägliche, physisch-sinnlich zu
erlebende Dasein dem Geiste gewissermaßen
greuelhaft und ein Abscheu sein.
.Aus solcher Meinung glaubt man sich
berechtigt, folgern zu dürfen, daß es un‐
möglich sein müsse, in den Geist zu ge‐
175 Der Weg meiner Schüler
langen, wenn nicht das erdenhafte Alltags‐
leben verachtet, und wie eine arge Schmach
und Schande betrachtet werde.
.Bis auf den heutigen Tag kann man
die Wenigen leicht zählen, die über solche
hemmende Überlieferung hinausgelangten
und alsdann erkennen lernten, daß der
Weg in den ewigen, substantiellen Geist
mitten im zeitlichen, scheinbar so nichtigen
Alltag beginnt...
.Es kann aber Niemand Schüler gei
stiger Schulung sein, der sich nicht zu
solcher primären Erkenntnis durchzuschla‐
gen weiß!
176 Der Weg meiner Schüler
WIE MEINE BÜCHER
GEBRAUCHT WERDEN WOLLEN
.Als ich, bald nach der Jahrhundert‐
wende, vor über dreißig Jahren, die ersten
Versuche unternahm, das, was mir bis da‐
hin an lebendig erfahrenen geistigen Auf‐
schlüssen geworden war, in sprachliche
Form zu fassen, ‒ aber auch noch ein
Jahrzehnt später, nachdem mein geistiges
Erleben wie meine Versuche das Erfahrene
darzustellen, zu einem vertrauten Ge‐
schehen und Tun geworden waren, ‒ dachte
ich nicht im Traum daran, etwas aus dem,
zur Verhütung jeglicher Profanation in
von mir eigens ersonnener Geheimschrift
Niedergelegten, schon während meines Er
denlebens zu veröffentlichen.
.Es war mir vielmehr zu selbstgetroffener
Anordnung geworden, daß ich in entspre‐
chender Zeit den „Schlüssel” meiner Ge‐
179 Der Weg meiner Schüler
heimschrift einer mir vertrauenswert er‐
scheinenden Persönlichkeit übergeben würde,
der es dann obliegen sollte, das Vorgefun‐
dene nach meinem Tode in geeigneter
Weise herauszugeben.
.Zwischen meinen Papieren befand sich
außerdem jahrelang in verschlossenem Um‐
schlag eine diesbezügliche „letztwillige Ver‐
fügung” und eine zweite Aufzeichnung
des Schriftschlüssels, für den Fall plötz‐
lichen Todes, vor der erfolgten Einsetzung des
zu betrauenden „Testamentsvollstreckers”.
.Ich ahnte nicht, daß ich eines Tages
selbst diese vorzeitige „Hinterlassenschaft”
der Öffentlichkeit zugänglich machen, und
das sorglich in nur mir selbst verständ‐
licher Schrift Niedergelegte, für den Setzer
transkribieren sollte. ‒ ‒
.Nachdem mein bedeutsamster geistiger
Führer und Belehrer, der begreiflicherweise
allein für mich „Autorität” geworden
180 Der Weg meiner Schüler
war, bei Gelegenheit eines Besuches, mir
zum erstenmal überzeugend klargelegt hatte,
daß es mit dem bloßen Hinterlassen von
Lehrtexten nicht getan sei, sondern daß
auf mir die Verpflichtung laste, das Nieder‐
geschriebene persönlich, während mei
nes äußeren Erdendaseins, vor aller
Welt zu vertreten, ‒ geriet ich für lange
Zeit in einen Zustand unsagbarer Be‐
drückung, da ich Tag um Tag vergeblich
nach einer Möglichkeit suchte, ein solches
notgedrungene Sich-selbst-offenbaren-müs‐
sen mit meinem geistbegründeten Bedürf‐
nis nach Verborgenheit und Isolation zu
vereinen.
.Diesen inneren Plagen vermochte ich
mich erst zu entwinden, nachdem mir der
gleiche, voll Ehrfurcht geliebte, väterliche
geistige Leiter erneut begegnet war, ‒
diesmal fern von meiner Heimstatt, ‒
und ich dann, während eines Jahres gei‐
stiger und künstlerischer Arbeit in Grie‐
chenland, auch noch mit anderen Männern
181 Der Weg meiner Schüler
bekannt gemacht wurde, deren geistiger
Bruder ich fortan sein sollte.
.Von Athen aus sandte ich daraufhin
auch das erste kleine Manuskript, unter
dem Titel „Das Licht vom Himavat”, ‒
vorerst nur mit den drei Anfangsbuch
staben meines mir von Lehrer und Brü‐
dern übertragenen geistigen Namens signiert,
‒ probeweise in eine begrenzte Öffent‐
lichkeit.
.Das geschah im Jahre 1913.
.Die Aufnahme der kleinen Lehrschrift
war weit besser als ich vorher erwarten
zu dürfen glaubte.
.Jetzt ist das damals einzeln Veröffent‐
lichte dem „Buch der Königlichen Kunst”
wieder einbezogen, dessen Material ich es
zuerst entnommen hatte.
.Als dann in der Folgezeit fast kein Jahr
verging, in dem nicht eines der, wenn auch
182 Der Weg meiner Schüler
zumeist wenig umfangreichen Bücher von
mir erschien, ‒ oder gar Verschiedenes
zugleich herauskam, ‒ wußten manche
Leser nicht recht, sollten sie solche reiche
Produktion bewundern, oder den Autor
unter die „Vielschreiber” einreihen?
.Man konnte ja nicht wissen, wie vieles
von dem, was da so bald nacheinander
herausgegeben wurde, schon viele Jahre lang,
fast druckfertig geformt, in meinem
Schreibtisch verschlossen lag, oder aber
in Griechenland, lang vor dem Erschei‐
nen, niedergeschrieben worden war.
.Es gehört dazu: fast alles im „Buch
vom lebendigen Gott” und im „Buch
vom Menschen”, ‒ fast alles in „Mehr
Licht!” und im „Buch der Königlichen
Kunst”, sowie manches im „Buch der
Gespräche”, ‒ ganz abgesehen von dem
vielen, das zwar schon einmal schriftlich
niedergelegt war, aber von mir umgeformt
werden mußte, weil es in seiner erstmals
183 Der Weg meiner Schüler
gegebenen Form nur nach meinem Tode
hätte veröffentlicht werden sollen.
.Nachdem mir die Aufgabe verpflichtend
geworden war, schon während meines
äußeren Erdendaseins über alle in mei‐
nen Büchern zur Sprache kommenden Dinge
reden zu müssen, konnte das unmöglich
in der ehedem gewählten Form einer
geistigen Hinterlassenschaft geschehen.
.Ich erwähne alle diese Dinge hier, weil
ich zuweilen einer allzu „literarisch”
eingestellten Auffassung meines lehrenden
Wirkens begegne, die sich unerlaubt weit
von den gegebenen Tatsachen entfernt.
.Mich hat zu keiner Zeit auch nur der
mindeste literarische Ehrgeiz geplagt!
.Die Dinge über die ich schreibe ‒ trotz
ihrer Gegenwehr gegen alles Dargestellt‐
werden ‒ in sprachliche Form zu zwingen,
war mir jederzeit härteste, hart verantwort‐
liche Verpflichtung, deren ich mich nur
184 Der Weg meiner Schüler
zu gerne entledigt haben würde, wäre das
möglich gewesen.
.Ich schreibe nicht um mich am Schrei‐
ben zu erfreuen!
.Nichts von allem, was ich bis zu dieser
heutigen Stunde schriftlich gegeben habe,
ist etwa „leicht” geschrieben worden, was
auch ganz unmöglich wäre, da die fast un‐
tragbare ewige Verantwortung, die mir
nicht abgenommen werden kann, mir zur
Pflicht setzt, nicht nur jeden Satz, sondern
jedes Wort und jede Silbe daraufhin zu
prüfen, ob sie taugliche Träger des ihnen
anvertrauten Inhalts sind, ‒ nicht im lite
rarischen Sinn, sondern in Bezug auf die
in den Worten dargebotene Tragfähigkeit
für substantiell Geistiges!
.Überall, wo es nötig wird, sind die von
mir formulierten Sätze, Worte und Silben
mit substantiellem Geistigen ‒ gleichnis‐
weise gesagt: ‒ „geladen”.
185 Der Weg meiner Schüler
.Ich kann den dazu nötigen, im höch
sten Sinne „magischen” Vorgang, weder
beschreiben noch lehren, sondern nur dar‐
auf hinweisen, daß es sich dabei um gar
nichts Mysteriöses, wohl aber um das Be‐
nützen der in fast allen Sprachelementen
latent vorhandenen, und beim lauten oder
auch nur „gedachten” Aussprechen frei‐
werdenden substantiell geistigen Schwing‐
ungen handelt.
.Viele haben sie bewußt empfunden,
ohne zu ahnen, wie die von ihnen wahr‐
genommene Hilfe in den ihnen dargebotenen
Worten „akkumuliert” war...
.Aus dieser Darlegung eines außerge‐
wöhnlichen Sachverhalts, ‒ die ich nur
mit erzwungener Überwindung begreiflicher
Scheu vor den Unterstellungen des Unver‐
standes niederschreiben kann, ‒ ergibt sich
schon klar genug: wie man meine Bücher
nicht gebrauchen soll!
186 Der Weg meiner Schüler
.Man soll sie nicht wie etwas mehr oder
weniger Interessantes, Phantastisches, Seltsa‐
mes, oder auch vertrauend Hingenommenes,
auf die Art „lesen”, wie man gemeinhin
heute zu lesen pflegt: ‒ also indem man
nur noch in Satzgruppen, ‒ kaum mehr
in Sätzen, ‒ liest, und immer schon irgend
woanders ist als beim Sinn eines Wortes,
das man soeben „überflogen” hat. ‒
.Man soll sie nicht lesen in der Meinung,
sie seien nach der längst stereotyp gewor‐
denen Auslegung zu verstehen, die man
gewohnheitsmäßig allem Gelesenen zuteil
werden läßt. ‒
.Ich bin schon aus den oben erwähnten,
das substantielle Geistige betreffenden
Verpflichtungen heraus genötigt, sehr oft
das sonst Gewohnte in ungewohnter Weise
anzuwenden, weil ja Rhythmen, Vokal- oder
Konsonantwiederkehr und Ähnliches, nicht
nur stilistisch bedingt sind, ‒ ganz ab‐
gesehen davon, daß ich mir das Recht geben
187 Der Weg meiner Schüler
muß, die Worte so anzuordnen, die Sätze
so zu gestalten, daß sie mir selbst das aus‐
drücken, was ich anderen Menschen ver‐
mitteln will.
.Unmöglich kann ich anders beurteilen,
ob ich meiner Pflicht Genüge leiste, oder
nicht!
.Um wirklich das aufnehmen zu können,
was in meinen Büchern gegeben ist, wird man
sehr bedachtsam lesen lernen müssen. ‒
.Allerdings wird sich solches Lesen dann
lohnen!
.Beim allerersten Lesen sollte man sich
vorerst noch um nichts anderes kümmern,
als um den allgemeinen „Inhalt”, so, wie
er sich auch dem eilfertigen Leser dar‐
stellt, der niemals „Zeit” hat.
.Das Buch, das der Schüler in der Hand
hält, muß bereits seine Neugier: zu wissen,
was drinnen steht, befriedigt haben, wenn
188 Der Weg meiner Schüler
er es dann auf eine andere Art zu lesen
unternimmt, die in seiner ewigen Seele und
in seinem eigenen substantiell-geistigen
Organismus ein helles, beglückendes Auf
klingen bewirken kann...
.Solange eine Stelle in einem meiner Bü‐
cher, die vom wirklichen ewigen Geiste und
den Dingen des substantiellen geistigen Le‐
bens handelt, noch nicht den freudigen
Widerhall weckt, den man empfindet, wenn
etwas lang Vergessenes, dem voreinst unsere
Liebe gehörte, wieder vor uns genannt
wird, ‒ solange ist die betreffende Text‐
stelle noch nicht verstanden!
.Es hat aber gar keinen Zweck, nun über
diese Stelle zu grübeln, oder gar eine Emp‐
findung künstlich herbeiführen zu wol‐
len, die nun einmal noch nicht von innen
her zum Aufklingen kommt.
.Auf solche Weise könnten nur die übel‐
sten Selbsttäuschungen Nahrung erhalten!
189 Der Weg meiner Schüler
.Ist die Empfindung des Wiederer
kennens, die sogleich volle Sicherheit
gibt, und mit einer tiefen Freude auf‐
genommen wird, noch nicht da, dann lasse
man jede solche Textstelle vorläufig auf
sich beruhen, und wende sich anderen
zu, die im gegebenen Augenblick etwas zu
sagen haben.
.Der Schüler wird das gleiche Buch noch
unzähligemale zur Hand nehmen müssen,
wenn es ihm geben soll, was es zu geben
hat! ‒
.Durchaus verfehlt wäre es jedoch, wenn
man sich in den Kopf setzen wollte, dieses
eine Buch in dem man gerade liest, nun
solange immer wieder zu lesen, bis es
alles, was es zu geben hat, dargeboten habe.
.Auf diese Art würde der Suchende nicht
nur nichts erreichen, sondern sich innerlich
derart abstumpfen, daß er bestenfalls erst
nach Jahren wieder fähig würde, eines der
190 Der Weg meiner Schüler
Bücher aufgeschlossenen Sinnes und mit
Nutzen zu lesen.
.Man darf mir wahrhaftig glauben, daß
es nicht aus Willkür geschah, wenn ich das,
was mir zu lehren oder darzustellen oblag,
auf die verschieden in sich abgeschlossenen
kleinen Bändchen verteilte.
.Und wenn ich jeweils ein solches Bänd‐
chen als „Buch” bezeichne, so entspricht
das durchweg seinem Inhaltsgut, dem ich
weit leichter in umfangreichen Darleg‐
ungen hätte Ausdruck schaffen können,
als es in der, zum Besten des Schülers
durchgeführten, auf den knappesten Raum
gedrängten Form möglich war.
.Wer etwas näher zusieht, der wird nicht
nur bemerken, daß es gewiß nicht schwer
gewesen wäre, den Inhalt eines solchen,
wenig umfangreichen „Buches”, zum An‐
laß eines recht voluminösen Bandes werden
zu lassen, ‒ aber man wird bei solcher
191 Der Weg meiner Schüler
Prüfung auch entdecken, daß es nicht nur
seine guten Gründe hatte, weshalb ich statt
dessen, dem Menschen unserer Tage, ‒
der „keine Zeit” zum Lesen hat, ‒ alles
in „Büchern” darbot, deren Umfang zu
beschränken meine stete Sorge war, son‐
dern man wird auch sehen, daß die von
mir getroffene Sonderung durch psycho
logische Gegebenheiten gerechtfertigt ist.
.Wenn einer seine Mitmenschen über
persönliche, vielleicht recht unmaßgebliche
Auffassungen außererdensinnlicher Dinge
belehren will, dann kann das gewiß in
einem einzigen Buche geschehen, das dann
zum Volumen eines Lexikonbandes an‐
schwellen mag, ohne dadurch an Wert zu
gewinnen oder zu verlieren.
.Wenn ich aber Menschen, die in ihre
substantielle Geistigkeit hinzufinden su‐
chen, derart führen will, daß sie zu Fin
dern werden, dann muß ich mit den durch
192 Der Weg meiner Schüler
die Art des Ablaufs der Gehirnbewegungen
gegebenen Auffassungsmöglichkeiten
im Menschen rechnen, und noch mit vielem
Anderen mehr, ‒ so daß ich nur dann
Hilfe bringe, wenn ich das erstrebte Hoch‐
ziel immer wieder von anderer Seite her
sehen lasse.
.So habe ich denn auch meinem gei‐
stigen Schüler nur zu raten, daß er sogleich
zu einem anderen meiner Bücher greifen
möge, sobald er bemerkt, daß den eben
aufgenommenen Lehrworten und Schilder‐
ungen kein inneres Entgegenklingen zu
antworten vermag.
.Und zwar soll er solchen Wechsel so oft
vornehmen, bis er bei dem Buche ange‐
langt ist, das ihm Werte zu geben hat, die
im gegebenen Zeitpunkt innerlichen Wider
hall wecken.
.Wir sind durchaus nicht zu jeder Zeit
imstande, das Gleiche aufzunehmen!
193 Der Weg meiner Schüler
.Zu verschiedenen Zeiten bedarf es nicht
nur verschiedener Ausdrucksgestaltung, son‐
dern auch einer anderen „Perspektive”
aus der wir den befragten Gegenstand un‐
seres Erfahrenwollens erblicken können,
soll er uns die von ihm verlangte Antwort
geben.
.Da aber nun in meinen einzelnen Bü‐
chern dem Geistigen immer neuer Aus‐
druck gesucht und gefunden wird, und da
ich das, was des Geistes ist, auch aus allen
nur in Betracht kommenden Gesichtspunk‐
ten heraus betrachten lehre, so wird der
Suchende nie in Verlegenheit kommen,
welches meiner Bücher er im gegebenen
Augenblick zu wählen hat.
.Man wird aber gut tun, das, was in
meinen einzelnen Büchern zu Worte kommt,
nicht miteinander zu vermischen!
.Alles vereint sich zwar mit Notwendig‐
keit Allem, was ich jemals darzustellen im‐
194 Der Weg meiner Schüler
stande bin, aber ich habe es von Anfang
an nicht für zwingend nötig erachtet, in
allen Büchern streng nach der gleichen Wort‐
Verwendungsweise zu sprechen, weil solche
Ausdrucksbegrenzung mich gezwungen hätte,
Allzuvieles ungesagt zu lassen, was zu sa‐
gen mir am Herzen lag, ‒ nachdem ich
wußte, wie sehr die Suchenden seiner be‐
dürfen.
.So könnte es denn, ‒ da ich in meinen
Büchern kein „System” einer „Weltanschau‐
ung” zu geben trachtete, und jeweils das
geschilderte Erleben nur als für sich ge
sehen zu schildern suchte, leicht zu gewiß
nicht gewollten Irrtümern führen, wenn
die Redeweise des einen Buches mit der
des anderen untermischt werden würde.
.Einer tieferen Einsicht wird sich den‐
noch natürlich bald zeigen, daß alle Aus‐
sage miteinander im Tiefsten harmoniert,
möge sie nun in dieser oder jener Hin‐
195 Der Weg meiner Schüler
sicht auf Besonderes, ihre eigene Betonung
tragen.
.Immer wieder wird es sich darum han‐
deln, ob man meine Bücher nur als „Lese
stoff” betrachtet, oder in ihnen taugliche,
und wahrlich schon von Vielen erprobte
Hilfen sieht, um auf den Weg zum Geiste,
und zuletzt „in den Geist” zu gelangen. ‒
.Als Anweisungen, den Weg „in den
Geist” zu finden, sind diese Bücher ge‐
dacht!
.Das Motiv meiner Niederschriften lag
von Anfang an sehr ferne dem Wunsche
oder der Hoffnung, als Schreibender etwa
von anderen Schreibenden beachtet werden
zu wollen.
.Es ging mir viel zu sehr um den von
mir selber bestimmten Zweck meines
Schreibens, als daß dieses selbst mir be‐
achtenswert an sich erschienen wäre.
196 Der Weg meiner Schüler
.Ich kann aber freilich keine Wunder
wirken, und wenn ich es könnte, würde ich
es gewiß nicht tun, da ich schon den bloßen
Wunsch: „es möge sich ein Wunder er‐
eignen”, nicht mit der Struktur des mir
erlebensoffenen substantiellen ewigen Gei‐
stes in Einklang zu bringen vermöchte.
.Trotz allem, was ich meinen Büchern
mitgegeben habe, genügt es daher nicht,
sie nur gelegentlich zur Hand zu nehmen,
darin zu blättern, und sich irgend eine
Stelle eine Zeitlang durch den Kopf gehen
zu lassen.
.Wenn diese Bücher richtig gebraucht
werden sollen, so daß sie zu geben ver
mögen, was sie zu geben haben, dann
müssen sie ständige Lebensbegleiter des
Schülers im Geistigen werden.
.Es darf kein Tag vergehen an dem sie
nicht vernommen würden! ‒
.Das ist schon darum nötig, weil der
Suchende sich in einer Zeit und einer aus
197 Der Weg meiner Schüler
ihr gezeugten Welt findet, deren Tendenzen
noch immer auf Durchdringung und mög‐
lichste Beherrschung des Alleräußerlich
sten gerichtet sind, während er selbst seine
Eigenrichtung auf das Allerinnerste zu
bewahren suchen muß.
.Die heutige Zeit ist nicht besser und
nicht schlechter als irgend eine andere!
.Die heutige Welt ist in jeder Beziehung
Ausdruck dessen, was der heutige Mensch
auf Erden durchlebt haben muß, soll seine,
seit vielen Jahrhunderten beibehaltene Stre‐
bensrichtung ins Äußere und Aller
äußerste, wieder umkehrfähig werden
und sich dem Inneren zuwenden können.
.Man darf sich nur eine solche Umkehr
nicht wie eine Art „Massenbekehrung” vor‐
stellen!
.Was wirklich wandlungsfähig wurde,
wird ganz unvermerkt gewandelt, ‒ und
198 Der Weg meiner Schüler
so stehen wir heute bereits mitten in der
Verwandlung, während doch die Meisten
meinen, es gehe immer noch weiter nach
außen hin...
.Die Augen sind vorerst noch zu sehr
an das Suchen weit draußen vermuteter,
oder nur erhoffter Horizonte gewöhnt, als
daß sie heute schon klar zu erkennen ver‐
möchten, wie verkrampft bereits alles Stre‐
ben ins Äußere, Alleräußerlichste wurde,
weil es nur noch peripheres Ausbeben
müssen längst schon in ihre Triebkraft‐
quelle zurückgenommener Allmensch‐
heitsimpulse ist. ‒
.Wie ein kaum noch leuchtendes Kerzen‐
licht kurz vor dem Erlöschen noch einmal
überhell aufflackert, so feiert heute der
Trieb ins Äußere Triumphe die nichts
anderes als Bestätigungen seines Erlöschen
müssens sind, weil die Richtungsumkehr
bereits unvermerkt überall dort begonnen
hat, wo sie die ihr gemäßen Bedingungen
erfüllt fand.
199 Der Weg meiner Schüler
.Die großen Allmenschheitsimpulse bie
gen die Strebenskräfte um, aber sie bre
chen sie nicht!
.In solcher Zeit ist das Denken, Reden
und Tun des Einzelnen weitaus bedeutungs‐
voller als inmitten der noch nicht end‐
nahen Auswirkung zeitbedingter Allmensch‐
heitsimpulse.
.Mehr als jeder Andere braucht aber der
Suchende nach seinem eigenen geistgegebenen
Seinsmittelpunkt, in solcher Zeit eine innere
Erfahrungswelt, in der schon das dem Äus‐
seren noch Zukünftige, in wirklichkeits‐
gemäßer Gestaltung wirkungskräftig ist...
.Diese geistig bestimmte Erfahrungswelt
im Innern des Suchenden ihm eröffnen zu
helfen, ist eine der vornehmlichsten Auf‐
gaben meiner Bücher.
.Sie können diese Aufgabe aber nur dann
erfüllen, wenn der Suchende sie Tag für
Tag zu Rate zieht und dabei stets der
200 Der Weg meiner Schüler
tausendfach erwiesenen Tatsache eingedenk
bleibt, daß er sie niemals zu erschöpfen
vermag.
.Ich darf getrost behaupten, daß ein
Mensch, wenn er viele Jahrhunderte auf
Erden in seinem Leibe zu leben vermöchte
und tagtäglich in innerer Gemeinsamkeit
mit meinen Büchern wäre, doch den Tag
nicht erleben würde, an dem er behaupten
dürfte, diese Bücher hätten ihm nichts Neues
mehr zu sagen.
.In Zeiten der Umkehr der allmensch‐
heitlichen Strebensrichtung hält sich gar
Vieles für sehr fortschrittlich und zu‐
kunftsbildend, was in Wahrheit nur letzte
Nachwirkung des bedenklichen Willens zum
Festhalten des Gewesenen ist.
.Daher ist der Suchende immer in Gefahr
arger Täuschung, wenn ihm nicht Einsichten
zugänglich sind, die das in Wahrheit
Zukunftsbildende klar erkennen lassen.
201 Der Weg meiner Schüler
.Solchen Einsichten aber wird er fast
auf jeder Seite meiner Bücher begegnen.
.Läßt er sich tagtäglich durch sie beraten,
dann wird sich ihm die Zukunft in seiner
eigenen Gegenwart bereits offenbaren,
und er wird Mitschöpfer des Kommen
den sein aus eigenem vorempfangenen
Erleben!
.Dann erst wird er an sich selbst erfahren,
daß das irdische Dasein auch in den schwer
sten und traurigsten Zeiten seinen „Sinn”
nicht verlieren kann, ‒ daß es ihn aber
nicht etwa im Denken und Gedachten
hat, sondern in der Fähigkeit, geistgemäß
handeln zu können.
.Wer mir „Schüler” im Geistigen sein
will, der ist es keineswegs schon, weil er
so denkt, wie er mich denken findet oder
zu finden glaubt, ‒ sondern wird es erst
dann, wenn sein tätiges Leben sich derart
umgestaltet, wie die Ratschläge meiner Bü‐
cher das nahelegen!
202 Der Weg meiner Schüler
.Kann er sich dann eines Tages sagen,
daß diese Bücher ihm zum Anlaß wurden,
ein neues, von innerer Gewißheit und frü‐
her ungekannter Tätigkeitsfreude erfülltes
Leben zu beginnen, und daß er nicht mehr
ohne die Lehren und Anregungen, die ich
für ihn niederschrieb, leben möchte, ‒
dann hat er meine Bücher gebraucht, „wie
sie gebraucht sein wollen”!
.Gleich anderen Dingen dieser Welt, wer‐
den auch Bücher nicht allein durch ihren
Eigenwert zum Segen oder zum Fluch,
sondern mehr noch durch die Art, wie man
sie gebraucht.
.So hängt denn auch die Auslösung der
substantiellen geistigen Hilfe die meine
Bücher zu bringen vermögen, in hohem
Maße von der Art des Gebrauchens durch
den Leser ab.
.Es gibt nichts auf Erden, was man nicht
mißbrauchen, ‒ was man nicht seinem
203 Der Weg meiner Schüler
segenbringenden Gebrauchtwerden ent‐
fremden könnte! ‒
.Meine Bücher machen da gewiß keine
Ausnahme.
.Wer sie aber heute noch nicht in rechter
Weise zu gebrauchen versteht, der lege sie
lieber einstweilen noch beiseite, bis er sie
so zu gebrauchen weiß, wie sie es verlangen
müssen.
.Er wird nicht vergeblich auf sein
besseres Verstehenkönnen warten, wenn nur
der Wille, zu Licht und Klarheit zu kom‐
men, lebendig bleibt!
.Nur solche Menschen werden durch
den Gebrauch meiner Bücher den inneren
Frieden finden, die in Wahrheit vor ihrem
eigenen Gewissen: „guten Willens” sind....
204 Der Weg meiner Schüler
ENDE
WEGWEISER
Verlagslogo
gegründet 1816
KOBER`SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG AG
BERN
Bô Yin Râ ist der Autorenname von
Joseph Anton Schneiderfranken
2. Auflage
Unveränderter Nachdruck
der 1928 erschienenen Erstausgabe
©
1971 Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Bern
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Übersetzung
in fremde Sprachen und der Verbreitung in Rundfunk und
Fernsehen
Druck: Graphische Anstalt Schüler AG, Biel
INHALT Seite
Verheißung 5
Erscheinung und Erlebnis 13
Erkenntnis und Lehre 27
Lesenlernen! 45
Briefe 59
Personenkult 73
Kritiktrieb 87
Wer war Jakob Böhme? 105
Die Macht der Krankenheilung 123
Gefahren der Mystik 137
22 Gedichte in gebundener Rede
Tempel der Tiefe 155
Außen und Innen 156
Weisheit 157
Vieleinheit 158
Geheimnis des Wassers 159
Mahnwort 160
Das Ewige 161
Sinfonia 162
Mysterium magnum 163
Heimkehr 164
Gegensätzlich 165
Seltsame Suchende 166
Allzuwürdevolles Wesen 167
Nötige Strenge 168
Den Wohlmeinenden 169
Konsequenz 170
Freundesfreiheit 171
Blüte oder Frucht 172
Weise Verteilung 173
Der Neunmalkluge 174
Die Überheblichen 175
Rat 176
Originalscan1  Originalscan2
VERHEISSUNG
.Letztes Laub löste herbstlicher Sturm
von erstarrten Ästen.
.Welk und gelb, oder rostbraun und
rascheldürr, deckt es weithinverweht den
Weg.
.Was einst im Frühling zu grünem Leuch‐
ten sproßte, was kühlen Schatten bot in
schwüler, mittäglicher Sommersonnenhitze,
das liegt nun abgestorben und zertreten auf
der feuchten Erde:
‒ Beute des Moders und der Fäulnis Fraß!
.Das ist die bange, nebeltrübe Zeit der
Sonnenferne!
.Das ist das große Sterben der Natur! ‒ ‒
.So sagen die empfindsamen Dichter und
trauern dem entschwundenen Sommer nach.
7 Wegweiser
.Aber: ist wirklich alles Leben nun er‐
storben?
.Sind wirklich die Äste so starr und leb‐
los geworden, seit sie ihre Blätter lassen
mußten? ‒
.Hebe deinen Blick vom Boden und bleibe
nicht im Banne der Verwesung, dann wirst
du allerorten schon die treibenden Knospen
gewahren, und dort der Haselnußstrauch trägt
gar schon die ersten, noch unerschlossenen
Blütengehänge!
.Kaum ist die Frucht geerntet und das
letzte Blatt gefallen, da zeigt sich schon Ver‐
heißung neuen Grünens, neuen Blühens,
neuer Frühlingsherrlichkeit.
.Würde jetzt eine kurze Reihe warmer
Sonnentage kommen, dann könntest du als‐
bald das erste junge Grün an jedem Busch
entdecken.
8 Wegweiser
.Noch aber sind eisige Stürme zu erwarten,
so daß es gut ist, wenn vorerst die treibende
Knospe noch umpanzert bleibt. Das Leben
in ihr braucht noch Schutz.
.Doch: ‒ kaum ist der Schnee zu Wasser
geworden und in die Furchen der Felder
versickert, so regt sich auch, was jetzt noch,
fast mit Gewalt, in der Knospe zurückge‐
halten wird.
.Alljährlich willst du wieder aufs neue
so recht geruhsam den Frühling einziehen
sehen, und immer wieder überrascht er dich
mit seinem jungen Grün fast über Nacht.
.Ein paar Sonnentage nach einem warmen
Regen, und an jedem Ästchen ist bereits
das neue Laub.
.Für eine dir gar zu lange währende Zeit
muß das Leben alle Kraft gebrauchen, sich
selbst zurückzuhalten um seine Gebilde vor
der Zerstörung zu schützen.
9 Wegweiser
.Dann aber befreit es sich von allen Ban‐
den und leuchtend sproßt Gestaltetes all‐
überall hervor...
.Gewahrst du nicht, wie hier Natur dich
belehrt?!
.Auch du bist wahrlich nicht immer in
Lichtesnähe.
.Auch du hast deine Gezeiten, deren Ab‐
lauf dein eigener Lebensrhythmus bestimmt.
.Kaum glaubtest du alles errungen und
fühltest dich nur allzugesichert in deiner
prangenden Kraft, ‒ da überkam dich plötz‐
lich ein Ermatten, das mit jedem Tage dir
mehr von deiner Zuversicht nahm, und end‐
lich liegt alles, was deinen Stolz verursacht
hatte, vor dir am Boden...
.Nun glaubst du alles Leben in dir er‐
storben, und eitle Torheit meinst du zu
vernehmen, wenn man dir sagt, daß deine
10 Wegweiser
Ermattung die gewisseste Verheißung neuer
Lebenswirksamkeit in sich birgt.
.Noch kennst du deine Gezeiten nicht
und willst nicht begreifen, daß auch dein
Geist nur in rhythmischem Wechsel
sich auswirken kann. ‒
.Auch in den Tagen deiner größten Lichtes‐
ferne ist das Leben in dir wirksam.
.Das Kommende wird in dir vorbereitet,
auch wenn du nicht darum weißt...
.Siehe: auch du wirst wieder dem Lichte
so nahe sein wie ehedem!
.Du wirst dich entfalten zu neuer Pracht,
nachdem du deine stillen Zeiten jeweils in
Geduld ertragen hast! ‒
.Laß' dich nicht betören, traurig und
dumpf, düsteren Trübsalsträumen Sinn und
Sehnen zu überlassen, wie einer, der nichts
mehr zu hoffen hat!
11 Wegweiser
.Sei deiner stets sich erneuernden Kraft
bewußt, und glaube an dich selbst!
.Du schaffst dein Schicksal in deinen
stillsten Stunden, und in den Tagen deiner
weitesten Lichtesferne bilden sich in dir
die Keime, denen dann ein neuer Früh‐
ling sichtbarliche Form verleiht! ‒ ‒
.Lerne dir selbst vertrauen und vertreibe
alle Unrast aus deiner Seele, damit die
Stille in dir gestalten kann, was weiter
werden soll!
12 Wegweiser
ERSCHEINUNG UND ERLEBNIS
.Der Grad der Wahrheitserkenntnis eines
Menschen wird bestimmt durch seine Er
lebnisse; durch die Intensität seines Er‐
lebens, ‒ nicht aber durch die Erschei
nungen, die dieses Erleben auslösen.
.So einfach und leicht begreiflich diese
Tatsache auch ist, so wenig wird sie begriffen.
.Man begegnet allerorten einer maßlosen
Überschätzung des Phänomens, während
die Erlebnisfähigkeit in den allermeisten
Fällen derart verkümmert ist, daß es erst
besonderer Sensationen, unerhörter äußerer
Anregungen bedarf um sie vorübergehend
noch zu erwecken.
.Wer darf sich wundern, daß dann auch
die so erzielten „Erlebnisse” der vermin‐
derten Fähigkeit zum Erlebenkönnen ent‐
sprechen?!
15 Wegweiser
.Was man „erlebt”, ist nur noch Schaum
der Oberfläche, da die Fähigkeit fehlt,
tiefer in die Erscheinung einzudringen, mag
sie auch mit der Lanzette scheinbar bis ins
Innerste zerlegt und unter dem Mikroskop
bis zu den feinsten Fasern erforscht werden.
.Auch wenn die physikalischen Bedin‐
gungen der Erscheinung genauestens nach
exakter Forschungsmethode erkannt sind,
bleibt dennoch ein letztes, auf solche Weise
niemals Erkennbares: ‒ die „Seele” der
Erscheinung, die nur erkannt werden kann,
wenn die Erlebnisfähigkeit derart entwickelt
ist, daß sie auch auf Anstöße reagiert, die
den physischen Sinnen völlig unwahr
nehmbar bleiben.
.Für solches Erkennen ist es belanglos, ob
man die Erscheinung bis auf ihre innersten
Fasern seziert, oder sie in der Gesamtheit
ihrer Formkomplexe auf sich wirken läßt,
ohne sie erst mechanisch, sei es auch durch
16 Wegweiser
die Mechanik des Denkens, in ihre einzel‐
nen Teile aufzulösen.
.Es besteht an sich durchaus keine Be‐
dingtheit der Tiefe und Bedeutung des
Erlebens durch die Umfänglichkeit, oder
die mechanische Wucht in der eine Er
scheinung wahrgenommen wird!
.Ein Feuerwerk kann das Auge blenden,
und mit ungeheurem Geprassel und Ge‐
knatter enden, ‒ dennoch kann ein win‐
ziger Glühwurm im Dunkel sommernächt‐
lichen Waldes Anlaß zu einem weit tieferen
Erlebnis werden als es jemals die Künste
des Pyrotechnikers in uns hervorzurufen
vermöchten...
.So ist es mit aller Erscheinung, möge
sie nun durch das Auge, das Ohr, oder einen
anderen physischen Sinn von uns „aufge‐
faßt” werden!
17 Wegweiser
.Gewiß kann die Majestät ragender Hoch‐
gebirgsgipfel, oder die tosende Wildheit an‐
stürmender Meeresbrandung Ursache tiefen
und starken Erlebens werden, aber auch
Allerkleinstes und scheinbar Unbe
deutendstes kann gewaltiges Erlebnis
wecken.
.Unzählige Menschen, ‒ und wahrlich
nicht die seelisch kältesten, ‒ sind dauernd
in der Erwartung eines ungeheuren Er‐
lebens, das ihre innersten Tiefen erschüttern
könne, ‒ und weil alle Sehnsucht dieses
Erleben nicht herbeiziehen kann, hasten
sie unstet suchend von Erscheinung zu Er‐
scheinung, befangen im Wahn, das erhoffte
Erleben müsse zu erreichen sein, fände
man nur die gewaltige Erscheinung, die
durch ihre Ungeheuerlichkeit die Seele über‐
wältigen könne.
.So bleibt ihnen schließlich kein Wunder
der Natur mehr fremd und alle Erdteile
18 Wegweiser
werden ihnen vertraut, aber die Sehnsucht
der Seele bleibt dennoch ungestillt.
.Andere wieder suchen die große Erfül‐
lung in den Bereichen der Kunst, der Wissen‐
schaft, oder des abstrakten Denkens, ‒ und
wieder andere, besonders in heutigen Tagen,
erwarten alles Heil von den „Wundern der
Technik”, wenn sie nicht gar die sportliche
„Sensation” und den Kitzel verwegenen
Spiels um Leben oder Tod, als Opfer einer
Selbsthypnose, für das mit allen Kräften
ersehnte Erlebnis halten.
.Keiner denkt daran, daß alle die zeit‐
weiligen Erregungen, die er sich solcherart
verschafft, ‒ mögen sie ihm nun auf Höhen
oder in den Niederungen der Erscheinungs‐
welt zuteil werden, ‒ nur Betäubung,
ja Betrug an der eigenen Seele sind, die
nach wie vor ihr Recht verlangt, das Glück
des Erlebens zu empfinden in dem sie
ihrer selbst bewußt zu werden vermag.
19 Wegweiser
.Solches Erleben aber kann jeder in
seinem allernächsten Umkreis zur Ge‐
nüge finden, und weiß er es zu finden,
dann wird ihm alle Sucht nach fernem Un‐
bekannten töricht, aller Nervenkitzel den
er andere als „Erlebnis” preisen hört, nur
als bedenkliches Surrogat echten Erlebens
erscheinen.
.Doch ‒ wie schon zu Anfang gesagt
‒ setzt wirkliches Erleben: Erlebnis‐
Fähigkeit voraus.
.In jedem Menschen ist, latent, diese
Fähigkeit vorhanden, aber keiner wird sie
zu gebrauchen wissen, der sie nicht bis zu
einem gewissen Grade in sich entfaltet
hat, und solche Entfaltung ist das Werk
steter Übung.
.Erlebnis erfordert äußerste Konzen
tration: ‒ Einstellung allen Aufnahme‐
willens auf jeweils einen einzigen Punkt,
‒ und stete Bereitschaft, sich bei gege
20 Wegweiser
benem Anstoß sogleich in solcher Konzen‐
tration zu „sammeln”.
.Wer dagegen stets nach „Zerstreuung
Ausschau hält, der wird ganz gewiß nicht
seine Erlebnisfähigkeit entfalten!
.Er jagt nur von Phänomen zu Phänomen,
unersättlich wie ein Sklave berauschender
Gifte, um bestenfalls am Ende seiner Tage
einzusehen, daß alles was er je getrieben
hat „eitel” war, ‒ um dann in bitterer Re‐
signation zu enden. ‒
.Man soll das Erlebnis auch niemals
suchen, ‒ noch soll man es als eine Feier‐
tagsgabe betrachten.
.Das echte Erlebnis kommt stets unge
sucht und läßt sich am leichtesten mitten
im Alltag finden.
.Plötzlich entdeckt man es auf Wegen,
die man gewiß nicht ging um ein Erlebnis
zu suchen, ‒ doch wenn man sich auf‐
21 Wegweiser
macht mit großer Vorbereitung, wird man
sicherlich zuletzt nach Hause kommen,
leeren Herzens und voll Traurigkeit...
.Das gilt vor allem auch für jegliches
Erlebnis das da Kunde bringen kann von
einer Welt des wesenhaften Geistes.
.Nicht in der irdischen Erscheinung,
wohl aber im Erlebnis vermag der erd‐
gebundene Mensch das Geistige zu fassen,
und doch bedarf auch dieses Erleben der
Auslösung durch Formen und Ereignisse
die zur Erscheinungswelt gehören, ja das
Geistige selbst ist innere Erscheinungswelt
und läßt nur als solche sich im Innern der
Seele fassen. ‒
.Wo aber äußere Erscheinung, die den
Erdensinnen faßbar wird, sich aufzu‐
drängen sucht als Bote aus der reinen
Geisteswelt, dort sei man stets auf seiner
Hut, denn seltener als Diamanten in dem
Ufersand des Meeres sind jene Kräftekon‐
22 Wegweiser
stellationen, die das Geistige den Erden
sinnen faßbar werden lassen im Phäno
men, und unter allen Millionen Menschen
auf der Erde sind nur zu jeder Zeit so
wenige, daß sie in einer engen Stube
sich versammeln könnten, von denen
solches Phänomen sich fassen läßt. ‒
.Wer aber Geistiges, und sei es auch
nur einmal, in seiner Seele innerstem
Erleben faßte, der verlangt nicht mehr,
daß es im Phänomen der Außenwelt sich
offenbare, denn ihm ward eine Offenbarung
jener Art, die manchen Schauenden so
sehr beglückte, daß er vermeinte, alle Aus‐
senwelt sei nichts als Schein und Trug,
verglichen mit der hellen Wirklichkeit die
er in sich erfahren hatte. ‒
.Ist es schon Torheit, zu glauben, man
habe die äußere Erscheinungswelt durch‐
drungen, weil man ihre kleinsten Teile
seinen Sinnen faßbar machte, ‒ ihre Wir‐
23 Wegweiser
kungsmöglichkeiten aufzuspüren suchte und
im Denken sich ein Gleichnis schuf in dem
man sie nun zu besitzen wähnt, so ist es
erst recht unsagbar töricht, verlangt man
gar, daß sich die Welt des Geistes auf
solche Weise in der sichtbarlichen Erschei‐
nungswelt finden lasse, und schließt man
mit kindlichem Eigensinn: ‒ da sie so
nicht zu finden sei, so sei sie auch auf
andere Weise nicht erreichbar.
.Nicht minder töricht aber ist auch die
Forderung eines Beweises für das Vor‐
handensein geistiger Kräfte, durch Mani‐
festationen die den Erdensinnen faßbar
werden.
.Wer noch in solchen Irrgärten der Ge
dankenwelt gefangen ist, der ahnt noch
nicht aus weitester Ferne was „wesenhaften
Geistes” Art und Gestaltung ist, ja, er
hält wohl gar den Teil der Gedanken
Welt dessen Dasein er fühlt, obwohl es
sich ihm noch nicht erschließt: ‒ den Teil,
24 Wegweiser
der außerhalb des ihn umfangenden Irr‐
gartens ist, ‒ für den ewigen, substantiellen
Geist!
.So hören denn auch manche, daß die
Welt des wesenhaften Geistes nur im Er
lebnis sich offenbart, und wähnen, dieses
Erlebnis längst zu kennen, als das Erleben
ihres hirngebundenen Denkens.
.Das Erlebnis aber, von dem ich hier
rede, hat nicht das mindeste mit dem
Denken zu tun, und die Welt des wahr‐
haftigen, wirklichen Geistes ist himmel
hoch erhaben über allen Wundern der
Gedankenwelt! ‒
.So aber, wie jedes Gebiet menschlichen
Erkennens dem sich aufschließt, der die
Bedingungen zu seiner Erschließung erfüllt,
so wird auch ein Mensch der seine Fähig
keit innerlich zu erleben, an allen Erlebnis‐
möglichkeiten der äußeren Erscheinungswelt
25 Wegweiser
schult, allmählich dahin gelangen, durch
die Erscheinung den Anstoß zu jenem
Erleben zu erhalten, das ihm die Welt
des wesenhaften Geistes offenbart.
.Nur im Erlebnis seiner eigenen Seele
wird er sie erfassen, ‒ jene Welt, die
jenseits der Sinne und jenseits des
Denkens ist! ‒
.Dann aber erst wird ihm auch alle Er‐
scheinung das innere Sein enthüllen, als
dessen Abglanz sie er-scheint...
.Dann erst wird der Erlebende sein
eigenes Dasein zu deuten wissen, und
was bis dahin dunkel war, wird aufleuchten
in ewigem Licht! ‒ ‒ ‒
26 Wegweiser
ERKENNTNIS UND LEHRE
.Es ist ein wesentlich Anderes, ob ich eine
Sache im klaren Lichte des Geistes nur für
mich selbst zu erkennen vermag, oder ob
mir auch die Gabe geschenkt ist, das so
Erkannte lehrend zu vermitteln.
.Abgründig tief kann meine Erkenntnis
ankern, und dennoch kann es mir versagt
sein, aus solcher Tiefe die Schätze zu heben,
die ich alldorten verborgen weiß...
.Ich kann aber auch das in der Tiefe
Entdeckte längst gehoben haben und den‐
noch der Kunst nicht kundig sein, ihm den
strahlenden Glanz zu geben, der seiner
würdig wäre, so daß der Anderen ohnehin
mißtrauenstrüber Blick gewiß nicht der
Schätze Wert und Bedeutung erfassen würde..
.Das ist Binsenweisheit, die jeder zu er‐
greifen vermag, und die Erfahrung des All‐
29 Wegweiser
tags schafft hier wahrlich mehr Bestätigung
als nötig wäre!
.Aber es sitzt ein gar lehrhafter Trieb in
vielen Menschen, der sie immer wieder
vergessen läßt, sich selbst zu fragen, von
welcher Artung der Gegenstand sein darf,
den sie noch lehrend weitergeben dürfen. ‒
.Mancher könnte Segen bringen, lehrte
er nur das, was er zu lehren vermag,
jedoch die leidige Sucht, auch Dinge lehren
zu wollen, die er nicht lehren kann, läßt
ihn zu einem Werkzeug des Unheils werden.
.In irdischen Dingen ist solcher Lehr‐
sucht immerhin Zaun und Riegel vorge‐
schoben, und die von einem Unberufenen
Belehrten merken nur zu bald, daß sie töricht
vertrauten, wo sie hätten verlachen sollen...
.Dort aber, wo die äußere Erscheinung
keine Korrektur des falsch Erkannten bietet,
kann der Trieb, die anderen zu belehren,
Unheil über Unheil türmen, und es mag
30 Wegweiser
lange währen, bis der seinem Lehrtrieb Frö‐
nende erkennt, was er verschuldet hat, ob‐
wohl er sich stets guten Willens wußte. ‒
.So gibt es auch unter denen, die zum
Licht des reinen, wesenhaften Geistes
streben, leider nur Allzuviele, die kaum
ihr erstes dürftiges Erkennen erlebten und
schon sich nicht halten können, alsbald und
unverlangt davon zu reden.
.Kaum hat der erste Strahl der Klarheit
sie gestreift, so eilen sie durch alle Gassen,
bis sie einen Menschen finden, der sich auf
Grund des so spärlich Erkannten nun von
ihnen belehren läßt. ‒
.Anwälte des Geistes glauben sie schon
zu sein, und sind nur arme Hörige ihrer
Eitelkeit!
.Wagt dann der durch solche Lehre Be‐
glückte gar noch Einspruch, da er sich
aus eigener Erkenntnis weit belehrter
31 Wegweiser
als sein Lehrer weiß, so offenbart sich dieser
meist in seiner ganzen kümmerlichen Ar‐
mut, ohne es zu wollen, denn es ist ihm
unerfindlich, daß ein Anderer, den er tief
unter sich zu sehen wähnt, Erkenntnis
haben könne, die ihm selbst noch fehlt...
.Gemeinsam allen Lehrsuchtkranken ist
die hohe Meinung, die sie von sich selber
haben! ‒
.Was sie vielleicht in Wahrheit schon
erkennen, benützen sie um sich ein Piede‐
stal zu bauen, auf dem sie sich schon
höherstehend” fühlen können als die
Andern, und wenn sie reden, senken sie
alsdann die Augenlider, um „herabzu
sehen” aus erträumter Geisteshöhe...
.Sie ahnen nicht, wie sie sich selbst
das Urteil schaffen: ‒ daß sie zwar „be
rufen” waren, aber nun um ihres Dünkels
willen ausgeschieden werden müssen aus
32 Wegweiser
der Zahl der wirklichZählenden”, die
unbeirrbar weise Wahl der Ewigkeit sich
auserwählt”! ‒ ‒ ‒
.Sie ahnen nicht, daß ihre Lehrsucht
ihnen zum Verhängnis wird, so daß sie
niemals aus der ersten Dürftigkeit zur
lichten Fülle der Erkenntnis hingelangen
können, die nur denen sich erschließt, die
erst den Mund zur Lehre öffnen, wenn es
geistiges Gebot erheischt, und die selbst
dann nur unter Zagen und Erbeben
ihrem inneren Erkennen Wortgewänder
wirken, stets bewußt der fast untragbaren
Verantwortung, die jeder auf sich nehmen
muß, der Geistiges zu lehren unternimmt!
‒ ‒
.Ach, daß doch in allen, die so gerne
sich als Lehrende berufen fühlen möchten,
nur ein Weniges wäre von dem Bewußt
sein der Verantwortung, wie es in denen
lebt, die Geistiges lehren müssen! ‒
33 Wegweiser
.Wer auch nur ahnend fühlt, was es
hier zu verantworten gilt, der wird sich
gewiß nicht so vermessen, daß er Andere
lehren möchte, bevor er selber in der
untrüglichen Fülle der Erkenntnis steht!
.Es gibt keinen Tag in meinem Leben,
an den ich mit solchem Erschauern denken
müßte, wie an jenen, der mir die Pflicht,
zu lehren, auferlegte. ‒ ‒ ‒
.Wahrlich: ‒ es war ein gar schweres
Erleben, an mir selbst erfahren zu müssen,
wie anders es ist, für sich selbst in lichter
Erkenntnis zu stehen, und was es dann
heißen will, das Erkannte in Worte der
Lehre zu kleiden! ‒ ‒
.Nur allzunahe lag damals die Versuchung,
zu beten: ‒ „Herr, lege mir diese Last
nicht auf! ‒ Erbarme Dich und suche
Dir einen anderen Knecht!” ‒ ‒
34 Wegweiser
.Aber solches Gebet wäre Lästerung ge‐
wesen und geistige Selbstvernichtung...
.Nicht einem aus denen, die jemals
als Berufene vom Geiste sprachen, ist
diese furchtbare Stunde erspart geblieben. ‒
.Wer aber wirklich vom Geiste reden
darf, weil er aus eigener Erfahrung
reden kann, der vermag kaum zu fassen,
daß es Menschen gibt, die leichthin über
kaum Erkanntes sprechen, ‒ vorlaut
sprechen, ohne Not und Zwang. ‒ ‒
.Schicksalhafte Nötigung bleibt je‐
dem, der aus dem Geiste lehren muß, jedes
Wort der Lehre, obwohl er weiß, daß er
voreinst sich selbst zu solchem Schicksal
dargeboten hatte, als er noch nicht wußte
um die Qual, die ihm aus erdenhafter Hem‐
mung werden würde...
.Man steht an einem urtiefen Brunnen
und hält einen winzigen Becher in der
35 Wegweiser
Hand um zu schöpfen, auf daß man den
Verschmachtenden zu trinken geben könne.
.Wohl quillt der Trank aus unergründ‐
barer Tiefe, aber ‒ wie wenig ist das,
was der winzige Becher faßt, gemessen an
dem nie versiegenden Überfluß, der immer‐
fort tausendfach ersetzt, was der Quelle ent‐
nommen wurde! ‒
.Keiner erlebt so sehr das Gefühl seiner
menschlichen Ohnmacht, wie der, dem es
Pflicht ward, aus diesem Brunnen zu
schöpfen, und der mit Eimern schöpfen
möchte, aber auf ein Schöpfgefäß verwiesen
ist, das kaum mehr in sich aufnehmen
kann als eine hohle Hand. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Was aber soll man von denen dann
halten, die vielleicht ein Tröpflein des
lebendigen Wassers benetzte, und die sich als‐
dann gebärden, als hätten sie den Brunnen
ausgeschöpft!?!
36 Wegweiser
.Es ist menschlich verzeihlich, wenn einer,
der zu seiner ersten kleinen Erkenntnis
kam, so überwältigt von seinem Erleben
ist, daß er nun glaubt, er könne nichts
Besseres tun, als auch Anderen mitzuteilen,
was er erkannte, oder zu erkennen meint.
.Dennoch ist solches Verhalten nicht nur
Torheit, sondern Schuld, weil es die Ehr
furcht vor dem Ewigen vermissen läßt,
denn jeder, der bei Sinnen ist, muß sich
zu sagen wissen, daß auch unerhörtes Er‐
leben geistigen Erkennens ihn nicht mit
einemmale in die Fülle der Erkenntnis ver‐
setzen kann, ‒ daß er nicht berufen ist,
zu lehren, solange er selbst noch der Lehre
bedarf. ‒
.Wohl darf er den Anderen sagen: ‒
„Seht, so habe ich es von denen ver
nommen, die mich lehrten, und einiges
davon ward durch Erkenntnis mir be
stätigt!” ‒ aber wenn er nicht mit Schuld
sich schwer beladen will, dann muß er auch
37 Wegweiser
die Demut in sich finden, zu bekennen:
‒ „Dieses und auch jenes weiß ich zwar, so
wie man Dinge wissen kann, die man von
einem Anderen hört, allein, mir selber
ist das alles noch erlebensfremd!” ‒ ‒ ‒
.Niemals darf sein spärliches Erkennen
ihn verleiten, nun den Anschein zu er‐
wecken, als sei auch Anderes, das er nur
aus der Lehre kennt, in seinem Innersten
bereits durch eigenes Erleben aufgenommen
worden, auch wenn er längst der festen Über‐
zeugung ist, daß dieses nur aus Menschen‐
mund Vernommene die gleiche Wahr
heit in sich birgt, wie das, was er in sich
erkennen und erleben durfte! ‒ ‒
.Er würde sonst nur sein Erkennen
hemmen und zuletzt unmöglich werden
lassen, denn alles, was er sich vor anderen
als Erkenntnis seines eigenen Innern
zuspricht, noch bevor er es erkennend in
sich selbst erlebte, wird dem wirklichen
Erkennen unerreichbar bleiben...
38 Wegweiser
.Unzählige, die einer Wahrheitslehre folg‐
ten und auf dem besten Wege zur Erkenntnis
waren, haben so sich um ihr wirkliches
Erkennen selbst betrogen, weil sie sich
nicht enthalten konnten, Anderen den An‐
schein zu vermitteln, als hätten sie bereits
im Innersten erkannt, was die als wahr er‐
fühlte Lehre sie vorerst erkennen lehren
wollte. ‒ ‒ ‒
.Die Lehre, die in dieser Zeit nunmehr
mein Wort erneut der Welt vermittelt, er‐
reichte vor Jahrtausenden schon Seelen, die
zuletzt sie in sich selbst bestätigt fanden,
durch das eigene Erleben.
.Sie soll auch heute wieder solche
Menschen finden, und sie fand bereits nicht
wenige, die in sich selbst erlebten, was
meine Worte als erlebensmöglich künden.
.Obwohl nun aber alles, was ich lehre,
Gemeinschaftsgut und wohlerprobtes Wis‐
39 Wegweiser
sen aller derer ist, die jemals in der Fülle
des Erkennens waren, wie derer, die in
kommenden Jahrtausenden aus gleicher
Fülle lehren können, mußte ich doch erst
selbst in dieser Erkenntnis stehen, bevor
ich aus ihr reden durfte. Es ist aber noch
nichts gewonnen, wenn man nur vernimmt,
was meine eigene Erkenntnis ist, solange
man nicht willens ist, Bestätigung dafür
auch in sich selbst zu suchen. ‒
.Auch was die Schüler dieser Lehre, die
sie in sich selbst bestätigt fanden, nun
etwa vermitteln können, bleibt nur sehr
bedingten Wertes, solange man sich nicht
bestrebt, auch in sich selbst Gewißheit
zu erlangen.
.Die Art und Weise aber, wie die einzelne
Seele solche Gewißheit erlangt, ist gar sehr
verschieden, weshalb denn auch mein
Wort sich stets aufs neue müht, gesondert
aller Möglichkeiten zu gedenken.
40 Wegweiser
.Hier ist der Grund dafür zu suchen,
daß ich die Lehre stets in einer anderen
Form in Abhandlungen gebe, die in der
Einheit eines kleinen Buches immer das zu‐
sammenschließen, was besonderer Seelen‐
artung Hilfe bringen soll. ‒
.Gewiß wird Jeder nun aus jedem
dieser kleinen Bücher mancherlei entneh‐
men können, was ihn angeht, allein es wird
auch Jeder die für ihn in Sonderheit
bestimmten Lehrkomplexe finden, so daß
er dann aus meinen Worten leicht erfühlen
kann, was seiner Seelen-Art gemäß ist, ‒
was er von sich fordern muß, und was
er wohl von sich erwarten darf.
.Es ist jedoch nicht ratsam, ‒ wenn
es auch dem Urteilsfähigen kaum schaden
wird ‒ den Inhalt dieser Buch-Einheiten
wahllos in ein anderes Gefüge einzuordnen.
.Ich will, daß man als Einheit zu er‐
fassen suche, was ich schon äußerlich als
41 Wegweiser
Einheit gab, und nicht die Worte eines
Buches willkürlich mit den Worten eines
anderen mische!
.Nur so wie ich die Abhandlungen an‐
einanderfügte, wollen sie gelesen und be‐
trachtet werden.
.Das will nicht heißen, daß man nicht
dennoch manchen Ausspruch finden könne,
der mit anderen aus meinen anderen
Büchern sich vereinen ließe, ‒ ja, es könnte
sein, daß sich hier eine reiche Sammlung
bieten würde, wollte man vereinen, was
sich dem Sinn nach wirklich anein
anderschließt.*)
.Ich will nur warnen vor der Neigung,
Sätze und Gedankenreihen, die in einem
Buche wohlbegründet ihren Platz gefunden
haben, willkürlich dem Zusammenhange
zu entreißen, um sie ähnlichen Bekun‐
dungen des anderen Buches gleichzusetzen,
.*) Mittlerweile ist dies geschehen. Siehe: Rudolf Schott OO
„Brevier des Werkes von Bô Yin Râ”!
42 Wegweiser
in dem sie einen nicht von mir ge
wollten Sinn erhalten könnten.
.Es würde sich dann sicher nicht um
„Widersprüche” handeln, denn wie könnten
Widersprüche möglich sein, wo jedes Wort
aus gleicher Wirklichkeitserkenntnis fließt,
‒ doch wäre Gefahr gegeben, daß als Wider‐
spruch empfunden werden könnte, was
nur von anderem Gesichtspunkt her
gesehen ist.
.Letztlich aber bleibt das wichtigste Er‐
fordernis für jeden Menschen der sich
meiner Lebenslehre widmet, daß er nach
ihren Anweisungen handelt...
.Dann wird ihm aus der Lehre der Weg
zum Leben im urewigen Licht, und
höchstes Erkennen in der Liebe. ‒ ‒
.So aber, wie man nicht lehren soll,
was man selbst noch nicht erkannte, so
soll man auch nicht schon zu „erkennen
43 Wegweiser
glauben, was man erst nur in der Theorie
erfaßte, und was dann noch weit entfernt
ist von praktischer Bestätigung!
.Wie kannst du wissen, ob du Wahrheit
weitergibst, solange das, was du zu geben
hast, sich dir noch nicht als wahr er
wiesen hat?! ‒
.Nicht, daß ich also lehre, darf dir als
Bestätigung der Wahrheit meiner Lehre
gelten, sondern was ich lehre, muß sich in
deiner Erfahrung bewährt haben, als un
anfechtbare Wahrheitserkenntnis!
.Dann erst darfst du weitergeben, was
vordem ich dir gegeben habe! ‒ ‒ ‒
44 Wegweiser
LESEN LERNEN
.Daß nicht jeder, der gute Augen hat,
auch „sehen” kann, haben die Maler all‐
mählich den Menschen beigebracht, die sich
für ihre Kunst interessieren.
.Man hat gehört, man müsse erst sehen
lernen”, wolle man wie die Maler sehen
können, um dann zu verstehen, daß Wiesen
nicht unter allen Umständen grün, ‒ daß
Eichbäume auch zuweilen blau zu malen
seien...
.Es handelt sich hier um die Erkenntnis,
daß es nicht genügt, gesunde Augen zu
haben, um auch richtig „sehen” zu können,
sondern daß künstlerisches Sehen er
lernt und geübt sein will.
.Ist es aber mit dem rechten Lesen nicht
ebenso?! ‒
47 Wegweiser
.Jeder, der in der Schule die Bedeutung
der Buchstabenzeichen erfaßt hat und so
nach und nach zum „Lieben Leser” einer
Zeitung heranwuchs, bildet sich felsenfest
ein, er könne „lesen”, und wenn du es
ihm nicht glaubst, dann liest er dir was
du nur hören magst im schönsten Pathos
vor, um es dir zu beweisen.
.Ob er aber wirklich „lesen” kann,
weißt du dann immer noch nicht!
.Du hast dich nur überzeugt, daß er Buch‐
stabenzeichen und ihre Kombination zu
Worten oder Sätzen richtig durch Mundlaute
auszudrücken vermag.
.Lesen” ist aber denn doch noch etwas
anderes!
.Von einem der behauptet, „lesen” zu
können, darfst und mußt du getrost ver‐
langen, daß er nicht nur Buchstabenzeichen
ins Mundgerechte übersetzen und dir bei‐
läufig den Sinn der Worte, korrekt nach
48 Wegweiser
dem Wörterbuch, zu Verstande bringen, oder
die Sätze grammatikalisch analysieren kann,
‒ sondern daß er vor allem „versteht”,
was der Verfasser des Geschriebenen mit
Buchstaben, Worten und Sätzen anderen
Gehirnen übermitteln wollte. ‒ ‒
.Das aber wird sich oft gar nicht so leicht
aus dem gerade gelesenen Satz allein ersehen
lassen, sondern der Leser wird das Schrift‐
stück an den verschiedensten Punkten
nach der Meinung des einen Satzes befragen
müssen, um zur Sicherheit im Verstehen
zu gelangen, ‒ und ein andermal wieder
wird der, der wirklich „lesen” kann, so‐
fort wissen, daß er von allen anderen Sätzen
absehen muß, will er zum richtigen Ver‐
stehen eines in sich selbst beschlossenen
Satzes kommen.
.Lesenkönnen” verlangt als Voraus‐
setzung ein möglichst hochentwickeltes Ein
fühlungsvermögen.
49 Wegweiser
.Nicht nur der ehrliche Wille, den Autor
(und nicht sich selbst) zu vernehmen,
muß vorhanden sein, sondern zugleich auch
die Fähigkeit, sich in die Gedanken
gänge des Autors zu versetzen, und so
dann gleichsam an seinem Denken teil
zunehmen.
.Handelt ein Schriftwerk nur von Dingen,
die alltäglich erfahrbar und mit Wohl‐
bekanntem leicht vergleichbar sind, dann
kann wohl auch schon geringes Einfüh‐
lungsvermögen zu richtigem Verstehen ge‐
nügen, ‒ aber anders werden die Bedin‐
gungen der Übertragbarkeit von Gedanken
durch geschriebene oder gedruckte Worte,
sobald es sich um Mitteilungen handelt, die
wenig Vergleichsmöglichkeiten im Allbe‐
kannten finden, ‒ und ganz unmöglich
ist ein richtiges Verstehen ohne intensive
Einfühlung, wenn irdischer Erscheinungs‐
form nicht zu Vergleichendes der Vor‐
stellung des Lesers deutlich werden soll...
50 Wegweiser
.Wir Menschen werden uns verstehbar,
indem der eine das ihm bekannt gewor‐
dene, soweit es anderen noch unbekannt
ist, darzustellen sucht mit Hilfe dessen, was er
als allgemein bekannt voraussetzen darf.
.Nun ist aber wirklich nicht alles allen
erfahrbar, und nur engstirnig-eitle Ahnungs‐
losigkeit kann diese Tatsache leugnen.
.Je weiter jedoch des Einzelnen geistiger
Umfang reicht, je respektabler sein „For
mat” ist ‒ um dieses Modewort hier als
Verdeutlichungsbehelf zu gebrauchen, ‒
desto sicherer besitzt er die Erkenntnis, daß
noch gar Vieles ihm selber nicht erlangbar
ist, wohl aber durch Andere, die es er
langten, auch ihm begreifbar werden kann.
.Die Frucht aus fernen Landen, die deine
Tafel ziert, brauchst du nicht selbst zu pflük‐
ken, und dennoch kannst du sie genießen!
.Soll dir darum in einer Niederschrift noch
Fernes, deinen Vorstellungen Fremdes
51 Wegweiser
übermittelt werden, so wirst Du es nur
prüfen können, indem du in dich auf
nimmst, was dich so erreicht, auch wenn
du vorerst noch nichts anderes kennst dem
es vergleichbar wäre. ‒
.Das heißt mit anderen Worten:
.Je ferner dir des Autors eigene Erfahrung
ist, ‒ je ferner Vergleichen mit der Sinnen‐
welt, ‒ desto mehr mußt du versuchen,
dich in seine Ausdrucksweise einzufühlen,
wenn du wirklich ihn verstehen lernen
willst! ‒
.Du mußt dich selbst in deiner Vor‐
stellung an seiner Stelle sehen und in
deinem eigenen Erfühlen nacherleben,
was er durch das Wort dir so erkenntnis‐
nahe bringen möchte, wie er es in sich
selbst erkennt. ‒
.Dann wirst du von dir sagen dürfen, daß
du zu „lesen” weißt, wie jeder Redliche
52 Wegweiser
zu lesen wissen sollte, bevor er sich an Worte
wagt, in denen seelisches Erleben sagbar
werden will! ‒
.Und solches „Lesen” wird dich auch
belehren, ob das, was du als „lesenswert”
erachtest, wirklich Lesens-Werte in sich
trägt, denn alles Hohle wird dir seine
innere Leere zeigen müssen, da es nicht
in deiner Seele Tiefen sinken kann, die
nur das wahrhaft Vollgewichtige erreicht.
‒ ‒ ‒
.Man liest heute viel, vielleicht nur all‐
zuviel, und doch verstehen wenige die Kunst
des rechten Lesens.
.Das Zeitungslesen hat diese Kunst ver‐
nichtet. Die Ehrfurcht vor dem Buche
ist dahingeschwunden.
.Man weiß nicht mehr anders zu lesen
als in fliegender Hast, so wie man gewohnt
ist, täglich das Morgenblatt zu durchstöbern.
53 Wegweiser
.Daß ein Buch gebaut sein kann wie
ein Tempelbau, ‒ daß jede Silbe dann
einen Baustein bildet, der nicht fehlen darf,
kommt dem gierigen Leser nicht zu Be‐
wußtsein. ‒
.Wer weiß noch etwas von der Magie des
Lesens, die in dem Leser das Gelesene neu
erstehen läßt zu unverlierbarem Besitz?!
.Man sollte wissen, daß man durch ein
Buch mit seinem Autor in seelische Ge
meinschaft tritt, und sollte zu wählen
wissen, mit wem man in solche Gemein‐
schaft treten mag. ‒
.Ein Buch ist das magische Mittel, Ge
dankenbilder in dir zu erzeugen, die
denen gleichen, die sein Autor schuf. Du
wirst aber kein Gedankenbild in deiner
Seele gestalten oder gar liebevoll hegen
können, das nicht auf geheimnisvolle Weise
teilhat an Deiner Seele Formung.
54 Wegweiser
.So ist denn dein Lesen sehr verantwort‐
liches Tun.
.Nur dort solltest du lesen, wo du gewiß
sein kannst, daß die Gedankenbilder, die
dein Lesen in dir zeugt, deiner Seele höchste
Formung fördern.
.Es müssen durchaus nicht immer ab‐
gründig ernste Bücher sein, die solches
bewirken.
.Auch Humor und Satire können gött‐
liche Kräfte in dir erwecken, die du bei
der Formung deiner Seele wahrlich nicht
missen darfst!
.Ja, es ist möglich, zuzeiten Bücher mit
hohem Gewinn zu lesen, deren einziger Wert
in der Macht der Spannung liegt, die der
Autor im Leser zu erzeugen weiß.
.Ich will hier gewiß kein Puritanertum
des Lesens predigen!
55 Wegweiser
.Wenn du aber lesen willst, dann lies
‒ was immer du lesen magst ‒ als einer,
der da bewußt das Wunder erlebt, daß Reihen
seltsamer Zeichen auf einem Blatte Papier
seine eigene Schöpferkraft erregen können,
so daß in ihm selber die gleichen Gedanken‐
bilder erstehen, die einst in eines anderen
Menschen Seele erste Gestaltung fanden.
.Erziehe dich selbst zur Ehrfurcht vor
dem Wort!
.Eine einzige Seite so gelesen, daß dir
eines jeden Wortes weitester Umfang deut‐
lich zu Bewußtsein kam, wird dir mehr
Segen bringen, als wenn du das beste Buch
„in einem Zuge” durchgelesen hättest, kaum
noch der Sätze achtend, geschweige denn
dem einzelnen Worte hingegeben.
.Erst wenn du recht zu lesen weißt, ge‐
hört das Buch dir allein.
.Deine eigene Wertung wird seine Worte
wandeln, so daß du anderes lesen wirst als
56 Wegweiser
alle anderen, die das gleiche Buch in Händen
halten. ‒ ‒
.Ein Buch kann so für dich einen Wert
erlangen, der hoch über seinem sichtbaren
Inhalt steht. ‒
.Du kannst sogar seelisch reicher werden
durch das rechte Lesen eines Buches, als
der Autor, der es schuf...
.Ich rate dir: ‒ wage den Versuch und
lies einmal ein Buch auf solche Art. Wenn
du dich selber festzuhalten weißt, so daß
du dir nicht unvermerkt dabei entschlüpfen
kannst, dann wirst du gewiß nicht mehr
auf andere Art zu lesen wünschen.
.Es ist nur geringe Mühe, die man hier
von dir verlangt, vergleichst du sie mit dem
Gewinn, der dir auf diese Weise werden
kann.
.Auch „leichte” Lektüre werde niemals
anders von dir gelesen, als mit treuer
57 Wegweiser
Wortbeachtung, denn wie sollte Formungs‐
kräftiges, das auch im Scherz und in gar
wenig gedankenbeschwerter Rede sich ver‐
stecken kann, dir zu Bewußtsein kommen,
wenn du nur gleichsam in weiten und
flüchtigen Sprüngen die Sätze „überfliegst”,
statt alle ihre Deutungsmöglichkeiten auf‐
zuspüren?! ‒
.Lesen lernen” heißt: ‒ sich selbst
als Lesenden achten, und somit sich selbst
zu gut sein zu unfruchtbarem Tun! ‒
.Alles, was du lesen magst, kann dir
reiche Frucht tragen, so du nur recht zu
lesen verstehst! ‒ ‒ ‒
58 Wegweiser
BRIEFE
.Es ist etwas Geheimnisvolles um das
Stückchen Papier, das da, bedeckt mit selt‐
samen Zeichen, von einem Menschen zum
anderen geschickt werden kann, und des
einen Gedanken wie seine Gefühle dem
anderen vermittelt.
.Da aber der briefliche Verkehr von
Mensch zu Mensch ein Bedingnis des All‐
tagslebens geworden ist, so ward er uns nur
allzusehr vertraut, und es bedarf erst eines
Herausrückens unserer selbst aus dem Ge‐
leise alltäglicher Denkgewohnheiten, sollen
wir wieder das Geheimnisvolle solcher Mit‐
teilungsmöglichkeit empfinden können.
.Dieses hier gemeinte Geheimnisvolle aber
ist keineswegs schon umschrieben durch den
Hinweis auf den so wundersamen Vorgang,
daß ein Gedanke sich in Schriftzeichen
61 Wegweiser
bannen läßt, und daß er dann jederzeit
aus solchen Zeichen wieder zu lösen, gleich‐
sam „aufzulesen” ist, denn der gleiche Vor‐
gang wiederholt sich ja bei jedem gedruckten
oder geschriebenen Wort in der nämlichen
Weise.
.Es handelt sich hier vielmehr um das
unsichtbare und nur dem Fühlen wahr‐
nehmhafte Fluidum, das mit dem Stück‐
chen Papier und seinen Schriftzeichen zu
gleich an den Empfänger gelangt und von
ihm aufgenommen, „aufgesogen” wird, mag
er darum wissen oder nicht.
.Jeder auch nur einigermaßen sensitive
Mensch fühlt dieses Fluidum ebensodeut‐
lich wie er die Schriftzeichen durch das
Auge zu sehen vermag, aber wer es nicht
fühlt, der wird nicht weniger davon beein‐
druckt, ‒ nur vermag er sich darüber keine
Rechenschaft zu geben.
62 Wegweiser
.Es ist dabei ohne Bedeutung, ob ein
Brief handschriftlich oder mit Hilfe eines
mechanischen Apparats geschrieben wurde,
wenn er nur aus des Schreibers Händen
kommt, also nicht erst in Buchdruck um‐
gesetzt wurde und auf anderes Papier über‐
tragen! ‒
.Das Papier an sich ist der Träger des
hier gemeinten Fluidums, und dieses Flui‐
dum wäre auch übertragbar, wollte der Ab‐
sender nur das Papier „bedenken”, statt
es zu beschreiben. ‒ ‒
.Auf diese Weise besteht der „Inhalt
eines Briefes durchaus nicht nur in dem,
was die niedergeschriebenen Worte besagen,
ja, der wichtigere und nur fühlbare In‐
halt kann geradezu das Gegenteil von dem
übermitteln, was die sichtbaren Sätze sinn‐
gemäß bedeuten. ‒ ‒ ‒
.Daraus ergibt sich aber, daß man einen
Brief immer nur dann wirklich beurteilen
63 Wegweiser
kann, wenn er soeben eröffnet, direkt vom
Schreiber kommt, denn das besagte Fluidum
verflüchtigt sich sehr schnell, und in we‐
nigen Tagen schon ist kaum mehr viel da‐
von zu fühlen.
.Ein Brief ist nun aber auch ureigentlich
nur für seinen Empfänger bestimmt, auf
den ja dann unweigerlich das mitgesandte
Fluidum übergeht, es sei denn, er wisse
um dessen Existenz und fühle Veranlassung,
sich dagegen zu wehren und es von sich
abzuschleudern...
.Aber wie könnte man nun, im Wissen
um all diese Dinge, noch die heute gras‐
sierende Unsitte rechtfertigen, die Brief‐
wechsel aller möglichen und unmöglichen,
bedeutenden und herzlich unbedeutenden
Menschen unter irgend einem fadenschei‐
nigen Vorwand auszugraben, um sie zur
Vermehrung des offenbar noch immer zu
64 Wegweiser
dürftigen alljährlichen Bücherzuwachses auf
den Markt zu werfen!??
.Um keinerlei Zweifel Raum zu geben,
will ich hier deutlichst kundtun, daß mir
Weniges in der Welt so verhaßt ist, wie
solche widerliche und gleichsam „leichen‐
schänderische” Briefwechselfabrikation!
.Wer immer Schriftstellerruhm zu den un‐
entbehrlichen Lebensnotwendigkeiten rech‐
net, aber selbst nichts auch nur irgendwie
Bedeutsames zu sagen hat, der sucht mit
der Herausgabe eines „Briefwechsels” sich
einen „Namen” zu ergattern, und Herr
Neureich kann sich eine ganze Bibliothek
aus Briefwechselbänden zusammenstellen
lassen, was für ihn auch recht praktisch
ist, denn er kann nach einigem Durch‐
blättern eines Briefwechselbandes schon sehr
unterrichtet erscheinen, auch wenn er nie
sonst eine Zeile des betreffenden Schriftstel‐
lers gelesen hat.
65 Wegweiser
.Der arme Briefschreiber selbst kann sich
ja nicht mehr wehren und muß sich aus‐
plündern lassen, einerlei ob es dem Her‐
ausgeber darum zu tun ist, seinen eigenen
Namen bekannt werden zu lassen, oder ob
er mit dem Hervorzerren der alten Briefe
deren Autor zu ehren glaubt...
.Die Manie, Briefe von irgendwie be‐
achtsameren Menschen nach ihrem Tode
zu veröffentlichen, ist geradezu kultur
feindlich zu nennen. Briefe eines Men‐
schen die man vor Fremde zerrt, für die
sie nicht bestimmt waren, ergeben schon
deshalb ein unrichtiges Bild, weil sie
doch niemals alle die Umstände erkennen
lassen können, aus denen heraus sie ge‐
schrieben wurden. Außerdem ist jeder solche
Briefwechsel, da ursprünglich nur Ange‐
legenheit zweier bestimmter Menschen, für
den späteren Leser als ungebetenen Dritten
denn doch ein recht bedenkliches Förde‐
66 Wegweiser
rungsmittel der Erkenntnis, weil hier ganz
selbstverständlich subjektive Nachempfin‐
dung an Stelle objektiven Aufnehmens tritt,
auch wenn man das nicht wahrhaben will,
und es selbst wohl auch nicht mehr bemerkt.
.Eine Ausnahme bilden nur Briefe ganz
allgemeinen Inhalts: wie Schilderungen
von Reisen oder Zeitbegebenheiten,
humoristische Ergüße, und auch Liebes
oder Erziehungsbriefe, da es in allen
diesen Fällen wenig verschlagen kann, ob
der Leser das Mitgeteilte nun objektiv an
sich herantreten läßt oder ob er sich sub‐
jektiv in die Rolle des Briefschreibers
einfühlt.
.Nun gibt es freilich auch Briefe, die
schon geradezu im Hinblick auf spätere Ver‐
öffentlichung geschrieben wurden...
.Hier handelt es sich aber schon kaum
mehr um die geheimnisvolle Brücke von
Mensch zu Mensch, als die ich den „Brief”
67 Wegweiser
aufgefaßt sehen will, sondern mehr um eine
Art von Essays in Briefform, die man
gewiß nicht an sich abzulehnen braucht,
sobald ein Mensch, der etwas zu sagen hat,
aus irgend einem Grunde sich ihrer be‐
dienen mag!
.Es soll aber immerhin leider Menschen
geben, die es nicht unter ihrer sonst so
sorglich gehüteten und betonten Würde
finden, auch ihre scheinbar intimsten Privat‐
briefe im Gedanken an eine mögliche spätere
Veröffentlichung zurechtzustilisieren...
.Auch eine Form menschlicher Eitel
keit, wenn auch eine gar merkwürdige
Geschmacksbekundung! ‒ ‒
.Wenn aber Briefe wieder das werden
sollen, was sie in guten Zeiten und für so
manche, ihrer Ewigkeit wirklich bewußte
Menschen schon waren, dann wird man
wieder zur Unbefangenheit in der gegen‐
68 Wegweiser
seitigen Aussprache zurückfinden müssen,
denn, was seinen Wortinhalt angeht, bleibt
der Brief nur sterile „Mitteilung”, wenn
seine Worte nicht aus einem wirklich „ge‐
öffneten Herzen” kommen, und nie wird
ein Brief das Herz dessen zu öffnen ver‐
mögen, an den er gerichtet ist, wenn man
zwischen den Zeilen nur allzudeutlich spürt,
daß jedes Wort daraufhin besehen und ab‐
gewogen wurde, ob es möglicherweise auch
in die Öffentlichkeit kommen könnte! ‒
.Ein Brief, der erfüllen soll, was ein
Brief erfüllen kann, muß aus jener Re‐
gion des Innern kommen, in der wir alle
die gleiche gemeinsame Urheimat haben,
und muß jeweils so geschrieben sein, daß
er keinem anderen Menschen gelten könnte,
außer dem einen, für den er bestimmt
ist. ‒ ‒
.Diese Einstellung auf ein einziges
Du” ist das wesentlichste Charakteristikum
des eigentlichen „Briefes”! ‒
69 Wegweiser
.Ein Brief an Viele zugleich ist seiner
besten Kraft beraubt, ja ist im strengen
Sinne überhaupt kein „Brief” mehr, sondern
ein Rundschreiben, ein Bericht, oder eine
Abhandlung. ‒ ‒
.Ich rede hier selbstverständlich nicht
von Briefen im Geschäftsverkehr, ob‐
wohl es auch da durchaus nicht so nötig ist,
wie mancher kleine Geschäftsmann glaubt,
die notwendigen Korrespondenzen so un
persönlich wie möglich zu halten, und
die „Könige” unter den Kaufleuten längst
wieder wissen, daß man mit betont persön
lich gehaltenen Briefen, wie sie einst auch
die alten Hanseaten zu schreiben wußten,
denn doch erheblich weiter kommt. ‒ ‒
.Was ich vielmehr hier im Auge habe,
ist die Wiedereinsetzung des „Briefes” in
seine guten alten Rechte als überaus wichtiger
70 Wegweiser
Faktor gegenseitiger Emporführung, geisti‐
ger Hilfe und Stärkung. ‒ ‒ ‒
.Hier ist nur zu gewinnen, wenn man
sich von aller Schablone und aller Über‐
ängstlichkeit frei machen will!
.Das bedeutet aber freilich andererseits
auch noch lange nicht, daß man jedem uner‐
probten Mitmenschen sofort die geheimsten
Eröffnungen zu Füßen legen müsse, und
es braucht zweifellos einigen Takt, um je‐
weils den für jeden Einzelnen gerade rich‐
tigen und ihm gemäßen Ton zu treffen! ‒ ‒
.Kehrt aber das Vertrauen, das der
Brief einst besaß, ihm wieder, so kann eine
in ihrem Wert kaum abzuschätzende Be‐
reicherung unseres irdischen Lebens hier
wieder aufs neue erlangt werden.
.Gewiß verbieten es die Lebensumstände,
in denen die Menschen von heute sich zu‐
rechtfinden müssen, daß man zu der Brief‐
seligkeit ruhigerer Zeiten zurückkehre, allwo
71 Wegweiser
„der Posttag” wochenlang erwartet wurde und
wieder Wochen vergehen konnten, bis Ge‐
legenheit zur Absendung der Antwort kam.
.Allein auch heute besteht noch immer
kein Zwang, einen Briefwechsel im Eil
tempo zu betreiben.
.Die Möglichkeit, sofort antworten zu
können, darf nicht zu einer Nötigung
mißbraucht werden!
.Mag es auch schwerer sein als ehedem,
die Ruhe zum Briefschreiben zu finden,
so braucht der Brief dennoch nicht die
Spuren der Hast zu zeigen, die dieses heutige
Zeitalter für sein ihm angemessenes Lebens‐
tempo hält.
72 Wegweiser
PERSONENKULT
.Solange Menschen auf dieser Erde leben,
wird man es nicht verhüten, nicht verwehren
können, daß gewisse Einzelne, die irgend‐
wie das Wohl Aller fördern, oder wohl
auch nur zu fördern scheinen, von jenen
ihrer Mitmenschen, die solches Tun als per‐
sönliche Wohltat empfinden, Dank und Ver‐
ehrung empfangen.
.Dank, wenn es sich um unleugbare
Hilfe handelt, ‒ Verehrung aber, wenn
der Beglückte in dem Verehrten sich selbst,
sein eigenes Menschentum, ‒ zu einer
Höhe emporgerissen fühlt, die er aus eigener
Kraft nicht zu erreichen vermag und den‐
noch als dem Menschen erreichbar erahnt. ‒
.Wer wollte Dank für geleistete Hilfe,
‒ wer solche, hier bezeichnete, Verehrung
verargen!?
75 Wegweiser
.Zu tief sind beide Empfindungstriebe
in jedem, nicht völlig verkommenen Men‐
schen verwurzelt, als daß nicht hier deut‐
lichst zu erfühlen wäre, welche Bedeutung
ihnen für die Erhaltung der Art, für die
Entfaltung des Edelsten der Rasse, inne‐
wohnt. ‒
.Auf bedenkliche Bahnen aber verirrt
sich der Verehrungstrieb, wenn er der Lei
tung des Urteils sich entzieht und dann
wahllos alles verehrt, was der Kraft seines
Eigners versagt ist, und doch durch einen
anderen Menschen als erreichbar er‐
wiesen wird.
.Dann ist der „Herkules” der Jahrmarkts‐
bude, der Gaukler und Feuerfresser, gleicher
Verehrung sicher wie der Schöpfer höchster
geistiger Werte, und ebenso geht auch alle
Unterscheidung zwischen „Kunststück” und
Kunst verloren...
76 Wegweiser
.Aber wenn auch der Blick des Ver‐
ehrenden sich nur auf wirkliche Werte
richtet, muß doch die Gefahr erkannt und
überwunden werden, daß allzuleicht aus
Verehrung „Personenkultus” wird, so‐
bald man sie ausarten läßt zu einer Ver
götterung des Persönlichen, wo nur
Tat oder Werk allein Verehrung gebührt.
.Es läßt sich nicht ändern, daß die aller
meisten Menschen während ihres Erden‐
lebens nur für sich selbst und ihren
allernächsten Umkreis Bedeutung er‐
langen, während andere, wenige, auch für
weite Menschheitsbezirke, ja fast für
die ganze Erdenmenschheit „bedeutend”,
‒ zielweisend ‒ werden können.
.Verständlich und gerechtfertigt ist es,
wird den allgemein „Bedeutenden” Ver‐
ehrung dargebracht, vor denen, die nur sich
und ihrer engsten Enge etwas zu bedeuten
77 Wegweiser
vermögen, auch wenn diese Enge schon sehr
wichtige Bezirke umfassen kann.
.Verhängnisvoll aber wird auch hier die
Verwechslung dessen, was eigentlich zu ver‐
ehren ist, mit dem Erdenmenschen, der
es zu Tage brachte!
.Mag man auch immer den, der Ver‐
ehrungswürdiges bewirkt, besonders achten,
ja vielleicht „bewundern” ‒ da man es
wie ein „Wunder” betrachtet, daß ein Mit‐
mensch auf seine Höhe fand ‒ so muß
doch immer sorglichst unterschieden werden
zwischen dem, was er erlangte, und dem,
was er trotz allem bleibt: ‒ zwischen gei‐
stigen unpersönlichen Werten und der
persönlich bestimmten Natur des Men
schen, der solche Werte darbietet, weil sie
ihm, sei es durch mühereiche Arbeit oder hohe
Gnade, schließlich erreichbar wurden. ‒
.Es ist auch nie zu vergessen, daß jeder
„Schöpfer geistiger Werte” dies nur inso
78 Wegweiser
fern ist, als er aus der Fülle der ihm
offenbaren Geistigkeit „schöpft” ‒ wie
man Wasser schöpft aus einem gewaltigen
Strom ‒, nicht aber in jenem anderen
Sinne, dem „Schöpfung” ein Hervorbringen
aus dem Nichts bedeutet! ‒ ‒
.Und ebenso bleibt alles, was ein Mensch
jemals aus dem Geistigen holt und erden‐
sinnverständlich macht, „Offenbarung”, sei
es nun Resultat einer jahrelang währenden
Laboratoriumsarbeit, oder die Gabe eines
gotterfüllten Augenblicks. ‒ ‒ ‒
.Ihn selbst dafür zu vergöttern, wäre
nicht nur Torheit, sondern Entwürdi
gung seiner Tat, ‒ seines Werkes, ‒
ja es käme der Unterstellung gleich, daß
er wohl selbst nicht zwischen sich und dem,
was ihm geworden ist, zu unterscheiden
wisse. ‒
.Bei allem was ein Mensch seinen Mit‐
menschen „be-deutet”, ist auch immer da‐
79 Wegweiser
nach zu fragen, ob seine Bedeutung mit
ihm selbst und seinem Erdendasein steht
und fällt, oder ob Weiterzeugendes,
Weiterzeigendes unter den Menschen
lebendig bleibt, auch wenn der Bringer der
Gabe nicht mehr unter den Sichtbaren
weiterwirken wird. ‒
.Niemals aber besteht auch nur der
mindeste Anlaß, den Bringer, Deuter oder
Künder um seines Tuns willen zu „ver
göttern”, ‒ seiner Persönlichkeit (auch
wenn man diesen Begriff in dem hohen
Sinne Goethes erfaßt! ‒) götzenhaften
Kult zu widmen, und jeder, der für seine
weitere menschliche Mitwelt wahrhaft „be‐
deutend” ist, wird stets mit Ekel und Scham
solche Vergötzung von sich weisen, mag er
auch noch so weit davon entfernt sein,
seine tatsächliche Bedeutung zu unter‐
schätzen! ‒ ‒ ‒
.Wer in Wahrheit für seine Mitmenschen
etwas zu bedeuten hat, der kennt auch
80 Wegweiser
aus tiefster Erkenntnis heraus sehr
wohl Art und Grad seiner Bedeutung.
.Er würde zum Lügner vor sich selbst
und Anderen, wollte er etwa den „Be‐
scheidenen” spielen und so tun, als ob er
nicht um sein Bedeutendes wüßte!
.Aber, es ist etwas anderes, um seine
Bedeutung zu wissen, Verehrung, ja selbst
Ehrfurcht Anderer um ihretwillen zu er‐
tragen, wie der Abgesandte eines Landes
wohl die Ehrung annimmt, die man seinem
Lande zollt, als um der Bedeutung seines
Wirkens willen und auf ihre Kosten, die
eigene Persönlichkeit, die doch nur
Mittlerdienste leistet, in den Vordergrund
zu stellen...
.Wenn ein Mensch den Mitmenschen
geistige Werte bringt, so wird man gewiß
verstehen, daß er sich auch gedrungen fühlt,
so gut wie es ihm möglich ist, zu bezeugen,
daß er nicht geraubtes Gut verschenkt
81 Wegweiser
sondern auf rechtliche Weise erlangte, was
er besitzt.
.Ob dieser Besitz aber auch wirklich
einen geistigen Wert darstellt, kann nur
durch Prüfung der Gabe selbst ent‐
schieden werden und niemals durch die bloße
Bezeugung, daß sie rechtlich erlangt wurde,
obwohl es auch auf das „Wie” des Er‐
langens sehr wesentlich ankommt.
.Werte, die aus dem Reich des wesen
haften, reinen Geistes stammen, können
niemals durch gedankliche Spekulation oder
naturwissenschaftliches Experiment erlangt
werden, und andererseits wäre es sinnlose
Vermessenheit, eine nur durch intensive
Denkarbeit erlangbare Erkenntnis mühe‐
los aus den geistigen Reichen her erwarten
zu wollen. ‒
.Aber so, wie eine bestimmte Entdeckung
eines Chemikers ihren Wert nur in sich
selber trägt, einerlei, wer des Gelehrten ein‐
82 Wegweiser
stige Lehrer waren, oder aus welcher Fabrik
die Instrumente und Apparate stammten,
die er benützte, ‒ so muß auch die Gabe
aus dem Reich des wesenhaften reinen
Geistes in sich selber probehaltig be‐
funden werden, ganz abgesehen von der
Bezeugung des Bringers über die Art und
Weise, wie er sie erlangte, oder wie er
zu ihrer Erlangung fähig wurde. ‒ ‒
.Es ist nicht eindringlich genug zu warnen
vor dem Annehmen einer geistigen Gabe
lediglich auf Autorität hin, denn ‒ wer
überhaupt auf Autorität hin etwas annimmt,
das nur auf die Bestätigung des eigenen
inneren Lebens und Erlebens hin an‐
genommen werden dürfte, der ist stets
in Gefahr, auch von Fälschern, autoritäts‐
gläubig, Gefälschtes anzunehmen, oder
von betrogenen Betrügern Talmi statt Gold
zu kaufen...
83 Wegweiser
.„Personenkultus” aber schafft so recht
die Treibhauswärme, in der die Neigung,
auf Autorität hin anzunehmen, was nur
nach eigener innerer Prüfung übernommen
werden darf, üppig gedeihen kann...
.Weit entfernt von solchem Kultus aber
ist das menschlich begründete Ver
trauen gegenüber dem Vermittler einer
geistigen Gabe!
.So wie man wertvolle Dinge des äußeren
Lebens nur bei einem Kaufmann erstehen
wird, dessen Rechtlichkeit erwiesen und
dessen Fähigkeit zu urteilsicherem Einkauf
seiner Ware wohlerprobt ist, so soll man
auch geistige Werte niemals aus der Hand
eines Menschen nehmen, dem man nicht
felsenfest vertrauen kann, wodurch man
sich keineswegs des Rechtes begibt, das Er‐
haltene dennoch erst im eigenen Innern
nachzuprüfen. ‒
84 Wegweiser
.Ist solches Vertrauen vielfach bestätigt
worden, so kann es freilich zu einer Sicher‐
heit führen, die im voraus weiß, daß alle
Nachprüfung nur die Echtheit des Erhaltenen
erweist, ja das eigene Urteil kann sich im
Laufe der Zeit zur Urteilsgewißheit des
Vermittlers erheben, ähnlich, wie mancher
Kunstsammler etwa sich allmählich einen
Blick für das Echte erwarb, der ihn befähigt,
auch ohne Anwendung besonderer Prü‐
fungsmethoden, sofort Wert von Unwert
zu unterscheiden.
.Und dieser hier herangezogene Vergleich
mag auch noch deutlicher werden lassen,
wie es bei jedem Bringer geistiger Werte
nur um das geht, was er bringt, und nicht
um eine Vergötzung seiner Person.
.So gibt es beispielsweise Sammler, die
einem bestimmten Meister alter oder neuerer
Kunst vor allen anderen den Vorzug geben
85 Wegweiser
und alles aufzubieten trachten, um seine
Werke zu erhalten.
.Wohl wird ein solcher Sammler auch
den Menschen, der die Werke schuf, zu
ehren wissen, allein ‒ nur um seiner
Werke willen, und weil nur dieser eine
Mensch eben diese Werke schaffen konnte
oder schaffen kann. ‒
.Niemand wird hier von „Persönlichkeits‐
kultus” reden wollen!
.Ebenso aber müssen auch Sammler
geistiger Schätze verfahren lernen.
.Mögen sie auch in hohem Grade den
Vermittler solcher Gaben verehren, so soll
dies doch nur um der Gabe selbst willen
geschehen, und vielleicht auch um der Tat‐
sache willen, daß echte Künder aus dem
Reiche wesenhaften Geistes doch wohl noch
seltener in dieser Erdenzeiten Lauf zu finden
sind, als echte Künstler. ‒ ‒ ‒
86 Wegweiser
KRITIKTRIEB
.Bei gewissen Krankheiten, deren Sym‐
ptome den Nervenärzten wohlvertraut sind,
macht man die seltsame Beobachtung, daß
die Erkrankten jeder Heilungsabsicht inneren
Widerstand entgegensetzen, weil sie den
krankhaften Zustand geradezu wie eine be‐
sondere Wertbetonung ihrer lieben Per‐
sönlichkeit empfinden und somit keineswegs
wirklich von ihm befreit sein möchten.
.Nicht allzuferne von derart patholo‐
gischem Zustand sind in heutigen Tagen
leider allzuviele Menschen, über die eine
seuchenhaft grassierende Kritiksüchtig
keit derart Herr geworden ist, daß es ihnen
nicht mehr wohl in ihrer Haut wäre, fänden
sie nicht allenthalben um sich her stets neuen
Anlaß zu berechtigter, oder auch oft sehr
unangebrachter Verneinung des Tuns und
Werkes ihrer Nebenmenschen.
89 Wegweiser
.Es kommt den hier gemeinten Kritik‐
triebkranken gar nicht mehr zu Bewußtsein,
daß normales und gesundes Bedürfnis
zu kritischem Verhalten erst dann sich
einstellt, wenn kenntnisgefestigte und
ihrer Sicherheit gewisse Prüfung jeweils
die Momente im Wirken und Werk des
Anderen entdeckt, durch die entweder seine
Absicht gefährdet erscheint, zum erstrebten
Ziel zu gelangen, oder durch die eine un
lautere Absicht erkennbar wird.
.Kritik, die aus nicht entartetem Kri‐
tiktrieb erwächst, ist immer „wohlwollend”,
denn der seines gesunden Triebes mächtige
Wille erstrebt da in der Auswirkung ent‐
weder das Wohl des kritisierten Handeln‐
den, oder das Wohl der vor diesem zu
schützenden anderen Mitmenschen.
.Von einem gesund gebliebenen Kritik‐
trieb ausgehende Kritik läßt sich auch stets
durch Belehrung korrigieren und wird
90 Wegweiser
nie in eigensinnigem Beharren besserem
Wissen Widerstand leisten.
.Das krankhaft überreiztem Triebe
entstammende Kritikbedürfnis will hingegen
nur die eigene Befriedigung und fühlt
empfindlichen Mangel, wenn es ihm schwer
wird, sich die gewohnte, fast wollüstig er‐
sehnte Selbstbefriedigung zu verschaffen.
.Über diese Dinge ist sich so Mancher
nicht klar, der sich viel darauf zugute hält,
daß er an allem und jedem was seine Neben‐
menschen treiben und schaffen, „etwas aus‐
zusetzen” hat, weil er seinen ursprünglich
gesunden Kritiktrieb zur Hypertrophie ent‐
arten ließ durch fortgesetzte, selbstgewollte
Überreizung...
.Was aber hier gesagt wird, geht auch
alle an, die ihren Kritiktrieb noch gesund
zu erhalten wußten, denn der beste Schutz
vor seiner möglichen Entartung ist stete
Achtsamkeit auf die ihm drohende Gefahr.
91 Wegweiser
.Es liegt unbestreitbar ein gewisser sinn‐
licher Reiz darin, seiner Kritiklust die Zügel
zu lockern und an Anderen der Wirkung
froh zu werden, die ungehemmte Verneinung
immer auslöst, sei es in der Form froh‐
lockender Zustimmung, oder als entrüstete
Abwehr.
.Gerade diesem Anreiz aber gilt es zu
widerstehen, denn wer ihm des öfteren er‐
liegt, der wird unmöglich seinen Kritiktrieb
gesund erhalten können.
.Hier handelt es sich nicht etwa um harm‐
loses Spiel, das keinem verwehrt werden
dürfe.
.Allzuviel Unheil wird tagtäglich durch
eilfertiges und vorlautes Kritisieren herauf‐
beschworen, in verhängnisvoller Auswir‐
kung krankhaft entarteten Kritiktriebes, als
daß es nicht an der Zeit wäre, dem Übel
endlich festen Willens entgegenzutreten.
92 Wegweiser
.Es handelt sich hier nicht um berufs‐
mäßige Kritik, die sich mit bildender Kunst,
Literatur, Musik und Theater befaßt, denn
da liegt doch zumeist das Amt des Kri‐
tikers in der Hand von Publizisten, die auf
diesen Gebieten genügend Orientierung be‐
sitzen um mit der Kritik der Werke dort
einsetzen zu können, wo fruchtbare Wir‐
kung zu erwarten ist.
.Man wird auch schwerlich unter be‐
rufsmäßigen Kritikern vielen Kritiktrieb‐
kranken begegnen, und wenn berufsmäßige
Kritikausübung auch keineswegs vor Irr‐
tümern geschützt ist, so bleibt doch das
kritisierte Werk bestehen und kann sich
im Laufe der Zeit die Revision des Fehl‐
urteils erzwingen.
.Anders aber liegen die Dinge bei den
wilden Äußerungen entarteten Kritiktriebes
gegenüber dem Tun und Reden des Neben‐
menschen, denn hier können Unkenntnis,
Vorwitz, oder böser Wille jede gute Wir‐
93 Wegweiser
kung im Keim ersticken und jede spätere
Korrektur unmöglich machen.
.Besonders gilt das im Bereich des öffent‐
lichen menschlichen Gemeinschaftslebens,
allwo Unzählige das Recht des Einzelnen
zur Mitbestimmung seiner äußeren Lebens‐
bedingungen als ein Recht zu ahnungs
loser Kritik an allen und allem auf‐
fassen, und so unweigerlich zu kläglicher
Entartung ihres Kritiktriebes gelangen.
.Gerade hier aber wirkt solche Entartung
auch ansteckend wie eine Seuche...
.Da sich jeder Einzelne zur Kritik be
rechtigt fühlt, auch wenn ihm jede Sach‐
kenntnis abgeht gegenüber dem Tun oder
Reden, das zu kritisieren er unternimmt,
so wirkt auf ihn die kritische Äußerung
eines Anderen als überaus suggestive Auf‐
forderung, sich in gleicher Weise hören zu
lassen, wobei dann die Eitelkeit dafür sorgt,
94 Wegweiser
daß die Aufblähung der eigenen Persön‐
lichkeit des Kritikers aller sachlichen Kritik
überordnet wird...
.Einer besonderen Vorliebe erfreut sich
bei solchen an der Kritiksuchtseuche Er‐
krankten das Schlagwort als bequemstes
und immer effektvolles, kritisches Schein‐
argument.
.Der Dümmste vermag noch, ein Vir‐
tuose des Schlagworts zu werden, das stets
ein sicherer Köder für alle Denkträgen und
Urteilsunmündigen ist und bleiben wird.
.Die Beliebtheit des Schlagworts genügt
aber allein schon zur Entlarvung der da‐
mit operierenden Kritik, als eines verant‐
wortungslosen Bestrebens, die zumeist recht
dürftige Geistigkeit des Kritikers gewichtig
und bedeutsam erscheinen zu lassen.
.Man darf wohl sagen, daß jegliche
Kritik im gleichen Maße an Gültigkeit und
Wert verliert, als sie genötigt ist, ihre Zu‐
95 Wegweiser
flucht zu wirkungserprobten Schlagworten
zu nehmen. ‒
.Kritik als Auswirkung des gesunden
Kritiktriebes aber kennt das Schlagwort
kaum.
.Der noch nicht erkrankte Kritiktrieb
weckt vor aller Auswirkung das Verant
wortungsgefühl des Kritikers.
.Nicht um die Selbstbetonung einer
Persönlichkeit handelt es sich bei der Be‐
tätigung des gesunden Kritiktriebes, sondern
um die Mitwirkung an der Vervollkomm‐
nung eines Zustandes, einer Einrichtung,
oder sonstigen menschlichen Werkes.
.Hoch erhebt der Kritiktrieb den Men‐
schen über das Tier!
.Auch das intelligenteste Tier nimmt seine
Umwelt hin wie sie ist, und äußert nicht
die leisesten Anzeichen wirklich kritischen
Verhaltens.
96 Wegweiser
.Freudiges Annehmen, oder Abwendung
und Widerstand im Verhalten des Tieres
zur Außenwelt, sind nur Äußerungen seines
Selbsterhaltungstriebes und dürfen nie‐
mals als Ergebnis kritischen Erwägens ge‐
deutet werden.
.Der Kritiktrieb des Menschen setzt die
Erahnung eines vollkommeneren Zustandes
der Dinge voraus, als er jemals hier auf
Erden anzutreffen ist.
.Wäre der Mensch hier im Leben der
physischen Erscheinungswelt heimisch, wie
das Tier, ‒ wie würde er Kritik üben
können an seiner ihm äußeren Welt!? ‒
.Nur weil sein Geistiges Vollkomme
neres kennt, als die ihn umgebende irdische
Welt, konnte der Mensch den Trieb zur
Kritik in sich erzeugen.
.Die ihm heute nicht mehr bewußtseins‐
gegenwärtige Erfahrung seines urgegebenen
geistigen Seins ist dennoch Ursache seines
97 Wegweiser
kritischen Verhaltens gegenüber der ihn
nun umgebenden physischen Welt.
.Durch eigene Willens-Strebung ausge‐
stoßen aus dem Bewußtseinsbereich des
reinen Erlebens wesenhaft geistiger Ge‐
staltung, bleibt die ewige Geistsubstanz, die
im Erdmenschtiere sich nun physisch-sinnlich
erlebt, doch immer noch Träger der Er‐
innerung an ihren vormaleinst erlebten
Seinszustand, und wenn auch das erden‐
tierhafte Gehirn nicht ohne weiteres fähig
ist, an solcher „Er-Innerung” teilzunehmen,
so wird es gleichwohl ihrer ahnend teil‐
haftig durch Influenzwirkung. ‒
.Alle Auswirkung gesunden Triebes zur
Kritik ist bestimmt durch unbewußtes Ver‐
gleichen des im Irdischen Dargebotenen
mit der Form absoluter Vollkommenheit,
die ihm in geistiger Erscheinung ent‐
sprechen würde.
98 Wegweiser
.Wir Menschen hier auf Erden leben
unter dem Einfluß zweier, voneinander
äußerst verschiedener Vollkommenheits‐
Ideale, mögen wir unsere Doppelstrebigkeit
ignorieren, oder ‒ wie alle nicht ganz
irdisch verkrusteten Naturen ‒ bitter an
ihr leiden...
.Wären wir nur irdisch-sinnliche Na‐
turen, dann wäre die Zwiestrebigkeit und
alles ihr entspringende Leid unmöglich.
.So aber sagt uns das physische Dasein
zwar mit brutaler Vehemenz, was ihm für
sich „Vollkommenheit” heißt, während wir
durch das gleiche physische Gehirn auch
rein geistige Influenz aufnehmen, womit
uns die Vorstellung einer Vollkommenheit
gegeben wird, neben der alles irdisch Voll‐
kommene für uns zur Unvollkommen
heit verdammt erscheint. ‒ ‒
.Es muß zu innerer „Zerrissenheit”
führen, wenn ein Mensch danach strebt,
99 Wegweiser
Dinge, die ganz der physischen Gesetz‐
lichkeit unterordnet sind, zu einer Voll‐
kommenheit zu führen, die nur im Gei
stigen gegeben ist!
.Alles Streben nach „Vergeistigung” des
Körperlichen gehört hierher...
.Es ist uns nur die erhabene Möglichkeit
geboten, hier im Physischen den Geist zu
verkörpern, aber auch diese Geist-Verkör
perung ist nur nach der Weise physisch
sinnlicher Vollkommenheit vollziehbar, ‒
wird also der Vollkommenheit des ewigen
Geistes gegenüber allzeit als „unvoll
kommen” gelten müssen. ‒ ‒ ‒
.Nun verleitet uns aber der zwar geist
gezeugte, jedoch nur im Physischen sich
auswirkende Kritiktrieb immer wieder zu
der irrtümlichen Annahme, wir könnten
das in der physisch-sinnlichen Erscheinung
Gegebene zu jener Vollkommenheit führen,
die nur im Geistigen möglich ist.
100 Wegweiser
.Daher dann die Übersteigerung unserer
Ansprüche an uns selbst und die mit uns
Lebenden, ‒ daher die Hypertrophie
des ungehemmten Kritiktriebes! ‒
.Die einsehen können, was hier einzu‐
sehen ist, sollten sich wahrlich endlich klar
darüber werden, daß Kritik am Tun und
Treiben ihrer menschlichen Umwelt nur
dann berechtigt ist, ‒ daß der Kritiktrieb
nur dann gesund erhalten werden kann, ‒
wenn sorglichst geachtet wird auf die
Bedingungen, denen alles Wirken des
Menschengeistes hier auf Erden unter‐
stellt ist.
.Auch die irdisch-vollkommenste Lei‐
stung des Menschen innerhalb der physisch
sinnlichen Erscheinungswelt bleibt ein Un
vollkommenes gegenüber dem, was dem
ewigen, wesenhaften Geiste Vollkommen‐
heit heißt. ‒
.Um wievielmehr ist alle Nachsicht dort
geboten, wo nach Lage der Dinge nicht
101 Wegweiser
einmal die „Vollkommenheit” nach physi
scher Möglichkeit erwartet werden darf...
.Kritiksucht ist die Krankheit, mit der
die „Schlange” des „Paradieses” die Mensch‐
heit infizierte, und vielleicht versteht man
nach dem, was hier zur Erörterung kam,
nun besser die verlockenden Worte, die
innerhalb der mythischen Erzählung durch
das satanische Prinzip dem Menschen ein‐
geflüstert werden:
.Ihr werdet sein wie die Götter, ‒
erkennend Gutes und Böses!” ‒ ‒ ‒
.Gar trübe und endlich vergängliche
„Götter” sind es, die solcher „Erkenntnis”
teilhaft sind!
.Vor dem ewigen, wesenhaften Geiste
aber ist alles „Böse” nur zeitlich erschei‐
nender, vergänglicher Irrtum, dessen phy
sische Realität für geistiges Bewußtsein
ein „Nichtsein” ist, denn was allein im
102 Wegweiser
Geiste sich selbst erlebt, ist ewige Voll
kommenheit: ‒ das urgezeugte und ewig
sich selber weiterzeugende „Gute”. ‒ ‒ ‒
.Und nun noch ein Wort über Selbst
kritik!
.Daß auch diese Art der Auswirkung
den Kritiktrieb zur Entartung bringen
kann, wenn er nicht durch rechte Einsicht
geleitet wird, das dürfte am ehesten vielleicht
doch allen denen verstehbar werden, die
selbst an solcher Triebentartung leiden...
.Kritik am eigenen Verhalten kann
ebenso fördern oder hemmen, wie unsere
Kritik an Anderen diesen zur Förderung
oder Hemmung gereichen kann.
.In beiden Fällen wird die Auswirkung
des Kritiktriebes nur dann Segen bringen,
wenn vor allem anderen das Gute erspürt
und wertgeachtet wird, ehe man nach
Fehlern und Mängeln an sich oder seinen
Nebenmenschen forscht. ‒
103 Wegweiser
.Ein einziger positiver Wert kann
die Fülle aller vorhandenen Fehler
und Mängel überwiegen!
.Die Sage erzählt, daß Sodom vernichtet
wurde, weil die Sünde seiner Tausende
ihm zum Verderben gereichte, aber ‒ um
zehn Gerechter” willen wäre die ganze
Stadt gerettet worden...
104 Wegweiser
WER WAR JAKOB BÖHME?
.Scheinbar ist es recht überflüssig, hier
aufs neue diese Frage zu stellen.
.Alte und neue Deuter des seltsamen
Werkes, das den Namen Böhmes trägt,
haben sich bald mit mehr, bald mit weniger
Glück auch mit der Deutung des Menschen
beschäftigt, der hinter diesem Werke steht.
.Daß Böhme ‒ außer dem was er war
‒ auch Schuhe nähen konnte, wissen selbst
Leute, die nie eine Zeile von ihm gelesen
haben, und wenn auch gewisse Deuter seines
Werkes von dem Urheber als dem „Gör‐
litzer Schuster” sprechen, so ist das ‒
bestenfalls ‒ Geschmackssache, wenn man
nicht mit mir der Ansicht zuneigt, daß
zwar die Schuhmacherei ein sehr ehren‐
wertes Handwerk ist; daß auch dieser Hand‐
107 Wegweiser
werkerstand recht stolz sein kann auf seinen
berühmten Zunftgenossen; daß es aber ge‐
wiß nicht „geistige Nähe” verrät, wenn
man dem abgründig tiefen Geisteskünder
Jakob Böhme gegenüber, auch nur an das
alltägliche Tun erinnern mag, mit dem er
sein Brot verdiente. ‒ ‒
.Allerdings hat es auch niemals an Men‐
schen gefehlt, denen das Wesentliche eines
geistig so bedeutenden Menschen wahrlich
nicht durch seine irdische Erwerbstätigkeit
bestimmt erschien, ‒ denen es belanglos
blieb, daß dieser Lehrer außerhalb der
abgesteckten Pferche landläufiger Bildung
aufgewachsen war.
.Böhme selbst aber zeigt nur zu deut‐
lich in seinen Schriften, wie sehr er es als
Mangel fühlte, daß ihm die Gelehrsamkeit
seiner Zeit nicht zu eigen geworden war,
und bis an das Ende seines Lebens müht
er sich, der gelehrten Freunde Begriffswelt
zu erfassen: in den Worten, die er bei ihnen
106 Wegweiser
hört, von seinem eigenen Schauen und
Denken Kunde zu geben.
.Die Nötigung, das einmal erlernte Hand‐
werk betreiben zu müssen, um nur leben
zu können, war ihm eine stete Störung,
und alles, was man um seine äußeren Le‐
bensumstände weiß, zeigt deutlich, wie sehr
er sich dieser Störung zu entwinden suchte,
um nur dem inneren Antrieb seines hohen
Geistes folgen zu können.
.Will man das Geistesgut, das sich in
dem Menschen Jakob Böhme seinen ir‐
dischen Schrein geschaffen hatte, wirklich
erkennen lernen, dann darf man wahrhaftig
den Schriften des Weisen sich nicht in der
vorgefaßten Meinung nahen, hier nun den
mehr oder weniger hausbackenen Ergeb‐
nissen des sinnierenden Grübelns eines
biederen Handwerksmannes zu begegnen,
der bei seiner Schusterkugel vergißt, daß
er brauchbares Schuhwerk schaffen soll und
109 Wegweiser
statt dessen lieber den mancherlei meta‐
physischen Fragen Antwort sucht, die sein
frommes Gemüt nicht in Ruhe lassen wollen.
.Das sei allen gesagt, die zwar den
Namen des Weisen kennen, aber seine
Schriften nicht gelesen haben, oder sie gar
bald aus der Hand legten, weil sie Anstoß
nahmen an dem dunkeln Wort der freilich
oft sehr eigenmächtigen und seltsam tönen‐
den Redeweise!
.Wer aber Böhmes Schriften wirklich
durchforscht hat, ‒ wer es sich Mühe
kosten ließ, in ihre Sprache sich einzuleben,
‒ der hat stets auch gelernt, sich vor dem
Manne, der solches niederschreiben durfte,
in Ehrfurcht zu beugen, und es ist längst
bezeugt, daß diese Ehrfurcht sich gerade
dort am stärksten einstellt, wo eigener
Seele Tiefe aufklingt, sobald die wunder‐
samen Schätze erst ertastet werden, die Jakob
Böhmes Weltentiefe in sich birgt...
110 Wegweiser
.Das gilt allerdings nur von seiner Er‐
kenntnis der rein geistigen Welt!
.Aber trotz der Fehlgriffe in die Gebiete
des physisch-sinnlichen Universums, bei
denen er sich von anderen das Hebezeug
borgt, trotz aller zeitlichen Bedingtheit seiner
Folgerungen, ‒ und selbst trotz aller Ketten‐
fesseln dogmenstarrer Religionsform, steht
einer der Weisesten hier vor uns, unter
denen, die jemals die letzten Urtiefen
menschlichen Erkennens zu ergründen
suchten! ‒
.Ein „Brunnenbauer”, der seinen Schacht
bis zu den Urwassern des Lebens vertiefte!
.Wer immer den Mut aufbringt, in diesen
Brunnenschacht niederzusteigen, ‒ denn es
ist kein angeseilter Eimer da, mit dem er
etwa schöpfen könnte, der wird die Bestä‐
tigung finden, daß er nur in sich selbst
einen Schacht von gleicher Tiefe zu bauen
111 Wegweiser
brauchte, um auf die gleichen lebendigen
Quellen auch in sich selbst zu stoßen...
.Wer freilich hängen bleibt in dem
Wurzelwerk religiöser Allegorien, das
an den Wänden des Brunnenschachtes, den
Böhme in sich selbst hinein baute, immer
noch Halt findet, um den Arglosen in sein
Gewirre zu verstricken, der wird froh sein
können, weiß er sich endlich wieder befreit,
und die Wasser der Tiefe werden ihm nur
sein eigenes verstörtes Antlitz spiegeln. ‒
.Dies alles sei zuerst ausgesprochen, be‐
vor ich der Frage antworten kann, wer
dieser seltsame und auf seine Art der Welt
des Geistes so kundige Seher Jakob Böhme
war, dem neuere Forschung endlich den
Rang in der Geistesgeschichte der Mensch‐
heit zuweist, der ihm gebührt, auch wenn
es ihm nie an Verehrern fehlte, denen
bald diese, bald jene Seite seines Wesens
staunenswert erschien, weil keiner das
112 Wegweiser
ganze Bild dieses großen Menschen in sein
Blickfeld fassen konnte. ‒
.Die Antwort, die ich hier nun zu geben
habe, gilt nur der geistigen Herkunft
Böhmes, so wie ich sie kenne aus gesicher‐
tem Erkennen, und was mir da nun zu sagen
möglich ist, wird denen verstehbar sein,
die bereits erkannten, daß alles geistige
Geschehen hier auf Erden nur letzte Aus‐
wirkung aus der Liebe geborener hoher Im‐
pulse im Reiche des wesenhaften Geistes
darstellt. ‒
.Man wird sich alles dessen erinnern
müssen, was ich bereits unzählige Male zu
bekunden hatte, wenn ich davon sprach,
daß Göttliches nur durch den Menschen
geist dem Menschen faßbar werden kann,
und daß aller Einfluß, den die Erden‐
menschheit aus dem Reiche des wesen
haften Geistes empfängt, von einem un‐
sichtbaren Tempel hier auf Erden aus‐
geht, dessen fundamentbildende Bausteine
113 Wegweiser
Menschen dieser Erde sind, die gleich
zeitig, vollbewußt und ohne jeden Unter‐
bruch ‒ trotz allem irdischen Tun, ‒
im reinen Geiste leben. ‒ ‒
.Von dort her ward auch Böhme zu
seinem Wirken geführt! ‒
.Als geistiger „Schüler” des von mir
so oft bezeichneten verborgen wirkenden
geistigen Kreises erstieg er Stufe um Stufe,
soweit es ihm während dieses Erdenlebens
möglich war, und er selbst wußte wahrlich,
woher ihm seine Erleuchtung kam.
.Nach außenhin aber war er durch
strenges Gebot zum Schweigen verpflichtet.
.Er selbst war ja nicht dazu bestimmt,
hier auf Erden im Kreise der „Leuchten‐
den des Urlichts” ein Leuchtender zu werden.
.Allzu irdische Flammen umlohten in
ihm noch das goldweiße Licht des göttlichen
114 Wegweiser
Geistes, und keineswegs lag jene geistige
Entfaltung, die Jahrtausende währt und die
jeder „Leuchtende” erreicht haben muß,
bevor er sich im Erdentiereskörper hier
erlebt, schon hinter ihm, als er ins irdische
Dasein trat.
.Was aber ein wahrhaft würdiger Mensch
erlangen kann, der „angenommen” wurde,
um ein Schüler des Lichtes zu werden,
das hat Jakob Böhmes Werk der Welt ge‐
zeigt, obwohl sie nicht darum wissen konnte,
woher die Kraft zum Werke zugeflossen
war...
.Unmöglich war es den Deutern von
Böhmes Schriften, über die ursächliche
Bedingung seiner Seherschaft Authenti‐
sches zu wissen, ‒ unmöglich war es ihnen,
auch nur zu ahnen, daß in ihm eine gei‐
stige Leitung wirksam war, von deren Da‐
sein auf der Erde stets nur einige wenige,
die nicht reden durften, Kenntnis erhalten
hatten. ‒ ‒ ‒
115 Wegweiser
.Und dennoch ist es nicht unmöglich,
daß Böhme vertrauten Freunden einst eine
ihm noch erlaubt erscheinende Andeutung
machte, die zu einer späteren Erzählung
seines ersten Biographen Anlaß gab, einer
Erzählung, mit der man heute nichts mehr
anzufangen weiß, so daß man in ihr nur
die Mythenbildung am Werke glaubt.
.Beachtlich dürfte es daher wohl sein,
daß der Lebensbeschreiber und Freund
Böhmes zu berichten weiß:
.„Und kan wohl seyn, daß auch von
außen durch Magisch-Astralische Würk‐
kung der gestirnten Geister, zu diesem
heiligen Liebe-Feuer, gleichsam ein ver
borgener Glümmer und Zünder mit an‐
und eingelegt worden.” *)
‒ ‒ ‒
* Ich lasse hier mit Absicht die Worte, auf die es ankommt, OO
gesperrt drucken, während ich im übrigen wörtlich OO
nur dem Original folge.
116 Wegweiser
.Es liegt zum mindesten sehr nahe, daß
der Biograph einiges von den wirklichen
Zusammenhängen ahnte, wenn er nicht
gar, aus andeutenden Reden Böhmes, mehr
wußte, als er sagen wollte. ‒ ‒
.Zweifellos gibt es für jeden, der hier
den wirklichen Zusammenhang durchblickt,
doch sehr zu denken, daß im Anschluß an
obiges Zitat erzählt wird, wie einstmals
„ein frembder, zwar schlecht bekleideter,
doch feiner und ehrbarer Mann” in Böhmes
jungen Jahren zu ihm in den Laden seines
Meisters getreten sei, während Böhme dort
allein war, und daß dieser Mann ihn dann
plötzlich, trotz aller Unbekanntheit, beim
Namen genannt habe, nicht ohne Böhme
dadurch sehr zu erschrecken.
.Dann aber heißt es weiter:
.„Da ihm der Mann eines Ernst-freund‐
lichen Ansehens, mit Liecht-funckelten
Augen, bey der rechten Handt gefasset, ihme
strack und starck in die Augen gesehen
117 Wegweiser
und gesprochen: Jakob, du bist klein, aber
du wirst groß und ein gar anderer Mensch
und Mann werden”... usw. usw.
.„Worauff der Mann ihme die Hand
getrücket, wiederumb starck in die Augen
gesehen, und also seinen Weg für sich
gangen.”
.Es wird dann im gleichen Zusammen‐
hang noch berichtet, wie Böhme daraufhin
anders geworden, und „nach weniger Zeit
darauff” sei dann seine Erleuchtung, sein
„Geistlicher Außruff und Sabbaths-Tag...
erfolget.”
.So ferne es mir auch liegt, rechten
zu wollen darüber, welchen Wert man dieser
Erzählung zuerkennen soll, so glaube ich
doch, daß hier ein Hinweis immerhin nicht
ganz fehlen darf. ‒
.Da ich mir nicht die Aufgabe stelle,
Böhmes Schriften deuten zu wollen, so
118 Wegweiser
darf ich es aber auch wohl bei diesem
einen Hinweis bewenden lassen, trotzdem
ich es durchaus nicht für unmöglich halte,
daß gründliche Kenner dieser Schriften
mir auch in Böhmes eigenen Texten so
manche geheimnisvolle Stelle zeigen könnten,
die hier genannt werden dürfte. ‒ ‒
.Es möge genügen, die Aufmerksamkeit
der Leser auf das Erwähnte hingelenkt zu
haben.
.Was aber hier ausdrücklich gegeben
werden soll, ist die nur aus einer einzigen
Quelle erlangbare Darlegung von Böhmes
geistiger Herkunft und wurde veranlaßt
durch die stets wiederholte Beobachtung,
daß auch die besten Erklärer des geistigen
Phänomens Jakob Böhme, weder den
Menschen restlos zu deuten vermögen,
noch die Schriften, solange sie nicht um
die Beziehungen Böhmes zu dem geistigen
Kreise der „Leuchtenden des Urlichts
wissen.
119 Wegweiser
.Die Gründe, durch die einst der
weise Seher selbst zum Schweigen ver‐
pflichtet wurde, bestehen heute längst
nicht mehr, und seinen Schriften wird
nur die Wirkung erleichtert, wenn man
um seine geistige Herkunft weiß und ihre
Spuren in seinem Werke richtig deuten
kann.
.Was zeitlich und allzupersönlich be‐
dingt war an seinem Werke, ‒ was einer
Vorstellungswelt entstammt, mit der er
fertig werden mußte, wollte er nicht noch
weit herberes Leid durch deren Anhänger
erdulden, als sie schon ohnehin ihn er‐
dulden ließen, ‒ das alles läßt sich aus
diesem Werke lösen, ohne ihm irgendwie
Wesentliches zu nehmen.
.Was aber als Wesentliches bleibt, das
wurde vor mehr als dreihundert Jahren
wahrlich auch für die heutige Zeit ge‐
schrieben!
120 Wegweiser
.Niemals kann es veralten, da es der
Ewigkeit entstammt: ‒ dem immer
währendenHeute”!
.Jakob Böhme gab dem Schauen seiner
Seele nur die Wortgestalt, in der es für ihn
selber bleibend faßbar und be-haltbar
werden konnte, da er ja nicht Herr und
Meister dieses Schauens war, sondern immer
warten mußte, bis es ihm aufs neue vom
Reiche des Geistes her eröffnet wurde, so
daß ihm das jeweils Erschaute in Gefahr
geriet, wieder verloren zu gehen. ‒ ‒ ‒
.Es ist nicht zum Verwundern, wenn
er wirklich Wesentliches oft so kraus und
wirr verzierte, weil ihm nur solche Ara‐
beske Unsagbares formhaft zu umschließen
schien.
.Als ein naturhaft starker Sprachge‐
stalter in der Weise seiner Zeit, zwang
er die Worte, seinem bildhaften Erleben
121 Wegweiser
Form zu werden, und es bekümmerte ihn
wenig, wenn die Worte sich auch sträuben
mochten, die Überfülle seiner inneren Ge‐
sichte aufzunehmen.
.Aus seinen Worten auszulösen, was
sie fassen, wird stets nur liebender Ver
senkung möglich sein. ‒ ‒ ‒
122 Wegweiser
DIE MACHT DER KRANKENHEILUNG
.„Da aber das Volk dieses sah,
fürchtete es sich, und pries Gott,
der solche Macht den Menschen
gegeben hat.”     Matthäus, IX, 8.
.Es wurde berichtet von einem Maori auf
Neuseeland, der ganz unerhörte Heilungen
vollbringe. Der Mann sei ein getaufter
Christ und er verlange von denen, die er
heilen solle, daß sie die Heilung nur der
Heiligen Dreieinigkeit: ‒ Vater, Sohn
und Heiliger Geist”, danken dürften, ja
er drohe, daß die Heilung nicht bestehen
bleibe, sobald der solcherart verlangte Glaube
in dem Geheilten schwinde.
.In christlichen Kreisen aber sah man
das Wirken dieses Maori als handgreifliche
Bestätigung des Dogmas an...
.Dann kam in Europa Herr Coué, ver‐
langte nichts weiter von dem Kranken, als
daß er an die Macht seiner eigenen Ein
bildungskraft glaube, und erzielte nicht
weniger „wunderbare” Erfolge.
125 Wegweiser
.Und nun kommt schon wieder neue
Kunde von einem Heiler, der durch bloßes
Handauflegen allerlei Krankheit zum Ver‐
schwinden bringen soll.
.Diesmal ist es ein  buddhistischer
Mönch ‒ angeblich ein Chinese ‒ der
durch seine Heilungen in dem an „Wunder”
gewohnten Indien Staunen und ehrfürchtige
Scheu erregt.
.Da er allein nicht mehr imstande ist,
allen Kranken die zu ihm kommen, die
Hände aufzulegen, so „überträgt” er seine
Heilerkraft an fünf seiner Schüler. ‒ ‒
.Zeitungsmeldungen lassen erkennen, daß
man die Tatsächlichkeit der Heilungen nicht zu
bezweifeln vermag und daher ‒ wie gewöhn‐
lich in solchen Fällen ‒ vor Rätseln steht.
.Nun wird ja freilich von Zeit zu Zeit genug
des Wunderbaren aus Ostasien berichtet,
und bei näherer Nachprüfung bleibt dann
126 Wegweiser
oft recht wenig davon übrig, obwohl nie‐
mals die „durchaus glaubwürdigen Augen‐
zeugen” in den ersten Berichten fehlen.
.Was man aber hier von diesem Bud‐
dhistenmönch berichtet, ist durchaus nicht
so wunderbar, daß man es schon aus bloßer
Vorsicht bezweifeln müßte.
.Zum Verwundern ist es vielmehr, daß
man immer wieder staunend und um Er
klärung verlegen vor solchen Heilungen
steht, ja daß man sie selbst dem sympa‐
thischen und nüchternen Herrn Coué, der
doch wahrlich sich keinerlei Wundermantel
umhing, in manchen Kreisen nicht so recht
glauben will. ‒
.Freilich sprach Herr Coué nur von der
Autosuggestion”, während es sich hier
um Kräfte handelt, denen eben durch die
Autosuggestion nur die Fesseln abge
nommen werden, aber das Wesentliche
bleibt bei seinem Erklärungsversuch doch
127 Wegweiser
der Hinweis, daß Kräfte, die jeder Mensch
in sich selbst trägt, die Heilungen be‐
wirken.
.In Wahrheit kann kein Arzt der Welt
auf eine andere Weise wirklich heilen, als
dadurch, daß er diesen Kräften die Mög‐
lichkeit schafft, sich auszuwirken, einerlei
durch welche Mittel er dazu gelangt, mag
er auch chemische oder chirurgische Ein‐
griffe vornehmen.
.Das ist nun nichts Neues und man hat
sich von je her mit der billigen Erkenntnis
beholfen, daß der Arzt nur die Heilkraft
der Natur anregen könne, ansonsten aber
mit den besten Medikamenten, ja selbst
durch Entfernung kranker Organe, kaum
viel vermöge.
.Es sind aber noch andere Dinge hier
im Spiel, und die sympathisch-bescheidene
Geste des Herrn Coué, daß er selbst gar
nichts mit der Heilung zu tun habe, sondern
128 Wegweiser
nur lehre wie der Patient sich selber
helfen könne, darf beileibe nicht als un‐
umstößliche Mitteilung eines Tatbestandes
aufgefaßt werden, selbst wenn Herr Coué
in seinem tiefsten Innern von der Richtig‐
keit dieser Auffassung durchdrungen gewesen
sein mag. ‒
.Immer und überall wird die Persön
lichkeit des Heilers von ausschlaggebender
Wichtigkeit sein, einerlei, ob es sich um die
durch Herrn Coué nun populär gewordene,
von den amerikanischen sogenannten „Neu‐
denkern” seit einem halben Jahrhundert
bereits praktizierte Methode der Autosug
gestion handelt, ‒ um Glaubensheilung,
oder Handauflegen, ‒ oder schließlich
um die Heilung durch medizinische und
chirurgische Eingriffe.
.Gewiß kann der Wille, besonders in seiner
höchsten Potenz: als Imagination, als
Einbildungskraft wirkend, im Menschen
129 Wegweiser
wahre „Wunder” vollbringen, und das gilt
auch hinsichtlich der Freimachung jener
Heilkräfte, die als automatisch wirksame
Ordner in jedem menschlichen Organismus
vorhanden sind, aber durch die leiseste
Einrede der Gedanken schon gelähmt
werden, so daß alles darauf ankommt, wie
man am besten die Fesselung durch solche
Gedanken-Einrede entferne.
.Darüber hinaus aber handelt es sich hier
‒ wie bei allen Bekundungen der Lebens‐
kräfte ‒ um ein Wirksamwerden zweier
Pole, deren einer im triebhaften Willen
der Zellen des erkrankten Organismus zur
Entartung, deren anderer im geistigen
Willen (nicht „Wunsch”!) zur Gesundung
zu finden ist.
.Bei der Selbstheilung ist es unum‐
gängliche Voraussetzung, daß der Kranke
seinen Willen zur Gesundung objek
tiviere; ihn gleichsam sich selber „fremd”
mache, damit die nötige Spannung ent‐
130 Wegweiser
steht zwischen dem organhaften Willen
zur Krankheit und dem geistigen Willen
zur Gesundung.
.Das ist nicht immer ganz leicht und zu‐
weilen fast unmöglich, während die An‐
forderungen an den Kranken auf ein letztes
Minimum herabgesetzt werden, sobald der
geistige Wille zur Gesundung: ‒ zur Ord
nung des im Organismus Ungeordneten
‒ wenigstens zu Anfang, von außen her
auf ihn einwirkt und durch Influenzwir‐
kung seinen eigenen geistigen Willen ent‐
sprechend zur Tätigkeit anregt.
.Dieser äußere geistige Wille kann ein
Kollektivwille sein, wie er an Wallfahrts‐
orten z. B. in Wirksamkeit ist, ‒ er kann
aber auch von einer einzelnen Persön
lichkeit ausgehen und ist alsdann bedingt
durch die einwohnende Kraft dieser Per‐
sönlichkeit, solchen „heilenden” Willen auf
Andere übertragen zu können. ‒
131 Wegweiser
.Bekanntlich hat man auf dem Gebiete
der medizinischen Heilpraxis unzähligemale
die Erfahrung gemacht, daß gewisse Heil‐
methoden in der Hand des einen Arztes die
erfreulichsten Heilerfolge sicherten, während
andere, nicht minder tüchtige Aerzte mit
den gleichen Methoden kaum etwas anzu‐
fangen wußten.
.Auch der Umfang des Wissens, ja selbst
die Fülle der praktischen Erfahrung,
vermag nicht Ersatz zu bieten für die an
geborene Eignung zum wahren Heiler,
und es sollte darum nur dann ein Mensch sich
heilärztlichem Wirken zuwenden, wenn
er diese Eignung: den geistigen Willen
zum Gesundwerden alles Erkrankten
auf Andere übertragen zu können, deut‐
lich an sich wahrgenommen hat. ‒
.Alles nur rein wissenschaftliche In‐
teresse am inneren Gefüge des mensch‐
lichen Organismus und seinen pathologischen
Veränderungsmöglichkeiten rechtfertigt da‐
132 Wegweiser
gegen nur das Streben nach reinem Forscher
beruf, der dann indirekt den Kranken
hohen Nutzen bringen kann, aber man sollte
auf dem Gebiete der medizinischen Wissen‐
schaft aufs strengste scheiden lernen zwischen
der Eignung zum Forscher und der Eig‐
nung zum Heiler. ‒ ‒
.Beide Eignungen sind angeboren und
lassen sich in ihrer ausgeprägt echten Form
niemals erwerben, wenn auch so mancher
Arzt, der, zum Forscher geboren, eine
Heilpraxis betreiben muß, aus der Not
eine Tugend macht, weil er aus rein mensch
licher Hilfsbereitschaft heilen möchte,
da man ihn nun einmal dazu gerufen hat,
und dann vielleicht auch zuweilen recht
zahlreiche Heilerfolge erzielt. ‒
.Die Vereinigung beider Eignungen in
einem Menschen ist so überaus selten,
daß man hier füglich von ihr absehen
darf. ‒
133 Wegweiser
.Was aber das Studium des kranken
Menschen durch den Forscher angeht, der
es ja keinesfalls entbehren kann, so dürfte
es wahrlich auch dann zu ermöglichen
sein, wenn er die eigentliche Heilpraxis
dem geborenen Heiler allein überläßt. ‒
.Wir haben genug Menschen unter uns,
die geborene Heiler sind und wenn schon
heute die kompliziertesten mechanischen
Methoden zur Anwendung gelangen, um
festzustellen, ob ein Mensch die rechte Eig‐
nung zum Lokomotivführer, oder zu irgend
einem anderen technischen Berufe besitzt,
so sollte es wahrlich auch gelingen, schon
während der Studienzeit festzustellen,
ob der angehende Mediziner zum Forscher
oder zum Heiler taugt.
.Es würde sich dann kaum mehr ereignen,
daß irgend ein obskurer Wundermann den
Ruf erlangt, alle erdenklichen Krankheiten
heilen zu können, die der medizinisch ge‐
134 Wegweiser
bildete Arzt nicht heilen konnte, weil er
eben kein geborener Heiler war.
.Ein solcher Heiler aber wird mit jeder
Methode Heilerfolge erzielen, und seine er‐
worbene Wissenschaft wird stets von seiner
sicheren Intuition berichtigt werden.
.Bevor man aber zu der Erkenntnis kommt,
daß der rechte Arzt vor allem geborener
Heiler sein muß, werden alle neuen Heil‐
methoden, alle Reformen in der Heilkunst,
nur sehr wenig Förderung bringen, und
immer wieder wird man erleben, daß alle
Welt aufhorcht, wenn irgend ein wirklicher
Heiler auftaucht, während das Vertrauen
zur wissenschaftlich fundierten Heil‐
kunst mehr und mehr unterminiert wird. ‒
.Es liegt solchem Verhalten der Menge
stets ein sicherer Instinkt zugrunde, der
eine Macht zu heilen im Menschen der
dazu geboren ist erspürt, und sich wenig
darum kümmert, ob ein solcher Mensch
135 Wegweiser
auch die wissenschaftliche Einsicht be‐
sitzt, sein Tun zu kontrollieren.
.Der kranke Mensch will geheilt werden
und trägt keinerlei Begehr danach, daß man
ihn als einen „interessanten Fall” betrachtet,
was er nur für den Forscher sein darf,
aber niemals für den Heiler!
136 Wegweiser
GEFAHREN DER MYSTIK
.Dokumente aus allen Zeiten zeugen von
gewissen Menschen, die behaupteten, daß
ihnen Göttliches nicht nur dem religiösen
Glauben nach gesichert in der Wahrheit
gelte, sondern vielmehr von ihnen wissend
erlebt und in erprobt untrüglichem Er‐
leben wohlvertraut geworden sei.
.Solche Behauptung gilt allen denen als
Vermessenheit, die allzusicher auf das Axiom
vertrauen, alle Menschen seien „gleich
vor Gott”, was denn gemeinhin so gedeutet
wird, als könne es keinerlei Erleben geben,
das nicht einem wie dem anderen ohne
weiteres zugänglich sei.
.Aber es gibt Zeugnisse besonderer Men‐
schen, die denn doch beweisen, daß die
Reichweiten des Erlebens unter uns Erd‐
139 Wegweiser
bewohnern sehr verschieden sind, wie ja
denn auch im Erleben der Außendinge
schon die größte Verschiedenheit des Er‐
leben-Könnens offenbar wird.
.Ist es schon im äußeren Leben wichtig,
welche Veranlagung ein Mensch von Geburt
an besitzt und wie er seine Begabung aus‐
zubilden weiß, so tritt hinsichtlich des
geistlich-seelischen Erlebens noch eine
ganze Reihe anderer Umstände hinzu, die
alle in günstiger Weise zusammenwirken
müssen, wenn gesichertes Erleben im Un‐
sichtbaren erreicht werden soll.
.Die Fälle, in denen Menschen Geistiges
mit restloser Klarheit und Sicherheit er‐
lebten, sind äußerst selten, aber es wäre
sehr töricht, sie um ihrer Seltenheit willen
unbeachtet zu lassen oder gar fortleugnen
zu wollen. Dies um so mehr, als es auch
heute Menschen gibt, die in solcher Art
140 Wegweiser
erleben und mit wachester Urteilsfähigkeit
um ihr Erleben wissen.
.Man muß aber stets unterscheiden zwi‐
schen diesem eigentlichen Erleben und der
Mitteilung des Erlebten, wie es der also
Erlebende in Worten zu geben sucht.
.In solcher Mitteilung strebt der Mensch
mit aller Inbrunst, auszusagen, was sich
doch niemals in Worten sagen läßt,
und notgedrungen schafft er sich Bild
und Gleichnis, um auch anderen Seelen
erfaßbar zu machen, was ihm wider‐
fahren ist.
.Es zeigt sich in diesem Bestreben das
innere Ahnen, daß das eigene Erleben ir‐
gendwie auch für alle anderen Menschen
Gültigkeit und befruchtenden Wert haben
müsse; zugleich aber weiß der Berichtende
mit Sicherheit, daß dieses Erleben den
meisten anderen nicht zugänglich ist, sodaß
er sich verpflichtet fühlt, davon Kunde
zu geben, selbst wenn es ihm schwer werden
sollte, Bekenntnis abzulegen.
141 Wegweiser
.Man könnte, folgt man der Bild- und
Gleichnis-Spur hierhergehöriger Bekennt‐
nisse, gar leicht vermuten, daß es sich
im Grunde stets um das gleiche innere
Erleben handle, nur verschieden darge‐
stellt, je nach der Darstellungsfähigkeit
des Erlebenden und seiner ihm eigenen
Bildwelt.
.Sieht man aber näher zu, so ist es auch
für den, der niemals von ähnlichen Erleb‐
nissen erschüttert wurde, nicht allzu schwer,
zu entdecken, daß es sich doch um Berichte
sehr wesentlich verschiedenen Erlebens
handelt, auch wenn oft die gebrauchten
Darstellungsbilder dazu verleiten könnten,
wesentlich gleichartige Erfahrungen vor‐
auszusetzen.
.Ja, man wird alsbald ersehen, daß es
sich um ganze Gruppen völlig gesonderter
Erlebnisse handelt, trotzdem in den gleichen
oder sehr ähnlichen Worten berichtet
werden mag. ‒
142 Wegweiser
.Das hat seinen Grund darin, daß alles
mit physischen Sinnen nicht mehr faßbare
Erleben durchaus nur vergleichsweise
und andeutend ausdrückbar ist: ‒ daß der
Berichtende aber auch außerdem gerne die
Bilder und Gleichnisse anderer aufgreift,
um aus seiner Not des Nichtsagenkönnens
herauszukommen.
.Es handelt sich im Wesentlichsten um
zwei große Gruppen Erlebender, und jede
dieser Gruppen umfaßt wieder beson
dere Arten des individuellen Erleben‐
könnens.
.Auf der einen Seite stehen jene Men‐
schen, die nur das Verborgene ihres
eigenen Innern erleben, hier aber schon
vermeinen, „das Göttliche” erlebt zu haben,
da sie die Höhe und Tiefe, die Weite und
Breite dessen, was die menschliche Seele
umfaßt, nicht kennen, und nicht zu dem
Glauben sich erheben wollen, das alles sei
noch des Menschen Bereich.
143 Wegweiser
.Hier wird zumeist in Ekstasen und
Visionen erlebt, immer aber in einem
„anderen Zustand”, der vom normalen
wachen Tagesbewußtsein sehr verschieden ist.
.Auf der anderen Seite stehen die wirklich
im Geiste objektive geistige Wirklich
keit Erlebenden, die alle Ekstasen und
Visionen instinktiv scheuen und nur ein
Erleben gelten lassen, zu dem sie mit un
getrübten Außensinnen, stets ihrer selbst
und ihrer äußeren Umwelt bewußt,
gelangen können.
.Diese Erlebenden sind weitaus selte
ner als die Ekstatiker und Visionäre, denn
solches tagwache Geisteserleben fordert eine
recht strenge innere Erziehung und Selbst‐
kontrolle. Es setzt voraus, daß sich der
Mensch ein durchaus gesundes, geordnetes
Innenleben zu erringen wußte, daß er sich
peinlichst aller schwärmerischen Gefühle
und Ausdeutungen enthält, um nüchternen
Sinnes, aber voller Ehrfurcht vor dem wesen‐
144 Wegweiser
haften Geistigen, die wirkliche Erfahrung
geistiger Wirklichkeit stets freizuhalten
von allem Rankenwerk der Phantasie. ‒
.Man kann nicht scharf genug zwischen
diesen beiden Hauptgruppen unterscheiden,
will man zu einem klaren Urteil gelangen
bei der Betrachtung jener zahllosen Bekennt‐
nisdokumente aus alter und neuer Zeit, die
von wahrem oder vermeintlichem Erleben
des Göttlichen Zeugnis zu geben suchen.
.Es ist auch nicht allzu schwer, hier
sichere Bürgschaft zu erhalten.
.Während die Ekstatiker und Visionäre
ihre Erlebnisse stets in einer Ausdeutung
darstellen, die gewohnte Glaubensvorstel‐
lungen bestätigen sollen, auch wenn sie
diese Vorstellungen allenfalls auszubauen
oder zu vertiefen suchen, wird jeder, der das
Erleben geistiger Wirklichkeit bezeugt,
recht deutlich erkennen lassen, daß er frei
145 Wegweiser
wurde von den Fesseln bestimmter, zeit‐
gegebener Vorstellungswelten.
.Er wird zwar oft genug an solche zeit‐
läufige Begriffe anknüpfen müssen, aber
immer nur, um das bereits allen Bekannte
als Verständigungsmittel zu benützen.
.Er will die Meinung, die zu seiner Zeit
und in seiner Umgebung in bezug auf gei‐
stige Dinge gerade Gültigkeit hat, durch
den Gebrauch der bekannten Begriffe und
Vorstellungsbilder keineswegs stützen, son‐
dern, unbekümmert um irgendein dogma‐
tisches Gebäude, kraft seiner ihm gewor‐
denen Einsicht zeigen, welche Steine eines
solchen Baues Bestand haben und welche
nicht, ‒ welche richtig behauen und
welche verkehrt bearbeitet sind, denn es
liegt ihm nicht daran, niederzureißen, wohl
aber daran, daß der Bau auch der Wirk‐
lichkeit entspreche, die er aus geistiger
Erfahrung kennt.
146 Wegweiser
.Viel Irrtum ist entstanden durch das
kritiklose Vermischen von Bekenntnissen
der hier aufgezeigten beiden Gruppen inner‐
lich Schauender und Erlebender.
.Mögen aber auch Zeugnisse der Eksta‐
tiker und Visionäre zuweilen aller Bewun
derung und selbst hoher Schätzung würdig
sein, so bleiben sie doch immer mehr oder
weniger zeitlich und subjektiv bedingte,
dabei verschleierte und getrübte Aus‐
sagen über ein zwar nicht alltägliches, aber
keineswegs täuschungsfreies Selbst
erleben, vergleichbar dem der Dichter, aber
ohne die ordnende Sichtung eines sou‐
veränen Künstlertums.
.Demgemäß kann auch der Wert nach‐
fühlender Aufnahme solcher Bekenntnisse
nur in einer poetischen Anregung oder
einer subjektiv gefärbten religiösen Stim‐
mungserhebung bestehen.
.Bei distanzierter Betrachtungsweise
aber wird man nur vor bedeutungs- und
147 Wegweiser
beziehungsreichen Dokumenten mensch
lichen Irrens stehen, die erst als For
schungsmaterial ihren Wert erhalten,
mögen sie uns an sich als menschlich
rührend, als groß und gewaltig, als erschüt‐
ternd, oder als groteske Narretei erscheinen.
.Die bestaunte glaubensgenährte My‐
stik aller Zeiten und Völker wurzelt in
solchem Humusboden subjektiven Irrtums
und überwuchert allgemach jede Blüte
echten mystischen Erkennens, so daß es fast
nicht mehr angängig ist, noch von „Mystik
zu reden, wenn man eben Anderes meint
als dieses Schlingpflanzengewirre. ‒
.Soll aber das Wort, das entwertet wurde,
wieder zu einiger Bedeutung für das mensch‐
liche Erkennen kommen, so wird es nötig
sein, sehr entschieden zwischen einer
scheinbaren Mystik wie die hier aufge‐
zeigte, und dem wirklichen mystischen
Erleben, das ein waches Erleben des
148 Wegweiser
Menschengeistes im ewigen reinen
Geiste ist, zu unterscheiden.
.Das ist sehr wohl möglich, auch wenn
man durchaus nicht gesonnen ist, gewissen
sogenannten „mystischen” Bekenntnissen,
die schon als Werke des Schrifttums alle
Achtung verdienen, fortan seine gewohnte
Ehrerbietung zu versagen.
.Da es sich aber letztlich doch wohl
darum handeln wird, zu einem tieferen,
klareren und vor allem wahrhaftigeren
Erfassen der Kosmologie geistiger Welt,
als der uns vorbehaltenen ewigen Wirk‐
lichkeit, vorzudringen, so ist alles stim‐
mungsmäßige Einfühlen in die durch Reli
gionssysteme und den Glauben an ihre
Dogmen bedingte „mystische” Bekenntnis‐
Literatur beinahe ‒ wenn nicht durch‐
gängig ‒ eine Gefahr für den, der hier
nicht zu sondern weiß, und nicht stark
genug ist, auch liebgewordene Vorstellungen
149 Wegweiser
aufzulösen um der Wahrheit willen, die
er nur dort finden kann, wo Menschen sich
bekunden, die tagwach und nüchtern in
die Welt des Geistes Einlaß fanden. ‒ ‒
.Es kann nicht verborgen bleiben, zu
welcher Gruppe innerlich Erlebender ich
mich selber rechne, denn in allen meinen
Schriften habe ich stets mit allem Nach‐
druck betont, wie ferne ich aller Ekstase,
allem Visionären stehe. ‒ Wenn man mich
dennoch als „Mystiker” rubrizieren möchte,
ob aus Bequemlichkeit, oder aber weil ein
anderes Wort zu fehlen scheint, so muß
ich zum Wenigsten darauf dringen, daß
man die Unterscheidung zwischen dogma
tisch religiöser und kosmisch-geistiger
Mystik sich zu eigen mache, deren Not‐
wendigkeit ich hier nun genugsam darge‐
legt zu haben glaube.
.Denen aber, die in den Schriften dog
matisch religiös gebundener „Mystiker”
Bestätigungen für das aufzufinden suchen,
150 Wegweiser
was ihnen heute meine Lehre zu geben
hat, rate ich sehr entschieden, sich die
Mühe zu sparen.
.Sie werden dort allenfalls gewisse Über‐
einstimmungen finden, weit mehr aber durch
einen recht wesentlich verschiedenen,
wenn nicht diametral entgegengesetzten
Gebrauch der Worte und Bilder verwirrt
werden.
.Vor allem aber müssen sie sich klar
darüber werden, daß ihr Bedürfnis, meine
Worte anderweitig noch bestätigt zu finden,
allein schon den striktesten Beweis liefert,
daß sie von einem eigenen Verarbeiten
dessen, was in meinen Schriften steht, noch
himmelweit entfernt sind. ‒
.Ein neuer geistiger Tag ist im An‐
brechen, und keine, wenn auch historisch
noch so fest verankerte Erdenmacht ist im‐
stande, ihn zurückzuhalten, aber in dieser
Generation werden ihn nur jene sehen,
151 Wegweiser
die, freien, nüchternen Sinnes ihm wa‐
chend entgegeneilen, und solche nur können
meine Lehre verstehen! ‒ ‒
.Mir ist es ja wahrlich nicht darum zu
tun, etwa „Anhänger” werben zu wollen,
und ich bin jedem Leser meiner Schriften
dankbar, wenn er so wenig wie möglich
Notiz nimmt von ihrem Autor.
.Es ist mir zur Lebensaufgabe geworden,
in aller Verborgenheit das niederzuschrei‐
ben, was ich meinen Mitmenschen zu geben
habe, und ich habe nichts anderes zu
geben, als die Aufschlüsse über des Erden‐
menschen Beziehung zum Reiche wesen‐
haften Geistes, wie sie in meinen Büchern
zu finden sind.
152 Wegweiser
22 Gedichte in gebundener Rede
TEMPEL DER TIEFE
Sollst nicht in den Lüften schweben!
Sollst fest auf der Erde stehn!
Doch, willst du zum Urgrund streben,
Mußt du in die Tiefe gehn! ‒
Dort, wo sich der Wolke Fluten
In der Erde Schoß ergießen;
Wo in Liebesfeuergluten
„Mann und Weib” sich rein genießen!
Wo die zeugenden Gewalten
Stets die Erde neu befruchten: ‒
Dorthin, wo die großen Alten
Schon des Lebens Urstrom suchten! ‒ ‒
Aber dort wird nur begnadet,
Wer von allem Alltags-Staube
Selbst sich sorglichst reingebadet...
Einlaß schafft ihm nur sein Glaube!
155 Wegweiser
AUSSEN UND INNEN
So, wie die Welt der Außensinne
Nur kund wird dem,
Der sich als Teil von ihr
In ihr bewegt,
Und, selbst bewegend,
Sich von ihr umschlossen findet,
So wird nur dem die Welt des Geistes kund,
Der alles Geistige in sich
Bereitet hat,
Unendlich sich zu weiten,
Um die Welt des Geistes zu umschließen. ‒
Dann ist er nicht nur Teil
Der Welt, die er erlebt!
Umfangend hält er das Umfangene
Im eigenen Sein
Und keine Grenze scheidet
Den Erlebenden
Fortan von dem,
Was er in sich erlebt: ‒
Zur Einheit wird
Erlebtes und Erlebender
Dann im Erlebnis...
156 Wegweiser
WEISHEIT
Auf sich gestellt,
In sich vollendet,
So lebt in der Seele
Ewige Kraft
Und wirkt sich selbst
Zu göttlichem Leben ‒ .
.‒ Nie ward sie geboren,
.‒ Nie kann sie sterben!
Wer sie erkannte,
Erkennt sich selber,
Lebt aus sich selbst
Ihr ewiges Leben!
.‒ Er fürchtet nicht,
.‒ Daß er vergehen könnte.
157 Wegweiser
VIELEINHEIT
Wir glühen alle
In einem Leben
Und jedem gehört
Dieses Leben ‒
Allein. ‒ ‒
Wir können uns immer
Das Gleiche nur geben,
Und doch ‒
Wird es immer
Ein Anderes sein...
158 Wegweiser
GEHEIMNIS DES WASSERS
Heilkräftig sprudelt manche Quelle,
Heilkräftig ist des Meeres Welle, ‒
Ernährt wird Wald und Feld und Au
Durch Regen, Fluß und Morgentau;
So ist es des Wassers ureigene Kraft,
Die allem Nahrung und Heilung schafft...
Hier aber ist noch mehr beschlossen,
Urewig geistig ausgegossen, ‒
Doch kündet es kein Menschenmund,
Allein den Wachen wird es kund,
Wie stets in der Erde das Wunder ge‐
.schieht,
Das sich allem Klügeln der „Klugen” ent‐
zieht...
Will einer recht das Wasser kennen,
Muß er es wahrlich „heilig” nennen,
Weil nirgends sich der Gottesgeist
In höh'rer Heiligkeit erweist,
Als wo er sich über die Erde beugt
Und aus dem Wasser: das Leben zeugt!
159 Wegweiser
MAHNWORT
Es ist nicht leicht, so umzudenken,
Daß man im „Ich” sich selbst erkennt, ‒
Daß man im tiefsten Sich-versenken
Den findet, den kein Name nennt;
Daß man in Vielheit sieht den Einen
Und dennoch in der Einheit bleibt, ‒
Und, ohne selbst sich zu verneinen,
Im Sein den letzten Trieb zum Scheinen
Aus seinem Paradiese treibt!
160 Wegweiser
DAS EWIGE
Weil es allzu nahe liegt,
Wird es nicht erkannt! ‒
Weil der Sinn ins Weite fliegt,
Bleibt der Blick gebannt. ‒ ‒
Und so sucht er denn in weiten
„Kosmischen Unendlichkeiten”,
Was noch keiner je gefunden,
Der nicht, mit sich selbst verbunden,
In sich selbst sich tief versenkte,
Bis sich ihm ‒ das Kleinod schenkte!
161 Wegweiser
SINFONIA
Aus Urlichtsonnenfeuern sprühet
.Weltensamen,
Und wird zu Weltensonnen,
Wird zu Welten, die um Sonnen kreisen.
Aus Welten keimen Wesen,
Denen hohe Geister sich im Fall ver‐
.einen...
Vereinigt, ziehen sie empor, was erdge‐
.boren ‒
Und stille Geisterscharen
Steigen stetig nun als Menschengeister
.zu den Sternen auf,
Und werden selbst zu Sternen,
Werden Menschengeistersonnen,
Die den Erdenwesen ferner leuchten.
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
162 Wegweiser
MYSTERIUM MAGNUM
Noch ist euch eures Leibes Kraft
Nur Quell der Sinnenlust...
Daß sie dem Geist den Körper schafft,
Ist Wenigen bewußt! ‒ ‒
Geheimnisvoll verbirgt Natur
Das Wunder hinter dichten Hüllen, ‒
Doch weist sie selber auch die Spur,
Will einer ihr Gesetz erfüllen! ‒ ‒
Ein Gleiches führet Mann und Weib
In heißer Liebesglut zusammen,
Und formt des Geistes neuen Leib
Aus ewig lichten, reinen Flammen! ‒ ‒ ‒
163 Wegweiser
HEIMKEHR
Wohl war auch ich einst in den Schein
.gebannt...
Wohl war auch ich voreinst im Traum
.befangen...
Dann aber ward im Lichte ich zu Licht
verbrannt
.Und bin in seinem Leuchten aufgegangen.
Nun ist der Erde Dunkel um mich her
Mir wie ein trüber Dunst in weiter
.Ferne...
Im Abgrund hör' ich noch ein grollend
.wildes Meer.
Doch ferne bleiben seine Stürme meinem
.Sterne!
164 Wegweiser
GEGENSÄTZLICH
Wenn ich über hohe Dinge
Heilig ernstes Wort gesprochen,
Kommt mir oftmals das Geringe
Kichernd auf den Weg gekrochen.
Doch ich hüte mich, zu schelten,
Wenn es gar vertraulich tut,
Denn in allen hohen Welten
Meint man's auch mit Kleinem gut! ‒
165 Wegweiser
SELTSAME SUCHENDE
Wie denn das und jenes sei
Und zusammenhänge?” ‒
So geht ihre Fragerei
Endlos in die Länge.
Was sie tun und lassen sollen?
Hört man nie sie fragen...
Da sie ja nur „wissen” wollen,
Müssen sie versagen! ‒
Wie ein Kind sein Pensum lernt,
„Lernen” sie die Lehren;
Praktisch weit davon entfernt,
Sich daran zu kehren. ‒
Können sie recht „eingeweiht
Nur vor Andern prunken,
Sind sie schon in Seligkeit
Selbstberauscht versunken...
Stets zu großem Wort bereit,
Zerschwätzen sie die Wahrheit: ‒
Ach! ‒ wie sind sie noch so weit,
Weit von aller Klarheit! ‒ ‒ ‒
166 Wegweiser
ALLZUWÜRDEVOLLES WESEN
Freund, deine „Würde” steht dir schlecht!
Du bist nur deiner „Würde” Knecht! ‒ ‒
Vordem war aufrecht stets dein Gang
Und mancher freie Wurf gelang.
Jetzt aber gehst du krumm gebogen
Und all dein Tun wirkt wie erlogen...
Es ist, als müßtest du dich fragen,
Ob du es weiter dürftest wagen,
Wie früher doch: du selbst zu sein! ‒
Du wirst, mein Freund, dir selbst zur Pein,
Und peinlich wirst du auch den Andern,
Die gerne wollten mit dir wandern! ‒
Dein Pathos tönt in falschem Ton
Und spricht dem Besten in dir Hohn...
Laß ab, mein Freund von solchem Streben,
Willst du zum Geiste dich erheben!
Du mußt erst deine „Würde” zwingen,
Soll je dir Würdiges gelingen! ‒
Erscheinst du dir auch noch so groß
Und wirst nicht deine „Würde” los,
So bleibst du doch nur arm und klein,
167 Wegweiser
Wirst stets nur scheinen, ‒ ‒ niemals
.sein,
Und bleibst zuletzt am Boden liegen,
Denn niemals lernst du so ‒ das Fliegen!
.‒ ‒
NÖTIGE STRENGE
Manches mußt du dir ent-innern,
Soll dein Inneres sauber sein!
Darum lasse zum Er-innern
Nur noch Allerreinstes ein! ‒
168 Wegweiser
DEN WOHLMEINENDEN
Es gibt Leute, die möchten mich anders
.haben, ‒
Nicht ganz so, wie ich nun einmal bin.
Und wirklich:
Diese guten Knaben,
Sie haben nichts Schlechtes für mich
.im Sinn!
Wäre ich wirklich
Wie sie mich wollen,
So sähe ich wahrlich
Nicht übel aus, ‒
Nur habe ich nicht so werden sollen,
Und möchte nicht aus meiner Haut
.heraus! ‒
Ich wäre gewiß nicht der ich bin, ‒
Wär' ich nach ihrem Wunsche geschaffen,
Und keiner hätte davon Gewinn,
Macht' ich mich zu eines Anderen
Affen! ‒ ‒ ‒
169 Wegweiser
KONSEQUENZ
Soll dein Pfeil dem Adler gelten,
Mußt du nach dem Himmel zielen! ‒
Strebt dein Sinn nach hohen Welten,
Darfst du nicht nach Wolken schielen!
170 Wegweiser
FREUNDESFREIHEIT
Der Weise liebt nur dann,
Wenn er verzichten kann, ‒
Reicht ihm ein Freund die Hand, ‒
Er wird sie freudig fassen,
Und will er von ihm gehn ‒ ‒
Er wird ihn ‒ segnend lassen...
Er weiß im Anbeginn,
Daß jeder Freundschaft Gabe
Stets nur ein Lehen ist, ‒
Niemals Besitz und Habe. ‒ ‒
171 Wegweiser
BLÜTE ODER FRUCHT
Die sich der Blüten schon erfreuen wollen
.in den Vasen,
Dürfen keine Früchte fordern, wenn der
.Zweig verwelkt, ‒
Und alle Zweige ohne Wurzel welken...
172 Wegweiser
WEISE VERTEILUNG
Stets alles zugleich tun, was man kann,
Heißt immer übers Ziel geschossen!
Auf einem Pferde reitet man,
Doch pflügt man mit den Arbeitsrossen!
173 Wegweiser
DER NEUNMALKLUGE
Mancher glaubt, er wüßt' es besser,
Als man es ihm sagen kann,
Und so wetzt er dann sein Messer: ‒
Schneidet fremde Früchte an...
Schneidet sich in allen Längen
Scheiben aus der Frucht heraus,
Läßt das Kernhaus ‒ oben hängen,
Nimmt die Scheiben mit nach Haus'...
Steckt sie dort in seinen Garten, ‒
Sieht in Träumen schon die Sprossen, ‒
Aber ach! Trotz allem Warten,
Hat er sie umsonst begossen! ‒ ‒ ‒
174 Wegweiser
DIE ÜBERHEBLICHEN
Laßt sie nur recht Dummes schwätzen
Und sich sehr erheblich fühlen!
Laßt sie nur danebenschätzen
Und ihr heißes Mütchen kühlen!
Habt doch Mitleid mit den Armen,
Reicht ihr Horizont nicht weiter! ‒
Ach! ‒ Es ist schon zum Erbarmen,
Denn sie werden nie gescheiter! ‒
Was sie selbst nicht ausgeklügelt,
Ist für sie auch nicht vorhanden,
Und was Andere beflügelt,
Schwätzt ihr seichtes Wort zuschanden...
Teuer müssen sie bezahlen
Ihre immer falschen Schlüsse,
Denn sie finden stets nur Schalen
Und entdecken nie ‒ die Nüsse. ‒ ‒
175 Wegweiser
RAT
Nimm dein Leben wie es ist!
Denke nicht: „So könnt' es sein.”
Fluche keinem deiner Tage!
Was du tragen mußt, ertrage!
Alles, was dir je begegnet,
Segne, und du wirst gesegnet! ‒
176 Wegweiser
ENDE
DER WEG
ZU
GOTT
Verlagslogo
Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Zürich
Der bürgerliche Name von Bô Yin Râ war
Joseph Anton Schneiderfranken
2. Auflage
Die erste Auflage erschien im Rhein-Verlag, Basel, 1924
©
Copyright 1958 by
Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Zürich 48
Alle Rechte vorbehalten
Druck: Schellenberg-Druck, Pfäffikon ZH
INHALT Seite
Wahn und Glaube 5
Gewisses Wissen 20
Traum der Seelen 31
Wahrheit und Wirklichkeit 42
Ja und Nein 54
Der grosse Kampf 66
Die Vollendung 76
Originalscan
«ICH SEHE DICH IN HAST UND EILE, OO
MEIN FREUND!;
WAS IST DEINES WEGES ZIEL?!»
So frug ich gar manchen, und mancherlei OO
Ziele wurden mir genannt.
Ach, wie so Wenige wussten, dass sie nur OO
nach irgend einem Ziele eilten, da sie den OO
WEG verloren hatten, der zu dem hohen Ziele OO
führt, das sie einst zu erreichen hofften: ‒
den WEG ZU GOTT!
*
3 Der Weg zu Gott
WAHN UND GLAUBE
.Ich will nicht die Frage erheben: ob es dem
Menschen dieser Erde «nötig» sei, an «Gott»
zu glauben?...
.Alle, die von solchem Glauben lebten, haben
sie in allen Zonen jederzeit bejaht! Das hat
denn Frage sowohl wie alle Antwort längst
in argen Misskredit gebracht...
.Ich will die Frage erheben: wie es möglich
werden könne, dass da ein Erdenmensch be‐
haupte, er glaube an GOTT!?!
.Es gibt so manche «heilige» Bücher alter
Völker, in denen du lesen kannst, wie da und
dort einstmals ein «Gott» dem Gläubigen
«erschienen» sei.
.Wenn ein solcher Beglückter behauptet, er
glaube an diesen Gott, dann mag er vor sich
selbst ein Recht zu solchem Glauben haben.
.Was immer ihm auch «erschienen» sein mag:
5 Der Weg zu Gott
‒ er hielt die Erscheinung für den «Gott»,
und wenn er nun sagt, er «glaube», so sagt er
nicht mehr, als dass er an eine Erscheinung
glaube und nicht den Wahn erkenne, der ihn
wähnen lässt, er habe «Gott» gesehen. ‒ ‒ ‒
.Wie aber willst du, dem nichts derglei‐
chen geschah, behaupten, du glaubtest an
Gott?? ‒
.In deinem Denken nur hast du dir einen
«Gott» erdacht nach deinem Ebenbilde!
.Du hast dich selbst in einem Bilde zur
Vollkommenheit erhoben, und dieses so er‐
dachte Bild gilt dir als «Gott». ‒ ‒
.Ein Bilderanbeter bist du und deines
selbstgeschaffenen Götzen Diener!
.Aus deiner eigenen Enge kannst du nicht
heraus, und so verhaftest du dich deinem
engen Wähnen!
.So wie du selbst gestalten musst, was du
gestaltet sehen willst, so wähnst du, dass
auch einer diese weite Welt gestaltet haben
müsse, die durch deine Sinne dir erfahrbar
wird; und diesen, aus der Enge deines
Wähnens nur vermuteten Gestalter, nennst
6 Der Weg zu Gott
du deinen «Gott»; ‒ die eigene Wahnverhaf‐
tung nennst du deinen «Glauben». ‒ ‒
.Du siehst in dieser Welt, die dich von aussen‐
her umgibt, gar manches also angeordnet, als
ob es um gewisser Zwecke willen solcherart
geordnet wäre, und weil du selbst in gleicher
Art, als ein Gebilde dieser gleichen Welt,
durch rechte Mittel deine Zwecke zu erreichen
suchst, so wähnst du hinter diesen Dingen
einen, der dir gleichen müsse, und seine
Zwecke also zu erreichen suche. ‒ ‒
.Es stört dich nicht, dass weitaus Meh
reres in dieser Welt sehr wenig solcher
Zwecksetzung entspricht, und dass der zweck‐
bewusste «Schöpfer» ein gar arger Stümper
wäre ‒ noch unvermögender als sein ver
meintliches «Geschöpf» ‒ wenn er, so wie
dein Wahn es will, aus einem Werke zu er‐
schliessen wäre, das manchen Zweck erreicht
und manchen nicht erreicht. ‒ ‒
.Es stört dich nicht, dass gar zu oft auch das
was dir als «Zweck» erschien, erreicht wird,
nur um durch ein Anderes, das dir in gleicher
Weise äusserst zweckbewusst gefördert schien,
zerstört zu werden. ‒ ‒
7 Der Weg zu Gott
.Hier machst du halt; und nie verlegen, setzt
dein Wähnen eine «unergründliche tiefe Weis‐
heit», die auch den Unsinn braucht um sinn‐
gemäss zu walten. ‒ ‒
.Daraus, dass noch zu jeder Zeit und unter
allen Völkern dieser Erde, der Mensch sich etwas
schuf um sich vor dem Geschaffenen zu beugen,
erschliessest du, dass deines Wahnes Schöpfung
einer Wirklichkeit entsprechen müsse, ‒ und
weil dein Denken ihn erdenken konnte,
«glaubst» du den «Gott», den du dir selbst
geschaffen hast, im Sein, und weisst gar
vielerlei von ihm zu sagen. ‒ ‒ ‒
.Bescheiden bist du wahrlich nicht, und selbst
in deiner vielgerühmten «Demut vor dem
Herrn» wird es dir nicht bewusst, wie wunder‐
lich du deines «Gottes» Dasein aus dir selbst
erklärst! ‒ ‒
.Du findest dich im Dasein hier, und darum
«muss» ‒ weil du es willst ‒ dein selbstgeschaf‐
fener «Gott» auch irgendwo in einem «Him
mel» sein!...
.Ob du nur nachzusprechen weisst, was An‐
dere, vor dir, von «Gott» und «Gottes Ei
genschaften» dir zu sagen wussten, oder ob
8 Der Weg zu Gott
du solche alte Mär verachtest und dir selbst den
«Gott» erdenken magst, ‒ stets bist du in den
gleichen engen Zauberkreis gebannt, den dich
dein überheblich stolzer Aberglaube ziehen
hiess, selbst wenn du über allen «Glauben»
dich «erhaben» fühlst und dich als geistig
«frei» empfindest! ‒ ‒ ‒
.Von solchem Wahn will ich dich lösen, mein
Freund, und will dir zeigen, dass es dennoch
möglich ist, «an Gott zu glauben». ‒ ‒
.Ich will dir zeigen, dass es einen «Gott» zu
glauben gilt, der nicht aus deinem oder meinem
engen Wahne erst erzeugt wird, und den nie‐
mals ein «Beweis» der nur im Denken seine
Kraft erhält, erreichen kann! ‒ ‒ ‒
.Zuvörderst müssen wir uns einig werden,
was unter dem Worte «Gott» hier unter uns
nun zu verstehen sei. ‒
.Dass ich nicht irgend eines Wähnens, dem
Wahn nur wirklich scheinendes Gespenst des
irren Denkens mit dem Worte «Gott» be‐
zeichne, zeigt dir schon meiner ersten Worte
heller Hintergrund! ‒
9 Der Weg zu Gott
.Wir wollen der Wirklichkeit nahen, die
das Denken niemals erfassen kann! ‒ ‒
.Dem ewig Seienden wollen wir begegnen auf
unserem Wege! Nüchtern und klar muss
dein inneres Auge sein, wenn du ihn erkennen
willst! ‒ ‒
.Die Truggestalten deines Denkens
wirst du vergessen müssen! ‒
.Was dir begegnen wird, ist jenes Eine, das
kein Zweites neben sich kennt, ‒ das aber in
Unendlichfältigkeit sich selber offenbart,
wo immer es sich Offenbarung werden kann! ‒
.Du selbst bist seine Offenbarung, obwohl
du noch nicht darum weisst, und in dir selber
nur kann das sich Offenbarende dem Of
fenbarten fassbar werden! ‒ ‒ ‒
.Auch dem Truge bist du in dir selbst be‐
gegnet; ‒ jetzt aber sollst du die Wahrheit in
dir selber finden! ‒ ‒
.Nicht allzuschwer ist es für dich, zu unter
scheiden, was da Wahrheit ist, und was
Selbstbetrug! ‒
.Die sich betrogen hatten und dann erwach
ten aus ihren Träumen, verloren vielfach allen
10 Der Weg zu Gott
Mut, so dass sie also fürchten: neuem Truge
zu erliegen, dass auch die Wahrheit, wenn sie
ihnen je begegnet, gar harten Stand hat, will sie
ihnen nicht als Trugbild gelten...
.Du wirst nicht, ihnen gleich, dich der Ver
bitterung ergeben dürfen, denn was dir neun‐
undneunzigmale nicht gelang, kann dir beim
hundertstenmale gelingen! ‒ ‒
.Wer weiss, ob vordem deine Zeit schon ge‐
kommen war, der Wahrheit begegnen zu kön‐
nen?!
.Vielleicht hast du in deiner Ungeduld ihr nur
begegnen wollen, auf einem Wege, den sie
meiden muss?! ‒ ‒ ‒
.Bist du jedoch auf rechtem Wege, und be
reitet, sie zu erkennen, dann wirst du wahr‐
lich nicht mehr im Zweifel sein, ob es die
Wahrheit selber ist, oder ein selbstgeschaf‐
fenes Trugbild, was dir in dir selbst sich
zeigt. ‒ ‒
.In dem, was in dir selber Wahrheit ist,
wird sich die ewige Wahrheit bezeugen!...
.Das Licht, das aus sich selber leuchtet,
wird dich erleuchten, und alle Lampen die du
dir einst selbst geschaffen hast, damit sie deinen
11 Der Weg zu Gott
Weg umlichten sollten, werden dir kaum noch
sichtbar bleiben in deiner strahlenden Er‐
hellung! ‒ ‒
.Du wirst deinem eigenen Leben begegnen in
seiner ewigen Fülle; ‒ dich selbst wirst du
aus Lichteskraft im Lichte auferstehen sehen
aus deiner Erdengrabesnacht!...
.Mit «Gott» ‒ dem Seinsgrund alles
Seins ‒ wirst du dich selbst in Einheit fin‐
den! ‒ ‒
.Indem du zu dir selber «ICH» sagst, wirst du
erst verstehen lernen, dass du seinen «Namen»
heilig halten sollst! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Während ich so zu dir rede, fühlst du in dir
eine innere Gewalt ‒ mag sie dir stark
empfindbar werden, oder nur erst zag an deines
Herzens hart verschlossene Pforte klopfen...
.Etwas ist in dir, das meine Worte besser
vernimmt, als dein Verstand, der nur der
Sätze Sinn sich übereignen will! ‒ ‒ ‒
.Dieses «Etwas» aber ist die Kraft des
Glaubens, die du in dir trägst und noch
nicht kennst! ‒
12 Der Weg zu Gott
.Kaum magst du es wahrhaben, dass sie in dir
zu finden sei! ‒ ‒
.Du hast dich zu sehr von Jugend auf dem
Denken übergeben, und alle letzte Sicher
heit, soweit sie Menschen eben noch erreichbar
sei, vermeintest du in ihm allein zu finden! ‒ ‒
.Nun hat dich dein Denken tausendmal be
trogen, und heute noch bist du ein Sklave
dessen, was du dir erdachtest! ‒
.Dennoch fürchtest du, in leeres Nichts
hinabzufallen, wenn du dich Anderem mehr als
deinem Denken je vertrauen würdest!...
.Es ist nichts als diese Furcht, die dich zu‐
rückhalten will, der Kraft des Glaubens dich
zu übergeben! ‒ ‒ ‒
.Aber vergeblich wirst du meine Worte hö‐
ren, solange du sie nur zu deinem Denken
reden läßt, und nur im Denken sie bestätigt
finden möchtest! ‒
.Glaube nicht, dass ich hier die Kraft des
Denkens lästere!
.Ich weiss sehr wohl, dass es gar vieles hier
in diesem Erdendasein gibt, das nur dem reifen
Denken sich erschliesst; und sehr weiss ich zu
13 Der Weg zu Gott
ehren, was die Menschheit denen dankt, die
sie ihre Denker nennt! ‒ ‒
.Aber ein Anderes ist, was sich erdenken
lässt, und ein wieder Anderes, was dir allein
die hohe Kraft des Glaubens fassbar machen
kann! ‒ ‒ ‒
.Du wirst verstehen, dass ich hier beileibe
nicht von einem «Glauben» rede, der nur «für
wahr hält», was er «glaubt»! ‒
.Nicht wert des Wortes «Glaube» dünkt
mich solches Vermuten! ‒
.Die Kraft des Glaubens von der ich rede,
ist wahrlich anderer Art!...
.Hier ist kein Wähnen und kein Meinen,
kein Vermuten und kein Erschliessen!
Wer sich der Kraft des Glaubens überlässt,
auch wenn er sie nur in der leisesten Be‐
kundung erst in sich erfühlt, der wird gewiss
nicht einer Meinung sich zu eigen geben
müssen! ‒
.Alsbald aber wird er fühlen, dass eine Kraft
in ihm waltet, die ihn zu mancher neuen Er
kenntnis führen kann, die «Fleisch und Blut»
ihm niemals offenbaren würde! ‒ ‒
14 Der Weg zu Gott
.Was du nun in dir fühlst, obwohl du es
nicht deuten kannst, ist diese Kraft des
Glaubens ‒ vielleicht nur erst in ihrer aller
schwächsten Form...
.Es ist etwas in dir, das da zustimmen
möchte meinen vorigen Worten, wenn es dein
Denken nicht zu hindern suchen würde durch
Einwürfe aller Art. ‒ ‒
.Willst du deines Denkens stets gehorsamer
Sklave bleiben, so wirst du freilich von der
Kraft des Glaubens, die dich frei und
ohne Fesseln sehen will, recht wenig zu er‐
warten haben! ‒
.Nur wenn du dich loslösen kannst von dei‐
nem Denken, wirst du die Kraft des Glau
bens in dir am Werke finden!
.Du würdest jeden Handwerker verlachen, der
mit der Axt das Eisen spalten wollte, und
Wahnwitz würdest du bekundet sehen, wollte
einer mit der Säge Fensterglas zerschneiden! ‒
.Du aber versuchst bis jetzt noch ein Gleiches
zu tun, ‒ und noch bemerkst du nicht, dass du
dich selbst betörst! ‒
.Mit allzu untauglichem Mittel suchst
15 Der Weg zu Gott
du zu erreichen, was niemals sich so erreichen
lässt!...
.Du willst gleichsam Bäume fällen mit dem
Federmesser und nach Erzen graben mit den
blossen Händen!
.Ich aber habe dir zu sagen, dass Denkkraft
zwar ein sehr erprobtes Werkzeug ist, so‐
fern es sich um die Durchdringung dieser Er
dendinge handelt, ‒ dass sie jedoch sofort
versagen muss, sobald du strebst, zu der Er‐
kenntnis dessen zu gelangen, was im Geiste
wurzelt! ‒
.Hier kann dir nur die Kraft des Glau
bens helfen!
.Glaube nicht, dass sie etwa weniger geeignet
wäre, dir Sicheres zu geben, als die Kraft des
Denkens dort dir gibt, wo sie allein das taug
liche Werkzeug ist! ‒ ‒
.Noch immer verbindest du mit dem Worte
«Glaube» nur den einen Begriff des «Für
wahrhaltens» dessen, was man «glaubt», oder
zu «glauben» vermeint! Die Kraft des
Glaubens aber ist eine innere Sicher
heit, dass man das erreiche, was sie
verheisst! ‒
16 Der Weg zu Gott
.Sobald du in solcher Weise Gott zu «glau
ben» suchst, wirst du gewiss nicht denen glau‐
ben, die dir alten, in der Enge eigenen Erfassens
ausgebrüteten Wahn als Wahrheit darzu‐
stellen suchen! ‒ ‒
.Du wirst nur dir selber glauben, wenn du
der Kraft des Glaubens vertraust! ‒ ‒ ‒
.In dir selber wirst du sie am Werke finden,
und was sie dir zu offenbaren hat, wird in dir
selber begründet sein! ‒
.In dir wirst du erleben, was sie dich lehren
kann! ‒ ‒ ‒
.Nur was du in dir erlebst, mein
Freund, wird dir zu eigen sein! ‒
.Was dir nicht gewiss wird wie dein eigener
Erdenleib, wird dir niemals «Gewissheit»
heissen dürfen! ‒ ‒
.Was du nicht erfassen kannst, so wie du
dich selbst erfassest, hast du gewiss nicht
erfasst! ‒ ‒
.Was du nicht «glauben» kannst, so wie du
an dein eigenes Dasein glaubst, soll dir
nicht «Glaube» heissen! ‒ ‒
17 Der Weg zu Gott
.Ich will dich zum «Glauben» führen, ‒ zu
einem Glauben, den du vor dir selbst verant
worten kannst!
.Ich will dich zu einem «Glauben» führen,
den du niemals verleugnen wirst!
.Zu einem «Glauben» will ich dich leiten, der
deine Tage auf der Erde überdauern wird!
.Dann erst wirst du auch bezeugen können,
dass du in Wahrheit glauben musst an
«Gott»! ‒ ‒
.Dann erst wird auch der, an den du
«glaubst», dich als einen «Gläubigen» er‐
achten! ‒ ‒
.Vorher ist jedes «Bekenntnis» Lüge! Vor
her ist jedes «Bekenntnis» nur ein Bekennen
zu deinem oder irgend eines Anderen heilig
gehaltenen Wahn! ‒
.Hast du jedoch einmal erfahren, was sich
erfahren lässt, dann wirst du fürder allem
Wahn enthoben sein! ‒ ‒
.Hast du erfahren, was nur die Kraft des
Glaubens dir erfahrungsnahe bringen kann,
dann wirst du eine Sicherheit errungen haben,
die man dir in Ewigkeit nicht wieder nehmen
kann! ‒ ‒
18 Der Weg zu Gott
.Hast du der Kraft des Glaubens dich
vertraut, dann wirst du wahrlich einst dahin
gelangen, allwo du dann mit allem Recht be‐
kennen darfst:
«Ich glaube an GOTT
*
19 Der Weg zu Gott
GEWISSES WISSEN
.Du wirst gewisslich niemals zu gewissem
«Wissen» kommen, wenn vordem dir die
Kraft des Glaubens nicht den Weg er‐
leuchtet hat! ‒ ‒ ‒
.Siehe, auch ich war einst auf Irrtumswegen,
als ich mich selbst noch nicht kannte! ‒
.Auch ich war meines Wähnens Sklave, bevor
mich jene fanden, zu denen ich gehörte, lange
vor der Zeit, da ich in einem Körper dieser
Erde erstmals mich als dieser Erde Sohn er‐
lebte! ‒ ‒ ‒
.Wohl darf ich davon Kunde bringen, was
Gewissheit schafft, da ich in mir selbst vor‐
dem erleben musste, was der Wahn vermag! ‒ ‒
.Die meinen Worten folgen, werden sichere
Führung finden!
.Des Weges ward ich wahrlich kundig, der
zum Ziele führt, und selbst ward ich zum
«Wege» ehedem, bevor man mir den Auftrag
gab, auch Anderen den Weg zu zeigen! ‒ ‒ ‒
20 Der Weg zu Gott
.Im ewig leuchtenden Lichte ward ich mei
ner selbst bewusst, und dann erst ward mir
die Pflicht, auch allen die im Dunkel sitzen,
Licht zu bringen! ‒ ‒ ‒
.Dann erst wurde mir geboten, alle, die
mein Wort erreichen könne, zu erwecken aus
dem Traum der Finsternis! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Auch ich musste einst der Kraft des Glau
bens vertrauen, bevor ich zu gewissem Wissen
kam! ‒
.Und grösseres Vertrauen wurde von mir
verlangt, als jemals du bekunden sollst! ‒
.Es gab einen Tag, an dem ich mich bereiten
musste, dieses Erdenleben dauernd zu verlas
sen, und nur die Kraft des Glaubens
konnte mich bewegen, einer Prüfung zu ent‐
sprechen, deren Ausgang mir sowohl das Ende
meines Erdenlebens hätte bringen können, wie
er mir, ‒ nicht vorgeahnt, und noch viel we‐
niger gewusst, ‒ in Wahrheit erst das wache
Leben brachte...
.Ich darf dir also wohl bezeugen, dass man der
Kraft des Glaubens vertrauen kann!
.Und weiter darf ich dir sagen, dass du zu ge‐
21 Der Weg zu Gott
wissem Wissen finden wirst, je nach dem Masse
deines Vertrauens in die hohe Kraft des
Glaubens! ‒ ‒ ‒
.Hier steht «Glauben» und «Wissen» kei
neswegs im Gegensatz, denn das, was ich
hier «Glaube» nenne, ist Voraussetzung,
willst du zum «Wissen» gelangen! ‒ ‒ ‒
.Die Kraft des Glaubens schafft in dir erst
die Möglichkeit des gewissen Wissens! ‒ ‒
.Solange du noch Zweifel hegst und dich der
Kraft des Glaubens nicht vertrauen
magst, hast du keinen Anspruch, jemals ein
«Wissender» zu werden! ‒
.Es besteht hier eine Kette, deren Glieder in‐
einander greifen.
.Vertrauen ist vonnöten in die Kraft des
Glaubens, und diese selbe Kraft des Glau
bens schafft dir das Vertrauen, das du
brauchst, willst du zum Wissen gelangen! ‒ ‒ ‒
.«Wissen» ist hier nicht die Erkenntnis ir‐
gend eines kausalen Zusammenhangs!
.«Wissen» ist hier ein gewisses Innewerden,
das keinen Zweifel mehr kennt und in sich
selbst gefestigt steht! ‒ ‒
22 Der Weg zu Gott
.Wer solches Wissen erreichte, dem ist der
«Beweis», den gedankliches, irdisches Wis‐
sen fordert, nur ein Notbehelf, dessen er ent
raten kann, da ihm sein Wissen selbst zu‐
gleich Beweis des Gewussten ist! ‒ ‒ ‒
.So wie ein Mensch, der auf den Taster einer
elektrischen Klingel drückt, nicht erst des
«Beweises» bedarf, dass nun auch ein Glok‐
kensignal ertönen könne, ‒ so wie er auch
keineswegs Erkenntnis des kausalen Zu
sammenhangs benötigt, um die Glocke
zum Tönen zu bringen, so wird der geistig
Wissende seines Wissens inne, ohne «Be‐
weis», und ohne sich um die kausalen Binde‐
glieder zu bekümmern, die da vonnöten sind,
damit sein Wissen ihm zu Bewusstsein
komme...
.Wer so zu gewissem Wissen gelangen will,
wie der Sehende sieht, auch wenn er den Vor‐
gang des Sehens sich keineswegs erklären
kann, der wird es dahinnehmen müssen, dass
ihm sein Wissen nicht ohne hohe Hilfe
werden wird, so wie es der Sehende wohl da‐
hinnehmen muss, dass er nur sehen kann,
23 Der Weg zu Gott
wenn ein gar sehr verletzliches Organ seines
Körpers ihm dazu behilflich ist...
.Sowohl hier wie dort muss eine Vorbedin
gung erfüllt sein, soll das Erstrebte erreich
bar werden. ‒
.Die kleinste Trübung in der «Linse» deines
Auges wird dir deine Fähigkeit zu sehen
rauben, oder doch behindern. Nur durch
die Mithilfe eines kleinen Organs deines Kör‐
pers vermagst du zu sehen. ‒
.Willst du jedoch in Sternenweite sehen
können oder Allerkleinstes noch erkennen,
so wirst du gar die Hilfe optischer Instru
mente brauchen, die der Mensch sich selbst
ersonnen hat und herzustellen lernte. ‒
.Dies alles erscheint dir sehr in der Ordnung,
und gewiss wirst du nicht von dir verlangen,
dass du auch ohne Auge sehen können müss‐
test, oder dass dir die Ringe des Saturn auch
ohne Fernrohr erkennbar sich zeigten. ‒ ‒
.Ja, längst hast du erkannt, dass auch das
schärfste Fernrohr dir noch lange nicht die
fernsten Sterne zeigt, und dass das beste
Mikroskop noch nicht genügt, um auch das
letzte Allerkleinste noch zu sehen, das du
24 Der Weg zu Gott
erschliessen kannst, obwohl es niemals sich
dem Menschenauge zeigte. ‒
.Im Geistigen aber glaubst du aller Hilfe
entbehren zu können! ‒
.Dein «Gott» ist dir gerade gut genug, um
mit ihm «Du auf Du» zu stehen, und du ver‐
langst in törichter «Vermessenheit», ‒ da du
hier jedes «Mass» verloren hast, ‒ dass zwischen
dich und deinen «Gott» nichts Anderes sich
stellen dürfe...
.Du bist dem Kinde gleich, das den Mond
erhaschen will, weil er ihm nicht weiter ent‐
fernt erscheint, als das Spielzeug, das du ihm
ans Fenster hängtest! ‒ ‒
.Du machst unter Deinesgleichen hier auf
Erden schon gewaltige Rangunterschiede. ‒
.Wie immer du die «Grossen» nennen magst
vor denen du dich beugst: ‒ stets sind es doch
Menschen gleich dir, auch wenn du sie dir in
Wissen und Können, an Weisheit und
Kraft, oder gar nur durch altvererbte Herr
schaft überlegen fühlst. ‒ ‒
.Wie gar gering musst du vom Reiche des
Geistes denken, wenn du nicht ahnend fühlst,
25 Der Weg zu Gott
dass auch in diesem Reiche Stufe auf Stufe
folgt, und dass fast unendliche Hierarchien
folge sich erhebt, bevor die höchsten Geistes‐
fürsten erst erreichbar sind, die wirklich, als im
innersten Lichte der Gottheit lebend, sich
dem Bilde einen, das menschliche Phantasie
sich von den höchsten «Engeln», vom «Se
raph» und «Cherub» schuf! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Aus Deinesgleichen sind dir «Fürsten» er‐
standen auf dieser Erde, und wenn du das
Schöpfertum des Menschengeistes höher
stellst als alle Fürstenwürde, so weisst du um
Menschen, die fast Übermenschliches voll‐
bringen konnten, in dem, was du auf Erden
«geistig» nennst; ‒ aber auch der Höchste,
den du so verehren magst, ist, als er noch im
Erdenkleide lebte, kaum auf der untersten
Stufe derer angetroffen worden, die da bereits
im wesenhaften Geiste leben. ‒ ‒ ‒
.Wie willst du also wähnen, du, der selbst auf
Erden schon sich «Höheren» beugt, seiest
deinem «Gott» so nahe, dass zwischen dir
und ihm nichts Anderes sich finden könne?!? ‒
.Ja, ‒ wenn es sich um jenen Götzen handelt,
den du nach deinem Ebenbilde dir selbst ge‐
26 Der Weg zu Gott
schaffen hast, ‒ dann bist du wahrlich im
Rechte! ‒
.Willst du jedoch dich deinem GOTTE einen,
der immerdar von Ewigkeit zu Ewigkeit im
Sein verharrt, und der in dir sich offenbart,
dann wirst du solcher Torheit entsagen müs‐
sen! ‒ ‒
.Du wirst dann aus dir selbst erkennen
lernen, dass du hier der Hilfe benötigst, und
sobald du solches erkanntest, wird dir auch
die Hilfe werden. ‒ ‒ ‒
.Für einen Jeden ist Hilfe da, sobald er
nach ihr verlangt! ‒ ‒ ‒
.Das ewige Urlicht selbst, das du dir, ohne
Zwischenstufe, gar so leicht erkennbar wähnst,
hat sich auf diesem Planeten die Helfer ge‐
schaffen, und sie wissen dich zu erreichen,
sobald du dich selbst erreichen lassen willst! ‒ ‒
.In anderer Rede und oft auch in anderem
Gleichnis habe ich dir in andern Büchern
vielfach von dieser Hilfe gesprochen, doch hier
will ich mehr von dem Zustande reden, in dem
du dich selber finden musst, wenn du den
Weg zu Gott beschreiten willst....
27 Der Weg zu Gott
.Sobald du den Weg betreten hast, wirst du
gar bald entdecken, dass du ihn nicht weiter
schreiten kannst, es sei denn, dass dir
hohe Hilfe werde. ‒ ‒
.Wenn du solches entdeckst, dann bist du
bereit, Hilfe zu empfangen! ‒ ‒ ‒
.Bekümmere dich nicht darum, woher dir
solche hohe Hilfe komme!
.Sei aber, durch die Kraft des Glaubens,
in dir selbst gewiss, dass dir die Hilfe werden
müsse!
.Du wirst sie dann mit aller Sicherheit er
halten, auch wenn du nicht ahnen könntest,
woher sie dich erreicht!
.Mit dieser Hilfe allein wirst du zu gewissem
Wissen kommen! ‒ ‒ ‒
.Du wirst vielleicht, wenn du dem ersten
Schein vertraust, nur eigenem Erkennen
zu begegnen wähnen, und wirst kaum ahnen,
dass ein Anderer zu dir in deiner Seele spricht:
‒ einer derer, die auf dieser Erde leben und zu
gleich bewusst sind in der Geisteswelt, wenn
auch auf der untersten Stufe jener Hier‐
archie, die in ihren höheren Stufen dir als
28 Der Weg zu Gott
Erdenmensch unerreichbar bleiben müsste.
.Nur in deinen höchsten Augenblicken wirst
du solche Hilfe in dir erfahren, ob du sie erken
nen magst, oder nicht! ‒ ‒ ‒
.Dann aber werden wieder die dunklen Stun‐
den kommen, und du wirst stöhnen in deiner
Not!...
.«Von Gott verlassen» wirst du dir er‐
scheinen, und wirst nicht wissen, wohin du
dich bergen sollst!...
.Du darfst nur den Mut nicht sinken
lassen zu solcher Zeit!
.Dann wird dir plötzlich wieder neue «Ein
sprache» werden, und alles was dich be
drängte, wird mählig von dir weichen! ‒ ‒
.Beharrlichkeit wird dich zum Ziele brin‐
gen, und du wirst erkennen, dass dich hohe
Mächte führen! ‒ ‒ ‒
.Du bist durch die Kraft des Glaubens
vorbereitet!
.Gewisses Wissen willst du nun erlangen!
.Es wird dir wahrlich werden, so du in dir
selber suchst! ‒ ‒
.Solange du noch strauchelst und nicht
29 Der Weg zu Gott
weisst was du willst, wirst du jedoch ver
geblich nach gewissem Wissen Ausschau
halten! ‒ ‒
.Du wirst erst selbst dir gewiss werden müs‐
sen, willst du zur Gewissheit geistigen «Wis‐
sens» in den Geist erhoben werden! ‒ ‒ ‒
.Hast du jedoch vertraut der Kraft des
Glaubens, dann wirst du dir wahrhaftig auch
gewiss geworden sein! ‒ ‒
.In deinem Allerinnersten wirst du die
Quelle aller Weisheit entdecken! Ein «Wis
sen» wirst du in dir selbst erlangen, das dir
die Aussenwelt nicht geben kann! ‒ ‒
.Nur in dir selbst, mein Freund, kann dir
Gewissheit werden! ‒ ‒ ‒
*
30 Der Weg zu Gott
TRAUM DER SEELEN
.Umfangen vom Dunkel erdentierischen Er‐
kennens werden die Seelen auf dieser Erde
in tiefem Schlafe erhalten aus eigenem Wil‐
len....
.Traum nur ist all ihr «Erleben» bevor sie
erwachen!
.Noch können sie nicht fassen, was waches,
wirkliches Erleben ist. ‒ ‒
.Erst der Erwachte weiss zu sondern
zwischen wirklichem Erleben und der selbst‐
geschaffenen Trugwelt, die sein Traum ihm
bot. ‒
.Nur selten dringt auch in den Traum schon
das Bewusstsein: zu träumen, ein...
.Verhaftet an die Welt des Traumes aber
fehlt die Kraft, sich dem Traume zu ent
winden. ‒
.Zu tief ist zumeist der Schlaf, ‒ zu sicher
durch ihn der Traum auch dann noch behütet,
31 Der Weg zu Gott
wenn schon der Ruf der wachen Wirklichkeit
in ihm vernommen werden mag. ‒ ‒
.Fast scheint es unmöglich zu sein, die Seelen
jemals zum Erwachen zu bringen! Jede «Er‐
weckung» ist fast einem «Wunder» gleich!
.Die Seelen wollen ja den Traum! ‒
.Es fehlt der Wille zum Erwachen! ‒
.Versunken in das Reich des Traumes, fürch
ten die Seelen ihres Träumens Ende!
.Nur was im Traume ihnen erträumtes «Er‐
leben» ward, dünkt ihnen des Erlebens wert
zu sein...
.Sie schaudern davor, den Traum verlassen
zu müssen. ‒
.Im Traume erträumt sich jede Seele ihre
eigne Welt, auch wenn gar viele sich die
gleiche Welt erträumen. ‒
.Nicht anders erträumt sie sich ihren fernen,
fremden «Gott» in einer unerreichbar hohen
Überwelt, und weiss nicht, dass sie nur ein
lichtes Abbild ihrer selber schuf um sich in
solchem Bildnis selber anzubeten. ‒
.Wie sollte sie erkennen, dass sie erst er
wachen müsste, um ihren Lebendigen Gott,
32 Der Weg zu Gott
«im Geiste und in der Wahrheit», in sich
selbst zu finden! ‒ ‒ ‒
.Der Aussenwelt des Traumes hörig,
sucht sie «ausser» sich, was sich für sie nur
im Innern ‒ ja nur im Innersten des Innern
‒ finden lässt!
.Ihr eigenes Inneres stellt sie in der «Vor‐
stellung» aus sich hinaus, und noch um Sternen‐
weite ferner schafft sie sich des «Gottes»
Bild nach ihrem Ebenbilde, ‒ eines «Gottes»,
der nur irrem Menschenwahn sein Dasein
dankt...
.Verführerisch ist solcher Traum der Seelen,
und länger hält er sie im Schlafe, als sie schla‐
fen müssten! ‒
.Allzuverlockend sind des Traumes bunte
Bilder, so dass sie auch jene Seelen noch im
Schlafe erhalten, die bereits erwachen könn
ten, da schon der Wille zum Erwachen aus
dem Schlafe sich in ihnen regt...
.Nicht eher, als bis der Wille zum Erwachen
den Schläfer weckt, kann er sich aus dem
selbsterzeugten Traume erheben! ‒
.Würde er, dem Schlafenden gleich, den ein
33 Der Weg zu Gott
lauter Weckruf schreckt, sich taumelnd vor
seiner Zeit dem Schlafe entwinden, so müsste
er nur alsbald erneut in Schlaf und Traum
verfallen.
.Auch in ihrem Traume strebt der Seele Seh‐
nen wahrlich nach der Welt der Wirklich
keit.
.Leicht aber wird ihr der Wahn, sie selbst
sei wach und alle Wirklichkeit sei ein
Traum...
.Und sicherlich ist es leichter, sich im Traume
einem selbstgeschaffenen «Gotte» nahe, ja «ver‐
eint», zu fühlen, als in wacher Nüchternheit den
Weg zu wandeln, der nur im Inneren durch‐
wandelt werden kann und einst im Innersten
des Inneren zum Ziele führt: ‒ zur Einigung
im lebendigen Gott! ‒ ‒ ‒
.Auch jene sind gar sehr im Rausche des
Traumes befangen, die da zu erzählen wissen,
sie seien Gott in sich begegnet und nun ganz
«zu Gotte geworden»...
.Sie träumen erregte Träume und glauben
im Traume sich erwacht, nicht ahnend, dass
34 Der Weg zu Gott
ihre «Vergottung» nur ein Werk des Trau
mes ist...
.Ach nein, mein Freund, ‒ wenn du dem
leibhaftigen Gotte in dir selbst begegnen
wirst als deinem lebendigen Gott, dann
wirst du gewiss ihn nur in dir selbst erleben
und dich selbst ihm geeint, allein mit nichten
wirst du «zu Gott geworden» und selbst
«vergottet» sein! ‒ ‒ ‒
.Du bist alsdann zu jeder Zeit fürwahr «in
Gott» und lebst in Gottes ewigem Leben,
jedoch: ‒ du bist nicht Gott, und auch in allen
Ewigkeiten kannst du nicht «zu Gotte» wer
den!
.Du kannst nur dich selbst in Gott und
deinen lebendigen Gott in dir erleben, ‒
geeint im Bewusstsein des Erlebens,
und dennoch stets der verbleibend, der
du bist! ‒
.Gott aber «erlebt» sich in dir «im Bilde», so
wie sich Gottheit niemals in sich selbst
erleben könnte: ‒ der Sonne gleich, die
ihres Lichtes Strahlen durch ein Brennglas
sammelt und im Brennpunkt Licht und
Feuer zeugt....
35 Der Weg zu Gott
.Es ist dein Denken, mein Freund, das dich
erschliessen lässt: ‒ wenn Gott sei, müsstest
auch du selbst, ‒ zur Einigung mit Gott ge‐
kommen, ‒ einst «zu Gotte» werden können!
.Dein Denken aber ist traumbefangen, ist
selbst ein Teil deines Traumes!
.O, wähne dich nicht etwa dem Erwachen
nahe, solange dein Denken dir noch als dein
hellstes Licht erscheint! Dort, wo dein Denken
heimisch ist, mag es dir gute Dienste leisten,
und ferne sei es mir, dein Denken gering zu
achten. Tief unter der Erde, in eines Bergwerks
dunklen Gängen, werde ich ein Grubenlicht
gewiss zu schätzen wissen, ‒ so, wie jedoch
des Bergmanns Leuchte allsobald zur trüben
Flamme wird, wenn er aus seinem Schacht mit
ihr heraufsteigt in das Licht des Tages und der
Sommersonne blendend weisse Helle, so ist auch
alles Denken machtlos, wenn es sich vermisst,
in die Erlebnishelle geisteswacher Wirklich
keit hineinzuleuchten...
.Du sollst dein Denken nützen, wo immer es
dir nützen kann, allein: ‒ du sollst nicht deines
Denkens traumbetörter Sklave bleiben! ‒
.Tief in den labyrinthisch dunklen Gängen ir
36 Der Weg zu Gott
dischen Erlebens wirst du wahrlich immer
deines Denkens Leuchte brauchen, ‒ bist du
jedoch emporgestiegen an das Licht der Gei
stessonne, dann lösche gelassen die schwä‐
lende Flamme aus, die nur im Düstern leuchten
kann. Hier umstrahlt dich anderes Licht, das
nicht von dir entzündet und gehütet werden
muss...
.Erwachend wirst du dann in diesem Lichte
deiner Torheit innewerden, die dich verleiten
wollte: ‒ Sonnenstrahlen mit dem Licht der öl‐
gespeisten Lampe abzuleuchten! ‒ ‒ ‒
.Gar mannigfaltig sind die Träume der
Seelen, und nicht alle sind in gleicher Weise
dem wachen Erleben fern. ‒
.So wie in deinem körperlichen, allnächtlichen
Schlafe Klänge der Aussenwelt in deine Träume
dringen und dir, traumhaft verwandelt, bewußt
werden können, so klingt auch gar mancher
Klang aus Reichen wachen Geist-Erlebens in
manchen Träumen der Seelen auf...
.Der Traum wird dann zu einem fernen
Ahnen des Erwachens, aber dennoch bleibt
er Traum.
37 Der Weg zu Gott
.Vielleicht hast du selbst schon in deiner
Seele Traumschlaf solche Klänge vernom‐
men?! ‒
.Vielleicht hast du selbst schon gefühlt: ‒ du
könntest nun bald erwachen, und bist dann
doch erneut dem Schlafe und seinem Traum
verfallen?! ‒
.Es mag dir dies immerhin ein Zeichen sein,
dass du dem Erwachen nahe bist, wenn auch
kaum so nahe wie du glauben möchtest!
.Verhalte dich mehr und mehr dazu, auch in
deinem Traume und in deines Traumes Selbst‐
genügsamkeit, auf Klänge aus des Geistes wa‐
cher Welt zu hören!
.Auch wenn sie vorerst noch für dich nicht an‐
ders fassbar werden, als nach der Tonart deines
Traumes abgewandelt, so werden sie doch nach
und nach dich immer wacher werden lassen, bis
sie dich endlich zu beseligtem Erwachen
bringen.
.Allmählig sollst du dem Schlafe und seinem
Traum entzogen werden! ‒
.Du sollst nicht im Erschrecken zum Er‐
wachen kommen! ‒ ‒
.Nicht in Verwirrung will man dich finden,
38 Der Weg zu Gott
wenn du aus deinem lebenslangen bunten
Traume erwachst! ‒
.Auch dein Erwachen könnte sonst deiner
Seele zum Schaden gereichen! ‒
.Des Geistes überhelles Licht will zuerst er
tragen werden, bevor man es lieben lernt! ‒
.Du wirst es nur dann ertragen können, wenn
du mählig wacher werdend, dich dem Schlafe
entwunden hast.
.Bist du aber heute noch in Tiefschlaf ver‐
sunken und träumst einen Traum, den kein
Klang aus des Geistes wacher Welt erreicht, es
sei denn, dass solcher Klang dir zwar vernehm
bar, aber als Störung deines Traumes empfun‐
den werde, dann wisse, dass «deine Zeit» noch
ferne ist, denn noch könntest du nicht ohne
Schreck aus deinem Schlafe gerissen werden.
.Auch wenn man dich erwecken könnte,
würdest du kaum für Augenblicke im Wachen
sein, um alsbald dich erneutem Schlafe hinzu‐
geben...
.Ich kann dir nur raten, dich langsam an jene
Klänge zu gewöhnen, die dir jetzt noch «Stö‐
rung» heissen. ‒ ‒
39 Der Weg zu Gott
.Liebe nicht allzusehr deinen Traum, und
siehe zu, ob es dir nicht möglich wird, dir selbst
zu sagen, dass auch deine Zeit einst kommen
muss und dass auch du einst erwachen sollst. ‒
.So wirst du alsdann die Klänge aus der wa‐
chen Welt des Geistes bald weniger störend
empfinden, ‒ dein Traum wird nach und nach
lichter und lichter werden, und schliesslich
wirst du dem Erwachen immer näher kom‐
men. ‒ ‒ ‒
.Es ist kein leeres Spiel mit Worten, wenn ich
den Zustand des Menschen, der noch nicht
vollbewusst im Geiste lebt, dem Schlafe ver‐
gleiche, und seine Vorstellungswelt dem
Traum! ‒
.Ich rede zu Erdenmenschen und muss mich
an erdenmenschliche Gleichnisse halten.
.Wer immer aber diese Worte lesen wird, der
kennt auch Schlaf und Traum.
.So wie dir nun jeder als gar töricht erscheinen
würde, der dir zu sagen wüsste: ‒ nur im
Schlafe sei er im wahren Leben, und nur der
Traum sei ihm die erdenhafte Wirklichkeit,
so sollst du auch erkennen lernen, dass dieses
40 Der Weg zu Gott
Erdenleben keineswegs die höchste Wirk‐
lichkeit umschliesst: ‒ dass alles, was du hier
«Erlebnis» und «Erkennen» nennst, gar weit
zurückbleibt hinter dem Erleben und Erken
nen, das dir in der Welt des wesenhaften
Geistes werden wird, bist du erst selbst ‒ auch
wenn du noch als Mensch der Erde in
der sinnenfälligen Erscheinung lebst
in diese Welt des Geistes eingegangen. ‒ ‒ ‒
.Wohl dir, wenn du dich auf dem Wege
weisst, der dich in dir selber zum wachen
Erleben des Geistes führt! ‒ ‒
.Wohl dir, wenn du zum mindesten erkennst,
dass auch für dich dieser Weg bereitet ist! ‒ ‒ ‒
.Auch wenn du dich gar ferne noch von dieses
Weges Anfang fühlen solltest, so wird dir doch
das Wissen um den Weg schon Kraft verleihen,
ihn, aller Hindernisse spottend, aufzusuchen,
‒ und weisst du, dass du ihn bereits betreten
hast, so weisst du auch, dass du nur festen
Schrittes weiterschreiten musst, um in dir
selbst zu Gott zu finden. ‒
*
41 Der Weg zu Gott
WAHRHEIT
UND WIRKLICHKEIT
.Was in den Reichen deiner Vorstellung du
so gegründet findest, dass kein Anlauf deines
Denkens dieses Tiefgegründete je stürzen
könnte, das nennst du «wahr». Als «Wahr
heit» aber gilt dir auch gar manches Vorstel‐
lungsgebilde, das du nur heute und mit deinen
Kräften nicht zu Falle bringen kannst, so dass
es später, wenn es Andere zu Falle brachten,
auch für dich nicht mehr als Wahrheit gelten
kann. ‒ ‒
.So kommt es, dass die aufeinanderfolgenden
Geschlechter jeweils ihre eigene Wahrheit wie
ein Kleinod hüteten, das für das folgende Ge‐
schlecht sie sorglichst zu verwahren suchten,
während dieses Erbe dann den Späteren kaum
noch den Wert von Kinderspielzeug zu besitzen
schien...
.Und doch blieb bis auf den heutigen Tag die
«Wahrheit» gar hoch im Kurs, auch wenn die
42 Der Weg zu Gott
Frage oftmals nahe lag: ‒ was denn zur Zeit
als Wahrheit gelten solle?! ‒
.Wenn hier von der «Wahrheit» nun ge‐
sprochen werden soll, so wollen wir bewusst
beiseite lassen, was alles in der Zeiten Lauf als
«Wahrheit» galt!
.In solchem Sinne nur sei von der Wahrheit
hier die Rede, wie denn ein jegliches Geschlecht
noch ausser seiner zeitlich engbegrenzten Mei
nung eine Wahrheit kannte, die nicht durch
Spätere entwertet werden konnte.
.In solchem Sinne aber ist als Wahrheit an‐
zusprechen, dass menschliche Erkenntnis wie
im Denken sie erreichbar wird, stets Stück
werk bleibt, und dass in gleicher Weise alle
Macht des Menschen über die Natur ‒ trotz
aller Siege über die Naturgewalten ‒ nur allzu‐
bald gewisse Grenzen anerkennen muss, die sie
sich selber keineswegs gezogen hat. ‒
.Aus dieser Wahrheit folgerte das Denken,
dass die Bereiche des Erkennens und der
Macht, die Menschen unerreichbar sind,
in eines anderen Willens Allgewalt gegeben
seien. Mit dieser Folgerung jedoch ist schon
43 Der Weg zu Gott
ein Vorstellungsgebilde aufgerichtet, das all‐
zuleicht auch wieder umgestossen werden
kann, da ihm die Fundamente mangeln auf
denen jene Wahrheit ruht, die solches folgern
lässt....
.Mag auch das Denken und Erschliessen Vor‐
stellungsgebilde schaffen, die als der Wahrheit
bestes Gleichnis gelten können: ‒ die Wahr
heit selbst, soweit sie hier in Frage steht,
wird niemals zu erdenken oder zu erschliessen
sein! ‒
.Letzte Wahrheit ist hier allem Denken
hoch entrückt und bleibt dem Denken ewig
unerreichbar, es sei denn, dass der Mensch
in sich der Wirklichkeit begegne und im
wirklichen Erleben innewerde was er sucht,
um es dem Denken dann als Gabe darzu
bieten. ‒ ‒ ‒
.Unzähligemale hat man sich «Gott» erdacht
und glaubte im Denken die Gottheit gefun
den zu haben.
.Auch im sublimsten Denken aber wurde nur
ein Götze aufgerichtet nach des Menschen
Vorbild: ‒ ein Vorstellungsgebilde, das ‒
44 Der Weg zu Gott
allein nur in der Vorstellung der mensch
lichen Gehirne ‒ als sinnlich-unsinnlicher
Schemen west...
.Wahrlich, es ist nur allzubegreiflich, dass es
keiner Zeit an Menschen fehlte, die einem sol‐
chen «Gotte» ihren Glauben versagten, ‒ allein,
fast unbegreiflich bleibt es, dass ein solcherart
erdachtes Blendwerk immer wieder Gläubige
fand, die sich vor ihm neigten! ‒ ‒
.Es waren die Wenigsten nur zu allen Zeiten,
die hier weder leugneten noch glaubten, sondern
sich völlig von dem erdachten Götzen
kehrten, um ihren lebendigen Gott in sei‐
ner Wirklichkeit in sich zu erleben.
.Was so erlebt wird, spottet freilich jeder
Vorstellung!
.Kein Vorstellungsbild lässt sich schaffen,
das diesem Erlebten gleichen würde! Durch
keinen Gedanken ist es darzustellen und in
keinem Worte wird es mittelbar! ‒
.Der Erlebende selbst nur weiss darum,
und weiss ‒ durch das Erlebte allein ‒ dass er
wahrhaft das erlebt, was nicht nur den Namen
trägt, als sei es «Gott», sondern was Gottheit
45 Der Weg zu Gott
in sich selber ist von Ewigkeit zu
Ewigkeit...
.Hier hat der Zweifel, der des Denkens
wacheste Erkenntnis noch benagt, für immer
jegliche Gewalt verloren! Es ist ein
Innewerden des innersten Lebensgrun
des im eigenen «Ich». ‒ ‒ ‒
.So wie ein Licht, entzündet in einer bunten
Lampe, der bunten Scheiben Farben zeigt und
dennoch sich selbst im Innern der Lampe
nicht färbt, so tritt die Gottheit in das
Innerste des Menschen ein, ‒ bekundet sich
in ihm in seiner individuellen Weise, und bleibt
doch was sie ewig war und ist. ‒
.In solcher Wirklichkeit mit seinem Ur‐
grund eng vereinigt, erkennt des Menschen irdi‐
sches Bewusstsein erst die wirkliche Wahrheit
und dieser ewigen Wahrheit Wirklichkeit!
.Hier erst wird ihm bewusst, was Gott ist in
Wahrheit und Wirklichkeit! ‒ In graues
Dämmerdunkel sinken hier alle früheren Vor
stellungsbilder von Gott! Der so die Gott‐
heit in sich selbst erlebt und seine eigene
Wirklichkeit in ihr, der braucht fürwahr kein
46 Der Weg zu Gott
Bild und Gleichnis mehr, und nur wenn Andere
er belehren will, muss er sich Bild und Gleichnis
für die Anderen schaffen, damit sein Wort ihr
inneres Erfühlen wecken könne. ‒
.Ein Stammeln aber und unbeholfenes
Deuten muss seine Rede dennoch bleiben, auch
wenn er mit allen Bildern der Sprache von sol‐
chem Erleben Kunde bringen will...
.Nur der allein, der in solcher Weise seinen
lebendigen Gott in sich erlebte, weiss in
gewissem Wissen um Gott, so wie auch er
allein erst um sich selber in gewissem
Wissen weiss! ‒ ‒ ‒
.Doch ist auch diese hohe Stufe erst nur Vor
bedingung aller weiteren Entfaltung in
der geistigen Welt, wenn auch nur Wenige zu
allen Zeiten, während ihres Erdenlebens diese
Stufe erreichten, oder gar sie überstiegen. ‒ ‒
.Verbrechen ist es, von Gott zu reden, und
sei es in den wundersamsten Worten, so der
Redende diese Stufe nicht mit aller Sicherheit
unter seinen Füssen weiss!! ‒
.Hat er sie aber erreicht, so weiss er auch, ob
er zur Lehre wahrhaft berufen ist, und nur
47 Der Weg zu Gott
der Berufene wird Gottes Namen nicht ent
weihen.
.Ihm wird «gegeben» was er reden soll, von
denen, die hier mehr als er erhalten haben, da
sie vor Jahrtausenden schon auf der Bahn ge‐
funden wurden, die er erst heutigen Tages be‐
tritt. ‒ ‒
.Es ist unmöglich, seinen lebendigen
Gott in sich selbst zu erleben, ohne der Füh
rung der älteren Menschenbrüder aus
dem Geiste her bewusst zu sein...
.Auch sie mussten einst erst unter solcher
Leitung den Weg betreten, bis sie in sich selbst
dann die Einigung fanden in ihrem lebendigen
Gott. ‒
.Weit mehr aber wurde von ihnen verlangt,
die Helfer aller nachtumdrohten Menschen‐
seelen werden sollten...
.Weit schwerere Bürde wurde ihnen auf‐
erlegt...
.So wurden sie in ihren Erdentagen
schon befähigt, in die Welt des Geistes
vollbewusst und wachend einzugehen,
‒ in die Welt des wesenhaften Geistes, in
der sie heimisch, der sie kundig waren,
48 Der Weg zu Gott
lange bevor sie als Menschen der Erde ihren
Erdenleib erhielten. ‒ ‒ ‒
.Was manche alte Sage, die du als «Torheit»
bisher verlachtest, dir dennoch, wenn auch
in dunkler Rede, zu sagen hat, so du solches
nun weisst, mag deiner eigenen Erkundung
überlassen bleiben. ‒
.Ich aber kann dir nur sagen, dass ich aus
sicherster Gewissheit rede, als einer, der
nur von Dingen zu sprechen weiss, die er selbst
erfahren hat. ‒
.Du wirst, wenn jemals du in dir zum Erleben
deines lebendigen Gottes kommen willst,
die Hilfe deiner Brüder die bereits im Geiste
leben, nicht umgehen dürfen, wie sie da
jeder umgeht, der zwar alle Höhen durchforscht
und alle Tiefen durchgräbt um Gott zu finden,
aber gebunden bleibt an seinen Eigendünkel,
der ihm stetig zuraunt: dass er menschen
geistiger Hilfe nicht bedürfe.
.Willst du der Wirklichkeit in dir selbst
begegnen, dann wirst du achten müssen,
was die Wirklichkeit ins Dasein rief!
.Nicht du hast zu bestimmen, auf welche
49 Der Weg zu Gott
Weise Gott dir bewusst werden solle, sondern:
Gott!! ‒ ‒ ‒
.Nicht «Menschenhilfe» wird dir, wenn dir
die menschengeistige Hilfe wird, von der ich
rede, sondern Gotteshilfe, die sich des Men‐
schen bedient um dem Menschen zu helfen, da
anders ihm in seiner Tierheit niemals Hilfe
Gottes werden könnte! ‒
.Es wird hier von dir gewiss kein «Glaube»
verlangt, als wenn du meinen Worten um der
Worte willen glauben solltest. Ich sage dir
nur, was unerlässlich ist, willst du aus einem
Suchenden zum Finder werden!
.Nicht mehr wird von dir verlangt, als dass
du der Hilfe, die dich geistig ‒ und nur auf
geistigem Wege ‒ erreichen kann, nicht eigen
willig widerstrebst. Ob meine Worte «Glau‐
ben» verdienen, lass' dir von denen sagen, die
nach ihnen tun, ‒ und dann erprobe selbst ob
du sie bestätigen kannst!
.Ich will dir keinen «neuen Glauben» brin‐
gen, sondern deine Seele zur Gewissheit
führen: ‒ zu jener Wahrheit die sich nur als
Wirklichkeit erfahren lässt! ‒ ‒ ‒
50 Der Weg zu Gott
.Du wirst deiner Seele Kräfte in dir selbst nur
dann also zu sammeln und zu einen wissen,
wenn dir die Ströme geistigen Lebens Kraft
verleihen, die von denen in die Erdennacht
geleitet werden, die aus dem wesenhaften
Geiste wirken, weil sie also wirken müssen! ‒
.Sie selbst sind nur Werkzeuge göttli
chen Willens!
.Nicht ihre Kräfte kannst du empfangen, son‐
dern allein des Geistes Kraft, aus der sie leben
in des Geistes wacher Welt. Umformer sind
sie der Kraft des Geistes, die anders nicht
in dieser Erdentieresdunkelheit dir
fühlbar werden könnte...
.Sie glauben nicht «Höheres» zu sein als du,
denn alles was sie einst etwa glauben
mochten, zu sein, haben sie aufgelöst
in dem, aus dem sie sind...
.Wenn du dieses Sein jedoch dir über
ordnet fühlst, so wisse, dass auch sie es
allem überordnet fühlen, was sie als Erden
menschen einst für sich erreichbar oder
wünschbar wussten. Sie gieren wahrlich nicht
nach Dank für ihre Hilfe, und all ihr «Helfen»
beruht nur in ihrem Sein!
51 Der Weg zu Gott
.Sie werden dir auch keineswegs eine andere
Hilfe bringen können, als jene, die du benö
tigst, willst du in dir zu deinem lebendi
gen Gott gelangen! Wenn dir auch in an
deren Dingen geistige Hilfe werden mag,
so leite sie nicht von deinen helfenden
Brüdern auf der Erde ab! ‒
.Wahrlich, es gibt im Reiche des Geistes auch
noch andere Hilfe, deren auch sie, in ihrem
Erdendasein, oft gar sehr bedürfen! ‒ ‒ ‒
.Weder «Übermenschen» noch Zaube
rer, sind sie in ihrem irdischen Leben allen
Erdennöten ganz in gleicher Weise
ausgesetzt wie du, und sie erkennen darin
hohe Weisheit, dass sie in allen Stücken hier
das Erdenmenschenlos zu tragen haben...
.Wie sollten sie die Seelen die allhier im Dun‐
kel sind, in liebender Verströmung aller Geistes‐
kraft die sich durch sie ergiesst, aus dieser Fin‐
sternis erretten können, wären des Erdenmen‐
schen Nöte ihnen fremd!? ‒
.Durch ihr Erkennen aller Menschen
not wird ja die Kraft des Geistes also um
gewandelt, dass sie den Seelen in der Form
der Hilfe, deren sie auf ihrem Weg zu
52 Der Weg zu Gott
Gott bedürfen erst fühlbar und erfassbar
wird! ‒ ‒
.Du kannst dich wahrlich ihnen anvertrauen,
zumal, da man ja nichts von dir verlangt, als
dass du dich vor jedem Sträuben gegen ihre
Hilfe hütest.
.Dein Wille, der in solchem Sträuben Aus‐
druck findet, würde sonst die Hilfe hindern.
.Bist du aber willig und bereitet, Hilfe zu
empfangen, so wird sie dir auf deinem Wege
werden ohne Ruf und Bitte. Nicht der
Willkür des Helfers ist diese Hilfe anver‐
traut!
.Du musst gefunden werden, so du dich fin‐
den lassen willst!
.Dann aber wirst du mit aller Sicherheit auch
die Wahrheit finden, die du bislang so oft
vergeblich suchtest.
.Erkennen wirst du dann, was meine Worte
immer wieder deiner Seele nahebringen wollen:
‒ dass diese Wahrheit nur als Wirklichkeit
gefunden wird. ‒
*
53 Der Weg zu Gott
JA UND NEIN
.Du kannst nicht erwarten, deinen Weg zu
Gott zu finden, solange du in deinem Erden
leben deinem «Ja» und deinem «Nein» nicht
unverletzlich sichere Grenzen ziehst! ‒
.Dein «Ja» und «Nein» darf nicht durch dei‐
ner Wünsche wechselreiche Ziele jeweils erst
die Richtung finden! ‒
.Noch weniger darf deiner Triebe erden‐
tierische Gewalt in dir bestimmen, wo dein
«Ja» gesprochen werden soll und wo dein
«Nein»! ‒
.Von deiner Entschiedenheit hängt die
Entscheidung deines Schicksals ab, und
du allein nur wirst dein Schicksal zu tragen
haben! ‒
.Sobald du dich entschieden hast, dem
Schein dich zu entwinden um das wache Sein
dir zu erwirken, wird alles was dich noch ver‐
54 Der Weg zu Gott
leiten will, ein Anderes zu scheinen als du
bist, stets deinem «Nein» begegnen müssen.
.Sobald du dich entschieden hast, den
Weg zu Gott zu gehen, wird nichts an deinem
«Ja» noch Stütze finden dürfen, was dich be‐
hindern könnte deiner Seele höchste Höhe
in dir selber aufzusuchen. ‒ ‒
.Dein «Ja» und «Nein» kann deinen Willen
festigen, so dass er wie ein Fels im wilden Wo‐
gen allen äusseren Geschehens steht! ‒
.Bisher warst du vielleicht gewohnt, dein «Ja»
oder «Nein» nicht allzu wichtig zu nehmen? ‒
.Je nach deiner Wünsche Begehr wurde dein
«Nein» recht schnell ein «Ja», und dein «Ja»
zum «Nein»...
.Wie wäre dies auch vermeidbar gewesen, da
du unstät allenthalben suchtest, und den einen
Weg, dem all dein Suchen galt, nicht finden
konntest!
.Nun aber wird dir der Weg gezeigt, und
dein schweifendes Suchen ist am Ende.
.Nun wird wahrlich Weniges nur für dich von
gleicher Wichtigkeit sein, wie dein «Ja» oder
«Nein»! ‒ ‒
.Du wirst dich bestimmen müssen, so dass
55 Der Weg zu Gott
von diesem Tage an dein «Ja» ein unbeirr
bares «Ja» sei und dein «Nein» ein un
bestechliches «Nein»!
.Bevor du dich selbst zu solchem «Ja» und
«Nein» bestimmst, wirst du in bedachtsamer
Wahl zu wählen haben, was dein «Ja» erhalten
soll und wo dein «Nein» zu gelten habe...
.Dann aber soll dein «Ja» und «Nein» durch
keine Macht der Erde mehr zu berücken sein.
.Selbst wenn du noch irren solltest in dei‐
ner Selbstbestimmung, wird dein Irren wenig
nur zu besagen haben, ward es durch den
Willen zu deiner höchsten Höhe be‐
stimmt. ‒
.Nur Unbestimmtheit ist vom Übel; nur
Unentschiedenheit gereicht zum Verderb!
.Siehe, es wird dir auch fürderhin nicht an
Gründen fehlen, dein selbstbestimmendes «Ja»
und «Nein» gar oftmals noch vertauschbar
zu wünschen, und gerne würdest du zuweilen
auch ins Unbestimmte flüchten! ‒
.Darum wäge weise, bevor du dich bestimmst,
denn jeder Tag stellt seine Frage nach
deinem «Ja» und «Nein», und eines jeden
56 Der Weg zu Gott
Tages Frage wird durch dein bleibendes «Ja»,
‒ durch dein bleibendes «Nein», ‒ entschie‐
den werden. ‒ ‒
.So wie du dich bestimmt hast, dort, wo es
für alle Zeiten gelten soll, dir selbst Be‐
stimmtheit zu geben, so wirst du auch von Tag
zu Tag in allen Dingen dieses Erdenlebens,
dir selbst getreu, dein «Ja» und «Nein»
bestimmen müssen. ‒ ‒
.Du darfst nicht erwarten, zu deiner höch
sten Höhe in dir selber hinaufzufinden,
wenn du nicht weisst, wo dein «Ja» sein soll
und wo dein «Nein». ‒
.Du darfst nicht erwarten, zu deiner höchsten
Höhe zu gelangen, solange noch dein «Ja» dem
erdentierischen Behagen sich verdingt,
wo nur dein «Nein» dich aus der Tiefe lösen
könnte...
.In einer Stunde der Einkehr bei dir selbst,
frage dich sehr genau, was bisher dein «Ja»,
und was dein «Nein» erhielt? ‒
.Frage dich aber auch weiter: ‒ wo du in Un
entschiedenheit bisher verblieben bist, um
stets nach deinen trüben Gelüsten, dich bald
57 Der Weg zu Gott
zu einem «Ja», bald zu einem «Nein»
entscheiden zu können!? ‒
.Lass' dich nicht erschrecken, wenn du also
sehen musst, dass der grösste Teil deines Hauses
auf schwankendem Grunde ruht!
.Du sollst ja jetzt den Grund auf dem die Fun‐
damente ruhen, untersuchen, damit du ihn
allenthalben befestigen kannst durch neue
starke Pfähle!
.Wir können aber hier auch jedes Bild bei‐
seite lassen:
.Es handelt sich für dich um eine zu errei‐
chende Bestimmtheit deines Willens,
durch die hinfort entschieden werden soll, was
dein «Ja» erhalte, oder durch dein «Nein»
aus deinem Leben zu entfernen sei.
.Es handelt sich auch keinesfalls um «Welt
bejahung» oder «Weltverneinung», son‐
dern um dein engbegrenztes Erdenleben
und die Form in der du es leben sollst!
.Du sollst dich bestimmen, es so zu leben,
dass alles was dich in dir selbst zu Licht
und Läuterung erheben kann, dein
«Ja» gewiss hat, wie denn alles, was dich
etwa niederziehen könnte, mit aller
58 Der Weg zu Gott
Sicherheit stets deinem «Nein» begegnen
muss. ‒ ‒
.Bist du selbst erst bestimmt, so wird auch
jede Entscheidung die dir nahe kommen kann,
«von selbst» in gleicher Art Bestimmung
finden. ‒
.Dein «Ja» und «Nein» im Alltagsleben
wird nur ein Abbild dessen sein, was in dir
selbst dein «Ja» erhielt und was deinem
«Nein» sich beugen musste.
.Sorge darum: in dir selbst dein «Ja» und
«Nein» zu sichern!
.Alle andere Sorge ist hier vom Übel! ‒
.Auch wenn du bestimmt bist in dir selbst,
so dass nichts Äusseres dich mehr bestimmen
kann, so wirst du dennoch nicht erstarren
müssen.
.Heute kann eine Entscheidung dein «Ja»
verdienen, die du morgen durch dein «Nein»
beantworten musst...
.Heute kann dein «Nein» dich aus der Tiefe
retten, wo morgen dein «Ja» allein dich höher
führen wird...
.Dein eigenes Wachsen wird sehr oft von dir
59 Der Weg zu Gott
fordern, dass du wechselst in deiner Ent‐
scheidung.
.Bist du aber ein für allemale in dir selbst
bestimmt, dann wird in solchem Wechsel
dennoch stets ein Beharren sein.
.Du wirst in allem Wechsel stets beharren
bei deinem eigenen «Ja» und «Nein» in dir
selbst, und wie auch jeweils deine Entschei‐
dung fallen mag, ‒ stets wirst du nur nach
deiner bleibenden Bestimmtheit ent‐
scheiden. ‒
.Dem Äusseren nach kannst du heute an
ders als gestern entscheiden, dieweil die äus
seren Bedingnisse anders wurden, allein dein
«Ja» und «Nein» darf auch im Wechsel nur
bestimmt sein durch dich selbst: ‒ durch
deine Selbstbestimmtheit, die du dir für
alle Zeit gegeben hast, als du die unverrück‐
bar festen Grenzen setztest deinem allbe
stimmenden «Ja» und «Nein». ‒ ‒
.Es geht nicht an, dass du dich selbst betörst
und heute «Ja» sagst, morgen aber «Nein»,
nur weil das eigene Behagen, oder deiner
Wünsche Neigung dich zum Wechsel der
Entscheidung überreden wollen!
60 Der Weg zu Gott
.Auch keines anderen Menschen «Ja» oder
«Nein» darf das deine umstimmen können,
sobald du einmal in dir selbst dich so be
stimmtest, wie es dein hohes Ziel verlangt.
.Wer nur im Irdischen sein Erdentier er‐
leben will, der wird ein anderes «Ja» und
«Nein» bekunden als ein Anderer, der dieses
Erdendasein nutzen möchte um die höchste
Weisheit die sein Denken ihm erschliessen
kann, hier zu erreichen.
.Und wieder anders wird das «Ja» und
«Nein» des Toren sein, der einem selbst
geschaffenen Götzen dient. ‒
.Du aber, der du den Weg zu Gott in dir
finden und beschreiten willst, wirst dich zu ei‐
nem «Ja» und «Nein» in dir bestimmen müs‐
sen, das auch dieses hohen Zieles würdig ist.
.Der Anderen «Ja» und «Nein» kann dir
dabei nicht helfen, auch wenn es sich um
Andere handelt, die du hoch verehrst, ‒ es sei
denn, sie hätten gefunden, dort wo du noch
suchst, und wüssten dir also zu sagen, wie
dein «Ja» und «Nein» in dir Bestimmtheit
finden müsse, damit du, gleich ihnen, einst
dein Ziel erreichen könntest. ‒ ‒
61 Der Weg zu Gott
.Es werden gar wenige sein, deren «Ja» und
«Nein» dir in solcher Weise helfen kann!
.Weit zahlreicher aber sind jene, die dich zu be
stimmen suchen nach ihrer Art, obwohl ihnen
selbst noch jegliche Bestimmtheit man
gelt, sei es im guten, oder verwerflichen Sinn. ‒
.Sie sind deine grösste Gefahr, da dir ihre
innere eigene Unbestimmtheit nicht offen
bar wird...
.Du wirst sie noch mehr zu meiden haben,
als alle die dein hohes Ziel verlachen, weil ihre
niedere Bestimmtheit nur das Niedere kennt
und anerkennt!
.Dort, wo dir das «Ja» der Anderen mit
klarer Bestimmtheit als dein «Nein» ent‐
gegentritt, hast du ebensowenig zu fürchten wie
dort, wo der Anderen «Ja» deinem «Ja» und
der Anderen «Nein» deinem «Nein», soweit
dies möglich ist, entspricht.
.Aber hüte dich vor allen, die dir
stetig nach dem Munde reden!
.Hüte dich vor allen, die ihre Rede auf ein
«Nein» hin richten und wenn sie sehen, dass
du ein «Ja» erwartet hast, sie alsbald enden
mit einem «Ja»!
62 Der Weg zu Gott
.«Hüte dich vor allen, die da jederzeit «Ja»
mit «Nein» und «Nein» mit «Ja» vertau
schen können!
.Hüte dich aber auch vor der Neigung, dein
eigenes «Ja» und «Nein» den anderen auf
zudrängen!
.So wie du dich bestimmtest, so sollst
nur du selber sein, auch wenn gewiss dir
andere ähnlich werden können.
.Du kannst nur dich bestimmen und nicht
die Aussenwelt!
.Wo du es dennoch versuchst, und so hinaus
greifst über deinen Bereich, wirst du ins
Leere greifen, auch wenn du dich gern über‐
reden möchtest, du hättest auch andere
bestimmt.
.Gewiss kannst du auch andere zu deinem
«Ja» und «Nein» verleiten, so sie noch un
bestimmt sind in sich selbst, ‒ doch wenn du
wähnen wolltest, dass sie hierdurch nun Be
stimmtheit in sich selbst gefunden hät‐
ten, wärest du nur einem töricht-eitlen Wahn
erlegen...
.Von solchem Wahne sehr verschieden ist
63 Der Weg zu Gott
jedoch dein Wissen um die Art und Weise, wie
du ‒ magst du nun wollen oder nicht ‒ die
Anderen von Innen her stets durch die
eigene Bestimmtheit mitbestimmst! ‒
.Du kannst dich nicht im Dasein völlig
isolieren, auch wenn du in die Wüste gehen
wolltest, oder dir im tiefsten Urwald deine
Hütte bauen würdest!
.Auch wenn du von heute an keinen Men‐
schen mehr siehst, bleibst du doch mit den
Menschen eng verbunden!
.Durch unsichtbare Schwingungen die
deines Denkens, Fühlens und Erlebens stets
getreue Boten sind, bleibst du auch aus der
weitesten Entfernung her mit allen eng
vereint, die deiner eigenen Artung ähnlich
sind, und du empfängst von ihnen auf die
gleiche Weise stete Botschaft...
.Wohl bist du dir noch dessen nicht be
wusst, ‒ doch, magst du darum wissen oder
nicht: ‒ nie wird das stetige Geschehen hier
sich ändern lassen! ‒
.So helfen sich alle, die auf gleichen
Wegen sind!
.So wirst auch du den Anderen helfen, die
64 Der Weg zu Gott
sich selbst bestimmen wollen, wenn du
dich in dir selber bestimmst! ‒
.So wird dein eigenes «Ja» und «Nein»
auch Anderen zu ihrem «Ja» und «Nein»
verhelfen! ‒ ‒ ‒
*
65 Der Weg zu Gott
DER GROSSE KAMPF
.Dass du bis heute deinen Gott in dir noch
nicht gefunden hast und dem Lebendigen
in seinem Licht vereinigt bist, mag dir Beweis
genug sein dafür, dass du noch in eines An
deren Gewalt stehst, der dein Gott nicht ist
und nicht du selbst...
.In furchtbarer Bindung bist du gebunden,
und nur in hartem Kampfe wirst du dieser Bin‐
dung ledig werden können! ‒ ‒
.Zuvor aber gilt es, zu erkennen: ‒ wer der
ist, mit dem du zu kämpfen hast?!
.Der dich in unsichtbaren Banden hält,
ist selber unsichtbar, und gerne lässt er sich
von dir ‒ der du ihn fühlen kannst, auch wenn
du niemals ihn ergründest ‒ als «Gott» ver‐
ehren und sich Opfer bringen...
.Er ist fürwahr kein «selbstgeschaffener
Götze» und seine Macht erhält er nicht aus
deinem Glauben!
66 Der Weg zu Gott
.Er ist auch nicht, wie alte Glaubenslehren
wollen, Gottes «Feind» und Gegenspieler, denn
er weiss nichts von Gott, und aller Gottes‐
glaube ist ihm menschliche Torheit. ‒
.Sieht er den Menschen nach Gott verlangen,
so ist er selbst allein sich als ein «Gott» ge‐
wiss und setzt sich selbst als den Verlangten,
‒ erkennt er aber, dass der Mensch in Wahrheit
einen Weg zu suchen unternimmt, auf dem er
seinen Fesseln sich entwinden könn
te, so wird er des Menschen fürchterlicher
Feind und sucht sein Erdenleben zu ver‐
nichten...
.Wären seiner Macht nicht mächtigere
Grenzen gesetzt, so würde wahrlich keiner der
Erdenmenschen je in diesem Erdendasein
zu Gott gelangen können! ‒ ‒ ‒
.Es sprach euch einer derer, die aus dieses
unsichtbaren Herrschers starken Fesseln frei
geworden sind, von ihm, als dem «Fürsten
der Finsternis», ‒ aber ihr wusstet nicht,
von wem er sprach und wisst es noch heute
nicht...
.Wenn man nicht vorzog, das Wort nur sym
67 Der Weg zu Gott
bolisch zu nehmen, dann schuf man einen
Kinderschreck in seiner Vorstellung, dem dieses
Wort entsprechen sollte...
.Der aber, den das Wort vom «Fürsten der
Finsternis» in jenes hohen Meisters bestimmter
Auffassung bezeichnete, ist wahrlich ein
«Fürst» der kosmischen Nacht, auch
wenn seine Herrschaft durch den gleichen Men‐
schen, dessen Mund ihn erstmals so bezeichnet
hatte, gar sehr gemindert wurde. ‒ ‒
.Hier ist die Rede von einer wirklichen
Wesenheit im unsichtbaren physischen Kos‐
mos, der da alles auf der Erde ‒ soweit es irdi
scher Natur ist ‒ irdisch unterordnet
bleibt, bis sie selbst einst mit diesem Planeten
zerfällt: ‒ sich auflöst in unbewusste kos
mische Kraft! ‒ ‒ ‒
.Mit deiner Erdentierheit ‒ die auch dein
Denken mitumfasst, und alles was der Mensch
der Erde jemals an mechanischen Werken
schuf und schaffen wird ‒ bist du durchaus in
dieser Wesenheit Gewalt.
.Sie ist der «Herr der irdischen Natur»
und so auch deiner Erdentierheit Herr, so
dass du wahrlich sie als «Gott» verehren könn‐
68 Der Weg zu Gott
test, wärest du nicht Anderes noch als dieses
Erdentier! ‒ ‒ ‒
.Nur weil du noch Anderes bist als eine
Geburt der Erde, kannst du ihm entrinnen,
und dich, soweit du unvergänglich bist,
über den Vergänglichen erheben! ‒
.Immerhin wirst du auch dann noch mit
deiner Erdenleiblichkeit unter seiner Herr
schaft stehen, aber als einer, der nicht mehr
unbedingt in seine Gewalt gegeben ist, auch
wenn er sie zuweilen bitter fühlen muss. ‒ ‒
.Es ist ein gar grosses Unterfangen, diesem Ge
waltigen des Kosmos Fehde anzusagen! ‒
.Mehr als menschlicher «Mut» gehört
dazu, mit ihm zu kämpfen! ‒
.Und dennoch wirst du diesen Kampf er
öffnen und bestehen müssen, ‒ diesen Kampf,
der erst dann ein Ende findet, wenn das
Erdentier in dem du lebst, dereinst von dir,
dem Unvergänglichen, sich löst. ‒ ‒ ‒
.Gar mancher blieb schon auf der Walstatt,
der da mit grosser Gebärde sich erkühnte,
diesen Kampf zu kämpfen und nicht wusste,
mit wem er focht...
69 Der Weg zu Gott
.Auch hier ist dir hohe Hilfe nötig, wenn du
im Siege bleiben willst, solange du noch auf
der Erde lebst. ‒ ‒
.Hier ist der Kampfplatz keineswegs nur in
dir selbst!
.Auch von aussen her wird dir harter
Kampf geboten, und du wirst stetig dich be‐
währen müssen in der blossen Gegenwehr,
denn die Eröffnung dieses Kampfes deiner
seits kann niemals Angriff sein, sondern nur
Absage an den Herrn des Erdentieres,
das dir fürderhin ein irdisches Werkzeug
werden soll, während du vordem dich, den
Unvergänglichen, ihm unterordnet hattest.
.Nie wird der Fürst der finsteren Materie
dir willig überlassen, was unter seiner
Herrschaft steht, und was du dennoch dei
nem Willen dienstbar machen musst, willst du
in diesem Erdenleben schon zu deinem
Gott gelangen in dir selbst! ‒ ‒ ‒
.Er wird auch nie dein Tun «begreifen»
können, es sei denn als Vermessenheit,
denn ihm ist alles Geistige, und somit auch
dein Gott, ein Hirngespinst der einzigen aus
allen den Geburten dieser Erde die in seine
70 Der Weg zu Gott
Macht gegeben sind, die ihm trotz allem
«fremd» erscheint.
.Er selbst wird niemals sich im Kampfe
stellen!
.Dazu verachtet er dich viel zu sehr. Im
Kampfe auch wird er des Erdentieres «Fürst»
verbleiben und dich allein durch seine Höri
gen bekämpfen lassen...
.Gar ungleich ist so dieser Kampf, in dem
sich Einer stets mit Vielen messen muss, ‒
wobei denn wieder Viele sind, die ihm allein
schon weitaus überlegen wären, würde er
nicht durch des Geistes hohe Kräfte
immer neu gestärkt. ‒ ‒ ‒
.Es ist ein folgenschwerer Tag, an dem dein
Inneres sich gegen dieses unsichtbaren Fürsten
Macht erhebt ‒ dem ausser seinen eigenen
Scharen auch die Tiefgesunkenen ergeben
sind, die einst als «Meister» aus dem hohen
Leuchten fielen ‒ und sich entschliesst, ihm
nun für alle Zukunft den Gehorsam abzu‐
schwören...
.Zuerst mag es dir leichthin so erscheinen,
als sei dies nur ein kindliches Komödienspiel,
71 Der Weg zu Gott
das du dir selbst bereitest, und ohne jede
Wirkung in den unsichtbaren kosmischen Be‐
reichen.
.Bald aber wirst du anderen Sinnes werden,
und nur zu deutlich wirst du sehen lernen,
mit wem du nun im Kampfe stehst...
.Was aber auch dir nun begegnen möge: ‒
sei unverzagt und wisse, dass dir hohe
Hilfe nahe ist, ‒ auch dann, wenn du schon
glauben möchtest, deine Niederlage sei ge
wiss! ‒ ‒ ‒
.Du wirst nicht unterliegen können, so‐
lange du nur dein Vertrauen in den Sieg
ausschliesslich in der Kraft des Geistes
gründest.
.Die hier unterlegen sind, waren stets zu
sicher ihrer eigenen Kraft, so dass die Hilfe
aus der Kraft des Geistes sich an ihrem
Kampfe nicht beteiligen konnte.
.Nur dann, wenn du der Kraft des Geistes
Anteil lässt an deinem Kampfe, wird sie für
dich streiten...
.Es sind die Schlechtesten nicht und
nicht die Feigen, die solchen Anteil am
Kampfe nicht gewähren möchten. ‒
72 Der Weg zu Gott
.Nicht immer ist es Eigendünkel, wenn ein
Mensch den Kampf allein durch seine eigene
Kraft entscheidbar glaubt. ‒ ‒
.Doch immer ist es menschlich enges Irren,
glaubt der Mensch sich selbst befähigt, ohne
Geisteshilfe hier den Sieg sich zu erkämpfen. ‒ ‒
.Ihm kann dann nicht geholfen werden,
auch wenn er Geisteshilfe dringend braucht,
da all sein Tun die Hilfe abweist, die für ihn
den Kampf zu Ende kämpfen will...
.Wer hier den Sieg für sich errungen
wissen will, der darf ihn niemals aus der
eigenen Kraft erringen wollen!
.Dankbar muss er den Sieg entgegenneh
men, den des Geistes hohe Kraft für ihn
erringt. ‒ ‒
.Stets muss er in sich selbst bewusst sein, dass
sein Wille, diesen Kampf zu kämpfen, alles
ist, was man vom Geiste her von ihm ver‐
langt, dass aber dieser Kampf allein vom
Geiste nur entschieden werden kann...
.Der aber, der aus eigener Kraft den Sieg
erlangbar wähnt, der weiss noch nicht, was hier
der Kampfpreis ist: ‒ der ahnt nicht, dass es
letzten Endes gilt, allhier ein Irdisches der
73 Der Weg zu Gott
erdenhaften Bindung zu entreissen, damit es
sich dem Geiste einen könne. ‒
.Gewiss wirst du auch dann, nachdem durch
Geisteskraft der Sieg errungen ist, mit deiner
erdentierischen Natur dem «Fürsten dieser
Welt» noch dienstbar bleiben müssen, so‐
lange du auf dieser Erde lebst; ‒ allein, es ist nur
das, was einst verwesen wird, das noch in
seiner Hörigkeit verbleibt...
.Was aber über diese, einst verwesliche
Substanz hinaus als Erdenmensch dir zuge‐
hört ‒ wie du auch immer es benennen magst ‒
das wird nunmehr auch nach dem Erdentode
noch dein eigen sein, und wird dir zugehören,
‒ dir, dem Unvergänglichen geeint, ‒ für
alle Ewigkeit...
.So gehe sicher und vertrauend denn in
diesen Kampf, in dem du nur mit Geisteskraft,
durch Abwehr, siegen kannst!
.Du wirst den Sieg gewiss erringen, so du nur
der Kraft des Geistes Anteil lässt an deinem
Kampf!
.Zwar sollst du hier das Deine tun, ‒ doch
ist «das Deine» allzeit nur die Abkehr von
74 Der Weg zu Gott
des Erdendämons kosmischer Gewalt, und
deines Willens Wendung, ihm die Gegen‐
wehr zu bieten ‒ unausgesetzt, in jedem
Augenblicke deines weiteren Erden
lebens. ‒ ‒ ‒
.Wird dieses «Deine» stetig durch dich
selbst getan, dann wird des Geistes hohe
Kraft für dich den Sieg erlangen! Du wirst dein
Irdisches, soweit es nicht verweslich ist,
alsdann mit deinem Geistigen für alle Zeit
vereinen lernen!
.So, in dir selbst geeint, wirst du den
Weg zu Gott in dir nicht mehr verlieren
können, bis du dereinst das hohe Ziel des
Weges in dir selbst erreichst! ‒ ‒ ‒
*
75 Der Weg zu Gott
DIE VOLLENDUNG
.Es sind nicht zwei Menschen auf dieser Erde,
die sich in allem gleichen würden.
.So aber, wie im Samenkorn der Pflanze ihre
künftige Gestaltung schon beschlossen
ruht, so trägt ein jeder Menschengeist in sich
das Urbild seiner einstigen Vollendung. ‒
.Unendlichfältig sind die Lebensformen,
in denen sich Gott erlebt in sich selbst...
.Unendlichfältig spiegelt sich der Gottheit
Leben in den Menschengeistern...
.Unendlichfältig sind die Formen der
Vollendung...
.Du kannst für dich nur deine eigene Voll‐
endung in dir selbst erreichen und eines
jeden Anderen Vollendung kann dir nur zum
Ansporn werden, auch die deine in dir selbst
zu suchen.
.Des Anderen Vollendung ist die deine
nicht und kann dir nie ersetzen, was du in dir
selber versäumst.
76 Der Weg zu Gott
.So stelle dich selbst in das Licht der Ewig‐
keit, damit du erkennst, was in dir nur Voll‐
endung verlangt!
.Lasse alle Eitelkeit beiseite, allen Hoch
mut und alles Begehren, damit du nicht dich
selbst verleitest, eines Anderen Vollendung
zu erstreben und die deine vor dir selbst gering
zu achten! Auch der Grösste der Vollendeten
konnte nur seine Vollendung erreichen, und
du wirst ihm gleich sein an Vollendung,
wenn du einst in deiner Art vollendet bist.
.Hätte er nach Grösse gestrebt, da er von
Grossen wusste unter den Vollendeten, ‒ wahr‐
lich, er hätte niemals seine Vollendung er‐
reicht!
.Dein Ehrgeiz möge dich in dieser Aussen
welt den höchsten Rang erstreben lassen, den
deine Fähigkeiten noch erreichen können, allein
er bleibe deinem Streben nach der geisti
gen Vollendung fern! ‒
.Willst du die dir allein bestimmte Vollen
dung in dir finden, so wisse, dass du nur in
der Vereinigung mit deinem Gott Voll‐
endung in dir selber finden kannst! ‒ ‒ ‒
77 Der Weg zu Gott
.Darum zeige ich dir den Weg zu Gott, auf
dass du dereinst, in der Vereinigung mit Gott,
vollendet werdest.
.Erst wenn du gottgeeint dein Leben leben
wirst, wird es in Gott die Vollendung er
reichen!
.Stets wird es dein eigenes Leben sein, das
sich so erfüllt!
.Du kannst nicht Gottes Leben leben, ‒
wohl aber lebt Gott in dir und du kannst in
Vereinigung mit Gott die höchste Form
deines eigenen Lebens finden. ‒ ‒
.Ein Gleichnis möge dich hier zum Verstehen
führen:
.Betrachte die Lampe in der durch elektrische
Kraft ein haardünner Faden zum Glühen und
Leuchten kommt!
.Noch bist du der Lampe gleich, die der
Kraftstrom noch nicht durchfliesst. ‒ ‒
.Bist du jedoch dereinst zu der Vereinigung
mit Gott gekommen, dann wirst du der Lampe
gleichen, deren sonst kaum sichtbares Aller
innerstes in strahlendem Lichte erglüht. ‒
.Es ist nicht die Lampe selbst, die sich
zum Leuchten bringen kann!
78 Der Weg zu Gott
.Erst wenn der Strom der Kraft sich ihrem
Allerinnersten vereint, kann sie erstrahlen!
.Könnte die Lampe aber sich selbst er‐
fühlen: ‒ sie würde immer nur ihres Aller
innersten innewerden, ‒ wenn auch erglüh
end im Licht, dort wo sie vordem finster
war ‒ und nur in diesem Allerinnersten könnte
der Kraftstrom der sie durchfliesst, ihr zu
Bewusstsein kommen. ‒ ‒
.So wirst auch du stets nur dein eigenes
Allerinnerstes erleben, bist du einst deinem
lebendigen Gott vereint...
.Dein Allerinnerstes wird dann in dir
in strahlender Klarheit leuchten, ‒ durch‐
lebt von der Gottheit lebendigem Licht!
.Nicht du wirst «Gott geworden» sein,
aber Gottes Kraft wird dich durch
strömen...
.Du kannst in aller Ewigkeit nichts anderes
erleben als dich selbst und was in dir Er
lebnis wird! ‒ ‒ ‒ ‒
.Im selben Gleichnis kannst du auch ver‐
stehen lernen, was da mein Wort besagen will,
dass du nur in Gott Vollendung finden wirst
79 Der Weg zu Gott
und dass der Anderen Vollendung niemals
dich vollendet.
.Die Lampe, die der Kraftstrom nicht durch‐
fliesst, mag wohl durch ihre Konstruktion
geeignet sein, ein wundersames Licht in
sich zu offenbaren und dennoch bleibt sie
unerhellt. Ihre Vollendung wird sich erst
erweisen, wenn sie in den Stromkreis einge‐
schaltet ist.
.So kannst auch du dir alle Vorbedingung
zur Vollendung schaffen, ‒ Vollendung aber
wirst du nur erreichen in Vereinigung mit
deinem Gott! ‒ ‒ ‒
.Und wenn der Lampen viele wohl an einem
Orte sind, so werden doch nur immer jene
sich erhellen, durch die der Strom geleitet
wird.
.Der Anderen Leuchten wird die stromlose
Lampe niemals erglühen lassen.
.So kannst auch du nur dann Vollendung
finden, wenn du für dich nach deiner Voll‐
endung strebst, und aller Anderen Vollen‐
dung ist für dich vergeblich da, solange du
nicht selbst in dir die Einigung mit Gott
gefunden hast...
80 Der Weg zu Gott
.Siehe, es gilt, in dir dein ewiges Leben zu
finden!
.Nur in der Vollendung dessen, was in dir
Vollendung finden soll, wirst du es erreichen
können. ‒
.Es soll dir zu Bewusstsein kommen, wie
dein äusseres Alltagsleben in dir zu Be‐
wusstsein kommt, und niemals wirst du das
Bewusstsein deines ewigen Lebens je ver
lieren können, hast du es einmal in dir er
langt...
.Urteile selbst, ob es dir nicht des steten
Mühens wert erscheint, dieses Hochziel zu er‐
reichen?! ‒
.Du wirst gewiss zu Zeiten aller deiner Kräfte
Anspannung bedürfen um es im Auge zu be‐
halten...
.Es wird gewiss von dir so manches verlangt,
was deines Erdentieres Lüsten widerstrebt und
deinen Erdenwünschen oftmals nicht ent‐
spricht...
.Und dennoch würdest du mit alle deinem
Mühen niemals dieses Ziel erreichen, würde
dir, vom Ziele her, nicht Hilfe dargeboten. ‒
.Es kommt so, letzten Endes, alles darauf an,
81 Der Weg zu Gott
ob du auch Willens bist, die Hilfe anzu
nehmen. ‒
.Des Weges Anfang, Mitte und Ziel ist in
dir selbst, und in dir selbst nur wird dir
auch die hohe Hilfe werden! ‒ ‒ ‒
.Du fühlst dann deine Kräfte täglich wachsen,
und was dir erstmals allzuschwer erschien, so
dass du schon verzagen wolltest, wird dir beim
Weiterschreiten kaum noch Anstrengung be‐
reiten.
.Je näher du dem Ziele kommst, desto mehr
wird dir Hilfe zuteil und desto sicherer wirst
du sie erfühlen. ‒
.So wirst du im Schreiten wachsen an
Kraft, denn immer steiler wird der Weg,
bis du endlich den Gipfel des heiligen
Berges erreichst...
.Dort wird dein Mühen alsdann zu
Ende sein! ‒ ‒ ‒
.Doch, glaube nicht, dass auch dein Finden
nun am Ende sei! ‒
.Unendlich ist, was du gefunden hast und
ewig wirst du in ihm Neues finden! ‒ ‒ ‒ ‒
.Mit deinem Gott in dir vereint, wirst du
vollenden, was allein in dir Vollendung
82 Der Weg zu Gott
finden wollte, ‒ und so wirst du dir selbst zu
einem überreichen Funde werden, der in
Unendlichkeit sich nicht erschöpfen
lässt! ‒ ‒
.Dann aber wird das Reich des wesen
haften Geistes sich dir mehr und mehr er‐
schliessen, und von Beglückung zu Beglückung
weiterschreitend, wirst du innewerden, dass du
auf dieser Erde schon inmitten deines eigenen
ewigen Lebens stehst! ‒ ‒ ‒
.In dir hast du alsdann gefunden, was du
einstmals über Wolkenhöhen suchtest und
nicht finden konntest! ‒
.Vollendet, wirst du das Verwesliche
dann der Verwesung überlassen, da dir aus
Unverweslichem die Neugeburt in Gott
bereitet wird! ‒ ‒
.Wahrlich: ‒ hier wirst du ewig geborgen
sein! ‒
.Dein Weg zu Gott war nur der Weg zu
deiner eigenen Vollendung! ‒
*
83 Der Weg zu Gott
ENDE
WELTEN
EINE FOLGE KOSMISCHER GESICHTE
Verlagslogo
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG AG
ZÜRICH
Der bürgerliche Name von Bô Yin Râ war
Joseph Anton Schneiderfranken
2. Auflage
Die erste Auflage erschien im Rhein-Verlag, Basel, 1922
©
1956 Copyright by
Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Zürich 48
Alle Rechte, besonders das der Übersetzung
in fremde Sprachen und Reproduktion der Bilder
sind den Rechtsnachfolgern
des 1943 verstorbenen Autors vorbehalten.
Druck und Einband: Art. Institut Orell Füssli AG, Zürich
INHALT
Zur zweiten Auflage 5 Die Rückkehr 25
Vorwort 9 Die Gesichte 33
Die Führung 15 Ausklang 51
Folge der Bilder (zum Anklicken)
01 Emanation 11 Drang zur Gestaltung
02 «In principio erat Verbum...» 12 Astrallicht
03 «Lux in tenebris...» 13 Sodom
04 «Te Deum laudamus...» 14 Inferno
05 Raum und Zeit 15 «De profundis...»
06 Urzeugung 16 Offenbarung
07 Weltenkeime 17 Erleuchtung
08 Werdende Welten 18 Erfüllung
09 Die Geburt des Kosmos 19 Sieg
10 Labyrinth 20 Himavat
Originalscan
ZUR ZWEITEN AUFLAGE
Die 1922 erschienene erste Auflage von «Welten» ist seit langem ver‐
griffen. Die vorliegende Neuausgabe berücksichtigt kleine, von Bô Yin Râ
selbst vorgenommene Korrekturen.
Im Handexemplar von Bô Yin Râ befindet sich außerdem, später von
ihm angefügt, das hier folgende Gedicht von GIORDANO BRUNO (nach der
Übersetzung von Kuhlenbeck):
Brenn, ich fleh' dich an, mein Leben,
.brenn in die Brust mir...
Daß ich also mich ganz in ein
.Licht sehe verwandelt,
Ganz ein Auge nur bin, ein
.allwärts schauendes Auge,
Dem das Jetzt, die vergangene Zeit
.und die künftige vorschwebt,
Ober- und Unterwelt und das All
.im umkreisenden Ringlauf.
Der Verlag
3 Welten
VORWORT
.In diesem Buche wird dem Worte anschauliches Bild zur Seite treten,
und beides soll vereint der Seele Höhenreiche dir erschließen helfen. ‒
.Du wirst jedoch zuerst bei flüchtiger Betrachtung, ehe noch das Wort
in dir die Seele stimmen konnte, wie man eine Harfe stimmt, vielleicht ver‐
muten können, «neuer Ausdruckswille», wie er zur Zeit, da dieses ge‐
schrieben wurde, in allen Künsten sich versuchte, sei auch in diesen
Bildern Form geworden? ‒
.Ich würde gerne deine Meinung bejahen, wenn dem so wäre.
.So aber reichen die Versuche, das nun Dargestellte zu gestalten, in eine
Zeit zurück, da man noch nichts von solchem neuen Ausdruckswillen
wußte, und ich muß dir gestehen: ‒ ich habe niemals jene Not in mir
verspürt, durch die in unseren Tagen viele Strebende im Reich der Künste
sich berufen fühlen, neue Ausdrucksmittel sich zu schaffen, da die alten
ihrem Drang nach Ausdruck nicht mehr rein und wahr genug erscheinen.
.Wohl kann ich verstehen, was zu solchem Drängen treibt und neue
Wege bahnen heißt, allein mir selbst war das, was ich gestalten wollte,
stets von innen her zugleich mit seiner Form geworden, so daß ich niemals
in mir anderen Drang erlebte, als diese mir gewordene Form zur Dar‐
stellung zu bringen.
*
.Die hier gezeigten Bilder sind nicht anders in mir entstanden, als alles
andere, das jemals in mir Gestaltung finden wollte.
9 Welten
.Was es hier aber darzustellen galt, war an sich schon anders geformt,
so daß die Formen, die sich in den Bildern finden, notwendig aus der
Anregung zur Darstellung erwachsen mußten. ‒
*
.In einer Innenwelt des wesenhaften Geistes, völlig wachbewußt wie in
der Welt der körperlichen Sinne, sind diese Formen mir vertraut wie alles,
was die Erdenwelt mir dinglich gibt.
.Doch während Dinge, die das Licht der Erdensonne trifft, zumeist in
festgefügten Grenzen bleiben, stellt sich dort in jener Geisteswelt die Form
in stets lebendiger Verwandlung dar.
.Während auf Erden alle Form gestaltbar wird aus einem streng fixierten
Blickpunkt her, schaut man in jener Geisteswelt die Formen so, als wäre
man ein Hohlraum, dessen Grenzen tausend Augen bilden...
.Jedoch auch hier ergab sich mir kein Suchen nach der Form der Dar‐
stellung.
.Was ich erlebte, formte sich von selbst zum Bilde auf der Fläche,
und ich versuchte nur, dies Bild von aller Zutat rein, mit den von mir
beherrschten handwerklichen Mitteln immer klarer festzuhalten.
*
.Die Titel dieser Bilder finden sich in dem, was ich in diesem Buche durch
das Wort erlebnisnahe bringen will.
.Sie mögen nur als «Fingerzeige» gelten, um jene «Einstellung» zu fördern,
die vonnöten ist, soll das Beschauen in der Seele Klang und Rhythmus wecken.
.Die Seltenen, die selbst in dieser Geisteswelt, von der die Bilder zeugen,
wachbewußt zu erleben wissen, werden unschwer Selbsterlebtes in den
Bildern wiederfinden.
.Den anderen sei hier gesagt, daß die hier dargestellte Welt des Geistes
erst erfahrbar wird, wenn man die niedere Region okkulter Bilder jener
10 Welten
täuschungsschwangeren Bereiche steter Dämmerung und dunkler Schrek‐
ken längst verlassen hat, aus der sich Medien, Somnambule und Ekstatiker
vermeintliche Bestätigung für die Gebilde ihrer krausen Phantasie zu
holen pflegen.
*
.Da alle Elemente der in diesem Buche dargebotenen Gesichte im tiefsten
Urgrund eines jeden Menschen so verankert sind, daß dort Entsprechungen
dafür sich finden, so lassen sich durch diese Bilder auch die Kräfte wecken,
durch die der Seele «Sinne» sich zu jenem einen Ursinn ineinanderkonzen‐
trieren, der Vorbedingung jedes wirklich echten Erlebens geistiger Gegeben‐
heiten ist. ‒
.Der Erweckung dieses seelischen Ursinnes sollen Wort und Bild hier
dienen...
.Wie weit dies in jedem einzelnen, der dieses Buch gebraucht, erreichbar
ist, wird einzig von dieses einzelnen bereits erreichter Stufe geistiger Ent‐
wicklung abhängig sein.
.Doch vieles kann dabei auch rechte «Einstellung» bewirken.
*
.Will man erlangen, was das Buch zu geben vermag, dann möge man
von vornherein auf jede verstandesmäßige Deutung der dargestellten
Gesichte verzichten!
.Tief innerliches Versenken und Einfühlen nur wird hier die Übertragung der
Hieroglyphen des Gestalteten in empfindbare Seelenbewegung bewirken. ‒
.Stets wird der Wille zu eigener Einfühlung vorhanden sein müssen, soll
seelisches Erleben dem Beschauen der Bilder folgen.
.Dies gilt schon von aller Kunst; doch hier wird dieser Wille in erhöhtem
Maße nötig sein, will man vom Äußeren, das dem Auge sich erschließt,
ins Innere gelangen. ‒ ‒
*
11 Welten
.Sind einst die Kräfte des Schauens wirklich zum Erwachen gelangt, so
wird der Erlebende jeweils nach seiner Art gewiß auch andere Gesichte
haben können, denn was hier zur Darstellung kam, ist nur eine Folge
innerlich verknüpfter Bilder, die mit den Worten dieses Buches vereint,
ein inneres Reich der Seele nahebringen sollen, das ihr durch die Außen‐
welt mehr, als nötig wäre, entfremdet wurde. ‒ ‒
*
.Unter solchen, die mit den Lehren uralter Weisheit schon vertraut sind,
denen ich in meinen Schriften Ausdruck schaffen durfte, werden nur
wenige sein, die dieses Buches Sinn nicht alsbald zu fassen wüßten.
.Erfahrung zeigte mir jedoch, daß auch in Fernerstehenden, zumal wenn
sie in irgendeinem Sinne «künstlerisch» geartet waren, schon nach kurzer
Einfühlung ein Erklingen der Seele anhob, das in urzeithaften Erahnungen
seine Auswirkung fand...
*
.Ich kann und darf, will ich nicht der Seele den Weg verbauen, hier keine
«Erläuterung» der Formen- und Farbenwelt geben, die in diesen Gestal‐
tungen bildhafte Darstellung verlangte.
.Ich muß den Kräften der Seele in jedem einzelnen Beschauer vertrauen.
.Jeder Deutungsversuch ist hier vom Übel; könnte nur das Wesentlichste
durch einen Gedankenschleier verhüllen. ‒
*
.Im magischen Wirken aller Zeiten und Völker waren heilige Zeichen
den Eingeweihten bekannt; aber wenige ahnen, daß diese Zeichen aus
geistiger Anschauung stammten, daß sie in den Reichen des wirkenden
Geistes voreinst gefunden worden waren. ‒
.Hier werden solche Zeichen dir in ihrem ewigen Gestaltungsreich gezeigt!
12 Welten
.Nur wenn du Versenkung in deine Urnatur noch kennst, wird sich die
Kraft dieser Zeichen dir offenbaren!
.Wohl dir, wenn du sie alsdann zu deuten weißt aus ihrer Wirkung auf
deine Seele!
.Dann wirst du wahrlich jeder «Erklärung» ihrer Werte fürder entraten
können!
.Dann wirst du gewiß den Tag zu segnen wissen, der dieses Buch dir in
die Hände gab. ‒
.Ich aber werde mich deines Glückes freuen...
Signatur
13 Welten
DIE FÜHRUNG
.‒ ‒ Suchende Seele ‒ wer du auch sein magst vor dir selbst ‒ ergreife
meine Hand und entschwebe mit mir der längst gewohnten Kerkerhaft,
die dich in deiner Körpersinne enge Fesseln bindet!
.Zu lange schon hast du diese Fesseln getragen, bis sie dir lieb werden
konnten gleich einem königlichen Geschmeide!
.Lerne erkennen, daß nur du selbst die Macht hast, dich zu fesseln, und
daß nur dir selbst die Schlüssel vorbehalten sind, die deine Ketten
lösen! ‒
.Gewinne Mut, die Sicherheit des Kerkers zu verlassen und durch dich
selbst dir deine Freiheit zu erringen!
.Lass' nicht umsonst mich deiner dumpfen Zelle schwere Pforte öffnen!
*
.Bereite dich auf ferne Fahrt in dir noch unbekanntes oder nur geahntes
Land; aber wisse, daß ich dich in deine Heimat führen will, deine Heimat,
die du einst vor undenklicher Zeit verlassen hast und deren lichte Weite
dir nun un-heimlich geworden ist, da du nur Kerkermauern als die Grenze
deines Blickes kennst...
.Du sollst nichts von dem verlieren müssen, was deines Herzens Liebe
fand in deiner Gefangenschaft.
.Alles wirst du nach deinem Willen später wiederfinden, und keiner ist,
der dich berauben könnte, außer dir selbst!
17 Welten
.Aber wenn du alsdann, nach unserer Sternenfahrt, zurückkehrst an
diesen Ort, wird deine enge Zelle sich verwandelt haben in ein lichtes,
strahlendes Gemach in einem Königschloß, und ‒ du wirst «Herr der
Schlüssel» sein...
.Alles, was hier dein eigen war, wird dir auch fürderhin gehören; doch
wirst du wahrlich besseren Gebrauch davon zu machen wissen, und was
bis heute noch allhier im Schmutze liegt, wird dann von jenem Strahlen‐
glanz umleuchtet sein, den du aus deiner Heimat mit dir nehmen sollst
in dieses Erdendaseins dämmerdüstere Gefilde. ‒
.Ich bitte dich: ‒ säume nicht länger an diesem Orte der Gefangenschaft;
sinne nicht ängstlich nach, ob du mir auch wohl zu folgen vermagst!
.Jedes Zaudern hält dich nur unnütz länger in der Gebundenheit. ‒
.Glaube an deine ureigenste Kraft! Nur durch deine eigene Kraft wirst
du dich mit mir erheben können! ‒
.Ich aber will dir nur Führer sein, und deine Heimat schickte mich aus,
dich zu suchen, da du «gerufen» hast...
.Glaube, solange du noch nicht verstehen kannst!
.Glaube, damit du einst zu wachem Wissen kommst!
.Glaube und folge mir nach!
*
.‒ ‒ Endlich, endlich fühle ich deine zögernde Hand!
.Fasse geruhigen Mutes fester zu, damit ich dich sicher führen kann!
.‒ Du fühlst bereits, daß wir uns erheben, aber bald sollst du dorthin
erhoben sein, wo alles, was dir bis heute hoch erschien, tief unter uns
liegen wird...
*
.‒ Schon sind wir emporgestiegen aus Düsternis und dunkler Enge, und
deine Füße fühlen sich von deines Körpers Last befreit! ‒
.Tief unter uns liegt der Erdball mit all seiner grauen Not.
18 Welten
.Denke nicht zurück an das, was du soeben erst verlassen hast, denn
jeder Gedanke an Schweres und Drückendes hemmt deinen freien Flug!
.Dein Hinunterblicken muß dir wie ein Abstoßen sein, damit du auch
aus dem Rückblick Kraft gewinnst, dich zu erheben.
.Alles Zurückgelassene sei dir wie ein nichtiger Traum, dem du glücklich
entronnen bist und der niemals mehr wiederkehren kann!
.Neuem Erleben trägt dich deine Kraft entgegen, und du wirst es nur
dann in dir erfassen, wenn du vergessen kannst, was dir bisher als dein
höchstes Erleben erschien...
*
.‒ Indem ich noch zu dir rede, glaube ich schon zu sehen, wie dir meiner
Worte Wink genügt, um deinen Willen zu lösen.
.Erleichtert schwebst du bereits empor!
.Dein Auge, das noch vor kurzem trübe blickte, gewinnt Glanz und
Leuchten...
.Es wird noch weit heller erstrahlen, je mehr wir dem Lichte nahen, das
deine ursprüngliche Heimat ist, der du vor Aeonen dich selbst entwunden
hast!
.Noch schweben wir im «leeren» Raum, denn nichts ist hier, das du
schon wahrzunehmen vermöchtest.
.Dennoch ist auch hier um dich die Fülle des Lebens ausgebreitet, und
was dir «leer» erscheint, ist nur deinem ungeübten Blick noch nicht
zu fassen.
.Vernimm hier die Wahrheit, daß es in allen Unendlichkeiten keine
«Leere» gibt, daß alle scheinbare «Leere» gedrängt erfüllt von Form und
Leben ist, und daß deine Wahrnehmungsfähigkeit für dieses Leben stetig
wachsen wird, je intensiver dein eigenes Leben sich sublimieren und ver‐
feinern kann! ‒
*
19 Welten
.Wir müssen noch weitaus höher entschweben durch alle Sternen‐
räume!
.Über die fernsten Sonnen müssen wir hoch empor, damit wir in jene
Sphären gelangen, in denen dein inneres Auge dir erwachen soll aus
tausendjährigem Schlaf! ‒ ‒
*
.Schon sind auch die Weltenkreise, die man auf Erden nur als lichte
Nebel am samtenen Himmel klarer Nächte sieht, tief unter uns, und noch
immer hat unser Höhenflug kein Ende gefunden...
.Wir gewahren uns nun in einem unermeßlichen Raum, und du
siehst staunend die gleichen lichten Sternen-Nebel, die tief unter uns
blieben, auch ferne über dir und nach allen Seiten hin uns jetzt um‐
schließen!
.Wir sind wie im Innern einer unfaßbar gewaltigen Kugel, deren äußere
Umgrenzung durch Myriaden von Weltsystemen gebildet wird...
.Inmitten dieses unermeßlichen Raumes aber gewahrst du nun ein neues
Licht, heller als der leuchtendste Blitz, strahlender als das hellste Sonnen‐
leuchten auf tropischen Meeren...
.‒ Ich höre deinen ersten Freudenruf?
.Ja, es ist keine Täuschung: ‒ dein inneres Auge hat sich aufgetan! ‒ ‒ ‒
*
.Fester faßt du meine Hand?
.Du fühlst wohl schon, daß alles bisher Bekannte dich nun verlassen hat
und daß du in diesem Lichte hier erst sehen lernen mußt?!
.Wie jenes Leuchten, das die lange Nacht an den Eispolen des Erd‐
balls erhellt, so lebt auch dieses unendliche Lichtmeer, in dem wir jetzt
schweben, in aber tausend lodernden Strahlen und in wundersamer
Farbenpracht.
20 Welten
.Noch kann dein Auge nichts Formgewordenes in diesem lebenden
Lichte erkennen.
.Dazu bedarf es noch der Zeit und immer höheren Fluges! ‒ ‒
*
.‒ Gewahrst du bereits die ersten schrillweißen Strahlenfunken, die uns
auf unserem Wege entgegenblitzen? ‒
.Wende deine Blicke aufwärts, ihrem Ausgangspunkte zu!
.Erschreckt bebst du zurück?!
.Du fühlst, daß wir längst nicht mehr emporsteigen aus eigener Kraft,
sondern daß jene unbeschreiblich strahlende URSONNE, die du jetzt im
Innersten des kugelförmigen Raumes erblicktest, mit magnetischer Gewalt
uns erfaßte, um uns in ihres Feuerlichtes Mitte einzusaugen!
.Du kannst nicht mehr Widerstand leisten, und während du noch voll
innerem Beben einzuhalten glaubst, bist du mit mir ihren äußern Licht‐
und Flammenhüllen schon immer näher gekommen...
*
.‒ Ich begreife deine Furcht, auch wenn ich sie längst nicht mehr teile.
.Auch ich habe einst dieses Erschauern durchlebt, als ein Anderer an
meiner Seite mich zum erstenmal in diese Region entführte.
.Aber ich sagte dir nur letzte Wahrheit, als ich dir versprach, dich in
deine Heimat zu führen, obwohl dein ganzes Sein jetzt in Furcht vor
Vernichtung erbebt. ‒ ‒
*
.‒ Hörst du die dröhnenden Donner, die uns jetzt entgegenschallen, so
laß dich auch dadurch nicht ängsten!
.Auch durch diesen «Kreis der Schrecken» wird uns die Kraft dieser
Ursonne schneller emporziehen, als du vermuten magst.
21 Welten
.Bleibe nur deiner selbst gewiß und deines Willens, in deine Heimat zu
gelangen.
.Gib alles Fürchten und Vermuten auf, und selbst die Sorge um dein
Sein! ‒
.Sein oder Nichtsein muß dir gleichen Wertes dünken, wenn ich dich
nicht vergeblich auf diesem Höhenflug begleitet haben soll! ‒ ‒
.Alles, was du selbst dir warst, was du selbst aus dir machtest, mußt du
opfern wollen.
.Du wirst gewißlich in diesem Urfeuer nun verwandelt werden, du
magst wollen oder nicht wollen, aber hier wird es sich nun erweisen, wer
du bist! ‒ ‒ ‒
.Du wirst hier verbrennen, um als leuchtender Stern zurückgesandt zu
werden in die Finsternis, damit sie von deinen Strahlen ewiges Licht
empfange, oder aber: ‒ dein schwankender Wille wird dir zum Verderben
und bringt dir Aeonen erneuter Qual...
.Niemals hätte ich dich aus deinem Kerker geholt und zu diesem Fluge
überredet, wenn du nicht selbst mich vorher tausendmal «gerufen» hättest,
in den einsamen Nächten deiner Erdengefangenschaft. ‒ ‒
.Nun ist dir kein Rückweg mehr möglich! ‒ ‒
.Nun muß es sich zeigen, ob du schon zum «Rufen» berechtigt warst!
.Nur wer zu früh nach Erlösung schrie, kann hier seinen Untergang finden
und das Wissen um sich selbst für Aeonen in diesen Urfeuern verlieren. ‒
.Auch er wird einst wieder als «Funke» in den ewigen «Raum» gesandt,
aber er war noch nicht reif geworden, heute schon ein Stern zu sein und
die Urfeuer dieser Sonne, die seine Heimat ist, konnten ihn nicht zu
seinem höchsten Sein aufs neue gebären. ‒ ‒
*
.Doch löse jetzt die Furcht von deinen Schultern!
.Furcht hat noch niemals ein großes Ziel erreicht! ‒ ‒
22 Welten
.Solange die Furcht dich bedrückt, wirst du an diesem Ur-Ort nicht
deine Stätte finden, denn du willst noch nicht dich selbst zum Opfer
bringen, um dich selbst zu finden! ‒
.Kennst du die Worte des Meisters nicht, daß deine Seele dir verloren
sein wird, wenn du sie erhalten willst, daß du dich nur gewinnen kannst,
wenn du die Fesseln lösest, die an dich selbst dich binden? ‒ ‒
*
.Wohl darf ich dir noch nicht Gewißheit geben, daß du die höchste
Prüfung, die dir jetzt bevorsteht, ertragen wirst; allein, du wärest wohl
nicht hier, wenn dich der Absturz hier bedrohen würde...
.Schwerlich wärest du mir gefolgt, als ich eintrat bei dir auf dein
«Rufen» hin, denn du hättest anderes erwartet, als das, was ich dir raten
konnte. ‒
.Die noch nicht berechtigt zum «Rufen» waren und dennoch «riefen»,
suchten noch immer die düstersten Winkel ihres Kerkers auf, wenn einer
der unseren an ihre Pforte klopfte, und nur vermessenste Verwegenheit
hat dann und wann der Führung freventlich die Hand gereicht, obwohl
sie sich noch nicht bereitet wußte. ‒ ‒
.Du aber bist nur zögernd mir gefolgt, und darum glaube ich, daß du
dir mehr vertrauen darfst, als du dir zugestehen möchtest...
.Bereite dir nicht selber Qual und vertraue deinem Stern!
.Dem Stern, der deine höchste Formung darstellt und in den gewandelt
du dann wiederkehren sollst, wenn du dich selbst in diesem Sonnenfeuer
von dir selbst befreitest! ‒
.Wolle nicht mehr ein Anderes sein ‒ neben diesem Sonnenfeuer, das
alles Sein in sich beschließt, und es wird neu dich gebären aus seiner Kraft,
so daß du ewig in ihm dein Leben hast! ‒ ‒ ‒
*
23 Welten
.Ich aber lasse dich, für deine Wahrnehmung, nun allein, denn in Feuer
und Leuchten muß ich mich wandeln, dessen Anblick du jetzt noch nicht
ertragen könntest!
.Meine Stätte im Innersten dieser Ursonne suche ich jetzt auf, und wenn
du mich wiederfindest, wirst auch du als ein Stern mich zurückgeleiten in
das düstere Reich der Erde, um denen zu leuchten, die dort des Lichtes
bedürfen.
.Du wirst nicht wie ich diese Reise tausendfach wiederholen müssen,
und kein Gelöbnis bindet dich an meine Pflicht; allein, dein Sternenlicht
wird aus dem gleichen Sonnenfeuer dir gegeben sein, das mir, längst ehe
ich als Mensch der Erde dir begegnen konnte, einst mein Leuchten
gab! ‒ ‒ ‒
.Gehe nun in deine Heimat!
.Lass' dich verbrennen im Feuerlicht, ‒ und als ein Sohn des Lichtes
kehre erneut mir zurück! ‒ ‒ ‒
.Im innersten Herzfeuer dieser Ursonne will ich deine Geburt erwarten,
und hier in ihren Strahlenreichen sollst du den, der zu dir sprach, dann
hüllenlos in seiner ewigen Gestalt erblicken...
.Ziehe ein in deine Vollendung, auf daß der Erde in ihrer grauen Not
ein neuer Stern geboren werde! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
24 Welten
DIE RÜCKKEHR
.‒ So finde ich dich nun hier wieder, du Siegreicher, als leuchtender
Stern aus ewigem Lichte neu geboren!
.Wieder sind wir am gleichen Ort, an dem ich dich verlassen hatte, um
in diese Strahlenform mich zu wandeln, in der du nun mich erblickst,
nachdem du selbst in strahlendes Licht dich gewandelt hast.
.Nun kannst du selbst ermessen, weshalb du vorher mich in dieser
Lichtform nicht ertragen hättest...
.Im gleichen Urfeuer sind wir nun bewußt vereinigt durch alle Ewig‐
keiten!
.Und nun weißt du auch, daß jeder, der hier «Meister» ist, eines
Vollendeteren «Schüler» sein muß, und daß die Stufenleiter dieser
Hierarchie kein Ende haben kann, weil Absolutes in sich selbst kein
Ende kennt und jeder «höchsten» Stufe eine höhere erscheint, in die
sie wieder selbst sich wandelt, wenn sie ihr Höchstes in sich selbst ver‐
wirklicht hat. ‒ ‒ ‒
.Wir sind beide noch die untersten Stufensprossen dieser Himmels‐
leiter!
.Mir ward, wie du weißt, das bindende Gelöbnis einst auferlegt, den
Stromkreis des ewigen Geistes, aus dem der Erdenmensch lebt, nicht eher
zu verlassen, als bis auch der letzte meiner Menschenbrüder einging
ins Licht wie du: bis er der Stufenleiter ewig leuchtender Sterne ver‐
einigt ist. ‒
27 Welten
.Darum muß ich gleich dir nun zurück in die Erdennacht, und auch
wenn mein erdenmenschliches Kleid einst ausgetragen ist, darf ich den
geistigen Stromkreis des Erdenmenschen niemals verlassen, solange der
Erdball noch Menschen tragen wird. ‒ ‒ ‒
.Du aber wirst, nachdem einst der Erde Fessel dich nicht mehr bindet,
sogleich zur nächsten Stufe dich wandeln, als die dein geistiges Auge mich
hier erblickt; doch wirst du keineswegs in ihr verharren müssen... Sie ist
für dich auch nur Form des Empfindens, nicht was sie mir ist: ‒ ureigenster,
selbstgewollter Arbeitsbereich!
.Sobald du in ihr deine höchste Vollendung erreichst, wirst du die
nächste höhere Stufe über dir erblicken, und alsobald auch wirst du dich
selbst in diese höhere Stufe wandeln, so wie du dich in meine Form dereinst
verwandelt haben wirst, wenn du befreit vom Erdentiere dich in deiner
höchsten Vollendung gefunden hast.
.In aller Ewigkeit wird dieses stete «Empor» kein Ende finden, und
wahrlich: schon die höchste Vollendung jeder einzelnen Stufe, die über
uns erscheint, braucht immer längere Zeitenfolgen, bis dann selbst das,
was wir Menschen «Ewigkeit» nennen, nur ein winziger Bruchteil ist jener
Zeit, in der sich die höheren Stufen erst zu ihrer höchsten Vollendung
formen. ‒ ‒ ‒
.Hier ist jedes menschliche Wort, das dieses ewige Geschehen dir be‐
greifbar machen möchte, nur ein Stammeln, und erst wenn du selbst zur
«Ein-sicht» in dies alles fähig wirst, kannst du durch eigene Anschauung
zu letzter Erkenntnis kommen. ‒
.Die Liebe der Ursonne, die dich nun zum ewigen Stern aus sich geboren
hat, lebt jetzt in deiner Form in dir, und nur aus dieser Liebe wirst du die
Kraft der Ein-sicht erhalten!
*
.Jetzt aber wollen wir, bevor wir wieder zurück zu den Sphären der
äußeren Weltensysteme, und dann noch weit tiefer, ins Äußere hinaus,
28 Welten
hinab zur Erde uns senken, noch eine kleine Zeit in diesem Inneren des
Reiches ursächlichen, ewig-wirkenden Werdens verweilen und seine Wun‐
der schauen!
*
.‒ Erstaunend siehst du nun, daß hier, wo dir vordem nur lodernde
Strahlenmeere in allen Farben erschienen waren, eine neue Welt ur‐
sprünglicher Formen dich umgibt. ‒
.Jetzt siehst du alles erfüllt hier mit formenden Kräften, die selbst ge‐
formt sein müssen, damit sie weiterschaffend Formen bilden können. ‒ ‒ ‒
Noch ist dir das alles ein Chaos, und du weißt nicht, wie du es deuten
sollst!
.Bald aber wirst du es zu entwirren wissen, wenn du dein inneres Auge
nun gebrauchen lernst!
.Gar vieles wird sich dir dann enträtseln, das hieroglyphengleich dich
hier umgibt, und du wirst zuletzt hier auch den «Schlüssel» finden, der
jene Fesseln löst, die du auf Erden, als Mensch der irdischen Erscheinung,
tragen mußtest. ‒
.Dein tiefstes Sein wird dir so «erschlossen» werden!
*
.Tausendfach verschlungen und ineinanderverwoben tauchen unzählige
Bilder innersten Geschehens hier vor dir auf.
.Dir sind es noch «Bilder», weil dein Sinn noch nicht geschult ist, ur‐
sächliches Geschehen zu erfassen, und weil du gewohnt bist, alles dir zum
Bilde formen zu müssen, bevor du verstehen kannst. ‒
.In Wahrheit ist das, was du hier siehst, nur das Walten jener urgründig‐
verankerten Kräfte des Werdens, deren Wirkung alles ist, was je ge‐
worden ist...
.Du kannst deshalb auch alles je Gewordene hier wiederfinden und
erkennen lernen, und bevor du nicht zu erkennen vermagst, was hier zu
29 Welten
erkennen ist, hast du mit aller irdischen «Erkenntnis» dir nur trübe
täuschende Schleier geschaffen, auf die deine Phantasie jene Formeln
malt, die dir deine Nichterkenntnis verbergen sollen. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
*
.Unter all diesem tausendfältigen Geschehen wird dein innerer Sinn,
den du nun erlangtest und in dem hier alle anderen Sinne vereinigt sind,
gar bald Einzelnes aus der verschlungenen Vielheit des Ganzen zu lösen
wissen.
.Urweltliches, schöpferisches Geschehen wird in seinen einzelnen Phasen
sich dir enthüllen!
.Urzeitig Fernes wird dir zur Gegenwart werden!
Alles, was Menschen jemals erdenken konnten, ist nur Schatten und
Abbild dessen, was hier ist! ‒ ‒ ‒
.Erst wenn du dies weißt, wird dir diese Welt der farbenreichsten Wunder
ihre inneren Geheimnisse zeigen...
.Blicke nicht auf Irdisches zurück und suche nicht durch Vergleiche das
zu enträtseln, was nur ein Einmaliges ist und nur aus seiner eigenen Form
heraus sich erkennen läßt!
.Du wirst Zeichen, Formen und Farben sehen, denen manches
auf Erden gleicht, und dennoch darfst du nicht vergleichen wollen,
wenn du nicht verwirren willst, was in sich einfach und ohne Zweites
ist! ‒
.Es ist eine neue Sprache, die du hier verstehen lernen sollst, und erst
wenn sie in dir die gleichen Klänge weckt, wirst du allmählich ahnen, was
sie dir zu sagen hat. ‒ ‒ ‒
.Uralte Weisheitsbücher wissen dir auf Erden von dieser Sprache zu
künden, aber du warst zu weit von dem Wissen derer entfernt, die sie
einst niederschrieben, und so hast du stets deinen Text dem der Weisen
unterschoben...
30 Welten
.Wenn du hier nun erkennen lerntest, wirst du mit Staunen später deine
genügsame Torheit belächeln und wirst nicht begreifen können, daß dir
der Wortlaut dieser Bücher einst dunkle Rätsel barg, oder daß du ver‐
messentlich zu einer «Erklärung» dich berechtigt fühltest, wo Weisere als
du dir restlose Klarheit geben wollten. ‒ ‒ ‒
.«Das Wort des Herrn ergeht in alle Lande», aber man muß dieses
Wortes Klang erst zu vernehmen wissen, bevor man den Sinn dieser
Sprache deuten will...
.Wenn nicht so viele in ihrer Taubheit gedeutelt hätten, würde wahrlich
weniger Verwirrung auf Erden herrschen!
*
.Es gibt keine Kraft in den unendlichen kosmischen «Räumen», die
nicht zugleich als Ton und Zeichen ihre Art dir offenbaren könnte.
.Hier aber, wo alle Sinne in einem Sinn verschmolzen sind, vernimmst
du auch Ton und Zeichen in einer Wahrnehmung.
.Erkenne hier Form und Farbe, ‒ und Fühlen, Geschmack, Geruch und
Ton wird alsogleich in dir lebendig sein! ‒ ‒ ‒
.Da auch du selbst durch die gleichen Kräfte, die du hier wahrnimmst,
gestaltet bist, so muß sich in dir für alles, was sich dir zeigt, eine innere
Antwort finden.
.Du darfst in das, was du hier siehst, nichts «hinein-legen» wollen, son‐
dern mußt in völliger Ruhe und Sammlung verharren, bis aus dir selbst
die Antwort kommt!
.Ist dir die Antwort geworden, so zögere nicht, sie anzunehmen, doch
wisse, daß hier jeder seine eigene Antwort empfängt, und daß es dich um
dein Bestes bringen würde, wolltest du nun auf andere warten, um deine
Antwort mit den Antworten jener etwa zu vergleichen!
.So wie du allein und ohne Zweiten aus Urfeuersonnenlicht zum leuch‐
tenden Stern geboren wurdest, so kannst du auch nur allein für dich selbst
31 Welten
dir höchste Erkenntnis hier erringen, und doch wird dein Erkennen in deinen
Formen auch die Erkenntnis aller anderen spiegeln, die hier auf gleiche Art
erkennen lernten...
*
.Du weißt nun, weshalb ich dir hier weder Formen noch Farben deuten
darf? ‒
.Ich würde dir nur von außenher meine Deutung geben können und so
dich um deine eigene Antwort bringen. ‒ ‒
.Nur deine eigene Antwort aber erweckt die Kräfte in dir, deren du für
deine höchste Vollendung in deiner Form bedarfst. ‒ ‒ ‒
.Wir wollen dennoch jetzt beieinander bleiben, aber erwarte du nicht
von mir, daß ich dir deuten möge, was du nur selbst für dich selber
deuten ‒ was du nur selbst für dich selber erfühlen lernen mußt!
32 Welten
DIE GESICHTE
.‒ Unendlich ist der Innenraum dieser «Kugel», in der wir schweben,
obgleich sie in jenen Myriaden von Sonnen und Welten, die sie ausstrahlt,
ihre «Grenzen» setzt! ‒
.Unendliches Geschehen ist hier beschlossen, und alle Ewigkeiten würden
dir wie ein kurzer Tag erscheinen, wolltest du jemals alle Wunder dieses
ewigen Geschehens ergründen! ‒
.Du weißt vielleicht, daß es in alten Zeiten auf der Erde einstmals
«Seher» gab, die, ihres begrenzten Schauens allzugewiß, sich vermaßen,
jene Zeiten errechnen zu wollen, in denen ein Weltall werde und wieder
ins «Unerschaffene» sich löse?
.Wahrlich, sie waren sich ihres törichten Wähnens nicht bewußt und
ahnten nicht, daß vor ihnen Weisere waren, deren Worte sie nicht mehr
verstehen konnten, so daß sie jenem Kinde gleichen mußten, von dem
man berichtet, daß es den Ozean in eine kleine Grube schöpfen wollte! ‒ ‒
*
.Ewig im letzten Sinne: ohne Anfang und ohne Ende, ist der «Weltentag»,
den jene errechnen wollten ‒ ewig zu gleicher Zeit jene «Welten-Nacht»! ‒
.Ewige EMANATION dieser Urfeuersonne, die dich zum leuchtenden
Stern gebar, setzt ewig sich äußerste Grenze ihres Wirkens in allen den
Weltsystemen, die uns als fernster, trübweißer Lichtnebel hier wie eine
Kugelform umschließen.
35 Welten
.Ewig entstehen dort neue Weltsysteme in dem nach allen Seiten ge‐
schlossenen Ring der entstandenen, und ewig werden Weltsysteme mit
unzählbaren Sonnen und ihren Planetenscharen wieder aufgesogen im
unendlichen «Raum». ‒ ‒
.Keine Berechnung menschlicher Gehirne vermag die Zeiten darzu‐
stellen, in denen auch nur eines dieser Weltsysteme entstehen mag, oder
vergeht!
.Niemals hat geistige Offenbarung sich so erniedrigt, um Menschen‐
geistern auf der Erde ewig für sie Unfaßliches etwa enthüllen zu wollen. ‒
.Alles, was jemals dem Menschen vom Geiste der Ewigkeit zukam, war
seiner Fassungskraft weise entsprechend, war wirkungsträchtig auch in des
Erdenmenschen verdunkelter Region. ‒
*
.Es scheint dir seltsam, daß dir Allerinnerstes im Ursein erschlossen
wird, während das Äußere dir unfaßbar bleiben soll?
.Aber besinne dich auf dich selbst und vergiß nicht, daß du hier in
deiner Urheimat bist, aus der du dich vor Aeonen selbst hinaus in
die Fremde drängtest, obwohl dir bewußt war, daß du dort draußen
nur in Wirkungen dich bezeugen solltest und nicht in deiner ureigensten
Wesenheit! ‒ ‒
.Deine eigene Größe hat dich einst zu Fall gebracht! ‒ ‒ ‒ ‒
.Auch heute noch kannst du aufs neue dem Falle erliegen und so deine
dauernde Rückkehr ins Licht um Aeonen aufs neue verzögern. Selbst
Seelen, die das gleiche Gelöbnis gegeben hatten, das als freigewählte
Bürde auch auf meinen Schultern liegt, sind schon solchem neuen Falle
in die Finsternis erlegen, wenn sie ihrer eigenen Größe nicht gewachsen
waren. ‒
.Darum ward dir meine Leitung, auf daß du dich nicht verleiten lassen
mögest...
36 Welten
.Hier im Innersten wird dir allein dein «Reich» erstehen, damit du
erneut ins Äußere zu wirken weißt!
.Hier wirkst du dann dereinst aus der gleichen Kraft, der alles Äußere
entstammt, aber im Äußeren würdest du nur abgeleitete Kräfte finden, die
dort dir zu mächtig sind, weil du dort nicht in deiner Lichtkraft dich offen‐
baren kannst. ‒ ‒ ‒
.Alles im unermeßlichen «Raum» ist nur an seinem, ihm vorbehaltenen
Ort seiner eigenen Macht und Kraftbezeugung gewiß, und in seiner Fülle
kann es sich an keinem anderen Orte entfalten...
.Das Urlicht selbst ist nur in sich selber mächtig, obwohl das ganze
unendliche All aus ihm entströmt! ‒
.Je weiter entfernt von dieser einen, alles gebärenden Urfeuersonne,
desto mehr verlieren die aus ihr entströmenden Kräfte die Ähnlichkeit
mit ihrem Sein, bis sie schließlich im Alleräußersten sich zum Gegen
Sein gestalten. ‒
.Nur hier im Innern dieser unermeßlichen Kugel sind wir noch in wahr‐
haft «göttlichem» Sein!
.Sobald wir wieder in jene Weltsysteme untertauchen, um den Erdball
dort zu erreichen, sind wir, dem Äußeren nach, diesem «göttlichen» Leben
entrückt, und nur im eigenen Innersten vermögen wir es uns zu erhalten...
.Wohl wird auch das Äußerste von göttlicher Geisteskraft durchdrungen,
allein: dort ist sie nicht in ihrer Macht, und nur die im Innersten erwacht
sind, können sie noch in sich finden. ‒ ‒
.Wenn dir trotzdem auf Erden die äußere Natur schon voll «göttlicher
Wunder» erschien, so bedenke, daß auch das Äußerste aus dem Innersten
stammt, und daß es trotz allem Gegen-Sein noch die äußersten Spuren
seines Ausgangs aus dem Urlicht zeigt!
.Dort im Äußeren aber werden dir die Hände gebunden sein, denn dort
sind die Kräfte des Gegen-Seins an ihrem Ort und so allein in ihrer
Macht. ‒ ‒
37 Welten
.Du mußt stets vom Innersten deines Innern her diese hohe Licht
region erreichen, wenn du dort, im Äußeren, auch nur in geringen
Dingen jene Gegenkräfte meistern willst; doch niemals kannst du sie
restlos bezwingen.
.Fakire und machtbegierige Adepten der Magie haben es anders ver‐
sucht, indem sie gewisse Formen jener Kräfte des Gegen-Seins in
langem Mühen sich dienstbar machten, aber noch keiner ist je auf Er‐
den gefunden worden, der nicht zuletzt mit all seinen Künsten elend
zerschellen mußte. ‒
.Die göttlichen Magier aller Zeiten haben immer nur von hier aus ge‐
wirkt, aus den Kräften göttlichen Seins, die uns hier umgeben, und wenn
die Sage sie zu «Wundertätern» werden ließ, so hat sie doch gerade die
wirklichen «Wunder», die sie wirkten, nicht erkannt, denn diese echten
«Wunder» sieht das Menschenauge nicht, und ihre Wirkung, die es wahr‐
lich sieht, wird nie die wahre Ursache enthüllen.
.Hier sind die Zeichen aufzufinden, die jeder, dem die göttliche Magie
zu eigen werden soll, gebrauchen können muß; aber niemals wurden diese
Zeichen von denen gefunden, die in ihrer Gier nach Macht nach dem
Rufe eines Wundertäters lechzten. ‒
.Hier an diesem heiligen Ort sollst du erfühlen lernen, was dir diese
Zeichen sagen wollen.
.Hier mußt du wahrhaft heimisch werden, wenn dir deine Heimat ihre
Schätze anvertrauen soll!
*
.«IN PRINCIPIO ERAT VERBUM...» ‒ Im Anfang war das Wort ‒
sagt dir ein heiliges Buch, und so mancher Sucher zermarterte schon sein
armes Hirn mit der unnützen Frage, warum hier dem «Worte» solche
Bedeutung gegeben sei ‒ weshalb wohl der Weise den Ursprung alles
Werdens als das «Wort» bezeichne? ‒
38 Welten
.Aber aus tiefster «Ein-Sicht» heraus wurde einst diese Lehre in solcher
Form verkündet.
.Urewige Emanation der Urfeuersonne ewiger Liebe spricht sich selbst
in ewigem Werde-Willen aus, wird sich selbst zu rhythmisch geballter
Bewegung, wird zum Ur-Wort, das alles Werden aus sich selbst hervor‐
spricht, geordnet nach innewohnendem Maß, nach innewohnender
Zahl!
.Das Wort der Sprache des Menschenmundes ist nur fernster Ausklang
dieses «Wortes», das «bei Gott» und das Gott ist von Ewigkeit zu
Ewigkeit! ‒
.Der Weise spricht von einem «Anfang», der immer war und ewig sein
wird!
.Hier taucht vor deinem geistigen Auge dieser «Anfang» auf, und das
«Wort» offenbart sich dir in Rhythmus und Farbe, in Form und Klang
als erster Ausdruck des ewigen Willens zur Gestaltung.
.Fühlend verweile und suche in dir selbst, in deinem Allerinnersten,
dieses Urwortes tiefstes Sein zu erleben, aus dem alles wurde, was je
geworden ist, aus dem alles werden wird, was je werden kann! ‒ ‒ ‒
*
.Als «LUX IN TENEBRIS...», ‒ als Licht in der Finsternis, spricht
sich selbst dieses Urwort aus in die unermeßlichen Tiefen des «Rau‐
mes» ‒ erste Ur-Form gestaltend aus sich selbst, und in Schauern ei‐
genen Selbsterfassens baut es sich hier schon seinen Altar der Anbe‐
tung...
.Urträchtig zeugende Gestaltung steht wie ein Priesterchor voll Ehr‐
furcht um diesen Altar, in erster Seinsgestaltung kristallisiert, noch starr
gebunden, und dennoch schon ein stummes Beten...
*
39 Welten
.Doch hier ist kein Verharren im Gewordenen möglich, und alsbald
siehst du, wie sich aus erster Form der Formenfülle ewige Zeugung
ausergießt, wie immer neue Formung sich gestaltet, wogt und ineinander
sich verschlingt, bis aus der Fülle immer lichter sich das Kleinod hebt,
in dem das «Wort» sich selbst in der von ihm gesprochenen Welt erkennt
und formhaft faßt. ‒ ‒
.Und wie es nun inmitten seiner Formung sieghaft leuchtet, erhebt sich
allzugleich der Jubelchor der ersten Schöpfung durch alle Geistes-Sphären.
.«TE DEUM LAUDAMUS...» ‒ Dich Gott loben wir ‒ erklingt der
Hymnus der Form durch die erstgeschaffene Welt des Geistes, und alle
Himmel sind erfüllt von hehrer Anbetung...
.Hier ist das «Wort» in seiner Schöpfung «Ich» geworden, und alle Geistes‐
form erkennt in ihm ihres Daseins Grund in jubelnder Verzückung. ‒
.Das Reich des reinen Geistes ist erstanden, um in seinen Formen ewig
in sich selbst zu kreisen.
.Das Ur-Wort wirkt sich aus in seiner innersten Erfüllung!
*
.Noch aber ist sein schöpferischer Werde-Wille hier in diesem Licht‐
kreis nicht am Ende seines Wirkens. ‒
.Auch dieses Reich der innersten Erfüllung ist schöpfungsträchtig ge‐
blieben und zeugt weiter im ewigen unermeßlichen «Raum», ‒ zeugt
selbst sich seine Grenzen und schafft die Gegenwirkung ewigen «Raumes»,
ewiger Zeit. ‒
.Was im innersten Reiche des Geistes Eines ist ‒ hier wird es nun zur
Zweiheit, und vor deinem geistigen Auge siehst du gleichsam eine kos‐
mische Werkstätte erstehen, in der die ungeborene Kraft des Geistes
formend baut, was Vorbedingung jener Weltsysteme ist, die uns wie ferne
Nebel hier in diese lichte Kugel schließen: ‒ hier wird in schaffendem
Gestalten RAUM UND ZEIT der äußeren Weltgefüge! ‒ ‒
40 Welten
.Dem ewigen «Raume» nicht mehr gleich und dennoch seine Gesetze in
sich bergend...
.Nicht mehr der «Raum» des Geistes, der seine Zeit in sich beschließt,
wird dieser neu geschaffene Raum die Zeit erst aus sich selber bilden. ‒
Während du selbst hier den ewigen «Raum» durchdringst, wie du von
ihm durchdrungen wirst, wird dir dieser zeitgebärende Raum an allen
Orten Grenzen setzen! ‒
.Während dein geistiges Auge hier in diesem ewigen «Raum» in einer
Weise zu sehen vermag, als wäre es selbst eine unermeßliche Kugel,
die alles in sich enthält und zugleich von allen Seiten sieht, wirst du
dort nur von innen nach außen sehen können und stets nur von einem
Punkte aus wahrzunehmen vermögen. ‒
*
.Nun beginnt erst die zweite Schöpfung, ‒ gleichsam der Nachhall des
«Wortes», das die erste aus sich gebar!
.Wie ein unermeßliches Meer dehnen sich die Wogen der äußersten
Finsternis ‒ doch: «der Geist Gottes schwebt über den Gewässern» und
sein schimmerndes Strahlenlicht voll Kraft und wirkender Gewalt senkt
in ewiger URZEUGUNG Werde-Willen in das Meer der Finsternis.
.Magische Urzeichen werden zu Formen äußerer Welten, und bald wird
deinem geistigen Auge die Finsternis sich lösen.
*
.WELTENKEIME siehst du erstehen in einem Domgewölbe wirkender
Kräfte.
.Immer erneut drängen sie ins Dasein, während das Meer der Finster‐
nis sich zu leuchtender Wolke wandelt.
*
41 Welten
.Schon siehst du aus diesen Keimen WERDENDE WELTEN ins Da‐
sein treten! Urmächtige Formkräfte wirken ihr Werk, und kosmisches
Licht zieht wie Nebelschwaden durch den geschaffenen Raum. ‒
.Bald wird ihr Werden vollendet sein.
*
.Was du nun sehen wirst, ist DIE GEBURT DES KOSMOS, der Aus‐
gang der gezeugten äußeren Welten aus dem Bereich der formenden kosmi‐
schen Kräfte...
.In der ewigen Weltennacht, in unendlicher Ferne von der Urfeuersonne
ewiger Liebe, die dich zum Stern gebar, sind Weltballgebilde erstanden in
unendlicher Zahl ‒ die äußerste Grenze, die sich das Wirken des Ur‐
Wortes selber setzt ‒ jene leuchtenden Weltennebel bildend, die uns
hier in unendlich weiter Wölbung von allen Seiten, oben und unten, um‐
fassen.
*
.Nun wird sich dein inneres Auge für jenes Geschehen öffnen, das auf
einer dieser Welten, die nun ihr eigenes Leben leben, sich erfüllt!
.Erinnere dich, daß ich dir sagte, wie nichts in aller Gestaltung je ge‐
schah, noch geschehen kann, das nicht in diesem Lichtreiche innersten
Werdens in ursächlichen Gesichten schaubar ist! ‒
.Hier wirst du nun den Wegen folgen, die der gefallene Geistmensch, ‒
«gefallen», da er sich seiner Urheimat entwand, um im Äußeren ihrer
Schöpfungsgrenzen sich zu erleben ‒ auf diesen äußeren Welten durchwan‐
dern muß, um sich einst der Torheit seiner Willensrichtung zu entwinden
und die Rückkehr ins Licht seiner ewigen Heimat wollen zu können. ‒
*
42 Welten
.Zuerst findet er auf diesen Welten nur ein farbenprächtiges, starres,
enges LABYRINTH, das ihm stetig den Ausgang in ein neues Licht ver‐
heißt, um ihn stets erneut zu betrügen. ‒
.Ermattet hält er schließlich inne, denn er muß sehen, daß seiner Geistes‐
form hier keine Freiheit werden kann.
*
.So erfüllt ihn nun der DRANG ZUR GESTALTUNG, und er, der
einst über alle Begriffe frei war, schließt sich nun dem Zuge der Millionen
Wesen an, die auf diesen Welten ihre äußere Formgestaltung ersehnen.
*
.Endlich im Tiere zur Form der äußern Welt gekommen, glaubt er ein
neues Zeichen seiner rechten Wahl zu sehen, doch er verfällt nur der
schaurig grauenerfüllten Sphäre des ASTRALLICHTES, das jede dieser
äußeren Welten umgibt. ‒
.Täuschend ist dieses Licht, aber seine Kräfte lassen den nicht los, der
seine Region einmal betreten hat, und von Täuschung zu neuer Täuschung
tastend, verfällt er schließlich in Schuld, um dann in irrer Torheit allem
Lichte Hohn zu sprechen. ‒ ‒
.Das Tier nimmt seine Geistigkeit nun völlig in Besitz, um in zügellosen
Orgien, aus vertierter Geistigkeit ersonnen, ihm sein SODOM zu be‐
reiten...
*
.Nun scheint ihm auch die letzte Hoffnung entschwunden, und in
grauenvoller Verfinsterung irrt er durch ein INFERNO, eine Hölle, die er
sich selber geschaffen hat ‒ gepeinigt von Schrecken, die seiner Wahn‐
sinnstat wie Furien folgen.
.Hier scheint kein Entrinnen mehr möglich. ‒
43 Welten
.Alle Schauer des Entsetzens muß er verkosten, bis ihn Verzweiflung zu
Erinnerung an seine einstige Größe führt und er sich entsinnt, daß er
göttlichen Ursprungs ist. ‒
*
.Nun erst empfindet er zum erstenmal jenes sehnende Zurückverlangen,
das ihn einst wieder aufwärts führen soll, seiner Heimat zu, die jetzt noch
in unendlichen Fernen für ihn verschwunden scheint.
.Der erste Schritt zur Umkehr wird zaghaft und furchterfüllt getan...
.Eine bebende Ahnung möglicher Rettung erfüllt sein neues Sehnen.
*
.Nach schier endlosem, quälendem Suchen gewahrt er aber doch zuletzt
in aller Dunkelheit ein Leuchten, das er als seiner Heimat Licht erkennt.
.Mit verdoppelter Kraft lenkt er seine im Dunkel tappenden Schritte
diesem Leuchten entgegen.
.Endlich kommt er ihm näher.
.Er erblickt nun ein verborgenes Heiligtum inmitten seines Inferno.
.Schon möchte er sich gerettet glauben, aber furchtbare Augen blicken
ihn gespenstig an ‒ entsetzliche Wächter halten hier drohende Wacht...
.Es bedarf seiner letzten Kraft, um hier nicht von tötender Furcht über‐
mannt zu werden.
.Unzählige Male macht er den Versuch, den hohen Stufen zu nahen, um
die Schwelle zu überschreiten.
.Stets wieder hält ihn seine Furcht vor den Hütern zurück.
.Doch endlich wird seine Ausdauer ihm belohnt.
.Aus der Höhe der Düsternis tönt ihm eine Stimme und erfüllt ihn mit
neuer Kraft.
.Er fühlt sich plötzlich wie an den Händen gehalten, und mit mutigem
Blick sieht er den drohenden Ungetümen ins Auge, um nun die Schwelle
sieghaft wie ein Held zu überschreiten.
44 Welten
.Nun ist er im Innern des Mysterienheiligtums, und sogleich ist ihm, als
sei das «Tier» von ihm abgeglitten. ‒
.Als geistiges Wesen fühlt er sich wieder, und aus der tiefsten Inbrunst
seines Fühlens entströmen seinen Lippen die Worte: «DE PROFUN-
DIS...», aus der Tiefe erlöse o Herr meine Seele!
.Anbetend neigt er sich vor dem Gottesbild, das in der Tiefe des lichten
Raumes er erblickt.
.Erste Erlösung aus unerträglicher Qual erscheint ihm hier sein Gebet...
*
.Aber wie er endlich die Augen hebt, gewahrt er hinter dem Gottesbild
eine neue strahlende Helle und fühlt sich von unsichtbarer Hand geleitet,
diesen Strahlenraum zu betreten.
.Unsicher wagt er Schritt um Schritt.
.Auch hier ist noch drohendes Geschehen zu durchschreiten, aber die
Furcht hat ihn nun verlassen.
.Endlich teilen sich vor ihm unter Donnergetöse die letzten Hüllen, und
vor sich erblickt er hell leuchtend das Kleinod der OFFENBARUNG...
.Längst entwöhnte Erinnerung wird ihm wieder, und er fühlt sich zurück‐
versetzt an jenen geistigen Ort, da einst auch er seine jubelnde Stimme in
einem «Te Deum» der Geisterchöre hörte.....
*
.So schreitet er trunken von innerer Freude dem Kleinod entgegen, das
sich vor seinen Augen zu einer Sonne wandelt, vor der auch die letzten
Hüllen, vom Lichte besiegt, zur Seite weichen.
.Jetzt erst wird ihm völlige ERLEUCHTUNG, und sein ganzes Sein er‐
strahlt in geistig reinem Licht. ‒
.So selbst zu reinstem Leuchten vollendet, überblickt er nun seinen Weg,
und aus Urgrundtiefen sieht er die Formen gestaltender Kräfte am Werke
45 Welten
der Schöpfung einen hohen Tempelraum erbauen, in dem die Hüllen des
Allerheiligsten sich langsam vor seinem Auge öffnen und ihm nun in weit
strahlenderer Gestalt ein noch reicheres Kleinod zeigen, als jenes selbst
war, das ihm die Offenbarung des Gottesbildes brachte.
.ERFÜLLUNG wird hier endlich seinem höchsten Sehnen...
*
.Nun aber verlangt ihn nach der äußeren Erde zurück, denn nun weiß
er, daß er sich selbst in seiner Erdenform nur erlösen kann, wenn er den
Geist in sich zu körperlichem Ausdruck bringt.
.Verkörperung des Geistes ist der «Schlüssel», wie er nunmehr fühlt, der
seine Erdenfessel dauernd lösen wird, so daß er als ein Freier, als ein Sohn
des Lichtes über den Erdball schreiten kann ‒ ein Selbsterlöster und
Erlöser seiner Menschenbrüder ‒ ein Helfer jener, die auch ihm, obwohl
er es nicht ahnte, auf dem Erlösungsweg zur Seite standen.
*
.Erfüllt von solchem großem, reinem Willen findet er sich fast im gleichen
Augenblick auf hohen Bergeszinnen, ‒ und aus den Felsenschründen, aus
den Tälern, scheinen Lichtesgarben aufzusprießen.
.Was auch sein Auge sieht, erstrahlt in gold'nem Leuchten, und je‐
der Strahl verkündet ihm den SIEG!
*
.Doch für den Sieger gibt es kein Verweilen, will er die Frucht des Sieges
bergen.
.Hoch über seinem Standort findet nun sein Blick ein weitaus höher
ragendes Gebirge, ewig mit strahlenweißem Schnee bedeckt.
.Der Hort des Ewigen auf dieser Erde hat seinem Geistesauge sich
gezeigt...
46 Welten
.Er fühlt: ‒ der ferne Gipfel dort im reinen Weiß vor golddurchglühtem
Himmel ‒ ‒ ist «HIMAVAT», der Berg der Einzigen auf dieser Erde, die
das Urlicht selbst zu Priesterkönigen sich weihte!
.Dort ist das Urbild jenes Tempels und seiner Hüterschar, dort ist die stete
Wirklichkeit, von der die Sage fromme Kunde geben wollte, die Menschen
einst in Formen, die sie fassen konnten, sprach: vom «heiligen Gral.» ‒ ‒
*
.Dorthin führt ihn nunmehr sein Weg.
.Wohl sieht er, daß auf diesem Wege noch manche Hinderung ihm
drohen wird, allein, er weiß, daß man ihn dort erwartet, daß seiner dort
der Führer harrt, der durch das Erdenleben ihn geleiten soll, und ihm nach
der vollbrachten Zeit die Pforte öffnen wird, damit er, so wie du, zu seiner
Heimat finde.
.Die klebrig grünen, vorgewälzten Massen dumpfer Trägheit, denen er
zuerst begegnet, wollen seinen Fuß am Schreiten hindern, doch ihm genügt
ein Blick zum fernen Ziel, um sie zu überwinden!
.Der starre Felsenzackenzaun der Zweifel baut sich siegessicher vor ihm
auf, um seinen Mut zu lähmen, doch keine Kraft der Erde hält ihn mehr
zurück, und wenn er auch aus tausend Wunden bluten müßte, wird er
doch auch dies allerletzte Hindernis besiegen!
.Nach langer, harter Beschwernis endlich am Ziele angelangt, wird er
gewiß nicht mehr an die Gefahren des durchmessenen Weges denken.
.Als Finder seiner selbst wird man ihn empfangen und ihm den Goldreif
der Erkenntnis um die Stirne legen.
.Man wird ihn in heiliges, weißes Linnen kleiden, so daß kein Makel,
der ihn auf seinem Wege je befleckte, an ihm haften bleibt.
.So wird man ihn dem Ewigen weihen und ihn die hohe königliche Kunst
zu lehren wissen, die Kraft des reinen, wesenhaften Geistes durch die
Liebe erdenmenschhaft zu verkörpern. ‒
47 Welten
.Was vorher dunkle Tierheit war, wird dann in ihm verwandelt werden,
und all sein Erdenhaftes wird nur Ausdrucksform des Geistes sein. ‒
.Man wird ihn lehren, daß im ewigen Geiste nur der Tapfere seines
geistigen Reiches Krone dauernd behaupten kann, und daß nur Feigheit
oder angsterfüllte Torheit der Außenwelt der Erdensinne entfliehen möchte,
in die sich eigener Wille einst verhaftet hat...
*
.Doch ‒ ‒ ich greife bereits einer Lehre voraus, die du, der im Geiste
zum Stern der Ewigkeit Geborene nunmehr von mir erhalten sollst!
.Alles, was du bisher geschaut hast mit geöffnetem inneren Auge, war
ja nichts anderes als dein eigener Weg, vom Ausgang deines ewigen Seins
bis zu der Rückkehr, die dich nun zum Stern gewandelt vor mir sieht. ‒
.Du wirst hinfort gar oft in diesem innersten geistigen Reich der wesen‐
haften Schauung, mit mir vereint, als deinem dir verbundenen Führer,
dieses Reiches Wunder an dir vorüberziehen lassen, und es werden stets
andere Gesichte sein, die dir der Urgrund alles Werdens offenbart.
.Wisse aber, daß diese «Gesichte» stets nur wesenhaftes Wirken zeigen,
daß diese «Bilder» wahrhafte Urbilder allen Geschehens sind, davon du
auf Erden, in jener äußersten Region der Grenzen des Seins, nur immer
das Abbild siehst. ‒ ‒ ‒
*
.Wir kehren nun zurück zur Erde, die dein sieghaftes Leuchten braucht.
.Lasse nicht Trauer dein inneres Licht verhüllen, ‒ gewähre dem Schmerz
keine Stätte in dir, wenn du jetzt das Reich des Lichtes mit mir verlassen
wirst, und dann, zurückgekehrt zur Erde, die trübe Geistesnacht gewahrst,
die dort dich umfängt!
.Wer wie du zurückkehrt in sein Erdendasein, hat keine Nacht mehr zu
fürchten, denn er trägt in sich selbst sein Licht ‒ das Licht der Ewigkeit! ‒
48 Welten
.All deine Sorge sei es hinfür: mit dem dir eigenen Lichte alles zu ver
klären, was dir nahekommt, und als Stern aus der Urfeuersonne ewiger
Liebe allen, die noch im Dunkel sind, zu leuchten.
.Begehre nichts mehr für dich selbst und du wirst alles, was du brauchst
durch deines eigenen Lichtes Kraft besitzen! ‒ ‒
.Du kannst keinen Strahl deines Lichtes auf andere Herzen ergießen,
der dir nicht tausendfach Herzen gewinnen würde!
.Du wirst dich nicht etwa mühen müssen, zu leuchten; ‒ du wirst dich
nur mühen müssen, das Licht der Ewigkeit, das aus dir strahlen will,
niemals durch äußeres erdenhaftes Tun für andere zu verdunkeln! ‒ ‒
.Wenn du nur selbst deinem Lichte dich vertraust, wird auch dein Erden‐
körper so durchleuchtet sein, daß er keinen Schatten mehr auf andere
wirft, die deines Lichtes in der Erdennacht bedürfen! ‒
*
.Mich aber wirst du allzeit finden, wenn du meiner bedarfst, und sollten
unsere Erdenkörper auch weite Meere trennen.
.Nicht in meinem äußeren Erdenkleide sollst du mich suchen, denn nie‐
mals könnte ich im Äußeren mich dir so vereinen, wie wir im Allerinnersten
nunmehr vereinigt sind. ‒
.Ins Allerinnerste deines Fühlens mußt du selbst dich begeben, wenn ich
dir wieder vernehmbar werden soll, und nur im Allerinnersten wirst du
auch stets wieder dieses Reich des wesenhaften Lichtes schauen! ‒ ‒
49 Welten
AUSKLANG
.Du Liebender, der du in diesem Buche Licht und Erleuchtung finden
willst, ‒ wisse, daß Licht und Erleuchtung noch keinem durch Lesen und
Denken kam! ‒
.Die Lehre, die ich dir zu geben habe, ist Leben, Weg und Wahrheit, aber
du kannst sie nur empfangen, wenn du sie in dir selbst zu Leben, Weg
und Wahrheit werden läßt.
.Um dir zu zeigen, was deiner wartet, wenn du also tun willst, bin ich
mit Vorbedacht deinem heutigen Zustand vorausgeeilt und versuchte, in
dir schon heute und im voraus Empfindungen zu erwecken, die dir erst
wahrhaft und wirklich werden können, wenn du den Weg beschreiten und
tapfer durchmessen willst, den ich in meinen Schriften von allen Seiten
her zu beleuchten versuche, so daß er schwerlich zu verfehlen ist ‒ den
ich hier nur andeuten kann und der in seiner Art durchlebt sein muß, um
die seelische Reife zu erreichen, die hier in diesem Buche, am Beginn der
«Führung», bereits vorausgesetzt wurde. ‒
.Ich glaube aber aus guten Gründen dennoch sagen zu dürfen, daß auf
dem Wege zum Geiste jede enge Fesselung vom Übel ist, und sei es auch
nur die Bindung durch das Leitseil des Führers.
.Jeder Menschengeist auf dieser Erde trägt seine eigenen Auswirkungs‐
möglichkeiten in sich selbst, und jeder wird seinen Weg auf seine
Weise ‒ selbst an der Hand des Führers ‒ am sichersten zu gehen
vermögen.
53 Welten
.So soll denn auch keineswegs hier etwa der Irrtum Spielraum finden,
als müßtest du vorher meine übrigen Lehren kennen, bevor dir dieses
Buch zum Antrieb werden könne, in deinem Innersten nach dem Weg
zur ewigen Freiheit zu suchen.
.Es gibt Naturen, die erst dann einen Weg betreten, wenn sie vor‐
her genau auf der Landkarte dieses Weges kleinste Biegung, jede sei‐
ner Höhen und Senkungen sich vergegenwärtigt haben ‒ und es gibt
wieder andere Naturen, die nur das Ziel ins Auge zu fassen brauchen,
und unbekümmert um die Art des Weges, spontan sich zur Wanderung
entschließen.
.So mögen dem einen die obenerwähnten Schriften gleichsam als «Land‐
karte» dienen, während sie dem andern erst später Begleiter auf seinem
Wege werden.
.Die Art des mir übertragenen Wirkens in diesen Tagen verlangt jedoch,
daß alles, was ich mit den mir eigenen Ausdrucksmitteln zu geben habe,
in sich eine Einheit bilde, und so ist denn auch dieses Buch hier nicht von
dem zu trennen, was ich bereits vorher gab, und was ich noch fürderhin
auszusprechen haben werde.
*
.Den Weg zum Geiste hat das Geröll des Denkens so vielfach ver‐
schüttet, daß er oft den ehrlichsten und mutigsten Suchern nicht mehr
auffindbar erscheint; ‒ ja es sind nicht wenige heute der Meinung, alles,
was jemals in der Menschheitsgeschichte davon verlautete, sei nur be‐
dauernswerter Wahn. ‒
.Wie am Fuße hoher Berge der Alpenwelt den fremden Wanderer eine
Schar von Führern umringt, die alle ihn zum Gipfel zu bringen ver‐
sprechen, so wird in unserer Zeit der Suchende, der den Weg zum Geiste
beschreiten will, von allen Seiten angerufen, und jeder der Rufer ver‐
spricht ihm hoch und heilig, ihn ans Ziel zu bringen.
54 Welten
.Allzu viele vertrauen sich einer Führung an, die selbst des Weges nicht
kundig ist, aber noch keinen fand ich, der so das Ziel erreichte. ‒
.Kein Wunder, wenn dann der Weg zum Geiste als unauffindbar gilt,
ja wenn die wenigen, die ihn unter sicherer Leitung fanden, gar oft be‐
lächelt werden, als seien sie einem frommen Trug erlegen! ‒
*
.Es tut bitter not, der heutigen Welt zu zeigen, daß es dennoch einen
wirklichen Weg zum Geiste gibt, und daß der Wanderer auf diesem Wege
gar wohl sein Ziel erreichen kann.
.Ein wenig Urteilsvermögen muß allerdings dem Wanderer zu eigen sein,
und er darf auf diesen, doch immerhin auch gefahrumdrohten Weg, sich
nur dann begeben, wenn er der dargebotenen Führung jene Zustimmung
des Herzens zu geben vermag, die in jedem Menschengeiste erwacht, wenn
er berufener Führung begegnet ‒ es sei denn, er habe längst sich ent‐
wöhnt, auf diese innere Bestätigung zu hören. ‒
*
.Nicht wenige scheuen auch vor dem Betreten des Weges zurück, weil
seit Jahrtausenden der Albdruck düsterer Lehren auf der Menschheit
lastet, die ihr den Weg zum Geiste als einen Weg der Weltentsagung und
des Leidenwollens erscheinen lassen.
.Furchtbares Unheil, Wahn und Verbrechen am Heiligsten haben diese
Lehren über die Menschheit gebracht, und noch immer ist ihres Wütens
kein Ende...
.Das Edle und Gute, in dessen Namen man solcher Unheilsaat auf Erden
Wachstum schuf, wurde wahrlich allzuteuer von der Menschheit bezahlt! ‒
.Wohl war man guten Glaubens, wenn man den Weg zum Geiste nur um
den Preis der «Weltverneinung» gangbar wähnte ‒ und man ist es noch
jetzt...
55 Welten
.Aber wie sehr man auch immer die vermeintliche Notwendigkeit be‐
tonte, der Welt zu entfliehen, um in den Geist zu gelangen, so sah man sich
in allen diesen Lehren doch gar bald genötigt, dem Leben ‒ das Ausfluß des
Geistes ist ‒ und wahrlich siegreicher sich zeigt als jede Glaubenslehre, ‒
mit Weh und Ach auf weite Strecken hin das Feld zu räumen. ‒ ‒
*
.Man glaube auch nicht, daß solche Lehren wirklich nur die reine,
unverfälschte Weisheit großer Menschheitslehrer überliefern!
.Der einzige, den man hier nennen dürfte, war jener indische Fürsten‐
sohn, der nicht anders seine dekadente Umwelt heilen zu können glaubte,
als durch die Predigt von dem Leid der Welt, dem nur Erlösung werden
könne durch Verzicht.
.Aber selbst dieses einen Lehre läßt aus gewichtigen Gründen noch die
Frage offen, ob sie nicht erst als Beute eines Mönchtums, das durch sie
den Ruf der «Heiligkeit» erlangte, die Form gewann, in der sie überliefert
wird? ‒
.Wo immer aber in anderen Lehren der Pestbazillus quietistischer Tat‐
entmannung und träumender Weltflucht gezüchtet wurde, dort darf man
sicher sein, nur einem irrigen Verstehen weiser Lehren zu begegnen.
*
.Im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung ertönt schon die Klage,
daß die Berichte, die Leben und Lehre des hohen Meisters aus Nazareth
beschreiben, kaum mehr als authentisch anzusehen seien!
.Und was hat spätere Zeit in aller Einfalt hier noch dazugetan und weg
genommen! ‒
.Trotz allem aber ist bis auf den heutigen Tag doch immerhin noch
einiges geblieben, das wahrlich alles andere zeigt als einen Lehrer, der die
Weltflucht preist. ‒
56 Welten
.Es ist vergeblich Mühen, sich hier auf «das Wort der Schrift» zu stützen ‒
der gleichen «Schrift», die den Meister klagen läßt, daß man ihn «Fresser
und Weinsäufer» nenne, weil er mit denen, die ihn luden, aß und trank ‒
der gleichen «Schrift», die als sein erstes «Wunder» zu berichten weiß, daß
er bei einer Hochzeit, als die Gäste nach des Speisemeisters Urteil schon
«genug getrunken» hatten, Wasser in Wein verwandelt habe. ‒ ‒
.Wer Augen hat zu lesen, und nicht den Kampf der Weltfluchtswahn
erfüllten mit des Meisters wahrer Lehre sieht, der sich auf jeder Seite der
Berichte, die auf uns gekommen sind, ereignet hat, bevor der Text ent‐
stand, den wir nun kennen, ‒ dem mag wohl kaum zu helfen sein!
*
.Es ist eine diabolische Verwirrung menschlichen Empfindens, die seit
Jahrtausenden von einem üblen Ausgangsherde aus sich über weite Länder
und Geschlechterfolgen hin verbreitet und den Menschen in den Wahn
verstrickt, als sei der Weg zum Geiste quasi zu erhandeln, als heische einer
da Tribut an erdenfestem Leben und lasse keinen diesen Weg betreten, der
nicht willens ist, dem Leben zu entsagen.
*
.Aber solange Menschengeister, die durch eigenen Willens Wahl dereinst
ihr «Paradies» verließen, hier auf dieser Erde sich dem Menschentiere
einen müssen, um den Weg zurück zum Geiste nun zu finden, wird ihnen
stets der hohe Auftrag werden:... «Beherrschet die Erde und machet sie
euch untertan!» ‒ denn nur als Herren und Beherrscher ihres Erdendaseins
können sie in wacher Tat die Kräfte stählen, die vonnöten sind, wenn sie
den Weg zum Geiste an des Führers Hand beschreiten wollen. ‒ ‒ ‒
.Wer das Leben der Erde flieht, statt es beherrschen zu lernen, der hat
«die Welt» wahrhaftig nicht überwunden!!
*
57 Welten
.Es heißt den Freuden, die uns das Dasein im Erdentiereskörper ermög‐
licht, eine lächerliche Überwertung geben, schätzt du sie so hoch, daß
sie als «Preis» für deine geistige Erleuchtung gelten könnten. ‒
.Du machst auf solche Weise aus deinem Gotte einen «Wilden», der sich
sein gutes Gold um ‒ Glasperlen abhandeln läßt! ‒ ‒
.Gewiß ist Beherrschung der Erde auch: Beherrschung ihrer Freuden;
aber niemals ist Beherrschung: ‒ Verzicht!
*
.Wie einer, dessen ganzes Sinnen von einem großen Werke derart erfüllt
ist, daß er inmitten einer lärmenden Menge dennoch nur die Stimme seines
Innern hört, so sollst du den Lärm der Erdentierestriebe in dir nicht etwa
«niederschreien» wollen, sondern dich selber sollst du auch inmitten ihres
Lärmens allein nur hören!
.Es sind tiefe Kräfte in deinen erdenhaften Trieben verborgen, und du
gewahrst sie oft genug, wenn du ihnen, häufiger, als du möchtest, erliegst!
.Aber diese Triebe verlangen dich als Herrn, und wenn du nicht Herr
zu sein vermagst, und statt dessen deine Triebe tötest, erschlägst du dir
nur deine besten Diener...
.Du beherrschst deine Triebe nur dann, wenn du jederzeit mit wachem
Willen dich ihnen anvertrauen kannst, ohne befürchten zu müssen, daß sie
dich weiter treiben könnten, als du getrieben werden willst! ‒
.Hast du das erreicht, dann hast du die höchste Spannkraft gewonnen, die
dir dein irdisches Leben für deines Geistes Entfaltung zu geben vermag...
.Du kannst nur in dein wesenhaftes, ewiges Geistes-Sein zurück gelangen,
wenn du hier stets alle die Wirkungskräfte zu benutzen weißt, über die du,
nun einmal dem tierischen Körper verbunden, in dieser Daseinsart verfügst!
.Alles andere ist nur ein Erträumen, dem nichts wahrhaft Wirkliches
entspricht!
*
58 Welten
.Viele haben sich so eine «innere Welt» erträumt, die oft alle Schönheit
eines echten Dichterwerkes zeigte, aber auch keineswegs eine andere Wahr
heit in sich barg, als jene, die einer Dichtung eigen ist. ‒ ‒ ‒
.Andere wieder suchten in der Ekstase sich ihrem Ewigen zu nähern
und glaubten auch, es so gefunden zu haben.
.Sie ahnten nicht, daß sie nur einem Trugspiel geheimer Körperkräfte
erlegen waren, die sie durch ihr irriges Streben selbst erregt und ent‐
bunden hatten, ohne ihrer Herr zu sein. ‒
*
.Wenn ich dir raten darf, als einer, der von einer Sache redet, die er bis
in ihre letzten Tiefen kennt, ‒ dann gehe allen Lehren aus dem Wege, die
nur auf mystisches Erträumen und vermeintliches Hellseher-«Wissen» sich
berufen; ‒ vermeide aber noch mehr alle Lehren, die dich zur Ekstase, zur
Preisgabe deines vollen Wachbewußtseins ver-führen wollen!
.Der Geist der Ewigkeit, aus dem dein innerstes Sein entstammt und in
dem es wieder seine Heimat finden will, ist das Allerwirklichste alles dessen,
was man «wirklich» nennen kann! ‒
.Er gibt sich niemals Träumern und Phantasten kund! ‒
.Du mußt ihn in dir suchen mit der gleichen Wachheit, mit der gleichen
Inbrunst, die selbst schon jeden Forschenden erfüllt, der in der äußeren
Natur erahnte Kräfte zu entdecken sucht!
.Suche aber nicht etwa weit von dir!
.Es gilt ja, dein Allerinnerstes zu entdecken. ‒
.Die meisten, die behaupten, vergeblich gesucht zu haben, schweiften in
die Weite, glaubten ein völlig Fremdes finden zu müssen und verbargen
so selbst ihrem Blick, was ihnen am allernächsten, am allereigensten war
und ist. ‒
.Nur in dir selbst, im Innersten deines Innern beginnt der Weg, der dich
in deine ewige Heimat führt!
59 Welten
.Gewiß wirst du, wenn du ihn finden willst, an jedem Tage eine kleine
Zeit der inneren Versenkung weihen müssen, allein, du darfst nicht ver‐
gessen, daß diese Versenkung dir nur dann von Nutzen ist, wenn sie dein
übriges Tagewerk beflügelt, statt es zu erlahmen!
.Wer nicht bei seinem Suchen nach der innersten Wirklichkeit von
Tag zu Tag die Kräfte zu äußerem Tun und Wirken in sich wachsen
fühlt, der ist auf falschen Bahnen...
*
.Der Weg zum wesenhaften Geiste ist im Grunde so einfach, daß du gut
tun wirst, dich selbst, in deinem ganzen Denken und Empfinden, zu «ver
einfachen»!
.Dies ist der Sinn der Worte des hohen Meisters, wenn er lehrte: «So ihr
nicht werdet wie die Kindlein, wird euch das Reich der Himmel sich nicht
erschließen.» ‒
.Die meisten Gehirne sind zu kompliziert geworden, als daß sie noch
fähig wären, ohne bewußte Umstellung zu einfachstem Reagieren das
Mysterium des Menschen zu erfassen.
.Vielfältig sind zwar die Mittel, die du anwenden kannst, um dich
wieder zu geistigem Leben zu erwecken, aber am Ziel deiner Mühen
wirst du dich immer nur wundern müssen, weshalb du nicht früher er‐
kanntest, was dir dann als das Allereinfachste und von selbst Verständlichste
erscheint. ‒
.Du bist auch jetzt nicht getrennt vom geistigen Leben, doch es schläft
noch jene einfache Erkenntniskraft in dir, die es dir enthüllen könnte, und
durch deinen irrigen Glauben, die geistige Wirklichkeit sei durch dein
Denken zu erreichen, versäumst du es, diese einzige Kraft in dir zu er
wecken, die dir auf alle deine Fragen Antwort geben würde, wäre sie in
dir erwacht...
*
60 Welten
.Was ich dir hier in diesem Buche gebe, sind Mittel, diese Kraft in dir
zu wecken.
.Es ist nötig, dein inneres Empfinden «wie eine Harfe zu stimmen»,
damit der reine Grundakkord in dir ertönen kann, der diese Kraft allein
dem Schlafe zu entreißen vermag.
.Auch wenn sie zuerst nur zaghaft und leise sich in dir zu äußern wagt,
so wirst du sie doch niemals mehr verlieren können, wenn sie einmal dir
zum Bewußtsein sprach.
.Glaube aber nicht, daß du ihr Erwachen erzwingen könntest!
.Du kannst nur immer erneut an jedem Tage die Vorbedingungen
schaffen und mußt in Geduld verharren, bis sie früher oder später, spontan
in dir zum Erwachen kommt.
.Wichtigste Vorbedingung ist eine Einstellung deines ganzen Sinnens
und Trachtens auf äußerste Einfachheit des Empfindens hin. ‒
.«Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich!»
.‒ Du schleppst noch immer einen ungeheuren Ballast an Gedanken‐
Reichtum mit dir herum, der dir nur die freie, leichte Haltung raubt, die
du wahren mußt, willst du das «Reich der Himmel» in dir selber finden!
.Nur in diesem Sinne sollst du «dir selbst entfliehen», sollst du «dich selbst
verlieren», um dich in wacher Wirklichkeit finden zu können, denn deine
Gedanken wurden dir längst ein Ersatz deiner selbst, und du weißt noch
nicht, daß du selbst wahrlich etwas anderes bist als dein Denken, das dich
in seinem Reichtum erstickt. ‒
.Doch du sollst Herr sein auch deines Denkens, während du heute noch
sein machtloser Sklave bist!
.Was ich schon vordem von den Trieben sagte, das muß ich auch hier
in bezug auf deine Gedanken wiederholen:
.Herr sein heißt nicht, auf die Dienste seines Dieners verzichten!
.Aber deine Diener dürfen niemals deine Herren werden. ‒
*           *
*
61 Welten
.Erfülle dich selbst mit einer ruhigen Zuversicht, denn wer ein Ziel
erreichen will, der muß vor allem an sich selbst, und seine Kraft, es zu
erreichen, glauben! ‒
.Beginne nicht damit, dir tausend Fragen zu stellen, auf die dir erst
Antwort werden kann, wenn du die Lehre lebst, die ich dir gebe!
.Hier wird praktisches Handeln von dir verlangt, und das Resultat dieses
Handelns ist ein neues Sein, nicht ein anderes Meinen und Glauben!
.Lasse ruhig auf sich beruhen, was du bis heute glauben oder meinen
mochtest!
.Wenn du in Tat und Leben umsetzest, was ich dir gebe, dann wirst du
selbst dir einst sagen können, was bis heute deines Glaubens Wahrheit
und was Täuschung war.
.Fragen, auf die du dir selbst nicht Antwort geben kannst, haben auch
dann ihre letzte Beantwortung nicht gefunden, wenn du von anderer Seite
eine Antwort hörst...
.In dir selbst muß dein ganzes Sein und Denken seine tiefste Begründung
finden. ‒
*
.Erhalte dir in jeder Lebenslage eine heitere Ruhe, und wenn du dies
noch nicht vermagst, so erziehe dich selbst dazu!
.Du wirst mir sagen, dein Tagewerk bringe täglich Begebenheiten, die
auch der Weiseste nicht mit Ruhe und Heiterkeit aufnehmen könne.
.Ich will dir gerne glauben, daß es dir heute noch so erscheint.
.Du wirst aber anders urteilen lernen, wenn du dich selbst zu wandeln
verstehst. ‒ ‒
.Die Dinge und Ereignisse dieses Erdenlebens sind für uns nur immer
das, was wir daraus für unsre Vorstellung machen. ‒
.Ich erwarte von dir gewiß nicht, daß dich ein leidvolles, schweres
Schicksal zur «Heiterkeit» frei erhalten solle.
62 Welten
.Die großen Dinge des Lebens aber rauben dir fast niemals deine Ruhe;
ja man darf sagen, daß schweres Erdulden schon gar manchem half, die
Ruhe zu gewinnen, die ich dir empfehle.
.Es sind immer die kleinen Alltagswichtigkeiten, die dich um deine Ruhe
bringen; ‒ Dinge und Begebenheiten, die dir schon nach kurzer Zeit sehr
unbedeutend werden.
.Du sollst der Welt nicht entfliehen, und so wirst du bestrebt sein müssen,
in dir selbst einen Seelenzustand zu erhalten, der dich befähigt, die Dinge
des Alltags gelassen hinzunehmen.
.Du kannst in dem Äußeren dieses Daseins gar vieles nicht ändern, auch
wenn deine Änderung allen zum Heile würde.
.Nur in dir selbst hast du fast unumschränkte Macht, und immer mehr
wird sich dir deine Macht erweisen, je mehr du sie in dir gebrauchen
lernst. ‒
.So töricht war noch nie ein Fürst, daß er in fremden Ländern den Ge‐
horsam hätte finden wollen, den er im eigenen Lande nur erwarten durfte.
.So sollst auch du hinfür nicht mehr von außen her erwarten, was du nur in
dir selbst, in deinem Innenreich, nach Wunsch und Willen ordnen kannst.
.Wohl werden immer äußere Begebenheiten dich beim Zusammenprall
für den ersten Augenblick erregen können, allein, der zweite Augenblick
soll dich schon wieder in deiner Macht erblicken, zur Ruhe alle Kräfte in
dir zwingend, wenn sie noch nicht auf den ersten Ruf gehorchen wollen.
.Du wirst dir viel Leid auf solche Weise ersparen und dir erst selbst
dadurch zur Freude werden! ‒
*
.Daß du dir selbst in vollem Maße zur Freude werden mögest, dazu gebe
ich dir alle Lehre!
.Ich will den «Künstler» in dir wecken; der aus dir ein ewiges Götterbild
gestalten kann. ‒
63 Welten
.Du selbst bist hier der «Künstler» und zugleich das Werk!
.Allzulange schon säumte der «Künstler» in dir an deiner Gestaltung
ja du hast längst vergessen, daß du selbst es bist, der dir allein deine ewige
Form verleihen kann.
.Immer hast du die Zufallsformung, die dir von außen her gegeben ward,
als unentrinnbare Notwendigkeit betrachtet.
.Ich will dich frei von solchem Glauben sehen!
.Was dir von außen her an Sternengunst und Ungunst zufiel, ist nicht
ein «Fatum», dem du nicht entrinnen kannst ‒ soll dich vielmehr zur
höchsten Anspannung bewegen, um Gunst wie Ungunst deinem hohen Ziel
zu beugen! ‒
.Der «Künstler» in dir benutzt sein Formungsmaterial, wie er es eben
findet, und darin erweist sich seine Kunst, daß er sowohl Vorzug wie auch
Mängel seines Materials in bester Art dem Werke dienstbar macht. ‒
.Du mußt nur selbst den «Künstler» dieses Werkes in dir fühlen lernen,
auch wenn du bisher glaubtest, eher ein trockener Rechner des Lebens
sein zu müssen, um ihm zu entsprechen!
*
.Du hast Unendliches zu gewinnen, wenn du meinen Ratschlägen folgen
willst, und du kannst dir dabei mit Sicherheit sagen, daß du keinesfalls
irgend etwas verlieren wirst.
.Benütze dieses Buch in der Weise, wie es benützt sein will, und es wird
dir vieles nützen können!
.Nicht von flüchtigem Lesen wirst du dir Nutzen versprechen dürfen,
sondern erst dann, wenn dein «Lesen» dir zum Erleben wird! ‒ ‒
.Dann aber, glaube ich, wird dir dies Buch zum Freunde werden, zu
einem Freunde, den du nie mehr wirst missen wollen und der dir dein
eigenes Haus zum Tempel weihen wird...
*
64 Welten
.Je mehr du lernen wirst, die Gesichte, die ich dir hier zeige, an der Hand
meiner Führung innerlich zu erfühlen, desto mehr wirst du auch meiner
Worte letzten Sinn erfassen, so wie dich umgekehrt die Worte leiten
wollen, diese Bilder nacherlebend deiner Seele anzueignen.
.Möge dir beides zum Segen werden!
.Möchtest du selbst dich fähig machen, jenem Zuruf zu entsprechen, den einst
die Priester eines alten Weihetempels über seinen Eingang meißeln ließen:
«ERKENNE DICH SELBST
*
65 Welten
ENDE
WORTE
DES LEBENS
Verlagslogo
Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Zürich
Der bürgerliche Name von Bô Yin Râ war
Joseph Anton Schneiderfranken
2. Auflage
Die erste Auflage erschien im Verlag
Greiner & Pfeiffer, Stuttgart, 1923
©
Copyright 1959 by
Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Zürich 48
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Switzerland by
Schellenberg-Druck Pfäffikon ZH
INHALT Seite
Anruf 5
Ich 11
Einkehr 17
Liebe 23
Tat 31
Kampf 39
Friede 47
Kraft 53
Leben 59
Licht 67
Vertrauen 79
Erleuchtung 91
Gelöbnis 105
Originalscan
ANRUF
Nach mir zu suchen bist du ausgezogen und
klagend fragst du, wo man mich finde! ‒
Ich aber frage dich, warum du bis zum heutigen
Tage mich noch nicht gefunden hast? ‒
Siehe mein Sehen und mein Hören habe ich
dir gegeben und meine Sprache liegt in deinem
Munde!
Warum verstummst du vor mir, da ich dich
reden heisse, während du doch zu reden weisst,
wo Schweigen dir allein die Offenbarung brin‐
gen könnte? ‒ ‒
Du redest vor tauben Ohren hohle Worte und
bist berauscht durch deiner Sinne täuschendes
Erkennen, so dass dir meine Sprache fremd,
und dunkel mein Wort erscheint.
Dennoch wirst du mir einstens Antwort formen
müssen in meiner Sprache, so wie ich sie gab
deinem Munde als ich dich aus mir entliess...
Noch suchst du in kunstreicher Rede Versteck
vor mir, aber wisse, dass ich dir nahe bin wie
das Licht der Leuchte, und dass du dich nie‐
7 Worte des Lebens
mals vor mir verbergen kannst, obwohl dein
Auge mich nicht sieht, solange du dich blenden
lässt durch deine eigene Torheit! ‒ ‒
Was will ich anderes von dir, als dass du mich
findest, und wahrlich: leicht lasse ich mich
finden! ‒ ‒ ‒
Ich weiss, dass du mich suchst, auch wenn du
irre Wege wandelst und vorgibst Anderes zu
suchen...
Der Tor sucht nach mir, wie der Weise, und
des Toren Suchen ist nur deshalb töricht, weil
er sich selbst den Weg zu mir erschwert,
während der Weise kein anderes Bemühen
kennt, als sich seinen Weg zu erleichtern. ‒ ‒
Alle Last wirft er von sich, Kleid und Wander‐
stab, damit er mich nackt, wie ihn seiner Mut‐
ter Schoss gebar, erreiche...
Du aber schmückst dich mit brokatenen Ge‐
wändern, legst Perlengeschmeide, goldene
Schmuckstücke an und bindest um deine Füsse
schwere, goldene Sandalen. ‒
Dann sinnst du lange nach und forschest nach
dem weitesten Wege, da nur der weiteste Weg
dir der rechte scheint um zu mir zu finden.
Bedrückt durch alles was dich nur beschweren
8 Worte des Lebens
kann, wanderst du endlose Strecken, um dann
ermattet liegen zu bleiben bis dein hoher Mut
sich in Verzweiflung kehrt. ‒ ‒ ‒
Siehe, du wirst mich auf solche Weise niemals
finden!
Du suchst die Ferne, während ich dir näher
bin als dein eigener Leib, den du mit
Schmuck beladen mir entgegenzuführen trach‐
test, da ich doch deines Schmuckes wahrlich
nicht achten kann und deiner Gewänder Blend‐
werk mich dir nur verbirgt! ‒ ‒
Lass ruhen alle erborgte Rede, damit in Deinem
Munde meine Sprache sei!
Bleibe, wo du dich heute finden magst und löse
alle Last von dir!
Nackt und ohne Geschmeide gehe in dein Aller
innerstes ein und lerne schweigen bis dir
meine Sprache wiederkommt um mich dir zu
künden! ‒ ‒ ‒
Ich liebte dich in mir selber, da du bei mir
warst von Ewigkeit her und ich liebe dich,
auch wenn du mich verlassen hast!
Nicht ich bin es, der sich vor dir verbirgt, son‐
dern du selber suchst, dich vor mir zu ver‐
stecken!
9 Worte des Lebens
Du lässt deinen Blick ins Leere schweifen,
wähnend, mich dort etwa zu finden, und brauch‐
test dich nur zu dir selbst zu kehren um bei
mir zu sein! ‒ ‒ ‒
Du weisst noch nicht, dass du dich vor mir
versteckst, wenn du vor dir selber dich zu
verbergen suchst in schweren Prunkgewändern,
um mir zu nahen!
Du weisst nicht, dass ich selbst mich dir ge‐
geben habe und dass du alles nur in dir selber
findest, was du noch aussen suchst!
Siehe, die Schätze aller Welten sind wie Staub
vor dem Kleinod, das du in dir selber
birgst! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
10 Worte des Lebens
ICH
In allen Atomen deines Körpers leuchte Ich! ‒
... Dieser Körper aus festem und halbfestem
Stoffe ist mir wie eine alabasterne Lampe, in
der ich, das Licht, alles durchleuchte. ‒ ‒
Mich hält er nicht!
Mich kann nichts halten!
Alles ausser mir ist mir Bild, und ich bin
Licht allem Gebilde das ich durchleuchte! ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Ich bin fluidische Kraft und doch über allen
fluidischen Kräften! ‒ ‒
Ich klinge in allen Lauten, Harfen und Flöten
des unendlichen Raumes! ‒
Ich bin der Meister unendlicher Symphonien,
von denen die Sphären der Ewigkeit wider‐
hallen!
Wer mich erkennen und aus der Kraft des
Lichtes in mir leben will in Ewigkeit, der
muss zu einem meiner Instrumente werden...
Im leuchtenden Tone einer meiner Sym‐
phonien muss er ewigen Sphären erklingen. ‒ ‒
13 Worte des Lebens
Ich binde die Klänge und ich löse sie auf
nach meinem eigenen Gesetz, das mir von Ewig‐
keit her innewohnt.
Ich habe als Meister meiner Symphonien gute
Spielleute unter mir.
Sie alle gehorchen meinem Winke, und keiner
wird jemals meinen Instrumenten falsche
Töne entlocken...
Ich selbst gebe nur die Zeichen.
Meine Spielleute aber bringen die Instrumente
alsdann zum Tönen, und ich bin hinwieder der
Ton, der ihnen entquillt. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Manche der Instrumente werden sich dessen be
wusst, manche aber auch nicht, dass sie nur
durch mein Gesetz geleitet zum Ertönen ge‐
langen, und dass ich der Ton bin, der in ihnen
klingt. ‒
...Dieser Leichnam, den du siehst, wenn du
dich von aussen her betrachtest, bin wahrlich
nicht Ich! ‒ ‒ ‒
In ihm aber habe ich hier meiner Kraft einen
Stützpunkt gegeben, damit ich auf dieser
Erde alles zum Erklingen bringe, und selbst
mich in allem als Klang gebären könne...
Unnennbar ist die Zahl der Symphonien die in
14 Worte des Lebens
mir verborgen ruhen und offenbar werden
wollen. ‒ ‒
Zu leuchtendem Klang will ich mich formen
in allem was durch mich erklingen will!
Auch dich werden meine Spielleute nicht ver‐
gessen, wenn du zu einem meiner Instrumente
werden willst. ‒
Auch du sollst ewig leuchtend tönen in einer
meiner unendlichen Symphonien!
Ich bin es, der dich erlösen kann, denn nur
wenn ich selbst in Dir erklinge wirst du ewig
beseligt sein! ‒ ‒ ‒
Siehe, all deine Sehnsucht will nichts anderes,
als dich mir in leuchtendem Klange vereinen!
Du fühlst zwar deines Herzens Sehnsucht, aber
du weisst sie noch nicht zu deuten. ‒
Verhalten, wie in einer unberührten Saite, birgt
sich in dir dein eigener Klang; aber nur
wenn mir du dich einen willst, wirst du dich
selbst zum Erklingen bringen können. ‒
Ein neuer Ton wird dann dem All erklingen
und du wirst dich in Allgewalt vernehmen ‒
mir geeint ‒ in deinem eigenen
Ich! ‒ ‒ ‒
15 Worte des Lebens
EINKEHR
Dich selbst musst du vernehmen lernen, wenn
du einst selbst vernommen werden willst!
Noch hörst du auf mancherlei Stimmen und
gibst bald dieser, bald jener den Namen deiner
selbst...
Wisse, dass du ein anderes bist als alle Stimme
der Sichtbarkeit und ein anderes als alles
Unsichtbaren Stimme um dich her!
Noch gilt dir das Angenommene, das ein‐
stens du verlassen musst, als eigenstes Eigen,
so dass es dir dich selbst verbergen muss. ‒ ‒
Noch hörst du auf lautes Rufen um dich her,
so dass du dein eigenes Wort nicht mehr
verstehen kannst! ‒
Noch suchst du auch mich in diesem lauten
Rufen, das dir von allen Seiten in die Ohren
gellt, und mühst dich in krampfhaftem Hor‐
chen, meine Stimme in solchem Lärm zu hören.
Mich aber kannst du nur in dir selbst ver‐
nehmen, und nur nachdem du dich selbst zu
vernehmen weisst! ‒ ‒ ‒
19 Worte des Lebens
Nicht neben dir, sondern in dir selbst bin ich
in dir verborgen! ‒ ‒ ‒
Suche mich darum nicht als ein anderes ausser
dir, wenn du mich wahrhaft finden willst!
Solches wäre arge Torheit und würde dich nur
zur Beute der Gespenster machen, die du
selbst dir schaffst, sobald du dich verneigend
niederbeugst vor einer Macht, die nicht in dir
selbst allein sich finden lässt!
Siehe ich bin in allen Weltenräumen, und wenn
du gleich mir in allen Weltenräumen wärest, so
würdest du auch dort mich finden...
So aber bist du an deinem kosmischen Ort
allein! ‒ ‒
Kein Anderer kann dort bei sich selber sein,
wo du allein im unermesslichen All bei dir
selber bist! ‒ ‒ ‒
Dort aber nur, wo du bei dir selber bist,
kannst du dich vernehmen, und nur wenn du
dich vernimmst, kann ich mich dir offen‐
baren. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Schwer wird es dir, mich also zu fassen, solange
du noch dich selbst nicht erfasstest! ‒
Es will dir scheinen, als könnte ich dir nicht
20 Worte des Lebens
unterscheidbar bleiben von dir selbst, wenn
du mich in dir vernehmen würdest...
Du bist zu sehr gewohnt, nur etwas neben dir
zu vernehmen, als dass du noch erfühlen könn‐
test was es heisst: in deinem eigenen «Ich»
etwas zu erkennen. ‒ ‒
Wahrlich, du hast dich weit von dir entfernt!!
Du sagst noch: «Ich», aber was sich so nennt,
hat nichts mit dir selbst zu schaffen.
Bald ist es dein Leib und seine Triebe, ‒ bald
ist es unsichtbares Irdisches in dir, das mit
diesem Worte sich bezeichnet, während du
selbst darauf verzichtest, dich zu ‒ «äus
sern»...
Im Äusseren aber musst du dich behaupten
lernen, soll das Äussere dir nicht zur Fessel
werden!
Binde du selbst alles Äussere um dich her mit
den starken Schnüren deines Willens, damit
es nicht über dich herfalle, wie eine Horde
Wegelagerer den arglosen Wanderer überfällt,
ihn bindet und seines Besitzes beraubt!
Ich habe mich dir gegeben als meinen kost‐
barsten Besitz, denn wahrlich: ich besitze
mich selbst! ‒ ‒ aber du weisst noch nicht,
21 Worte des Lebens
dass du Grösseres in dir birgst, als selbst das
Grösste deiner Vorstellung, denn noch bist du
nicht zu dir selbst gekommen. ‒ ‒ ‒
Alles, was du über dir wähnst, trägst du in dir
selbst!
Ach, dass du deine aufwärts gekehrten Augen
in dich selbst hinein zu blicken lehren woll‐
test!! ‒
Dich selbst lerne finden in deines Innern
Innerstem, damit du in dir selber mir be‐
gegnen kannst! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
22 Worte des Lebens
LIEBE
Wahrlich, ich liebe mich selbst und du sollst
mir gleichen und dich über alles lieben!
Nicht deinen Leib, noch was sonst «Ich»
sagen mag an dir, sollst du so «über alles» zu
lieben wissen, auch wenn du deinem Leibe und
deinen unsichtbaren Kräften stets in Liebe
dich verbinden wirst!
«Über alles» sollst du nur dich selber lieben
im Innersten deines Innern, ‒ dich selber,
der mich in sich birgt! ‒ ‒ ‒
«Über alles» zu lieben soll dir heissen: mehr
als alles was ausser dir ist, dich selbst zu
lieben; und liebst du auf solche Weise dich
selbst, so wirst du erst in dir selber deine
höchste Liebe finden in mir! ‒ ‒‒ ‒ ‒
Du bist gar irrig belehrt, wenn du etwa glauben
solltest, du müsstest alles lieben! ‒
Deine höchste Liebe, die du in mir erst finden
kannst, nachdem du dich selber lieben lern‐
test, ist frei von jedem Gegenstand der Liebe,
und Einige, die nur zur Hälfte erkannten, was
25 Worte des Lebens
sich erkennen lässt, haben daraus gefolgert,
dass sie alles umfassen müsse. ‒ ‒
Meine Liebe aber folgt nur dem mir innewoh‐
nenden Gesetz und ist in mir selbst be‐
schlossen. ‒ ‒ ‒
Alles was sie umfassen will, muss sie in mich
selber ziehen. ‒ ‒
In mir aber ist nichts, das nicht mich selber
will! ‒ ‒ ‒
So lenke auch du deine Liebe, wenn du nach
aussen liebst, mit weiser Wahl!
Nicht lieben soll dir gewiss nicht etwa: hassen
heissen!
Du wirst Vieles ausser deiner Liebe lassen
müssen, was du durchaus nicht «hassen»
sollst! ‒ ‒
Frei von Liebe und Hass wirst du dem
Allermeisten, was du nicht selber bist, be‐
gegnen müssen...
Lieben sollst du, was dich zu dir selber
bringt, und damit zu mir!
Alles Andere stehe allezeit ausser deiner
Liebe! ‒ ‒ ‒
Wie aber könntest du zu lieben wissen, was
du lieben sollst, wenn du dich selbst nicht
26 Worte des Lebens
liebst, ‒ dich selbst, in dem sich dir deine
höchste Liebe allein enthüllen kann?! ‒
Bevor du dich selbst ergründet hast und
dich selber «über alles» liebst, wird all deine
Liebe nach aussen nur ein Schein und ein
Blendwerk sein. ‒ ‒
Du wirst dich selbst betrügen, wenn du vor‐
dem zu «lieben» meinst, und was du zu «lie‐
ben» vorgibst, wird von dir betrogen sein...
Erst dann wirst du ein wahrhaft Liebender,
wenn du dich selbst zu lieben weisst! ‒ ‒ ‒
Alle grossen Liebenden waren stets in der Liebe
ihrer selbst, umfingen sich selbst in allen
Gluten der Liebe! ‒ ‒
Wisse aber, dass du auch dort, wo du keines‐
wegs lieben sollst, dich noch viel weniger dem
Hass überantworten darfst, wenn du mich in
deiner höchsten Liebe erreichen willst!
Dass du dich des Hassens fähig fühlst, sei dir
ein Beweis deiner Kraft zu lieben, ‒ aber
nicht alles, dazu du dich fähig fühlst, dient dir,
dich selber zu erreichen! ‒ ‒
Lieben ist die grosse Bejahung dessen, das
du liebst, ‒ Nichtlieben die Verneinung, ‒ ‒
Hass aber das Eingeständnis der Ohnmacht,
27 Worte des Lebens
das Verneinte dir aus dem Wege räumen zu
können!
Alles Verneinte aber soll dir gelten als sei es
dir nicht vorhanden!
Du sollst es nicht mehr sehen wollen und ihm
die Kräfte nicht mehr senden, die es durch
deine Beachtung stetig neu erlangt. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Lässt du den Hass aber in dir wirksam werden,
so nährst du das Gehasste immerfort mit
deinen Kräften, und du wirst Sorge tragen
müssen, dass es nicht zum Ungeheuer wird, das
dich verschlingt...
Die wahrhaft Liebenden, die mich in ihrer
höchsten Liebe fanden, waren wahrlich
keine lahmen Ja- und Amensager zu allem
was ihnen begegnen mochte, und sie wussten
kraftvoll zu verneinen wo es nötig war,
aber keiner aus ihnen übergab sich jemals dem
Hass! ‒
So sollst auch du des Hasses Herr zu werden
suchen, und wenn es dir heute noch nicht ge‐
lingen mag, so wirst du morgen den Hass
überwunden haben, sofern du nur wachsam
bleibst, und bestrebt, dich über den Hass zu
erheben. ‒ ‒ ‒
28 Worte des Lebens
Je mehr du erkennst, dass all dein Hassen
nur das Gehasste nährt, desto eher wirst du
dich dem Hasse entwinden!
So manche Quelle des Übels auf dieser Erde
wäre längst vertrocknet, würde nicht immer
der Hass aufs neue sie zum Überströmen
bringen! ‒
Wenn du wirklich willst, dass ein Verderbliches
sich in sich selbst verzehre, dann brauchst du
ihm nur deine Liebe völlig zu entziehen! ‒ ‒
Solange du noch aktiv bleibst in deiner ver‐
meintlichen «Verneinung», hast du nicht wahr‐
haft verneint! ‒
Was dir der Verneinung wert erscheint muss
völlig deiner Beachtung entschwinden und
darf in keiner Weise mehr von dir deiner Auf‐
merksamkeit gewürdigt werden. ‒ ‒
So wirst du das Verneinte wirklich entkräften
und deine Liebe wird, von aller Fessel frei,
bejahen können was sie liebt! ‒ ‒ ‒
In deiner höchsten Liebe wirst du dann in
mir auch die höchste Bejahung finden, die
in sich selber ewig nur sich selber liebt! ‒ ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒
29 Worte des Lebens
TAT
Sehnend durchwachst du die Nächte und rufst
nach mir, dass ich dich erhöre...
Wohl weiss ich um dein Rufen und will dir zu
Hilfe eilen; allein du verschmähst noch meine
Hand und harrest anderer Hilfe!
Wohl suchst du mich, aber du kennst mich
nicht und erwartest statt meiner einen Ande
ren zu finden, der dem entspricht, was du aus
mir dir machtest in deiner Schöpferallgewalt
der Phantasie...
Ach, dass ich in deiner Träume Gestalt mich
wandeln könnte, damit du erkennen würdest,
wer dir naht! ‒ ‒
Ich aber bin ewig unwandelbar, mein eigenes
Gesetz und meines Gesetzes Folge, so dass
ich stetig bleibe der ich bin und kein wallen‐
der Wunsch der Wandlung mich je erreicht. ‒ ‒ ‒
Du selbst wirst das Bild dir wandeln müssen,
nach dem du mich dir geschaffen hast, dort
wo du Schöpfer bist! ‒
Du wirst mich sonst niemals erkennen und ich
würde dir wie ein Fremder bleiben müssen,
33 Worte des Lebens
‒ ‒ ich, der ich dir der Allernächste bin, da
du in dir mich verbirgst. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Dir selbst verbirgst du mich, um dir einen
Götzen zu schaffen, in dem du mich zu finden
wähnst!
Torheit hält dich in Banden, da alle Weis
heit dir innewohnt! ‒ ‒ ‒
Wohl mag es die Torheit Anderer sein, die
dich also gefesselt hält, allein nur du selbst
vermagst es, deine Fesseln wieder zu lösen!
Ehe du mich nicht so erkennen willst wie ich
von Ewigkeit her in mir selber bin, wirst du
mich suchen in allen Weltensphären und den‐
noch mich nicht finden! ‒ ‒
All dein sehnendes Verlangen wird dir zu nichts
nütze sein, denn auch wenn ich mich deiner
Sehnsucht neige, bleibe ich dir fremd, wie einer,
an dem du achtlos vorübergehst...
Du wirst erst das Bild, das du dir geschaffen
hast, gar gründlich wandeln müssen, soll es
in Wahrheit meine Züge zeigen! ‒ ‒
Du wirst dein Auge wahrlich anders sehen
lehren müssen, willst du mich erkennen, wie
ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit! ‒ ‒
Siehe, ich selbst bin meines Gesetzes Kraft
34 Worte des Lebens
und kann mir selber nicht entspringen, selbst
wenn meine Liebe zu dir mich bewegen könnte,
aus meinem eigenen Sein mich zu lösen um dir
Erlösung zu werden! ‒ ‒ ‒
Doch, da ich dich liebe, will es nicht mein
Wille, dass dein Suchen fürder irre Wege gehe,
und darum hörst du heute meine Stimme als
die Stimme dessen, den du noch nicht kennst...
Ich will dir gewisslich Heiland und Erlöser
sein, allein du selbst musst wollen, dass dir
nach diesem, meinem Wort geschieht. ‒ ‒
Du selbst musst alles Bild vergessen um wir‐
kender Wirklichkeit zu nahen, und alles,
was dir deine Phantasie gebar, musst du als
Gaukelspiel bewerten. ‒ ‒
Du musst endlich lernen, dir zu sagen, dass
mich Jene nicht erkannten, die dich lehrten,
und die der krausen Dinge viel von mir zu sagen
wussten, da sie mich sahen, wie der ihren einer,
nur mächtiger und grösser, wie in Heilig
keit so aber auch in Schuld, ‒ denn wäre
ich, was Jene aus mir machten, dann müsste
solche Ausgeburt betörten Wähnens als Wider
sacher seiner selbst mit sich in ewiglichem
Kampfe liegen.......
35 Worte des Lebens
Ich aber bin ewig einig, in mir selbst gegründet,
und nichts in mir kann mir selber widerstreben!
Siehe, ich bin höchste Tat! ‒ ‒ ‒
Ich selbst bin mir Wirkung und Ziel!
Ich selbst bin mir Ursprung und Folge!
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Nicht dein suchendes Sehnen kann mich er‐
reichen, sonst hättest du mich längst schon in
dir gefunden! ‒
Nur in der Tat wirst du mich in dir finden
können, und keine Qual der Sehnsucht banger
Nächte wird mich dir so wesenhaft erkennbar
machen, wie eine wache Tat in der dein Suchen
wahrhaft mir entgegenstrebt! ‒ ‒ ‒
Wähne aber nicht, dass es deine Tat an sich
selber sei, die mich dir erkennbar werden
lässt!
Wohl musst du erwägen, was deine Tat be
wirkt, und ob sie wahr und unbezweifelbar
auch in der Richtung deines Suchens, das
nach mir verlangt, zur Folge führen kann. ‒ ‒
Wird dir alsdann Gewissheit, dass dein Wille
rechte Wege wandelt, so zögere nicht länger
und versäume nicht die gute Stunde, die dich
tatbereit und frischen Mutes findet!
36 Worte des Lebens
In wacher Tat wirst du mir alsdann in dir
selbst begegnen und mit mir in dir ver
einigt sein! ‒
In wacher Tat will ich selbst mich in dir,
den ich liebe, erleben! ‒
In wacher Tat sollst du mir Zeichen und
Zeugnis werden! ‒
So will ich dich in dir vollenden: ‒ du, der nur
in mir sich vollenden kann! ‒
Aus mir gezeugt, soll Tat sich aus dir gebä
ren, auf dass sie weiterzeugend wirke nach
meines ewigen Willens Geheiss! ‒
Du selbst sollst mir in heiliger Geburt geboren
werden, durch deine wache, selbstgewollte, freie
und des Freien wahrhaft würdig getane Tat! ‒ ‒
37 Worte des Lebens
KAMPF
Siehe, ich, der Einige in sich selber, werde
dennoch zur Ursache ewigen Kampfes!
Alles was mich erreichen will, kann nur durch
Kampf zu mir gelangen. ‒ ‒
Nur als Kampfpreis wirst du mich erringen!
Ich selbst werde niemals von solchem Kampfe
berührt, denn, in mir hat keine Zwietracht
Raum!
Wer noch kämpfen muss, ist noch nicht bei
mir...
Wie aber sollst du mich in dir finden, wenn du
nicht alles in dir niederzukämpfen weisst,
das mich dir verbirgt?! ‒
Ohne Kampf wirst du keines der Hinder
nisse die dir den Weg verlegen, jemals besei
tigen können!
Du musst Sieger werden in diesem Kampfe,
wenn ich nicht ewig dir unerreichbar bleiben
soll! ‒ ‒
Es wird ein Kämpfen sein, das wahrlich alle
deine Spannkraft braucht!
41 Worte des Lebens
Es wird ein Kämpfen sein, das alle Ausdauer
verlangt!
Es wird ein Kämpfen sein, das dich nicht
müde sehen darf, bevor der Sieg dir wurde...
Du kannst den Sieg nicht erlangen, wenn du
nicht willens bist, all deine Kräfte aufzubieten
um jedes Hindernis das dir im Wege liegt in
deinen Dienst zu zwingen! ‒
Du sollst wahrlich in diesem Kampfe nicht
töten wollen, denn was du ertöten würdest,
trägt Kräfte in sich, die dir den endlichen Sieg
erstreiten helfen, wenn du sie deinem Wil‐
len beugst. ‒ ‒
Viele sind schon ausgezogen, diesen Kampf zu
kämpfen, aber nach kurzer Zeit schon verliess
sie der Mut und sie paktierten mit allem was
ihnen entgegenstand...
So überwältigt kehrten sie zurück und riefen
allen die da kämpfen wollten zu: «Es ist
unmöglich in diesem Kampfe Sieger zu blei‐
ben!»
Einige aber zu allen Zeiten wussten dennoch
den Sieg zu erkämpfen, und mit dem ewig
grünen Lorbeer des Siegers geschmückt, kehr‐
ten sie zurück. ‒
42 Worte des Lebens
Auch dich will ich als Sieger sehen!
Siehe, ich rate dir: vergiss niemals, solange
du im Kampfe liegst, dass alles was dir entgegen
steht, nur darauf lauert, dass dich dein
Wille zum Siege verlässt!
Noch niemals wurde ein Streiter besiegt, den
dieser Wille nicht vorher verlassen hätte...
Du magst des öfteren unterliegen, und doch
wird der Sieg dir gewisslich nicht verloren
sein, solange dir der Wille zum Siege, der da
ein Glaube ist an deinen Sieg, nicht unwieder‐
bringlich verloren geht! ‒ ‒ ‒
Aller Kampf aber, der den Willen zum
Töten züchtet, ruft neue Kämpfe wach, auch
wenn er dich vorerst als Sieger sieht. ‒ ‒
Darum sollst du nicht töten wollen in diesem
Kampfe!
Deine treuesten Diener werden dir gerade
jene sein, die du im Kampfe durch hohen Mut
besiegtest!
Sie kennen dann in dir ihren Herrn und wer‐
den dir in allen Fährnissen gehorsam sein.
Mit ihrer Hilfe wird der Kampf dir zum Spiele
werden und nichts mehr kann dir den Sieg ver‐
wehren! ‒ ‒ ‒
43 Worte des Lebens
Aber vergiss nicht, dass alle diese Feinde, die
du dir zu Dienstleuten machen sollst, dass
Kampf und Sieg und Walstatt des Kampfes
nur in dir selbst zu finden sind!
Auch wenn du nach aussen kämpfen zu müs‐
sen glaubst, wird doch der wahre entschei
dende Kampf nur in dir selbst allein zu
durchkämpfen sein. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Du erliegst noch der Täuschung und bist in
tausend Sorgen, wie du der Aussenwelt be‐
gegnen könntest!
Was hier dich bedrängt und vielleicht dem
Scheine nach besiegt, wird von dir noch immer
viel zu hoch gewertet!
Noch immer verlierst du den Glauben an
dich selbst, wenn man dich von aussen her
überrennt!
Ach, dass du endlich sehend würdest um zu er‐
kennen, dass aller äussere Sieg wie alle Nieder‐
lage in der Aussenwelt, nur törichte Täu
schung bergen!
Nur was du im Innern dir zu Diensten zwingst,
wird wahrhaft bezwungen sein!
Nur wenn du im Innern endlich den Sieg er‐
ringst, wirst du mir Sieger heissen!
44 Worte des Lebens
Nur dieser Sieg in dir selbst wird dir mich
zum Kampfpreis werden lassen! ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Ich gebe wahrhaftig mich keinem, der nicht als
Kampfpreis mich erringt!
Billig, wertlos und eitler Tand für
wahr ist alles, das ohne Kampf er
reichbar sich zeigt!
Aller wirkliche Wert kann dir nur im Kampf
zu eigen werden! ‒
Nur als ein Kämpfender kannst du den Sieg
erringen!
Als Sieger aber musst du mir entgegentreten,
wenn ich deiner achten soll, und nur dem Sie‐
ger, der auch den Kampf nicht scheute, kann
ich mich ewiglich verbinden! ‒ ‒
So sei denn tapfer und fliehe nicht den Kampf,
der dir so hohen Kampfpreis als Gewinn ver‐
heisst! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
45 Worte des Lebens
FRIEDE
Nach Frieden verlangt deine Seele, ‒ nach
jenem Frieden, den die Welt nicht geben kann!
Aber nur nach furchtlos bestandenem Kampfe
wird dir dieser Friede werden, nach dem du
vergeblich verlangst, solange du Scheu trägst,
dich vorher in den Kampf zu wagen. ‒ ‒ ‒
Doch kehrst du als Sieger zu dir selbst zurück,
so wird wahrlich nichts mehr deinen Frieden
stören! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Viele wähnen, wenn ihr Kampf beendet sei, so
hätten sie den Frieden erlangt.
Töricht ist solches Wähnen, denn des Kampfes
Ende kann dir zum Verderben werden, so‐
lange du noch nicht erkanntest, dass kein
Kampf beendet werden darf um der Erlan
gung des Friedens willen! ‒ ‒
Noch keiner hat jemals den wahrhaften Frie
den sich erkämpft, der nicht den Willen in sich
trug, den Kampf nur als Sieger zu been‐
den!
Sehnsucht nach Friede ist eine grosse Ver
49 Worte des Lebens
führung, und wehe dem, der solcher Verfüh‐
rung erliegt!
Sie macht ihn zu wehrloser Beute seiner un‐
sichtbaren Feinde und lässt ihn schutzlos zum
Opfer ihrer Willkür werden, dort, wo selbst
siegloser Widerstand ihm noch der Feinde
Waffen in eigenen Dienst gezwungen hätte...
Darum, wenn du den Frieden willst, lass' dir
den Mut zum Kampfe nicht rauben, und höre
nicht eher zu kämpfen auf, als bis dir deine
inneren Feinde selbst den Frieden bieten! ‒ ‒ ‒
Erst dann wirst du dich wirklich deines
Friedens freuen! ‒
Vorher wird dich deine Kampfesmüdigkeit nur
zu scheinbarem Frieden verleiten, und was
du dann so erlangt zu haben glaubst, wird dir
nur die Wahl noch offen lassen: entweder dau‐
ernd deiner Feinde Höriger zu werden,
oder den neuen Kampf zu suchen, in dem du
dann vielleicht also zu kämpfen weisst,
dass dir der Lorbeer des Siegers werden
mag...
Man hat dich gar oft schon falsch beraten und
dir gesagt, dass jeder, der zu mir gelangen
wolle, nur den Frieden suchen müsse. ‒ ‒
50 Worte des Lebens
Ich aber will wache Kämpfer und ein Friede,
der nicht als reife Frucht des Kampfes vom
Baume des Schicksals fällt, ist mir verächt
lich, und wahrlich vor mir nur Torheit, denn
eher könnte ich dich noch erretten, wenn du im
Kampfe unterlegen wärest, als so, wo dein
Mangel an Mut dich das Feld des Kampfes
verlassen liess. ‒ ‒ ‒
Die Helden des grossen Kampfes, denen ich
zum ewigen Frieden wurde, wussten zu kämp‐
fen bis zum letzten Tropfen Blut, der
noch in ihren Adern war, und wahrlich: sie
haben den Sieg erfochten, auch wenn es oftmals
scheinen mochte, als seien sie nur ihrer
Kämpfe Opfer. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Nicht anders aber will ich auch dich einst
siegen sehen!
Nicht anders sollst du in mir den ewigen Frie
den finden! ‒ ‒ ‒
Friede heisst mir die Sicherheit dessen, der
sich die Sicherheit erkämpfte, dass nichts mehr
ihn zum Kampfe laden könne!
Friede ist nur jene Ruhe in sich selbst,
die aller inneren Kämpfe Preis und entflam‐
mendes Kampfziel bildet!
51 Worte des Lebens
Friede ist Freiheit vor jeder Not des Zwan
ges zu neuen Kämpfen!
Friede ist mir die errungene Macht über alles,
was ehedem Feind und Gegner hiess!
Wer solchen Frieden in sich selber fand,
der nur allein kann in mir seinen ewigen
Frieden finden! ‒ ‒ ‒
Ihm will ich der Hort seines Friedens sein!
‒ ‒ ‒ ‒
Ihm wird in mir der Friede werden, den «die
Welt» nicht geben kann, ‒ der Friede, der
nur jenen wird, die in sich selber siegend,
endlich mich zu erkämpfen wissen! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
52 Worte des Lebens
KRAFT
Vergeblich suchst du noch immer die Kraft,
die dir zum Siege im Kampfe verhelfen könnte,
und zu ewigem Frieden, weit ausserhalb
deiner selbst.
Auch hier gehst du noch irre Wege und ver‐
schwendest dich an flackernden Trug!
In allen Weltenräumen könntest du durch alle
Ewigkeiten so vergeblich suchen, wenn du nicht
heute noch dich besinnlich zu dir selber keh‐
ren willst! ‒
Nur in dir selber wirst du mir begegnen; ich
aber bin es allein, der sich dir als die Kraft
zum Siege gibt! ‒ ‒ ‒
Ich bin die Kraft, die alle Kräfte meistert,
denn nur aus mir stammt aller Kräfte wirkende
Gewalt!
Täusche dich nicht und werde nicht irre an mir,
wenn du sehen musst, dass diese Kräfte sich als
Widerpart gegenüberstehen!
In unendlichfältiger Formung sende ich aus mir
selbst unendlichfältige Kräfte in alle Erschei‐
55 Worte des Lebens
nungswelten und nur infolge ihrer Gegen
sätze vermögen sie zu wirken...
Ewig tot und kalt und starr wären die Welten
die ich ewig meinem Sein entgegen setze als
äussersten Gegen-Satz, würden die Kräfte, die
aus mir durch diese Welten strömen, nicht in
ewigen Gegensätzen verharren! ‒ ‒ ‒
Ich aber bin in mir selbst aller dieser sich selbst
entgegengesetzten Kräfte Kraft und Leben,
und in mir finden sie ihre Einigung, so sehr
sie auch in der Erscheinung auseinander
streben müssen...
Ist es nicht töricht zu nennen, wenn du dich
mühst, dir einzelne Kräfte in harter Frohn zu
Freunden zu machen, oder wenn du versuchst,
durch List und Gegenwehr über andere Herr
scherkraft zu erlangen, da du doch aller
Kräfte Herr und Meister werden könntest,
wenn du nur in mir dich selber finden woll‐
test! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Wahrlich, du würdest jeden verlachen, den du
im täglichen Treiben der Aussenwelt, die dich
umgibt, so handeln sehen könntest, wie du in
unsichtbaren Reichen handelnd angetroffen
wirst! ‒
56 Worte des Lebens
Nichts aber bindet dich, und du kannst
heute noch dich solcher Torheit entwinden,
sobald du den Willen in dir schaffen magst,
der nichts anderes mehr will, als dich in mir,
in deinem Allerinnersten, zu deiner Vollendung
führen! ‒ ‒ ‒
In dir selbst wirst du dann alle Kraft be‐
sitzen um über alle Kräfte aller Welten als
Sieger zu triumphieren!
In dir selbst wirst du alle Gegensätze dann
vereinigt finden!
Du selbst wirst alles Widerstrebende in dir in
steter Wechselwirkung also bannen, dass wohl
die Kräfte in ihren Gegensätzen verharren, und
dennoch eine heilige Einheit formen...
Nur wenn du in mir dich selber gefunden hast,
kann dir dieses hohe Wunder gelingen!
Du bist dann nicht mehr auf dieser oder jener
Seite, sondern im Innersten der Kraft, die
aus sich selber aller Kräfte Wirkung schafft!
In mir nur kann dir die Sicherheit werden,
die dem Willen zum Siege auch gewisslich den
Sieg verleiht! ‒
Wenn du in mir, in deinem Innersten, in Ich
Vereinigung dich einst gefunden haben wirst,
57 Worte des Lebens
wird keine Kraft in allen Welten dich noch fer‐
ner schrecken können. ‒ ‒
Die Krone des Siegers wird dir keine Macht der
Hölle mehr entreissen, denn was du also nennst,
ist nur ein Gegenspiel der Kräfte, die du dann
beherrschen wirst! ‒ ‒ ‒
58 Worte des Lebens
LEBEN
Geheimnisreich bist du dir selber, und wahr‐
lich: dieses mit Recht!
Du findest dich im Dasein gegründet und trägst
in dir selbst deines Daseins Urgrund; aber
noch suchst du in allem was dir ewig «aussen»
bleibt und «fremd», deines Lebens Begründung
und äussere Ur-Sache zu erspähen, während
dein Suchen dich nur dann zum Finden füh‐
ren könnte, wolltest du dich versenken in dich
selbst und in deine eigene tiefste Tiefe! ‒ ‒ ‒
Ich selbst bin dort deines Daseins Grund und
in mir nur kannst du die Ursache deines Da‐
seins finden! ‒
Du bist gewohnt, von deinem «Leben» zu
sprechen, als sei dein Leben eine sich selbst er‐
schöpfende Kraft aus der dein Dasein spriesse;
aber allzusehr vertraust du in solcher Weise nur
dem Augen-Schein, der dich betört, weil deines
Körpers äussere Erscheinung aus der Nacht
des Nichtseins aufzutauchen scheint um einst
in Nichts und Nacht sich wieder aufzulösen.
61 Worte des Lebens
Was diese Erscheinung kurze Zeit im Dasein
erhält, das hast du in irriger Verstrickung dein
Leben genannt!
Wahrlich, wenn du in Torheit hier dein Leben
fassbar wähnst, so bist du argem Wahn er‐
legen! ‒ ‒
Tiefer wirst du in dir schürfen müssen, willst du
in dir dein wirkliches Leben je ergründen!
Lerne vor allem erkennen, dass dein Leben
nichts ausser dir ist, ‒ dass all dein Wissen um
dich selbst nur ein Wissen um die Auswirkun
gen dessen darstellt, was sich in dir als eigen‐
gründiges Leben selbst erlebt...
Ich aber bin, was sich so als dein Leben
offenbart, und nur wenn du mich in dir gefun‐
den hast, bist du wissend deinem Leben ver‐
einigt!
Vorher nimmst du noch die Wirkung für die
Ursache und was du als dich selbst empfindest,
ist nur der Widerschein des Lebens in dem
dein ewiges Bewusstsein um dich selbst dir in
mir gegeben ist; denn siehe: mich selbst habe
ich dir geschenkt, auf dass du aus meiner Kraft
dich ewiglich in mir begründet finden mö‐
gest! ‒ ‒ ‒
62 Worte des Lebens
Versuche es, dich selbst zur Erkenntnis zu be‐
wegen, und zu erfassen, dass ich dir näher bin
als alles andere, das du als von dir verschieden
empfindest; ‒ ‒ ich, den du vergeblich in der
weitesten Weite suchst, um dann, wenn du dort
mich nicht findest, dem Wahn zu verfallen, dass
ich für dich und deinesgleichen unauffindbar
sei! ‒
Viele haben so in der äussersten Ferne gesucht,
was ihnen zu nah war, als dass ihr stets nach
aussen gerichteter Blick es hätte fassen kön‐
nen.
Ich aber bin mir ewiges In-mir-selber-sein
und nichts ist ausser mir für mein Umfassen; ‒
wie sollte ich da für dich, der du in mir beschlos‐
sen bist, irgendwie anders fassbar sein, als in
dir selbst?! ‒
Auch dein Alleräusserstes ist mir allerinner‐
stes Sein und Eigen, und wahrlich, du würdest
Irrtum zu Irrtum häufen, wolltest du vermuten,
dass ich in jenen Fernen, die dein Blick durch‐
späht um mich zu finden, für das nicht findbar
sei, was dort aus mir lebt! ‒ ‒ ‒
So aber, wie du deinen Erdenkörper nur erhal‐
ten kannst, wenn deine Lungen in dir selber
63 Worte des Lebens
Luft zum Atmen finden und wie er alsobald aus
seiner Lebensform sich lösen müsste, sobald er
nicht mehr in sich selbst die Luft zu nützen
wüsste, die das Erdgestirn auch in den fernsten
Fernen, weit von jener Stätte, die dich atmend
findet, noch umflutet, ‒ ‒ so auch kann dir mein
Sein sich nimmer einen, wenn du mich ausser
dir zu suchen unternimmst! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Nur als dein eigenes Leben werde ich dir
offenbar! ‒ ‒ ‒
Vergeblich würdest du alle Welten suchend
nach mir durchwandern!
Nur in dir selber bin ich deine Welt! ‒ ‒ ‒
Was du «Bewusstsein» nennst, ist nur das
seiner selbst gewisse Spiegelbild aufleuch
tender Seelenatome, vergleichbar jenem
Bilde deines Körperinnern, das der Arzt auf
einem Schirm von chemischer Substanz erhält,
wenn er mit jenen Strahlen deinen Leib durch‐
leuchtet, die dichte, dunkle Körper zu durch‐
dringen fähig sind...
Wie aber der Schirm, der jene Strahlen sichtbar
machen soll, bereitet sein muss nach Gesetz
und Regel, soll er deines Körperinnern untrüg‐
liches Bild in leuchtender Erscheinung zeigen,
64 Worte des Lebens
so musst auch du selbst dich bereiten,
willst du dir selbst zum Spiegel deines Aller‐
innersten werden! ‒ ‒
Nicht eher wirst du mich in dir als dein inner‐
stes Sein und Leben erkunden, als bis du selbst
dich mit wachem Willen bereitet hast, so dass
deine Seelenatome leuchtend dir das Bild deines
Lebens wiederspiegeln!
Dann aber wirst du in diesem Bilde dich mit
mir vereinigt finden, denn was auf solche
Weise zum Aufleuchten kommt, bin in Wahr‐
heit ich selbst, so wie in dir ich mich er‐
lebe. ‒ ‒
Dunkel bleibt dir, trotzdem ich es durch‐
strahle, alles, was nicht du selber bist! ‒
Dunkel bleibt alles, was nicht mit wachem
Willen bereitet ist! ‒
Jenen irdisch-geheimnisvollen Strahlen gleich,
von denen ich vordem zu dir sprach, bleibe ich
unwahrnehmbar der unbereiteten Seele...
So aber du selbst dich in dir bereitet hast,
wirst du in meinem Eigenlichte erstrahlen, und
als dein eigenes Leben will ich dir mich
enthüllen in dir selbst! ‒ ‒ ‒
65 Worte des Lebens
LICHT
Unzählige Arten des Lichtes kannst du auf die‐
ser Erde kennenlernen und doch wird jede Art
des Lichtes die dein Auge je erblicken mag,
weithin überstrahlt von jenem einzigartigen
Lichte, das dem Erdball jenes ferne Sonnen‐
feuer schickt, aus dessen Strahlungskraft das
Kleinste, wie das Grösste dieses Wandelsternes
seine Formung findet. ‒
Aber auch dieses gewaltigste Licht das irdi‐
schem Auge noch erfassbar ist, bleibt trüber
Schimmer, willst du es etwa jenem Lichte ver‐
gleichen, das dich aus Geisteshöhen erreichen
kann, sobald du fähig wirst, es aufzunehmen...
Es ist kein leeres Spiel mit bildhaften Verglei‐
chen, wenn dir von geistigem «Lichte» ge‐
sprochen wird! ‒
Was dir aus geistigem Reiche zukommt, ist
wahrlich «Licht», und alles irdisch wahrnehm‐
bare äussere Leuchten, ist nur insofern «Licht»
zu nennen, als es mit ähnlicher Empfin
dung deine Seele erfüllt, wie jene Urkraft die
69 Worte des Lebens
aus hohen Geistes-Sphären dich erreichend,
sich als «Licht» dir offenbart...
Von diesem Lichte, das «in der Finsternis»
leuchtet und das die Finsternis niemals begrei‐
fen kann, sprach einer der Meinen dir als von
dem «Leben», ‒ und wahrlich: Wahrheit
künden seine Worte! ‒ ‒ ‒
Nur wer mich in sich selbst als sein eigenes Le
ben fand, kann auch von dem Lichte Zeugnis
geben!
In seiner urgezeugten Allgewalt soll ewig dieses
Licht des Geistes all dein Innerstes erhellen!
Du selbst sollst in dieses Lichtes Leuchten im‐
merdar erstrahlen und deines Leuchtens soll
kein Ende sein! ‒ ‒ ‒
Wie ein kunstreich geschliffener Diamant nicht
eher sein inneres Feuer wiederstrahlen kann, als
bis er von einem irdischen Lichte durchflutet
wird, so kannst auch du nicht aus deinem Inner‐
sten strahlen, solange du noch das Dunkel liebst
und dich vor mir verbirgst, ‒ vor mir: dem
ewig aus sich selber leuchtenden Lichte,
das Leben allem Dasein ist, in strahlender
Fülle und ohne Unterlass! ‒
Wahrlich, alles Dunkel sollst du dir selbst er‐
70 Worte des Lebens
hellen, wenn du in mir dich leuchtend finden
wirst!
Alle Wunder deiner selbst sollen dir offenbar
werden und alles was dich umgibt soll im Wie‐
derstrahlen des Lichtes leuchten das dich als‐
dann erfüllt! ‒ ‒
Noch aber genügt es dir, im Dunkel zu liegen
und dich nach dem Lichte nur zu sehnen, wohl
ahnend, dass du in seinen Strahlen aufzuleuch‐
ten vermöchtest, wie ein Kristall, den plötz‐
lich das Licht der Erdensonne trifft.
Oder, wenn du schon hin und wieder deiner
Trägheit dich entwinden magst, so bist du zu‐
frieden, wenn dich nur irgend ein Strahl aus
trüber Leuchte erreicht, der dann ein düsteres
Glühen deinem Innersten entlockt, ‒ ein müdes
Glimmen, das dich selbst nicht zu erhellen
vermag und noch viel weniger deiner Umwelt
Dunkel lichtet! ‒
All deine Fähigkeit zu leuchten glaubst du ge‐
nügsam so vor dir selbst bestätigt, um alsbald
dich wieder im Dunkel zu finden, sobald jene
trübe Leuchte sich von dir entfernt...
Du magst die wundersamsten Facetten zeigen
und dich mit allem Rechte, deines Wertes wohl-
71 Worte des Lebens
bewusst, deiner kostbaren Formung erfreuen,
aber niemals wirst du dich so aus deinem Inner‐
sten erleben, und als ein Fremder wirst du dir
selbst nichts zu sagen haben, solange du in sol‐
cher Schwere und starrer Trägheit verharrst! ‒ ‒
Die Jahre deines Erdenlebens fliehen dahin und
jede Sonnenwende wird dich am gleichen Fleck,
in gleiche Dunkelheit gebannt, erreichen, bis
einst dein irdisches Auge sich ermüdet für im‐
mer vor dem dir letzten Lichtstrahl der Erden‐
sonne schliesst und du, in gleicher Dunkelheit
verharrend, selbst das äussere Abbild we‐
senhaften Lichtes nicht mehr wahrzunehmen
vermagst, das deiner dichten Finsternis im
Innern immerhin noch wie ein Trost erschienen
war...
Vergeblich wirst du dann in dir eine auch nur
ähnliche Empfindung zu wecken suchen, wie
sie dein äusseres Menschendasein vorher wenig‐
stens im Lichte deines Erdentages finden
konnte...
Alles in dir und alles was dich umgibt, wird, bei
aller Greifbarkeit, in tiefster Verfinsterung sich
bergen, und dennoch wird dein Sehnen nach
Licht-Empfindung unstillbar sein...
72 Worte des Lebens
Aeonenlang wirst du so in qualvoller Nacht
vielleicht ein ungenütztes Erdenleben bereuen,
stets wirren Erlebens dunkler Regionen Beute,
bis dir dereinst in fernen Weltperioden wieder
der erste Schimmer des Lichtes werden mag...
Darum sagte dir einer, in dem meines Lichtes
Fülle war, einst das tiefbedeutsame Wort:
«Wirket solange es Tag ist, denn es
kommt» ‒ für jeden der hier nicht wirkte ‒
«die Nacht, da Niemand wirken kann»,
weil er alsdann für unberechenbare Zeiten die
Beute jener Dunkelheit ist, der er während sei‐
nes Erdenlebens nicht entronnen war, aus trä‐
gem Sich-bescheiden und in dem Wahn, seines
eigenen Wertes bewusstes Erleben sei des Reich‐
tums genug, so dass er meiner: ‒ des wesen
haften Lichtes, nicht bedürfe. ‒ ‒
Siehe, ich komme zu dir an diesem deinem Er‐
dentage, da ich dich liebe, damit du dich
heute, da es in deine Macht noch gegeben
ist, solchem Schicksal entreissen mögest! ‒ ‒ ‒
Bist du erst dem hier waltenden Gesetze ver
fallen, so vermag auch ich es nicht, dich aus
seiner weiterwirkenden Gewalt zu erlösen,
denn alles Gesetz ist in mir selbst ge
73 Worte des Lebens
gründet, so dass ich mich selbst verneinen
würde, wollte ich dich vor deiner Zeit zu be‐
freien suchen! ‒ ‒ ‒
Auch wenn du dich heute, da mein Wort dir
naht, den Banden des Dunkels mutvoll ent
reissen wirst, folgst du nicht minder in mir ge‐
gründetem Gesetz!
An dir allein ist es, zu entscheiden, ob du
dem Gesetze der Freiheit, oder dem der Bin
dung Folge leisten willst! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Du selbst bist Herr deines Schicksals gewor‐
den von dem unvordenklichen Augenblicke an,
da ich dich nach deinem Willen aus mir, der
ich ewig im Augenblick verharre, zu dei‐
ner selbstgewollten Wanderung entliess! ‒ ‒ ‒
Vorher erlebtest du dich selbst in mir, im ste
tigen Erleben des Augenblicks, gleich‐
sam den steten Querschnitt alles Daseins fas‐
send; ‒ nach deinem Ausgang aber konn‐
test und kannst du, wenn ich im Bilde mich dir
offenbaren soll, nur noch gleichsam den Längs
schnitt alles dessen was ist, erleben, bis du der‐
einst ‒ sei es nach dem Gesetz der Freiheit oder
der Bindung in deinen Ausgangspunkt zu
rückgefunden hast, der ich selber bin! ‒ ‒ ‒
74 Worte des Lebens
Tiefstes Geheimnis wird dir in diesen Wor‐
ten kund, und wohl dir, wenn du es erfassen
magst! ‒ ‒ ‒
Öffne dein Innerstes, damit dir dort wieder‐
klinge, was dir mein Wort verkündet!
In deinem Innersten wirst du so erfahren, wes
halb dir die Weisen zu sagen wussten, dass du
wahrhaftig tief «gefallen» bist, als du aus
deiner höchsten Höhe in mir, hinab und hinaus‐
begehrtest in diese Dunkelheit, die dich nun‐
mehr umgibt...
Noch aber trägst du auch hier in deiner Ver‐
finsterung die Kraft in dir, dich wieder zu mir
und zu deiner ersten Höhe zu erheben! ‒
Noch bist du in gleicher Gestalt und wirst sie
dir ewiglich erhalten können, in der ich dich in
mir fand, als ich dich entlassen musste, da dein
Wille nicht mehr Höhe sondern Tiefe suchte!
‒ ‒ ‒
Noch vermagst du aufs neue, hell in mir ‒ im
Lichte allen Lichtes ‒ aufzustrahlen! ‒ ‒ ‒
Du selbst aber musst deinen Willen zur Über
kehr bewegen, damit du endlich ‒ da du bereits
Aeonen vor deiner Geburt im Tiere der Erde,
durch dunkle Umnachtung irrtest, ‒ in den Be‐
75 Worte des Lebens
reich des ewigen Lichtes findest, das ich sel
ber bin, um in mir für alle Ewigkeit erneut zu
leben!
Siehe, ich leide in dir, da ich in mir selbst nicht
leiden kann und alles Leid vor meinem Lichte
Lüge wird!
Ich aber bin ewige Wahrheit und was nicht in
mir sich erfüllt, ist Trug und Schein!
Darum rufe ich dich, den ich liebe, damit du die
Lüge verlassen mögest, die sich als Leid dir
bekundet! ‒ ‒
Darum zeige ich dir den Weg aus deiner Ver‐
finsterung, auf dass du in mir ‒ in ewigem
Lichte ‒ in Freude erstrahlen mögest, ehe die
Dunkelheit dich aufs neue binden kann! ‒ ‒ ‒
In mir sollst du selbst zu Freude dich wan‐
deln und alles, was Leid war an dir, soll, wie der
Schorf vernarbter Wunden, abfallen von dir
und nicht mehr dich entstellen! ‒
Du sollst dir selber als Freude zu Bewusstsein
kommen, denn nicht eher kann ich als Licht
in dir mich offenbaren, als bis du selber zu
Freude in dir selbst gewandelt dich mir nahen
wirst! ‒
So allein, o Teurer, wirst du mich in dir selber
76 Worte des Lebens
finden, als Licht, um in den Strahlen dieses
Lichtes ewiglich zu leuchten! ‒
So sollst du selbst in Freude in mir zu lau‐
terem Lichte werden! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
77 Worte des Lebens
VERTRAUEN
Alles wirst du erreichen, was du erreichen
willst, wenn meinem Worte du vertraust!
Du hast vieles schon erreichen wollen und hast
es nicht erreicht, weil dein Vertrauen allzu‐
seicht gegründet war. ‒ ‒
In den tiefsten Tiefen deines Bewusstseins muss
dein Vertrauen Grund gefunden haben, so dass
kein Geschehen das dir widerfährt, es zu ent‐
wurzeln vermag! ‒
Wie einen Baum, der dir kostbare Früchte brin‐
gen soll, musst du es umhegen, damit die Tiere
der Wildnis den jungen Stamm nicht benagen
können und so sein Wachstum behindern!
Alle wuchernden Schösslinge musst du zeitig
entfernen, damit der Stamm sich aus aller Kraft
des Grundes nähren kann und nichts ihm ent‐
zogen wird, von dem, was er zu seiner Erstar‐
kung bedarf. ‒
Aber auch wenn der Baum deines Vertrauens
bereits auf hohem, kräftigem Stamme Äste und
Zweige zeigt ‒ wenn seine Krone sich voll ent‐
81 Worte des Lebens
falten will ‒ wirst stets du als guter Gärtner
darauf zu achten haben, dass alle allzuüppigen
Zweige sorglichst beschnitten werden, auf dass
die Kräfte des Baumes nicht seinen nährenden
Früchten sich entziehen, so dass er auch in Bälde
schon reichliche Ernte bringen kann. ‒ ‒
Wenn du bisher gar oft schon glaubtest, dein
Vertrauen sei zuschanden geworden, so sage
ich dir, dass du nur allzuwenig Sorge darauf ver‐
wendet hast, dass erst dein Vertrauen
machtvoll erstarke, ehe du Früchte von
ihm verlangst! ‒
Bist du ehrlich gegen dich selbst, so wirst du dir
gestehen müssen, dass du gewissermassen «ver
suchsweise» vertrautest, und dass ein gewoll‐
tes, künstlich genährtes Gefühl fast eigensinni‐
ger Sicherheit, dir als das unbeschränkte Ver
trauen erschien, von dem dir zu Ohren ge‐
kommen war, dass es mit magischer Macht dich
begaben könne...
Auf solche Art zu «vertrauen» aber ist ver
messentliches Tun und kann dir wahrlich kei‐
nen Segen bringen! ‒
Willst du in Wahrheit das grosse Vertrauen
82 Worte des Lebens
von dem ich hier künde, in dir Wurzel fassen
und sich entfalten sehen, dann wirst du dich vor
aller Torheit des Wähnens und Wünschens hüten
müssen, denn hier soll Wirkliches zur Wirkung
kommen, und dieses Wirkliche kann seine Wir‐
kung nicht erweisen, solange ihm in dir noch ein
Gebilde deiner Ein-Bildung den Raum beengt! ‒
Siehe, das Vertrauen, das ich in dir finden
will, folgt unbeirrbarem Gesetz und keine Will‐
kür wird es also beugen können, dass es in Wir‐
kung sich bekunde, solange seine einverwobene
Gesetzlichkeit ‒ magst du nun deines Tuns be‐
wusst sein oder nicht ‒ missachtet wird! ‒
Du wirst auch gewiss nicht von heute auf
morgen dieses grosse Vertrauen in deinem
Innern wurzelhaft gefestigt und entfaltet sehen
können!
Es wird, wie alles was du in deiner zeitlichen
Form ins Werden rufen willst, seine Zeit des
Werdens brauchen, und du wirst in Ruhe alle
voreiligen Wünsche bannen müssen, die ihm
nur Hindernisse bereiten würden! ‒ ‒
Beginne damit, in dir alle Kräfte des Erfüh
lens wachzurufen, um auf solche Weise ahnend
zu erfassen, was in dir erstehen soll!
83 Worte des Lebens
Hast du es auch nur ahnend bereits erfasst,
dann halte fest, was dir wurde, und stelle alle
deine Gedanken in den Dienst deines hohen
Strebens, den so erfassten Keim vor Schaden zu
bewahren!
Lasse keinen Tag vergehen, ohne dir aufs neue
dessen bewusst zu werden, was du bereits zu
erahnen vermagst, und wehre dich gegen alle
Gedanken des Zweifels, die wie flatternde Vö‐
gel versuchen werden, den zarten Keim zu ver
nichten, bevor er in tiefsten Gründen Wurzel
schlagen konnte!
Setze solcher Verwurzelung keinen Wider
stand entgegen, sondern lockere selbst das
geistige Erdreich in dir und überlasse es dem
Tau der Gnade, damit es von jenen feinen Wur‐
zeln durchdrungen werden kann, die dein Ver‐
trauen nähren sollen! ‒ ‒
So wirst du es langsam stärker und immer stär‐
ker heranwachsen sehen; wirst, wie ich eingangs
sagte, darauf achten müssen, dass ihm die Tiere
der Wildnis nicht schaden, und dass wuchernde
Triebe ihm nicht seine Kräfte entziehen...
Ist solcherweise dann aber dein Vertrauen erst
mächtig entfaltet, dann wirst du erproben
84 Worte des Lebens
müssen, ob du auch wirklich das Edelgewächs
gezogen hast, nach dessen Früchten du ver‐
langst. ‒ ‒
Nicht anders wird dir nun Gewissheit werden,
als dadurch, dass du dein Allerinnerstes zur
Antwort aufzurufen unternimmst, und aus dei‐
nem Allerinnersten wird dir dann die Sicher
heit kommen, dass du wahrlich Edelfrüchte er‐
warten darfst, ‒ es sei denn, du habest von
allem Anfang an nur deiner wilden Wünsche
Trieb in dein inneres Erdreich versenkt. ‒ ‒ ‒
Bevor dir nicht aus deinem allerinnersten In‐
nern die Bestätigung wird, dass dein Ver‐
trauen edle Ernte verheisst, sollst du in weisem
Bescheiden dir versagen, Früchte zu erwar‐
ten! ‒ ‒ ‒
Bisher habe ich dir nun hier zwar in Bildern
gesprochen, aber auch ohne Bild und Gleichnis
soll dir verstehbar werden, was hier zu ver‐
stehen ist...
So höre denn und erwäge in deinem Herzen:
Urewige Kraft ist es, die in dir zur Wirkung
kommen soll!
Du kannst diese Kraft nur erwecken durch
jene innere Haltung, die in der Sprache des
85 Worte des Lebens
Menschenmundes als «Vertrauen» bezeichnet
wird. ‒ ‒
Keineswegs sollst du nun blindlings vertrauen,
dass irgendwelche Wünsche stets Erfüllung
fänden, wenn nur das Vertrauen in ihre Er‐
füllung in dir vorhanden sei!
Grösseres wird von dir verlangt und Grös
seres sollst du erlangen! ‒
Ich will, dass du mir ohne Vorbehalt vertraust
und solches absolute Vertrauen schliesst in sich,
dass du auch mir allein deiner Wünsche Erfül‐
lung überlassen magst. ‒ ‒
Nur wenn du mir allein die Erfüllung deiner
Wünsche überträgst, darfst du mit aller Zu‐
versicht erwarten, dass ich sie zu erfüllen
trachte! ‒ ‒ ‒
Glaube nicht, du müsstest mir Anweisung ge‐
ben, wie sie zu erfüllen wären!
Ich weiss allein, wie sie zu erfüllen sind und ob
ihre Erfüllung dir zum Segen wird! ‒
Ich aber weiss auch nur allein, auf welche
Weise deinen Wünschen, so sie höherem Ge‐
setz in mir nicht widerstreiten, die Erfüllung
werden kann! ‒ ‒
86 Worte des Lebens
Ich nur allein weiss in gewissem Wissen, wann
die Zeit erreicht ist, um dir deine Wünsche, so
sie auch vor mir als wünschbar gelten können,
zu erfüllen! ‒ ‒ ‒
Würdest du auf andere Art dir die Erfüllung
erschleichen und erlisten können, so sei si‐
cher, dass die Erfüllung dir zuletzt nur Unheil
bringen würde, und dass du alsdann den Tag
der Erfüllung verfluchen müsstest! ‒
Vertraue mir, wie du vertrauen sollst: ‒ in ab‐
solutem Vertrauen, und du darfst sicher sein,
dass ich alles dir gewähre, was dir und Anderen
zum Heil gereicht!
Hadere nicht mit mir, wenn ich anders erfülle,
als du dir die Erfüllung dachtest!
Hadere nicht mit mir, wenn ich nicht erfülle,
was dir so leicht erfüllbar schien, ja wenn ich
das Gegenteil von dem was du «Erfüllung»
nennen würdest, deinen Wünschen widerfahren
lasse! ‒ ‒
Warte geduldig die Folge des Geschehens ab,
und dann erst fälle dein Urteil, ob ich dein Heil
versah, oder aber um deines Heiles willen An
deres bewirkte, um auf solche Weise deiner
Wünsche letztes Sehnsuchtsziel zu erreichen!
87 Worte des Lebens
Vorbehaltloses Vertrauen zu mir bedingt, dass
du auch dann mir dein Vertrauen nicht ent‐
ziehen wirst, wenn meine Art dir zu entspre‐
chen, in ihrer Weisheit dem nicht entspricht,
was du erwartet hattest! ‒
Vertraue auch dann und du wirst zuletzt er‐
kennen, dass wahrlich deine Wünsche Erfül
lung finden, auch wenn der Weg zu ihrer Er‐
füllung dir zuerst wie ein böser Umweg erschien,
oder gar dein Vertrauen auf harte Proben
stellte! ‒ ‒ ‒
Zumeist aber wirst du sehen, dass deine Wün‐
sche alsbald Erfüllung finden, soweit sie nur
die Grenzen achten, die alles Geschehens Ablauf
bestimmen, und soweit du selbst dafür zu sorgen
wusstest, dass die Erfüllung alle Vorbedin
gung antrifft, deren sie bedarf. ‒
Ich werde gewiss nicht auf andere Weise zur
Erfüllung schreiten als du es erwartest,
wenn du nicht durch deiner Wünsche Art mich
dazu zwingst!
Wisse aber, dass du erst dann dich deinem Ver‐
trauen zu mir übergeben darfst, wenn ich selbst
dich zu diesem Vertrauen durch die von mir ge‐
gebene innere Gewissheit berechtigt habe! ‒ ‒
88 Worte des Lebens
Du wirst diese innere Gewissheit mit aller Si
cherheit in dir zu erfühlen vermögen, sobald
du nur in dir selbst jene innere Haltung genü‐
gend gefestigt hast, die dich aller Torheit des
Wähnens entrückt, und wirkliche Kraftbe
zeugung genug bekundet, um meiner Kraft
zu einem festen Hebelpunkt zu dienen...
Vorher aber musst du dich selbst zu der Er‐
kenntnis durchgerungen haben, dass du stets
meiner Kraft bedarfst, ‒ dass du nur der
Stützpunkt werden kannst, an dem meine
Kraft, die stetig in dir selber ruht, sich er
weisen kann. ‒ ‒ ‒
Du selbst musst fest in dir werden und dir
selbst vertrauen können, bevor du auf mich
dein Vertrauen setzen darfst! ‒
In gleichem Grade, in dem ich dir vertrauen
kann, weil du dir selbst vertraust, wirst
du auf mich vertrauen dürfen! ‒ ‒ ‒
Siehe, zu solchem Vertrauen soll mein Wort
deine Seele leiten!
Solches Vertrauen soll in dir Grund und Nah‐
rung finden!
89 Worte des Lebens
In solchem Vertrauen wirst du wahrlich alles
erreichen, was nur immer du erreichen willst! ‒
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
90 Worte des Lebens
ERLEUCHTUNG
Mit Licht will ich deine Seele erfüllen, ‒ ich,
der ich in dir mich erlebe, und allen Lichtes
ewiges Leuchten bin!
Aus mir nur kann dir deine Erleuchtung
werden, und es ist kein Licht zu finden, so du
ausser dir suchst, das jemals dich erleuchten
könnte! ‒
Alles Licht, das du aussen wahrnimmst,
stammt aus mir; ‒ ich aber bin in deinem Al
lerinnersten verborgen und nur von deinem
Allerinnersten her kann ich dich mit mei‐
nem Lichte erfüllen! ‒
Ich selbst, o du, der sich im Dunkel verbirgt,
bin alles Licht, ‒ ich selbst bin allen Lichtes
Leuchten, ‒ ich selbst bin Erleuchtung
allen, die nach mir Verlangen tragen! ‒ ‒
Ich habe Dir mannigfache Wege gezeigt, die du
zu Ende gehen musst, willst du mich erlangen.
Nicht so, als ob alle die gleichen Wege gehen
müssten; aber jeder wird einige dieser Wege die
ich dir zeigte, in seinen Wegen wiedererkennen
93 Worte des Lebens
und dann nicht mehr zweifeln können, ob er zu
mir auf dem Wege ist oder nur Luftgebilden
Vertrauen schenkt, die ihn stets weiter in die
endlose Wüste des Irrtums locken...
Hast du aber mit innerer Stetigkeit jene Wege
durchschritten, die du als die deinen erkann‐
test, so wirst du mit aller Sicherheit am Ende
eines dieser Wege endlich mir begegnen und
dann wird der Tag erschienen sein, an dem ich
dich erleuchten kann, so, dass alles, was vor‐
dem finster war in dir, nun zu strahlender
Helle sich wandeln muss in meinem Licht! ‒ ‒
«Erleuchtung» heisst: Sichtbarmachen alles
dessen, was vorher im Dunkel lag und nicht zur
Erkenntnis kam!
«Erleuchtung» heisst: alle Winkel im Hause
deiner Seele erhellen, so dass kein Versteck mehr
bleiben kann, in dem Giftkröten und Vipern dir
begegnen könnten!
«Erleuchtung» heisst endlich: das Haus dei‐
ner Seele so mit Licht erfüllen, dass weit hin‐
aus in die Täler der Finsternis, des Lichtes reine
Strahlen sich ergiessen, und alles Nachtgetier
sich furchterfüllt zu seinen Höhlen wendet!
94 Worte des Lebens
Du glaubtest oftmals schon klar zu sehen im
trüben Lichte das dir die Erde gab, der du dich
aus eigenem Willen verhaftet hast!
Hell schien dir alsdann das Licht des Verstan
des zu erstrahlen, und was es auch beleuchten
mochte, schien dir also erkennbar geworden zu
sein, dass du kaum mehr nach hellerem Lichte
verlangen mochtest. ‒ ‒
Du wirst einst erfahren, dass alles, was dein
Verstand dir bisher vermeintlich erhellen
konnte, in Wahrheit noch in tiefem Dunkel
lag; ‒ dass du wohl die Umrisse erkanntest,
aber nichts von dem erahnen konntest, was
durch sie Begrenzung fand! ‒
Es schien dir Gewissheit, dass alles dir fassbare
Licht die Dinge nur von aussen her be-leuch
ten könne; ‒ nun aber soll es dir offenbar wer‐
den, dass du in meinem Lichte sehend wer‐
den kannst, so dass dir die Dinge ihr Innerstes
enthüllen müssen! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Wahrlich, es ist kein Kleines, das dir werden
soll, sobald du durch Liebe, Tat und Kampf,
den Frieden, die Kraft und das Leben in
mir fandest: ‒ in mir, der ich das Licht in dir
bin, das dich ewig erleuchten wird!! ‒ ‒ ‒
95 Worte des Lebens
Es gab so manchen schon, der nach Erleuch
tung strebte, bevor er die Wege durchschritten
hatte, die ihn allein zum Lichte hätten führen
können...
Tausend Truglichter aber lauerten auf sei‐
nem Wege und so verfiel er dann dem, das ihn
am besten zu trügen wusste, und wähnte sich
in der «Erleuchtung», während er tiefer noch
in Nacht versunken war als alle, die zwar plan‐
los suchten, weil sie den Trug als Trug er‐
kannten, aber den Weg nicht zu finden wussten,
den sie durchschreiten sollten. ‒
Dem gar nun vor den Wegen graut, die er erst
durchmessen muss, will er mir begegnen und in
meinem Lichte erleuchtet sein, der ist
wahrlich der Erleuchtung nicht wert und ver‐
dient, dass er in öder Nacht die Dinge tastend
nur wie ein Träumender be-greift, statt dass
er sie in mir erkennt wie man in mir allein er‐
kennen kann: ‒ durchschauend was da ist;
da alles Seiende in mir nur werden konnte, und
ich sein Dasein in mir trage wie die Mutter ihres
Leibes Frucht! ‒ ‒ ‒
Wer die Erleuchtung sucht, bevor er selbst
sich ihrer würdig machte, verdient, dass ihn
96 Worte des Lebens
der Trug zu äffen weiss; denn er verwechselt
Wirklichkeit mit seinem Wahn, so dass es
wohlbegründet ist, wenn Wahn sich ihm als
Wirkliches erbietet. ‒ ‒ ‒
O, wie erfüllt ist diese Erdenwelt mit
den Betrogenen ihres eigenen Wäh
nens, und wie hoch haben sie sich doch
alle Wege verbaut, auf denen sie einer
erreichen könnte, der sie ihrem Wahn
noch zu entreissen vermöchte!!!
Ich will dich wahrlich nicht unter der Schar
dieser Betrogenen sehen, darum rate ich dir,
den ich liebe, da ich in dir mein Tabernakel
habe: ‒ entfliehe den Wegen nicht, die zu mir
dich leiten wollen, auch wenn sie dir dunkel oft
und trostlos erscheinen mögen; denn siehe: ich
bin wie die Sonne und erstrahle dann am leuch‐
tendsten, wenn vorher dunkles Gewölke mich
dem Auge des Menschen verbarg! ‒ ‒
Auch jenen, die sich so im Dunkel bergen, bin
ich in gleicher Weise innerstes Licht und habe
in ihnen meinen heiligen Schrein, ‒ allein sie
umhüllen ihn mit dichter Hülle und suchen
draussen, was sie nur im Allerinnersten
erreichen könnte...
97 Worte des Lebens
In stolzem Dünkel glauben sie sich selbst be‐
fähigt, das Licht, das sie erleuchten könnte, in
sich aufzufinden ohne jene Helfer, die ich mir
aus ihrer Mitte schuf, damit mein Leuchten
durch sie die Formung fände, die den Tief‐
umnachteten noch fassbar bleibt, will ich nicht
durch die Strahlen meines sonnenüberhellten
Lichtes ihre Augen also blenden, dass sie aller
Fähigkeit des Sehens ewiglich entraten müss‐
ten. ‒ ‒
Der Sonne kann niemand nahen, aber ihres
Lichtes kann jeder teilhaft werden, und wenn
auch Millionen in ihrem Lichte wandeln, so
wird doch jeder alles Licht empfangen und
keinem würde etwa mehr zuteil, wenn er nur
allein beschienen würde. ‒
Der Strahl der Sonne aber muss erst durch gar
mancherlei Schichten des Weltenraumes hin‐
durch, um endlich in irdischer Atmosphäre
so gewandelt zu werden, dass du ihn ertragen
kannst.
Würdest du ihm zu nahen vermögen, dort wo
er aus der Sonne seinen Ausgang nimmt, so
müsstest du gewisslich im selben Augenblick in
seinem Feuer vernichtet werden. ‒
98 Worte des Lebens
Es würde dir auch sicher jeder als Ausbund der
Torheit erscheinen, der etwa glauben wollte, das
Licht der Sonne könne ihn erreichen, auch
wenn zwischen ihm und dem leuchtenden Ge‐
stirn keinerlei Substanz vorhanden wäre, in
der sich des Lichtes Wellenschwingung bewe
gen kann. ‒ ‒
Ähnliches aber erwarten alle, die mich in sich
finden wollen, ohne vorher sich selbst dem
Stromkreis zu öffnen, den ich durch ihresglei‐
chen mir schuf, als transformierende Substanz
für meines Lichtes Strahlen. ‒ ‒ ‒
Wohl trägst du mich in dir und ich bin dir
näher als dein eigener Leib; ‒ aber nur dein Be
wusstsein kann mich dir offenbaren!
Doch dein Bewusstsein ist begrenzt in mannig‐
facher Weise und könnte niemals mich in sich
empfinden, hätte ich mir nicht in Einigen, die
so wie du als Menschen hier auf eurer Erde le‐
ben, eine verwandelnde Kraft erzeugt, die
überquellend ihnen nun entströmt und allem
Menschenbewusstsein dadurch erreichbar
ist, sofern es nur durch Tat und Leben die‐
sem Kraftstrom sich entgegenregt! ‒
Seit vielen Jahrtausenden schon werde ich sol‐
99 Worte des Lebens
cherart dem Bewusstsein des Erdenmenschen
kund, und solange Menschen auf dieser Erde
leben, werden immer Einige unter ihnen sein,
deren Geistnatur mir dazu dienen wird, diese
Wandlungskraft zu erzeugen. ‒ ‒ ‒
Wenn aber jeweils auch nur Einer unter den
Menschen wäre, in dem ich sie zu erzeugen ver‐
möchte, da er in seiner Geistnatur aus freien
Stücken sich dazu erbot, noch ehe er der Erde
Leib empfing, so würde doch auch aus diesem
Einen schon alles Menschenbewusstsein diese
Wandlungskraft erhalten; denn was ich so in
einem dieser Menschen zeuge, ist keineswegs
in ihm allein beschlossen, sondern
wirkt in Schwingungen sich aus, die
über diesen ganzen Erdball sich ver
breiten und jedes Bewusstsein in die
gleiche Schwingung setzen, das, wis
send oder auch nur gläubig seinem
Fühlen folgend, mit allen Seelenkräf
ten nach mir verlangt! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Die so seit unvordenklichen Zeiten schon, fort‐
zeugend zu Leuchtenden ich mir schuf, waren
fast stets gehalten, unerkannt, in ferner Abge‐
schiedenheit von menschlichem Treiben zu ver‐
100 Worte des Lebens
harren, und äusserst selten nur ward einem der
Ruf, auch in seinem eigenen Tun unter anderen
Menschen zu wirken.
Nur wenn der Zeiten Fülle es erheischte, neuen
Samen auszusäen, der in meinem Lichte keimen
sollte, liess ich solchen Ruf ergehen.
Doch ist ein Anderes die Wandlungskraft,
die ich in denen, die mir zu Leuchtenden wur‐
den, immerfort erzeuge, und wieder ein Anderes
das Wirken im Bereich der Sichtbar
keit, das ich zu Zeiten einem aus ihnen ge‐
bot! ‒ ‒
Kein Anderer aber als einer dieser Leuchten‐
den könnte jemals solchen Wirkens Vollbrin
ger sein! ‒ ‒ ‒
Was dir durch einen dieser Wirkenden gegeben
wird, betrachte als Lehre, die dich zur Berei
tung deiner selbst zu leiten vermag; ‒ aber
was dir die Fähigkeit verleiht, mich in dir zu
finden, sollst du allein in jener Wandlungs
kraft erkennen, die ich in jedem meiner Leuch‐
tenden immerdar erzeuge, mag er im Weltge‐
triebe wirken aus Geheiss und Pflicht, ‒ mag er
in tiefster Einsamkeit und keinem Menschenruf
erreichbar, nur die Kraft zu lenken haben, die
101 Worte des Lebens
in seiner Geistnatur durch mich erzeugt, ihr nun
entquillt, und so dann die Bewusstseins-Sphäre
aller Menschen dieser Erde zu erreichen weiss! ‒
Suche hier nicht durch des Verstandes trübe
Leuchte dir zu erhellen, was dir erst wahrhaft
licht und klar werden kann, wenn es in deinem
eigenen Erleben sich erfüllt!
Wisse aber, dass viele Tausende mich suchten
und nicht zu Findern wurden, da sie sich allzu‐
sehr, in irdischem Bewusstsein träumend, in die
Fesseln ihres Eigenwahns verstrickten, bis der
Gedanke, dass sie um Erleuchtung bitten
könnten ihnen fremd geworden war, und sie
nicht mehr vermochten, anzuklopfen, dort
wo jedem, der da anzuklopfen weiss, alsbald
geöffnet wird!
Suchst du Erleuchtung, so öffne weit dein
Herz und schaffe in dir den Zustand dessen,
der sich geben lassen will, was er noch nicht
besitzt!
Sei wie einer, der an die Türe eines Schatzhauses
pocht, und sich berechtigt weiss, dass man
ihm öffne!
Suche aber nicht, gleich einem Diebe, mit fal
102 Worte des Lebens
schen Schlüsseln die Pforte zu öffnen und
nicht einem Kriegsknecht gleich, sie einzu
rennen!
Beides würde dir doch nicht gelingen, und er‐
müdet würdest du vor der Pforte in Schlaf ver‐
sinken, um dann in äffenden Träumen zu wäh‐
nen, du seiest eingedrungen. ‒ ‒
Ebenso hüte dich sehr, etwa nehmen zu wol‐
len, bevor dir gegeben wird!
Auch da würdest du niemals ergreifen können,
was du vor dir zu sehen glaubst, und jedes Lan‐
gen nach dem Begehrten würde dich ins Leere
fassen lassen! ‒ ‒ ‒
So du aber handeln willst nach meinem Wort,
wird dein vergebliches Suchen alsbald beendet
sein!
Das Gesetz erfüllend, das hier erfüllt sein
will, wirst du zu finden wissen!
Dein Herz der Gnade öffnend, die keine Will‐
kür kennt, wirst du Erleuchtung erlangen,
die ewig dich erleuchten soll! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
103 Worte des Lebens
GELÖBNIS
O Du, Unfassbarer, Urgewaltiger, der
Du in meine Nacht der Nichterkenntnis Deines
Wortes hellende Sterne sendest, lass meinen
Dank vor Dir wie Weihrauchwolken sich erhe‐
ben und Deines Tempels Unermesslichkeit er‐
füllen!
Wahrlich, ich weiss nicht, wie ich Dich nennen
soll, es sei denn, Dein «Name» wäre ‒ geheiligt
durch Dein Sein ‒ der gleiche, in dem ich
selbst mich vor mir benennen lernte, indem
ich zu mir selber komme und sage:
Ich!
Du Ur-Ich, Ur-Licht, Ur-Wort bist Ur
Grund meines Seins!
Als Deines «Namens» Abglanz und Bild, lehr‐
test Du selbst meine Seele, ‒ mich benennen! ‒ ‒
Verdunkelt durch alle selbstgeschaffenen Zwi‐
schenwände, die mich Dir verbergen sollten,
strömte dennoch Dein Licht zu mir!
Als «Luzifer», als Träger Deines Lichtes, war
107 Worte des Lebens
ich einst Dir nahe, ehe ich mich selbst in grauen‐
hafte Finsternis versinken liess, da ich ver‐
meinte, selbst das
Licht
zu sein! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Nun zeugst Du selbst in meinesgleichen, um
mich zu erlösen, Deiner Liebe unbegreiflich hohe
Wandlungskraft, auf dass in mir ‒ der Seele
jungfräulichem Schoss entsprossen ‒ «Chri
stos» der Herr: Dein
Wort
geboren werden könne, mich aus Höllenqual
und lichtesfernstem Dunkel zu Dir zurückzu‐
führen! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Du, meines Daseins Urgrund gibst Dich
selbst mir kund, ‒ lehrst mich in Menschen‐
wort: zu Dir zu finden, und zeigst mir, dass in
Dir die Gnade wohnt, die, aller Willkür hoch
entrückt, Gesetz ist und Erfüllung heischt, soll
meine Seele sie erreichen können...
O wie ferne waren doch Jene von Dir, die mir
von «Gnade» sprachen, so als ob Du, wandel‐
108 Worte des Lebens
baren Erdgeborenen gleich, nach Laune Schuld
erlassen oder auf mir lasten lassen könntest! ‒ ‒
Nun kamst Du selbst zu mir, mich zu belehren,
und ich erkenne Dich, auch wenn mein Auge
noch geblendet ist von Deines Lichtes überheller
Klarheit!
Nun weiss ich, dass ich selbst nur Abbild
Deines Lebens bin, und dass alles, was ich
selbst mir zuschrieb, einzig und allein nur Dei
ner Allkraft Wirkung war! ‒ ‒ ‒
Zu Dir, Du mein innerstes Sein, soll sich hin‐
fort nun meine Seele kehren!
In Dir nur kann sie geborgen ruhen!
Von Dir nur darf sie das Heil erwarten!
Aus Dir nur kann ihr die Rettung kommen!
Ach, dass ich nicht eher schon erkannte, wie
mir Erlösung werden könne, und immerfort
Ausschau hielt nach kommenden Erlösern, wäh‐
rend ich in mir selbst, Dich, den Erlösenden
trug! ‒ ‒
Doch will ich wahrlich jetzt nicht murren und
will mein Schicksal nicht beklagen.
109 Worte des Lebens
Heute, an diesem Tage, ward mir das
Heil!
Gepriesen sei ewig Tag und Stunde, da Du, mein
Innerstes, zu mir Dich wenden wolltest!
Nicht könnte ich jemals Dir entrinnen, auch
wenn ich niemals zu Dir mich kehrte!
In Nacht versunken, mich selbst verlierend,
bliebe ich dennoch, auch wissenlos, der Abglanz
des Wunders aller Wunder, das da in Ewigkeit
Du selber bist! ‒ ‒ ‒
Nun aber, da Du selbst mir gerufen hast, will
ich wahrlich den Ruf nicht überhören!
Ach, ich wartete ja so manche Jahre mit aller
Inbrunst auf Deinen Ruf! ‒ ‒
O Du, der meine Seele in sich selber trägt, leite
mich fortan durch jene Wandlungskraft, die
Du in Menschengeistesformen zeugst, damit er‐
kennend ich zum Schauen komme, jenen gleich,
die Du zu meinem Heile Dir zu Helfern schufst!
Siehe, ich bin Dein Eigen und nichts
mehr ist an mir, das da Anrecht er
heben könnte an mich!
Ich gehöre nur Dir und habe nichts mehr, das
nicht von Dir ergriffen werden wollte!
110 Worte des Lebens
In Dir allein will ich mein Heil und meine Selig‐
keit finden!
Dir allein soll hinfort all mein Atmen ein Lob‐
preis sein!
Zu Dir allein soll sich all mein Denken kehren!
Durch Dich allein will ich ewig dereinst im
Leben sein! ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Du, ‒
der:
«Ich Bin!»
111 Worte des Lebens
ENDE
DAS HOHE ZIEL
Verlagslogo
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG AG
BERN
BÔ YIN RÂ
Autorenname von J. A. Schneiderfranken
3. Auflage
Unveränderter Nachdruck der 1961 in der Kober'schen
Verlagsbuchhandlung erschienenen zweiten Auflage
Erste Auflage Verlag Magische Blätter Leipzig, 1925
© 1972, Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG Bern
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Übersetzung in
fremde Sprachen und der Verbreitung in Rundfunk und
Fernsehen. Druck: Graphische Anstalt Schüler AG, Biel
INHALT Seite
Leitwort 7
Der Ruf des Geistes 11
Die zwei Wege 19
Vom Suchen und Finden 31
Vom ewigen Lichte 39
Von des Lichtes Farben 45
Vom hohen Ziele 53
Von den Wegen der Alten 63
Vom Segen der Arbeit 71
Von der Macht der Liebe 85
Der Meister von Nazareth 97
Originalscan
LEITWORT
.Höher als alle Erdenziele ist das hohe
Ziel, das dieses Buches Worte dir zeigen
wollen.
Vergeblich aber wirst du dieses Ziel zu er‐
reichen suchen, wenn du es etwa in weiter
Ferne wähnst!
Der Weg, der dich zu deinem hohen Ziele
führt, ist in dir selbst, und in dir selber
nur wirst du dereinst das hohe Ziel errei
chen!
Auch alle Hilfe deren du bedarfst auf dei‐
nem Wege, wird dir nur in dir selbst zuteil!
Nur in dir selber kannst du die helfenden
Hände ergreifen, die sich dir entgegen‐
strecken!
Verwechsle nicht die Lehre, die dir das
Ziel zu zeigen sucht und dich auf den
Weg zum Ziele leiten will, mit dem Be
treten des Weges in dir selbst!
Erst dann kann dir die Lehre Segen
bringen, wenn du nach ihrer Weisung in dir
selber suchst. ‒
Dann erst wirst du auch Hilfe in dir sel‐
ber finden!
9 Das hohe Ziel
Sollen darum dieses Buches Worte dich zu
deinem hohen Ziele bringen, so wirst du
sie in dir selber wiederklingen lassen
müssen.
In deinem Inneren wirst du alsdann den
steilen Weg entdecken, und wenn du ihn
mutig zu erklimmen suchst, so wird er auch
dich das hohe Ziel einst in dir selber
finden lassen! ‒ ‒
10 Das hohe Ziel
DER RUF DES GEISTES
.Es war nicht klügliches Ersinnen, was die
alten Weisen immer wieder zu der Mahnung
drängte, den Geist in der Stille zu suchen,
bei «verschlossenen Türen» des Geistes Ruf
zu erwarten. ‒
Was dann im Inneren vernommen werden
kann, wird nur der Seele hörbar sein, und
fühlend nur wird sie vernehmen können,
was niemals sich in Worte einer Menschen‐
sprache fassen läßt...
Wohl dem, der solcherart fühlend zu hören
weiß!
.Nicht allen wird es gegeben sein, den Ruf
des Geistes sogleich zu vernehmen.
Sie werden oft lange im «Gebete» verharren
müssen, ehe ihr Inneres also aufgetan
wird, daß sie in sich selbst den Ruf er
fassen...
.Wie fernes Saitenspiel nur das ge
schärfte, kundige Ohr die Melodie er‐
13 Das hohe Ziel
kennen läßt, indessen es anderen Ohren nur
undeutbares Klingen bleibt, so wird der
sanfte Ruf des Geistes nur von denen ver‐
nommen, die ihr inneres Gehör zu schär‐
fen wußten und die Seele geistiger Dinge
also kundig werden ließen, daß sie auch
deuten kann, was ihrem Hören klingt. ‒ ‒ ‒
.Im Lärm des überlauten Tages taub ge‐
worden, irrt so mancher durch die Wüste, ‒
harrend des Rufes, der ihn erreichen könne,
und seiner Taubheit nicht bewußt.
Vergeblich wird der Ruf des Geistes ihn zu
bewegen suchen...
Erst muß der Lärmbetörte seiner Taubheit
inne werden, um dann in der Stille wieder
sein Gehör zu erlangen.
Erreicht dann wieder Geistiges sein Ohr,
dann wird er lernen müssen, sich dem Lärm
der Außenwelt beharrlich zu verschließen
und dennoch nicht vor ihm zu fliehen. ‒
Was immer ihn umgeben mag, ‒ stets muß
er sich selbst in der Stille erhalten!
14 Das hohe Ziel
Der Lärm des Tages darf nicht in sein In
neres dringen, auch wenn er sein Äußeres
mit aller Macht umtost. ‒
Wer den Ruf des Geistes hören will, muß
sein Gehör allein nach Innen kehren.
Nur in seinem Inneren wird er vernehmen
lernen können, was nie zu Worte ward...
Lärm und Getöse wird ihn nicht betäuben,
wenn er im Inneren zu hören weiß!
Inmitten der Außenwelt, die ihn um‐
brandet, wird er sich selbst eine Insel der
Stille sein.
Der Wogen Toben und des Sturmes Heulen
wird er überhören lernen, und aus der
Stille in ihm selbst wird ihm des Geistes
hoher Ruf erklingen! ‒
.Durch Tat und Wirken wird die Stille
nicht gestört, die hier vonnöten ist!
Nicht dort, wo nur des Todes Stille herrscht,
kann je der Ruf vernommen werden!
15 Das hohe Ziel
Nur wo das Leben seine Wogen wirft, wird
auch die innere Stille noch voll des Lebens
sein, aus dem der Geist das Geistige im
Menschen zeugen kann.
Nur solche Geisteszeugung hört den Ruf
des Geistes! Durch sie nur kann dem Men‐
schen Wissen werden ‒ um sich selbst!
‒ ‒ ‒
Wer anders je sich selbst bei «Namen»
nennen hören will, wird stets vergeblich war‐
ten können...
Der Ruf, den er ersehnt, kann nur von
Innen kommen, wenn das Innerste be‐
reits erwachte durch des Geistes zeugende
Gewalt, die in der Stille nur zur Wirkung
kommt. Nur aus dem Innersten des In
nern läßt sich Geistiges vernehmen!
.Die Lehre, die von außen her gegeben
wird, soll dir nur zur Vorbereitung dienen.
Sie soll dein Inneres des Geistes kundig
werden lassen, damit dereinst der Ruf aus
16 Das hohe Ziel
deinem Allerinnersten dir faßbar werden
kann.
Die Lehre wird dir immer nur vom Geiste
zu sagen wissen, was sich sagen läßt. Des
Geistes Wirklichkeit kann dir jedoch nur
nahen im Erleben!
Du kannst des Geistes Leben anders nicht er‐
fassen, als durch Innewerden. ‒ ‒ ‒
So kehre dich denn mit aller Kraft deinem
Inneren zu und bitte den Geist in dir
selbst, daß er dein Allerinnerstes er‐
wecken möge!
Verharre in solchem «Gebete», bis du Er‐
hörung findest!
Erhalte dich in der Stille und in sicherer
Zuversicht!
Selbst dein «Gebet» darf nicht die Stille
stören! ‒
Noch weniger aber darfst du heischen und
fordern, was sich dir von selbst ergibt,
sobald dein Inneres durch die Stille bereitet
ist. ‒
Erwarte in heiterer Ruhe deinen Tag! Sei
tätig mit all deinen äußeren Kräften in der
17 Das hohe Ziel
Außenwelt, doch lasse das Tabernakel dei‐
nes Innern niemals durch die Sorgen dieser
Außenwelt entweihen! In deinem Innern
mußt du, unbeirrt durch die äußeren Stürme,
stets die Stille bewahren!
Kein Geräusch der Außenwelt darf dieses
Innere in dir erreichen!
So wirst du dereinst ‒ an deinem Tage ‒
deine tiefste Tiefe ergründen und zu dei‐
ner höchsten Höhe erhoben werden!
So wirst du dereinst den Ruf des Geistes
in dir selbst vernehmen und dich selbst
im Geiste erkennen! ‒
Im Leben des Geistes wirst du dann
selbst dich im ewigen Leben finden!
*
18 Das hohe Ziel
DIE ZWEI WEGE
.Mehr als jemals ist es in heutigen Tagen
an der Zeit, stets erneut darauf hinzuweisen,
daß nicht alles «Geheimnisvolle», von dem
wir umgeben sind, zu jenem letzten und hei‐
ligsten Geheimnis führt, das allein der Seele
Erlösung bringen kann.
Ja, es mag vielleicht nötig sein, auch Ver‐
wahrung einzulegen gegen ein allzu leicht
«fertiges» Lesen solcher Warnung, denn
die Verwirrung mancher Gehirne ist derart
ins Groteske ausgeartet, daß sie die schärfste
Ablehnung ihres Wahns in exaltierter Ver‐
blendung nicht mehr erkennen und das
Wort des Warners vor sich selbst in eitel Zu‐
stimmung fälschen.
.Seit gar vielen Jahren schon, ‒ jahr‐
zehntelang bereits, und längst vor dem Aus‐
bruch des Völkermordens, dessen fluchgesät‐
tigte Atmosphäre noch immer wie eine bran‐
stige Wolke der Blutschuld über allem Erd‐
geschehen lastet ‒ ward eine ihres Wissens
und ihrer Aufklärung stolze Menschheit die
21 Das hohe Ziel
Beute verderblichster Durchseuchung ihres
geistigen Erkennens, so daß heute jede ver‐
borgene Wahrheit ihr Satyrspiel findet.
Es ist wahrlich nicht zum Verwundern, wenn
die Suchenden auf irre Wege gelangten!
.Zu allen Zeiten übte das phosphoreszie‐
rende Flimmerlicht der geheimnisumwitter‐
ten Grenzgebiete menschlichen Erkennens
seinen Zauber aus auf empfängliche Gemüter,
aber gar selten nur sah die Erde einen solchen
Mangel an Sicherheit des Fühlens. ‒
Wie die Motte zur Flamme, so drängt es den
Unerfahrenen, der ohne Warnung bleibt, die‐
sem erregenden Aufflackern aus unbekannten
Regionen entgegenzueilen, aber ‒ es droht
ihm dabei auch die gleiche Gefahr und der
gleiche Untergang...
Aus allen modrigen Kellerwinkeln und Ge‐
rümpelkammern flattert die Verführung auf!
Genarrtes Halbwissen, halbgebildete
Narrheit und bewußter Betrug suchen
allenthalben neue Scharen heranzulocken und
22 Das hohe Ziel
wissen gar manchen zu umgaukeln, den man
wahrlich nicht in solcher Gefolgschaft ver‐
muten möchte. ‒ ‒
Aber alledem liegt ein tiefes Sehnen zu‐
grunde, das durch alles Wissen dieser Zeit
nicht zu stillen ist und so abwegig wird, da
ihm versagt bleibt, selbst den rechten Weg
zu finden, den ein erkenntnisstolzer Übereifer
derart zu verbauen wußte, daß nur nacht‐
schwarze Wände dort noch entgegengähnen,
wo einst in früher Vorzeit die Freiheit er‐
reichbar war.
.Tief im Menschen verankert ist die Er‐
ahnung einer Überwelt, in der er die Lösung
seines Daseinsrätsels zu finden hofft. Es ist
dies Erahnen nichts anderes, als die schwache
Rückerinnerung an seines Geistes Zustand
vor dem «Fall» in erdenhafte Bindung!
Nun sucht er zurückzuerlangen, was er einst
verlor, und wird in solchem Suchen allzu‐
leicht nur ein Opfer dunkler Gewalten, die er
nicht sieht, auch wenn sie ihn schon längst
23 Das hohe Ziel
gezwungen haben ihrem Ruf zu folgen, bis er
dann zu spät erst bemerkt, daß ihm die
schwälende Glut abgründiger Tiefen der Ver‐
nichtung für den irdischen Widerschein des
wahren, lebenspendenden Lichtes galt, dem
er ureigentlich entgegenstreben wollte...
.Wer immer in sich dieses Drängen nach
der Lösung aller Daseinsrätsel erlebt, der
bleibe sich darum wohlbewußt, daß es für
ihn ‒ zwei Wege gibt und daß es allein von
seiner Besonnenheit abhängt, ob er den
rechten einschlagen wird, der ihn zu seinem
wahren Ziele führt, oder ob er in trunkenem
Taumel der gleißenden Straße der Betörung
sich vertraut. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Der eine dieser beiden Wege, die sich vor
ihm zeigen, wird ihn zu Licht und Er
leuchtung und schließlich in das Reich des
reinen Geistes führen, während der an
dere, auf den ihn verlockend schillernde
Gespenster zerren, die ihm Geistesmacht und
Zauberkraft verheißen, unfehlbar ins Ver‐
24 Das hohe Ziel
derben leitet, ‒ wenn nicht noch aus hoher
Gnade Rettung kommt, und er zu rechter
Zeit erkennt, daß er einem Truglicht
traute, das nichts anderes mit dem reinen,
goldweißen Lichte der Gottheit gemeinsam
hat, als den Reiz der Verborgenheit vor
Erdensinnen. Aber wahrlich: nicht alles
Verborgene ist wert, daß man danach for‐
sche! ‒
Obwohl die Sterne sich auch in Tümpeln
spiegeln, wird man doch nicht den Morast
durchwühlen, um ihr Geheimnis zu ergrün‐
den! ‒
.So wird es den ernstlich Strebenden, der
nach dem wesenhaften Lichte des reinen
Geistes hohes Verlangen trägt, gewiß auch
nicht gelüsten, äußeres Erdenschicksal vor‐
aus zu erkunden, auch wenn er mit Vorteil
sich einer Berechnung bedienen kann und
mag, die ihm, gleich anderer, irdischer Be‐
rechnung, die Strömungen aufzeigt, durch
die sein Tun und Lassen beeinflußt wird, so‐
25 Das hohe Ziel
lange er in den Banden erdenhaft kosmischer
Kräfte lebt und wirkt.
Hier mag er weise fördern lernen, was ihn
selber fördert, und dem wehren, was ihn
hindern kann!
Er wird aber schwerlich dabei dem Irrwahn
erliegen, als ob ihm ein Schicksal vorge‐
zeichnet sei, dem er nicht entrinnen könne,
sondern den Ablaufsrhythmus seines
Schicksals sich nur zu enträtseln suchen,
um dann an Hand seines Wissens ihn also
auszunützen, daß vermieden wird, was zu
vermeiden ist, und herbeigeführt, was
wünschbar scheint. ‒
Sagt doch schon der wunderlich verschnör‐
kelter Weisheit frohe Paracelsus ‒ als
einer, der es wirklich wissen konnte ‒ das
vielbedeutsame, großes Erkennen wahrlich
bezeugende Wort:
«Die Gestirne gewaltigen gar
nichts; sie sind frei für sich
selbst, wie wir frei für uns selber
sind. ‒»
26 Das hohe Ziel
Und weiter:
«Das Kind bedarf keines Gestirns
und keines Planeten; seine Mut
ter ist sein Planet und sein
Stern!» ‒
.Das soll nun gewiß nicht so verstanden
werden, als sei all jener Einfluß irdisch-kos‐
mischer Kräfte, den man «Sternen» zu‐
schrieb, da man nur an ihrem scheinbaren
Laufe ihn zu bestimmen wußte, überhaupt
nicht vorhanden, sondern will nur hei‐
ßen, daß trotz allem die Freiheit, diesen Ein‐
fluß folgerichtig zu gebrauchen, ganz in
uns selber, in der eigenen Willenszucht
begründet liegt, so daß auch hier die Berech‐
nung der Möglichkeiten nur dann zum
Segen gereicht, wenn sie der Selbsterzie
hung dient und uns veranlaßt, alle Kräfte
aufzubieten, unser Dasein frei zu machen
von der Furcht vor wechselnden Gezeiten
unsichtbarer Ströme, die zwar alles Erden‐
hafte stets durchfluten, jedoch gebrochen
27 Das hohe Ziel
werden an den diamantenen Dämmen, die
des Geistes unbesiegbare Macht um den
Vertrauenden erbaut, der durch die Tat
darum zu bitten weiß...
Ein solcher wird auch niemals sich Orakel
sprüchen beugen, die ihm der Zukunft
wandelbares Bild als unabänderliches
Fatum zeigen wollen; ja er wird sicherlich
nach solcher Kunde kein Verlangen tragen.
Noch weniger aber wird er es dulden, daß
man, um der Erkenntnis willen, Menschen zu
Werkzeugen abgründiger Kräfte werden läßt
und sie so allmählich dann der Macht be‐
raubt, ihrem Erdenkörper zu gebieten.
Niemals wird er andere aus ihres Willens
Herrschaft lösen wollen, um ihnen seinen
Willen aufzuzwingen. ‒
In allem seinem Tun und Lassen dient er nur
der Freiheit, die allein des Geistes Kinder
kennen!
.Jedwede Erscheinung äußerer Natur, jed‐
wedes Geschehnis dieses Erdenlebens läßt
28 Das hohe Ziel
sich zum Guten wie zum Schlechten beugen,
und daß man diese Fähigkeit in rechter
Weise stets zu nützen wisse: dazu dient alle
Lehre der Berufenen. ‒
«Nicht wer zu mir sagt: Herr, Herr, wird in
das Reich der Himmel finden, sondern wer
dessen Willen in seinem eigenen Wollen
wirken läßt, der mich, als mein „Vater”, aus
sich zeugte!»
So sprach etwa vor Zeiten einer, der da lehren
durfte, weil er in geistigem Erleben wußte,
wovon er sprach, und der wahrlich von sich
sagen konnte:
«Nicht aus mir selber lehre ich, son‐
dern wie mir der „Vater” gebot, also
lehre ich euch!»
Die Weisheit dieses «großen Liebenden» aber
wurde irdisch-allzuirdisch umgeformt, ehe sie
das heutige Geschlecht erreichte, dem sie in
ihrer Reinheit kaum mehr erkennbar ist.
Seine Lehre wollte nichts anderes bewirken,
als daß der Mensch der Erde sein Leben
nützen lerne: zum Heile durch die Tat. ‒ ‒
29 Das hohe Ziel
.Alles bloße Wissen aber um die so sehr
verschiedenwertigen Dinge, die da jenseits
der Erdensinne liegen, schafft nur sterile
Schein-Erkenntnis, ‒ macht keinen frei von
irdischer Gebundenheit! ‒ Einzig die tat‐
gebärende, nüchterne Folgerung, die aus
wahrer Ein-Sicht sprießt, kann das Er
lösungswunder wirken, wenn sie in Tat
und Wirken umzusetzen weiß, was sich der
Seele offenbarte; und was man je in Worten
lehren mag, wird immer nur dann erst Wert
gewinnen, wenn solche Lehre zum Erleb
nis führt. ‒
Wohl denen, die auf solche Weise zum Er‐
leben ihres Inneren gelangen und dann im
Innersten des Innern in sich selbst des
rechten Weges Ziel erreichen!
*
30 Das hohe Ziel
VOM SUCHEN UND FINDEN
.Es ist wahrlich viel leichter, mit der Ge‐
bärde des Suchenden die Außenwelt zu
durchforschen und selbst die geheimsten
ihrer Schächte aufzudecken, des Entdecker‐
ruhmes gewiß, ‒ als in sich selbst sein
Allerinnerstes zu finden, das auch noch
denen wohlverborgen bleibt, die längst der
Seele Kräfte so erkundet glauben, daß ihrem
Blick die Seele selbst in schemenhaftes
Nichts sich löste. ‒ ‒
Laßt allen Hochmut darum schweigen, und
wäre euch auch wohl vertraut, was selbst den
Weisesten der Vorzeit dunkles Rätsel schien!
Es mag euch ohnehin gar manches Rätsel
nur «gelöst» erscheinen, weil ihr mit
einer Lösung euch zufrieden geben konntet,
die nichts von jener Tiefe in sich faßt, aus
der einst jenen Alten das Geheimnis seine
Frage raunte...
Auch unter den Suchenden der Vorzeit gab
es solche, die zu finden wußten, und wollt
ihr, ihnen gleich, zu Findern werden, so
müßt ihr euch bereiten, dort zu suchen, wo
sie gefunden haben!
33 Das hohe Ziel
Ich will euch suchen helfen in euch selbst,
denn da nur bleibt euch Hoffnung, allezeit
Gesuchtes für euch selbst zu finden. ‒
Kein Denken und kein klügliches Erschließen
kann euch je belehren, so ihr zu letzter Lö‐
sung aller jener Fragen finden wollt, die stets
vor eurer Seele sich aufs neue antwort‐
heischend aus dem Dunkel erdgebundener
Erkenntnis heben! ‒ ‒ ‒
Verwehret darum hinfort jedem lauten Ge‐
danken in euch die Rede, bis jene große
Stille allein in euch zu finden ist, in der
nichts mehr spricht, was jemals euch von
außen kam! ‒ ‒
Dann aber lernt die hohe Kunst vertrauens
vollen Wartens!
Sie wird wahrlich nicht leicht erlernt; aber
jeder, der nachmals fand, was er ersehnte,
mußte sie erlernen, und keinem bleibt diese
Lehrzeit erspart, der in sich selbst zum Fin
der werden will...
Hütet euch, so ihr finden wollt, vor der
Versuchung, die Zeit des Wartens kürzen
zu wollen!
34 Das hohe Ziel
Ihr würdet nur desto länger warten müssen,
wolltet ihr solcher Versuchung in Torheit er‐
liegen! ‒ ‒
.Ja, wahrlich: wer immer diesen Weg des
Suchens auch betreten haben mag und auf
ihm nicht fand, was er zu finden hoffte,
der darf wohl sicher sein, daß er nur des
halb nicht gefunden hat, weil er vermessen
sich berufen glaubte, die Zeit des stillen War‐
tens kürzen zu können! ‒ ‒ ‒
Solange noch solches Streben in einem Su‐
chenden ist, hat er die große Ruhe nicht er‐
langt, die erste Vorbedingung ist für jedes
Finden!
Wie darf er dann klagen, wenn vergeblich
all sein Mühen war?! ‒
Auch wer Verborgenes in dieser Außen
welt zu finden strebt, wird stets vergeblich
suchen, so er nicht die Ruhe in sich selbst
zu schaffen weiß, die ihm auch hier von‐
nöten ist, will er zum Finder des Gesuchten
werden! ‒
35 Das hohe Ziel
Alle aber, die jemals im Allerinnersten
das Letzte suchten und hier gefunden ha‐
ben, wonach ihr Sehnen stand, hatten vor‐
dem die Kunst des Wartens geübt und
waren so zur Kultur der Ruhe gelangt! ‒
Nur in stillster Versenkung gab sich
ihnen zu eigen, was Tausende vergeblich
suchten, die der Ruhe ermangelten...
«Das Himmelreich leidet Gewalt, und nur die
Gewalt brauchen, reißen es an sich!» Es ist
aber diese «Gewalt» nichts anderes, als die
Gewalt der Selbstbezähmung, die alle
Unrast aus der Seele zu verbannen weiß! ‒
Erst wenn du in dir eine solche Stille ge‐
schaffen hast, daß es dir töricht erscheint,
danach zu fragen: wann dir die Erleuchtung
werden wird, bist du wahrhaftig der Erfül‐
lung nahe und kannst getrosten Mutes ver‐
trauen, daß du finden wirst, was dir ver‐
hüllt blieb, als du, noch in Ungeduld gebun‐
den, dich vergeblich mühtest! ‒ ‒ ‒
Es muß dir völlig nebensächlich werden,
wann du auf dieser Erde die höchste Er‐
kenntnis erlangen wirst! Du mußt suchen
36 Das hohe Ziel
wie einer, dem keine zeitliche Grenze jemals
gezogen ist!
Du mußt suchen wie einer, der da weiß, daß
er finden wird, weil das, wonach er sucht,
vorhanden ist und sich ihm nicht verber‐
gen kann, sobald er selbst des Findens
würdig ist!
Je mehr deine Sicherheit wächst und dein
Vertrauen zu dir selbst, desto näher
wird dir auch hohe Hilfe sein! ‒
.Pflege in dir selbst das gläubige Ver
trauen und meide die zersetzenden Ge‐
danken, die dich immer wieder in Furcht
bannen wollen, so als ob das Finden dir nicht
beschieden sei! ‒
Lerne erkennen, daß es Lästerung ist,
wenn solcher Furcht du dich ergibst! ‒ ‒
Du trägst in dir selbst die Erlösung von
allem Zweifel, ‒ und nur in dir selbst
kann dir letzte Gewißheit werden!
Schleudere von dir, was immer dich an
solchem Glauben an dich selbst beirren
37 Das hohe Ziel
will, und sei es auch bis zum heutigen Tage
dir als «heilige Wahrheit» erschienen!
Dort, wo dir letzte Erkenntnis werden
soll, muß alles Denken der Gehirne schwei
gen, und sei es auch bereits Jahrtausende
hindurch in höchsten Ehren! ‒
Du bist dort mit dir selbst allein, und
keine Macht der Erde kann dich hindern oder
dir zu Hilfe kommen!
In deinem Allerinnersten allein darfst du
zu finden hoffen, was du suchst, und alle
Wunder ferner Sternenweiten werden dir in
Nichts zerstäuben vor dem, was dir hier
vorbehalten ist! ‒
In deinem Allerinnersten wirst du in
Wahrheit erst dich selber finden, und dann
erst wird dir das Erkennen werden, daß all
dein Suchen nur ‒ dir selber galt.
38 Das hohe Ziel
VOM EWIGEN LICHTE
.Dunkel ward es in den Hütten, und
düstere Sorge liegt über den Palästen.
Man sucht die Öllampen hervor, um der Dun‐
kelheit zu wehren, ‒ man zündet Kerzen auf
den Kandelabern an, ‒ aber die Düsternis
will nicht weichen.
.Ach, es ist anderes Licht vonnöten,
wenn euch die Freude wieder werden soll!
Doch, Freunde, so ihr nur Vertrauen
traget, wird dieses Licht gewiß die Nacht,
die euch umgibt, besiegen!
Ihr wisset nicht, daß ihr euch selbst der
Finsternis verhaftet!
Laßt euch nicht schrecken durch die
Dunkelheit, die ihr auf allen euren Wegen
ausgebreitet seht!
Ihr selbst habt euch dem Dunkel zuge‐
kehrt, so daß Finsternis euch umgeben
muß, bis ihre Zeit zu Ende ist und ihr euch
wieder zum Lichte wendet!
Doch auch Finsternis birgt Verheißung
des Lichtes!
41 Das hohe Ziel
Sie wirket Kräfte, die das Licht ersehnen
lassen und so zur Umkehr euch bewegen...
Übet Geduld und verharret in stillem Ver
trauen!
Über ein kleines werdet ihr sicher wieder im
Lichte der Sonne schreiten!
.Auch in der tiefsten Dunkelheit ist euch
das Licht nicht ferner als in der strahlend‐
sten Helle, so ihr nur selbst euch dem Lichte
zukehren wollt!
Wendet euch selbst der Sonne zu, und
alle Dunkelheit wird hinter euch liegen!
.So schritten die Urväter stark und freu‐
dig ins Licht und ließen hinter sich was
dunkel war...
Doch ihre Enkel lockte mehr und mehr die
Finsternis. ‒
Was hinter ihnen lag, ward ihnen wich‐
tiger, als was sie noch durchschreiten
sollten...
42 Das hohe Ziel
Sie lernten das Rückwärtsblicken und
das Rückwärtswandern. ‒
Im Dunkel hofften sie zu finden, was sich
nur im Lichte zeigt.
Ihr aber: jener Enkel späte Enkelkinder,
dürft wahrlich euch nicht wundern, wenn
heute euch, die ihr nach jener Früheren
Ver-führung euch dem Dunklen zukehrt,
‒ dichte Finsternis umgibt!
Ihr werdet umkehren müssen wollt ihr
auch euch dereinst, so wie jene Alten,
im Lichte der Sonne finden!
Es bedarf des Mutes zu solcher Umkehr und
des entschlossenen Willens...
Entwöhnt sind eure Augen längst des Lich
tes, das da allein euch einst der Freude
wiedergeben kann!
Nun muß zuerst das Sonnenlicht euch
schmerzen, bevor das Auge Kraft ge‐
winnt, es zu ertragen und alsdann es
lieben lernt...
43 Das hohe Ziel
.Doch sind schon viele bei der Umkehr
angelangt und manche sind schon um‐
gekehrt!
Keiner bleibt hier ohne Führung, so er
nur selbst die Umkehr wagt!
O, so verweilet nicht, ihr Suchenden, die
ihr noch rückwärtsschreitend sucht, auf
euren Irrtumswegen, die euch nur immer
tiefer in das Dunkel führen!
Und ihr, die ihr des Suchens längst schon
müde wurdet, begnügt euch nicht damit, in
euren Hütten und Palästen kümmerliche
Leuchte anzuzünden!
Kehret euch mutig dem ewigen Lichte
zu, und lasset hinter euch die Dunkelheit!
Sehet: ‒ Licht und Finsternis sind stetig
an ihrem Ort. ‒
Nur auf euch selber kommt es an, ob ihr
dem steten Dunkel euch verhaften, oder
euren Blick zum Lichte kehren wollt!
Wahrlich: ‒ euch allen leuchtet ewiges
Licht!
44 Das hohe Ziel
VON DES LICHTES FARBEN
.Der ewigen Sonne Licht birgt in sich
mancherlei Farben, und wenigen nur zu
allen Zeiten wird es in seiner goldweißen
Fülle kund. ‒
Fast allen aber, außer diesen wenigen, zeigt
es nur eine seiner vielen Farben.
Hier kann nicht Willkür ändern, was Ge
setz erheischt!
Dein Auge allein bestimmt, in wel
cher Farbe du das Licht erkennen
sollst!
Du kannst mitten im Lichte stehen und den‐
noch nicht das Licht erkennen, solange du
dein Auge zwingen willst, dir eine Farbe
des Lichtes zu zeigen, die nicht die deine
ist! ‒ ‒
So kannst du dich selbst zu jeder Täuschung
überreden und dich vom Lichte gar weit
entfernen, indem du ihm zu nahen glaubst!
.Siehe, ich rate dir gut, und es ist meines
Erdendaseins Erfüllung: allen, die mich
hören wollen, guten Rat zu geben! Siehe, ich
47 Das hohe Ziel
rate dir: ‒ verfälsche nicht deine Farbe
und begehre nicht zu schauen, was anderer
Färbung ist als das, was dir einst werden
soll! ‒ ‒
Alles wahrhafte Erkennen kann dir nur in
deiner Farbe werden.
.Nur wenn du dich selbst aufs sorglich‐
ste betrachtest, wirst du auch deine Eigen
farbe erkennen...
Doch ist es wahrlich nicht vonnöten, daß
du sie vorher erkennst, sobald du dich nur
willig deiner Führung anvertraust und
nicht mehr selbst die Führung zu bestim
men trachten wirst, in der das Licht der
Ewigkeit dir nahen soll! ‒
Es ist in dir selbst beschlossen von aller
Ewigkeit her, in welcher Färbung das
Licht dir Segen bringen kann!
Es ist in dir selbst beschlossen, was dein
Auge erschauen soll! ‒
Dir selbst sollst du vertrauen und deinem
Innersten sollst du glauben lernen! ‒ ‒
48 Das hohe Ziel
Beachte immerhin, was andere erschauen
durften und erkenne so in allem, was sie dir
zu sagen haben, des Lichtes Mannigfaltig
keit; doch bleibe stets dir wohl bewußt, daß
dir ‒ wer du auch sein magst ‒ anderes zu
schauen vorbehalten ist, obwohl das gleiche
Licht in aller Färbung sich bekundet! ‒ ‒
Dir wird es nur nach deiner Art sich geben
können, und eines jeden Art ist anders! ‒ ‒
Solange du noch nach der Art der anderen
in dir das Licht erlangen möchtest, wehrst
du nur dem Lichte, dich in deiner Art und
Färbung zu erreichen und darfst dich dann
nicht wundern, wenn du andere in ihrem
Lichte, ‒ dich jedoch im steten Dunkel
findest!
.Man gab dir Lehre und sagte dir, daß
allen, die auf dieser Erde nach dem Lichte
streben, das gleiche Licht einst leuchte, ‒
und wahrlich: solche Lehre wurzelte in der
Wahrheit tiefem Nährgrund!
Es ist gut, solcher Lehre zu vertrauen; aber
49 Das hohe Ziel
not ist auch zu wissen, daß das gleiche
Licht unendlichfältig sich ergießt, ‒ so
daß es Tausende und Abertausende erreichen
kann und dennoch jedem einzelnen sich an
ders gibt als allen andern! ‒
Einmalig und einzigartig ist des Lichtes
Selbstoffenbarung in jedem aus uns, und
jedem wird Erleuchtung nur nach seiner
Weise! ‒ ‒ ‒
Wer aber das Licht in sich empfing, weiß
dennoch, daß ihm des gleichen Lichtes
Strahlen leuchten, die auch in allen seinen
Brüdern, die gleich ihm das Licht empfingen,
wirksam wurden! ‒ ‒
Keinem ward anderes Licht, aber jeder er‐
schaut in sich das gleiche Licht in einer
anderen Farbe! ‒ ‒ ‒
Unendlicher Reichtum liegt so im
Lichte der Ewigkeit beschlossen!
.O, daß ich euch allen, die ihr nach dem
Lichte strebt ‒ gleich Pflanzen, die man wäh‐
rend des Winters in Kellerräume barg ‒ des
50 Das hohe Ziel
Lichtes Mannigfaltigkeit begreiflich ma‐
chen könnte!
O, daß ich euch allen eures ewigen Erbes
Unerschöpflichkeit in Erdenworten kün‐
den könnte!
Aber gar wohl bewußt ist mir, daß alles Men‐
schenwort nur ein armes Stammeln bleibt,
soll Ewiges in ihm sich offenbaren. ‒ ‒
Ich kann nur, einem Menschen gleich, der
ferne Wunder dieser Erde sah auf weiter
Reise, allhier versuchen, Vorstellung des
Niegeschauten wachzurufen; doch, wollt
ihr selbst in euch erschauen, was ich euch
zu künden habe, so müßt ihr selbst den
Weg beschreiten wollen, der euch an seinem
Ziele, all der Herrlichkeit gewiß, die ich euch
hier verheiße, in eurem eignen Inner
sten zu eigner Schauung führt!
.Magst du als Weiser dieser Erde gelten,
oder mag man in dir nur einen sehen, dem
wenig kund ward von der Weisheit dieser
Welt, ‒ wisse: daß dir das Licht der Ewigkeit
51 Das hohe Ziel
gewißlich werden kann, so du nur willens
bist, es in dir selbst zu suchen!
Erwehre dich verführerischer Stimmen, die
dich verleiten wollen, mit den Augen ande
rer das Licht zu suchen!
Suche es vielmehr in dir auf deine Weise
und wisse: daß es nur in deiner Eigenfarbe
dir einst werden kann, magst du es hier in
diesem Erdenleben schon erreichen, oder erst,
nachdem du hier das Kleid der Erde der Ver‐
wesung überlassen mußtest!
Beschreite geruhigen Mutes deinen dir ge‐
mäßen Weg, und was du nach deiner Art
auch immer erhoffen magst, wird wahrlich
weit übertroffen werden von dem, was dir
einst zu eigen werden soll! ‒ ‒ ‒
52 Das hohe Ziel
VOM HOHEN ZIELE
.Wahrlich, der Weg ist weit und steil und
rauh, der dich zu deinem hohen Ziele
führen wird, aber erkennst du erst, was
deiner wartet an des Weges Ende, so wird
dich gewiß kein Wegziel, das dir diese Erde
bieten kann, auch nur entfernt so hohen
Wertes dünken!
Ein Kleinod wartet deiner am erreichten
hohen Ziele, das keiner außer dir jemals
besitzen kann!
Zwar wird hier Unzähligen der gleiche
Siegespreis, und dennoch ist für jeden, der
das hohe Ziel erreichte, ein Schatz verwahrt,
den er allein nur heben kann!
Kein anderer kann hier erlangen, was dir
vorbehalten ist! ‒ ‒
Du selbst mußt kommen, diesen Schatz zu
heben! ‒
Unterlassung ist Preisgabe hier, denn
in aller Ewigkeit wird kein anderer außer dir
dieses Schatzes Eigner werden können! ‒ ‒ ‒
Erfasse, was dies besagen will! ‒
Werde dir wohl bewußt des Wertes, den du
in dir selber trägst! ‒
55 Das hohe Ziel
.Wisse, o Suchender, daß Geistiges dir
nur erreichbar werden kann, wenn du Gewiß‐
heit in dir selbst erlangtest, daß du Weg und
Wegziel in dir selber birgst!
In deinem Allerinnersten allein ist jenes
hohe Ziel zu finden, davon dir diese Worte
Kunde geben wollen!
In deinem Allerinnersten trägst du verborgen
einen Schatz, den dir wahrhaftig niemand
rauben kann!
Du selbst nur kannst dich hier durch deine
eigene Torheit um dein Eigenstes betrügen!
.Ich sehe dich zittern hier und der Furcht
verfallen: allein du würdest wahrlich töricht
meine Worte deuten, wolltest du fürchten,
den Hindernissen zu erliegen, die zwischen
dir und deinem Ziele sich erheben:
Nur furchtloser Mut wird dich das Ziel er
reichen lassen! ‒ Das Ziel, das in dir
selber sich verborgen hält! ‒ ‒
56 Das hohe Ziel
.Siehe, mein Freund, es ist Kinderspiel,
auch das höchste irdischer Außenziele
zu erringen, aber Heldenwerk, das hohe Ziel
zu erreichen, das man in sich selber trägt! ‒ ‒
Im äußeren Leben können dich andere
hindern, ein Ziel zu erreichen, das du errei‐
chen möchtest; ‒ hier aber gibt es nur Hin‐
dernisse, die du selber in dir selber schaffst!
Du selbst kannst jedes Hindernis in dir
zur Seite räumen, so du ernstlich willst,
und hohe Hilfe wird alsdann dir Kraft ver‐
leihen!
Aber so sehr du auch nach geistiger Hilfe ver‐
langen magst, so wird sie doch nicht eher
dich erreichen können, als bis dein Wille in
der gleichen Richtung wirkt, in der dich
hoher Hilfe Wirken fördern soll!
Du mußt gleichsam magnetisch werden
für solche Hilfe, soll sie von dir angezogen
werden! ‒
Hier ist keine Willkür der helfenden Mächte
möglich, denn alle Möglichkeit, dir Hilfe zu
gewähren, ist an organisch wirkendes Gesetz
gebunden! ‒
57 Das hohe Ziel
So wie gar mancherlei Botschaft in Wellen
elektrischer Kraft den Raum durcheilt
und dennoch dich nicht erreichen kann, bevor
sie einem Apparat begegnet, der geeignet ist,
die Wellen aufzufangen, so ist dir auch hohe
Hilfe allezeit nahe und du bemerkst sie
nicht ‒ es sei denn: du wandelst dich selbst
zu einem geistigen Empfänger ihrer geisti
gen Wellenströme um! ‒
Einmal an solche hohe Hilfe organisch ange‐
schlossen, wirst aller Sorge du hinfort ent‐
raten können und mit aller Sicherheit dein
hohes Ziel erreichen, ‒ sei es schon hier in
diesem Erdenleben, oder erst, nachdem du
deinen Erdenleib der Erde wiedergeben durf‐
test! ‒ ‒
.Dein hohes Ziel ist die Vollen
dung deiner selbst in deiner geist
geborenen Erscheinungsform!
Kein anderer kann sich in aller Ewigkeit
in deiner Geistesform vollenden!
Du findest in den niederen Bereichen phy‐
58 Das hohe Ziel
sisch-sinnlicher Natur zwar Individuen der
gleichen Gattung oft in solcher Ähnlichkeit,
daß aller Unterschied zu schwinden scheint;
aber schon hier wird die Betrachtung höhe
rer Arten dich alsbald belehren, daß jede
höhere Stufe auch in ihren individuellen
Darstellungen eine Mannigfaltigkeit er‐
zeugt, die selbst das ungeübte Auge nicht
mehr übersehen kann.
So gibt es auch im Geistigen gleichsam Ver
schiedenheit der Artung. ‒
Es gibt hier gleichsam «niedere» Arten, die
von ungefähr gesehen sich in ihren Individuen
zu gleichen scheinen, und es gibt höhere
und höchste Arten, deren Individuen stets
mehr und mehr sich voneinander unter
schieden zeigen. ‒ ‒
Zu welcher dieser Arten du aber auch gehören
magst, so wisse: daß du von Ewigkeit her un‐
abänderlich in dir bestimmt und indivi
duell gesondert bist von allen anderen,
die etwa gleicher Artung angehören!
Dir ist ‒ im allgemeinen Sinn gesprochen ‒
gewiß das gleiche hohe Ziel gesteckt, das
59 Das hohe Ziel
allen leuchtet, die im Schoß der Ewigkeit
aus Geist geboren werden, und dennoch ist
die Form, in der dir dieses hohe Ziel er‐
reichbar wird, von jeder Form verschieden,
in der es andere erreichen können! ‒
Von Ewigkeit her trägst du in dir selbst die
einmal nur aus Geist erzeugte Form, die
da die deine ist, und die nur DU allein in
aller Ewigkeit erreichen kannst, auch wenn
sie in Äonen erst für dich erreichbar würde.
‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.Vielleicht bist du gar lange schon auf dem
Wege zu deinem hohen Ziele und hast es
dennoch bis heute noch nicht erspäht, weil
du das hohe Ziel eines anderen zu dem
deinen machen wolltest!? ‒
Du hast dir selbst zu sehr mißtraut und
glaubtest nur durch andere zu finden, was
des Suchens Mühe lohnen könnte! Du wuß‐
test nicht, daß du auf solche Weise dich dir
selbst zum Feinde machtest! ‒
Du wußtest nicht, daß du dich an dir selbst
60 Das hohe Ziel
versündigt hattest, als du das Ziel des an
deren zu deinem hohen Ziele machen
wolltest! ‒
Entsühne dich heute, da du diese Worte lesen
wirst, vor dir selbst und suche fortan nur in
dir selbst das hohe Ziel, das keinem ande‐
ren außer dir erreichbar ist! ‒ ‒
Mag dir dein hohes Ziel auch noch in weiten
Fernen sich verbergen, und magst du es auch
vorerst kaum erahnen können, da es heute
deinem Auge noch in dichten Nebelschleiern
sich verhüllt, so hast du dennoch unver‐
gleichlich Größeres gewonnen, als wenn dir
alle hohen Ziele anderer mit Händen greif‐
bar würden! ‒
Nur in der Erreichung deines eigenen hohen
Zieles winkt dir die Vollendung! ‒
Nur wenn du dein eigenes hohes Ziel zu
finden weißt, hast du für dich das hohe Ziel
erreicht! ‒ ‒
Du selbst bist Pfeil und Bogen hier und hohes
Ziel! ‒ ‒ ‒
Dich selbst sollst du erreichen in deiner
höchsten Geistesform!
61 Das hohe Ziel
Kein Gott kann dich erlösen, solange du
nicht in dir selbst das hohe Ziel vor Augen
siehst, das nur DU SELBER bist, geeint mit
deinem Gott! ‒ ‒ ‒
*
62 Das hohe Ziel
VON DEN WEGEN DER
ALTEN
.Töricht wäre es, o Suchender, wolltest du
den Weg zum Lichte, der da der Weg zu
dir selber ist, nur nach der Alten Weise
gangbar wähnen!
Töricht und vermessen aber wäre es desglei‐
chen, wolltest du der fernen Alten Wege in
deinen Tagen verlachen!
Auch jene, die vor dir über dieser Erde
Fluren schritten, wußten wahrlich zu su
chen und zu finden, ‒ und gar manches
hatten sie gefunden, was denen, die nach
ihnen kamen, wieder verloren ging. ‒ ‒
Du kannst nur gewinnen, wenn du der
Alten Wege wachen Sinnes und ohne Vor‐
Urteil betrachten lernst!
Sie hatten tief Verborgenes erkannt, um
dessen Erkenntnis sich die Späteren ver
geblich mühten, und das auch denen, die
da heute mit dir leben, als ewiges Rätsel
gilt. ‒
Lerne Ehrfurcht empfinden vor den Al
ten, wenn du in deinen Erdentagen zur
Erkenntnis gelangen willst! ‒ ‒
65 Das hohe Ziel
.Noch ward keiner auf dieser Erde gebo‐
ren, der zur Erkenntnis gekommen wäre,
ohne auf seiner Vorfahren starken Schultern
zu stehen! ‒
Wohl sucht der Törichte zu jeder Zeit
nach dem «unerhörten Neuen», und
doch war Zeugen und Gebären noch zu aller
Zeit an gleiche Voraussetzung gebunden...
So wirst du auch niemals zu wahrer geistiger
Erkenntnis deiner selbst gelangen, es sei
denn auf wesentlich gleiche Art wie jene
Alten, auch wenn die Form des Suchens
mit den Zeiten wechselt! ‒
Eine jede Zeit hat ihre eigene Form des
Suchens und Findens; aber wenn du das
Wesentliche in allen Formen zu ergründen
suchst, so wirst du gar leicht erkennen, daß
es stets das Gleiche bleibt in allen For‐
men. ‒
Suche auch du nur in der Form deiner Zeit
und lasse dich nicht verleiten, in alten er‐
borgten Kostümen suchen zu wollen!
Du würdest nur Mummenschanz treiben und
als Theaterheld wuchtige Tat zu vollführen
66 Das hohe Ziel
glauben, wolltest du jener Alten Form dir
zu eigen machen, um in ihr dich zu bewähren.
Du kannst nur finden, wenn du in dei
ner Form, die stets die Form deiner Zeit
sein wird, zu suchen dich bemühst!
Wer dir anderes rät, wird dich dem Irrtum
übergeben, auch wenn er selbst nicht ahnt,
daß er dich also hindert! ‒ ‒
.Die Weisen einer jeden Zeit suchten
in ihrer eigenen Art und in der Form des
Suchens ihrer Zeit!
So wurden sie zu Findern! ‒ ‒
Aber sie wußten auch gar wohl das Suchen
und Finden Früherer zu schätzen und wa‐
ren weit davon entfernt, ihre Vorfahren
«töricht» zu schelten. ‒ ‒ ‒
Es mag an alten Berichten dir vieles wunder‐
lich erscheinen, nur weil du ihre Sprache
nicht mehr zu deuten weißt!
Anderes wird dich sehr beirren, da es mit dir
bekannten Worten von Dingen spricht, für
67 Das hohe Ziel
die man heute sicher nicht die gleichen
Worte wählen würde. ‒
Und wieder anderes ward einst mit weiser
Absicht dunkler Redeweise anvertraut, so
daß der wahre Sinn der Worte kaum noch
zu erfassen ist, da er nur denen sich einst
offenbaren sollte, die im sicheren Besitz der
Schlüssel solcher Redeweisen waren. ‒
So sind dir die wahren Wege der Alten heute
auf gar mannigfache Art verschüttet, und
ahnend nur vermagst du zu erkennen, daß
es wahrlich Wege waren, die zum Ziele
führten, ‒ zum gleichen Ziele, das auch du
erreichen willst. ‒
.Gefährliches Unterfangen ist es, die so
verschütteten Wege wieder gangbar machen
zu wollen!
Den wenigsten gelingt es, die Verschüttung
restlos wegzuräumen, und ist dies selbst ge‐
lungen, so zeigt sich plötzlich alle Wegspur
so verwischt, daß jedes Weiterschreiten un‐
gewisser Willkür überlassen bleiben muß...
68 Das hohe Ziel
Willst du in Wahrheit als ein Schüler jener
weisen Alten dich bewähren, so wirst du,
ihnen gleich, stets nur den Weg beschreiten
dürfen, den deine Zeit für dich dir geebnet
zeigt! ‒
Auch jene weisen Alten waren Kinder ihrer
Zeit, und wenn sie auch die Wege ihrer Väter
ehrten, so blieb es ihnen dennoch wohlbe‐
wußt, daß sie auf eigenen Wegen nur, den
Vätern gleich, das Ziel erreichen konnten.
Ehre auch du die Wege der Alten, aber
mühe dich nicht, sie unter der Verschüttung
aufzusuchen, denn was auch immer dir zu
finden vorbehalten bliebe: ‒ es wäre nur die
Kunde von den Wegen anderer, und
wahrlich: niemals ist dein Weg auf solche
Art zu finden! ‒ ‒
69 Das hohe Ziel
VOM SEGEN DER ARBEIT
.Es gibt in den heutigen Tagen unzählige
Menschen, die nach geistiger Entfaltung
streben, und wenn auch viele zu finden sind,
die jede Kunde von hohen geistigen Dingen
nur verschlingen, um ihrer nimmersatten
Neugier ersehnte Befriedigung zu schaffen,
so sind doch weit mehrere als ernste Sucher
nach der Wahrheit anzusprechen.
Zu allen Quellen pilgern sie und alle Orte, die
im Rufe wundersamer Begebnisse stehen,
sind ihnen heilig!
Aus aller Zeiten schriftlichem Vermächtnis
werden alte Bücher aufgestöbert, in denen
man genaue Anweisung zu finden hofft, wie
man das Wunder an den Alltag fesseln
könnte, denn längst hat man gehört von
hohen Kräften, die denen sich erreichbar zei‐
gen sollen, die des Geistes ewiges Gesetz
erkennen.
Zwar kann man über jener Torheit lächeln,
die das Zaubern lernen möchten, allein
auch viele, die mit aller Inbrunst hin zum
Geiste streben, sind keineswegs von Torheit
frei, und ach so mancher ist des Glaubens,
73 Das hohe Ziel
daß ihm Geistiges erst dann erreichbar sei,
wenn er sich einer äußerlichen Schulung un‐
terziehe, die möglichst wunderliche Übun
gen von ihm verlange.
So nehmen sie bald diese und bald jene Wei‐
sung an, die sie in alten oder neuen Schriften
finden, wo da ein abenteuerlicher Mystagoge
mit geheimnisvoller Geste raunend seine
wirre Weisheit, dunkler Worte froh, zum
besten gibt.
Wann immer man ihnen begegnen mag: ‒
stets haben sie endlich nun das rechte
Rezept entdeckt, den Stein der Weisen in
ihrem Tiegel aufzufinden.
Bewundernswert ist nur an ihnen, wie sie von
Enttäuschung zu Enttäuschung schrei‐
ten und nie den sonderbaren Mut verlieren,
jeder neuen Rute auf den Leim zu gehen. ‒ ‒
Es braucht oft lange Zeit, bis sie entdecken,
daß in solcher Weise das erstrebte hohe Ziel
für sie stets unerreichbar bleiben muß. ‒
Nur schwer erst lernen sie verstehen, daß es
doch sträflich engen Urteils Zeugnis war, so
gar gering vom Höchsten und Erhaben
74 Das hohe Ziel
sten zu denken, daß man durch «Atem‐
übungen» in halbverrenkten Posituren oder
noch weit üblere Betätigung nach wirrer
Köpfe wirrer Anweisung erreichbar wähnte,
was den Weisen aller Zeiten heilig war als
höchstes Gut. ‒ ‒ ‒
Aber gar sehr ist der Mensch geneigt, sich
vor dem Seltsamen zu beugen...
Weit lieber geht er kuriose Winkelwege, die
sein Auge nicht verfolgen kann, und läßt sich
wahnberauscht ins Dunkel führen, als
daß er den geraden Weg zum Lichte sucht,
um ihn in morgenfrischer Nüchternheit
und festen Schrittes zu durchwandern wie
ein Wanderer, der stets des Weges Lauf be
achtet, damit er auch das Ziel des Weges
einst erreiche. ‒ ‒
.Gewiß muß man bei Kräften sein, will
man einen weiten Weg durchmessen, und wer
nicht in Ermattung vor erreichtem Ziele nie‐
dersinken will, der wird auch Sorge tragen,
75 Das hohe Ziel
daß er auf dem Wege selbst noch Stärkung
finde.
So verlangt auch der Weg zum Geiste
Kräftigung und Stärkung von jedem, der ihn
gehen will.
Aber man braucht hier nicht weit zu suchen
und keine bedenklichen Seitenwege einzu‐
schlagen, um solche Stärkung zu finden.
Das Leben des Alltags wird sie reichlich
spenden, wenn man es recht zu leben weiß.
Hier aber wissen wieder wenige, wie hoch die
Kräftigung und Kraft-Erneuerung zu
werten ist, die da aus recht getaner Arbeit
fließt! ‒ ‒ ‒
Viel lieber wiegt man sich in hohen Träumen
und sieht die Arbeit nur als Hindernis auf
seinem Wege, ‒ als Störung seines Schreitens,
der man möglichst aus dem Wege geht...
Wer aber solcherart das hohe Ziel erreich‐
bar wähnt, der wird es sicher nicht errei‐
chen, auch wenn er aller Weisen Weisheit aus
den Worten dieser Weisen kennt und jeder‐
zeit sich hohen, weihevollen Stimmungen
ergibt. ‒ ‒
76 Das hohe Ziel
Es ist viel leichter, seines Alltags Pflichten
zu verachten, als sie zu erfüllen!
Viel leichter ist es, sich in weihevollen Stim‐
mungen dem Geiste Gottes «nahe», ja «ver‐
eint» zu fühlen, als seine Arbeit so zu tun,
daß sie zur Kräftigung des eigenen Geistes
wird und ihn durch solche Kraft ertüchtigt,
einst die Weihe wirklich zu empfangen! ‒
Hier sind wahrlich Werte verborgen,
die ihre Erlangung lohnen!
.Gewiß hast du schon Zirkusspiele ge‐
sehen und fandest dich in bewunderndem Er‐
staunen, wenn dort Menschen wie du ihre
Körperkräfte derart entfaltet und in ihres
Willens Macht gebändigt hatten, daß sie
Dinge vollbringen konnten, die dir völlig un‐
möglich wären...
Von ihnen kannst du lernen!
So wie sie durch unablässige Tätigkeit nur
ihre Körperkraft erlangten, so kannst du
heute ungeahnte geistige Kraft aus jeder
Arbeit schöpfen, die du so zu tun weißt, daß
77 Das hohe Ziel
kein anderer sie besser leisten könnte! ‒ ‒ ‒
So wie jene Zirkusleute in angespannte
ster Aufmerksamkeit auf jeden Hand‐
griff, jede Bewegung achten müssen, soll ihr
Werk gelingen und ihr Leben nicht in äußer‐
ste Gefahr geraten, so wirst freilich auch du,
soll deine Arbeit dir geistig fruchtbar wer‐
den, stets alles, was sie von dir verlangt, mit
solcher Konzentration vollbringen müs‐
sen, als hinge dein Leben von jedem ge‐
wohnheitsmäßigen «Handgriff» ab! ‒ ‒ ‒
Ob deine Gedanken oder deine Hände
zumeist bei deiner Arbeit beteiligt sind, stets
wird es eine Menge solcher «Handgriffe» ge‐
ben, die du fast ohne Bewußtsein «rein
mechanisch» und gewohnheitsmäßig machst
und so selbst erniedrigst...
So werden sie dir freilich öde und eintönig er‐
scheinen!
Wie aber jene kühnen Akrobaten, deren Ar‐
beit dir wie ein fröhliches Spiel erscheint, an
jedem Abend, der sie zu gleicher Arbeit vor
eine zum Schauen bereite Menge ruft, aufs
neue stets auf jede leiseste Muskelbewegung
78 Das hohe Ziel
zu achten haben, da die gleiche Darbietung
ihrer Künste am heutigen Abend doch
mißlingen könnte, auch wenn sie gestern
gelang, so wirst auch du dir klar zu machen
haben, daß auch der gleiche «Handgriff»
immer ein Neues darstellt, so oft du ihn
auch geübt haben magst? ‒
.So «einförmig» auch, so «geisttötend»
dir deine Arbeit erscheinen mag: ‒ beachte
sie in solchem Sinne und werte sie nicht vor
dir selbst noch mehr herab, ‒ dann wirst du
entweder entdecken, wie du sie aus ihrer Ein‐
tönigkeit erlösen kannst, oder du wirst den
gleichen «Handgriff», das allezeit gleiche
Tun, das sie Tag für Tag von dir verlangt,
stets mit neuem Bewußtsein tun, so daß
dein Geist der gleichen Sache tausend neue
Seiten abgewinnen wird! ‒ ‒ ‒
Erziehe dich selbst dazu, an deiner
Arbeit Freude zu empfinden, auch wenn sie
keineswegs geeignet scheint, dir Freude zu
bereiten! ‒ ‒ ‒
79 Das hohe Ziel
Bezwinge deine Abneigung, und du
wirst auch der ödesten Arbeit überlegen
sein; ‒ sie wird dir Freude bringen durch
die Art ihr zu begegnen!
Steht deiner Arbeit Aufeinanderfolge in dei‐
ner freien Wahl, dann wähle zuerst, was dir
am meisten widerstrebt und suche es zu
lieben!
Hast du dein stärkstes Widerstreben besiegt
und dich als stärker erwiesen, so wird dir
schon daraus allein eine Freude werden,
die dir auch alle weitere Arbeit in Freude
verwandeln wird! ‒ ‒
.Du darfst deine Arbeit niemals nur als
Mittel betrachten, das eben gebraucht wer‐
den muß, um das zu erlangen, was deines
Lebens Notdurft erheischt! ‒
Hier irren die allermeisten!
Gewiß ist jede Arbeit ihres Lohnes
wert, und du selbst machst dich schuldig,
wenn du einem Ungerechten dienst, der etwa
dir vorenthalten möchte, was er dir
80 Das hohe Ziel
schuldig wurde als dein Schuldner für dei‐
ner Arbeit Wert! ‒ ‒ ‒
Allein was so dir als Frucht deiner Arbeit
gehört, ist geistig genau bestimmt! Du
machst dich nicht minder schuldig, wenn du
etwa mehr für deiner Arbeit Wert dir geben
läßt, als sie dem anderen, für den du sie lei‐
stest, Wertzuwachs schafft, ‒ wobei du nie
vergessen darfst, inwieweit auch der andere
irgendwie durch seine Arbeit an der deinen
indirekt beteiligt ist! ‒ ‒ ‒
Doch aller Arbeit äußerliche Entlohnung
bleibt nur ein Geringes gegenüber dem, was
dir deine Arbeit an geistigen Werten ver‐
mitteln kann, so du sie zu schätzen weißt, als
Arbeit um der Arbeit willen!
In der gutgetanen Arbeit selbst liegt
ihr höchster Wert beschlossen, den dir
keiner vorenthalten, den dir keiner rauben
kann. ‒ ‒ ‒
.Auch in der allergeringsten Arbeit
läßt sich höchste Vollendung erstreben,
81 Das hohe Ziel
und wird sie erreicht, wie sie nur intensiv
ste Hingebung an die Arbeit erreichen
kann, dann ist stets ein unermeßlicher Zu
wachs geistiger Kraft die naturgegebene
Folge. ‒
Der Arbeiter an der Maschine, der Tag um
Tag nichts anderes da zu tun hat als etwa
Schrauben zu drehen, kann auf solche Weise
hohe geistige Kräfte in sich zutage för‐
dern, während ein anderer, der seiner Mei‐
nung nach nur in hohen geistigen Dingen
lebt, aber weit mehr auf seine geheimnis‐
vollen Schauer achtet, als auf die Güte der
Arbeit, die ihm in irgendeiner Weise aufge‐
tragen ist, völlig leer ausgeht und sich nur
selbst betrügt, wenn er seine geistigen
Kräfte im Wachsen glaubt. ‒ ‒ ‒
.Zur Erlangung der geistigen Kräfte, die
durch intensive und auf die höchste Arbeits‐
Leistung eingestellte Arbeit zu erhalten
sind, ist es nicht nötig, daß die Art der Ar‐
beit selbst schon Geistigem diene! ‒
82 Das hohe Ziel
Doch, wenn auch die dauerwertige Frucht
der Arbeit auf solche Weise in einem steten
Zuwachs geistiger Kraft besteht, so wäre
es dennoch töricht, wollte man hier der an
deren Früchte nicht achten, die solche
disziplinierte Arbeit auch dem Alltag
bringt. ‒ ‒
Noch wissen die meisten nicht, was solche
Arbeit auch im Alltag bedeutet, obwohl sie
es wahrlich aus manchem Beispiel ersehen
könnten! ‒
Nur Arbeit um der Arbeit willen: ‒
Arbeit, die das höchste Resultat erstrebt,
kann jenen ersehnten allgemeinen Wohl
stand schaffen, der niemals zu erreichen ist,
solange Arbeit noch wie ein lästig Not
wendiges nur erduldet wird! ‒ ‒ ‒
Der weiß noch nichts vom Segen der Ar‐
beit, der seine Arbeit nicht lieben lernte! ‒
Der wird den Segen der Arbeit niemals ge‐
nießen, der sich ein Glück erträumt, dem
die Arbeit fehlt! ‒ ‒
*
83 Das hohe Ziel
VON DER MACHT
DER LIEBE
.Wahrlich, des Menschen Macht ist ohne
Grenzen, so er in der Liebe lebt!
Wahrlich, die Liebe ist des Erdenmenschen
höchste Kraft! ‒
Sie haben gar hohe Kräfte als des Menschen
höchsten Wert gepriesen und auf hoher Zinne
sich des Menschen höchste Herrlichkeit er‐
träumt; allein, weit höher, als des Erden‐
menschen eigenes Ersinnen es erahnen konnte,
ward ihm Ruhm bereitet, und weiter als sein
kühnstes Denken es erspähen konnte, ward
ihm Macht gegeben! ‒ ‒ ‒
Die Himmel fassen nicht, was Liebes
feuerkräfte in den Herzen Erdgeborener
zu wirken wissen, und in allen Abgrunds‐
tiefen ist nicht zu ergründen wo die Weihe
ankert, die da aus Menschentieren gött‐
lich überformte Geistesmenschen schafft!
‒ ‒ ‒
Sonnen vergehen in kosmischen Gezeiten
und reißen Welten in den Abgrund unerfaß‐
lichen Vergehens mit hinab; jedoch des
Menschen Macht bleibt ihm für alle
Ewigkeit gegeben, mag auch der Boden, da
87 Das hohe Ziel
er zeitlich seine Hütte baute, unter seinen
Füßen wanken und zerbersten! ‒
Er, der aus hohem Leuchten fiel dereinst,
trägt dennoch Macht in sich, hoch über alle
Sterne sich empor zu heben!
.Du fragst, was solche hohe Macht dem
einst Gefallenen verleiht?!
Du fragst, was über alle unsichtbaren Fürsten
kosmischer Gestaltung ihn erhebt?!
Wisse: der Sprache Wort ist nicht vermö‐
gend, letzte Antwort hier zu formen und
tiefstem Ahnen nur bleibt vorbehalten hier
zu fühlen, was erfühlbar, aber kaum erfaß‐
bar ist! ‒ ‒
Wie könnte jemals eines Menschen Zunge
künden, was über allem menschlichen Er‐
denken bleibt?
Selbst jenen hohen Sterngewaltigen, die
ihrem Wesen nach nur reinstes «Denken»
sind, ‒ nur über alles erdenhafte Denken
hoch erhaben, ‒ jenen unsichtbaren «Göt‐
tern» dieser Sichtbarkeit, ‒ bleibt ewiglich
88 Das hohe Ziel
verhüllt, was nur des Menschen Seelen
Innerstes im tiefsten Schauen in sich selbst
erleben kann. ‒ ‒
Höher als dieser Sternengötter höchste All‐
gewalt in kosmischem Geschehen, erhebt sich
Menschenmacht, die in der Liebe grün‐
det!
.Es ward gesagt:
«Gott ist die Liebe, und wer in der
Liebe bleibet, der bleibet in Gott
und Gott in ihm
Doch euch ward die «Liebe» allzunah der
Lust verwandt; ward euch zu holdem Füh‐
len lustgeschwängerter Gefühle; und statt
in «Gott» zu leben, habt ihr selbst den
Götzen aufgerichtet, vor dem ihr kniet
und der euch wahrlich nicht zu helfen weiß,
so daß die Klugen, denen solches Blendwerk
nicht verborgen blieb, sich von ihm wandten
und für euch nun «Gottesleugner» heißen,
da sie eures Götzen «Gottheit» kühn in
Frage stellen und verneinen!...
89 Das hohe Ziel
Ich aber sage euch, daß mancher, der auf
solche Weise sich von Götzen und von Göt‐
tern wandte, der Gottheit näher stehen mag
als jene die ihn schmähen! ‒ ‒ ‒
Ich sage euch, daß viele derer, die ihr Gottes‐
leugner nennt, wahrhaft in Gott geborgen
sind und in der Liebe Gott erleben, auch
wenn sie nicht in eurer Weise reden und
selbst nicht wissen mögen, daß sie in der
Liebe sind und Gott in ihnen sich be‐
kundet! ‒ ‒ ‒
Denn:
«Gott ist Geist, und die ihn anbeten,
müssen im Geiste die Wahrheit anbeten!»
Wer nicht den Geist in sich zu suchen unter‐
nimmt, wird Gott in Ewigkeit nicht finden!
.Der Geist, der Gott und der die Liebe
ist, darf freilich nicht dem «Geiste» des
Gedankens gleichgeachtet werden, der in
den Hirnen Staubgeborner im Denken sich
erzeugen läßt!
Von anderem Geiste ist wahrlich hier die
90 Das hohe Ziel
Rede, und wer nicht in der Liebe ihn er‐
fühlt, der wird, mag er auch noch so viel von
Gott zu sagen wissen, dennoch gottlos
bleiben! ‒ ‒
Nur in der Geistesform der Liebe kann der
Erdenmensch zu Gott und damit in den
Geist gelangen, von dem er ausging durch das
Wort des Lebens, das sich in Gottheit
selber spricht von Ewigkeit zu Ewigkeit! ‒
Vorher ist all sein Psalmodieren über «Gott»
und «Göttliches» nur törichtes Gerede, und
all sein «Beten», so es nicht in dieser Liebe
gründet, wird vergeblich sein! ‒
.Der euch einst «beten» lehrte, wie man
beten soll, und nicht, den Gottesfernen gleich,
zu «plappern», der wollte euch in dieser
Liebe sehen!
Sein ganzes Leben war ja seine Lehre dieser
Liebe!
Wie wollt ihr ihn verstehen können, solange
ihr noch zögert, euch in gleichem Liebes‐
feuer aufzulösen und euch selbst dahinzu‐
91 Das hohe Ziel
geben, um euch in dieser Liebe dann aufs
neue zu gewinnen?!
.Es ist diese Liebe, von der ich hier
künde, niemals ganz zu erreichen, solange du
noch einen Gegenstand der Liebe brauchst,
den du außer dir suchen mußt!
Du selbst mußt dir Gegenstand dieser
Liebe werden, bis du zuletzt auch dich in
ihr verlierst und so dann selbst zu Liebe
wirst, die keines Gegenstandes mehr bedarf,
da alles, was je wurde oder werden kann, in
ihr beschlossen ruht! ‒ ‒ ‒ ‒
Wenn dir geraten wird mit weisem Rat:
selbst deiner Seele zu entsagen, so sollst
du nur daraus entnehmen, daß du auch deine
Seele nicht zum Gegenstande deiner Liebe
machen darfst, wenn du die Liebe in dir selbst
erfahren willst, als welche Gott in dir sich
offenbart!
Willst du noch anderes, als was in deinem
tiefsten «Ich» sich selbst erfassen will, durch
«Liebe» dir zu eigen machen, so «liebst»
92 Das hohe Ziel
du noch nach irdisch-enger Weise und bleibst
so ferne jener wesenhaften Liebe, die eine
Geistesform der Gottheit ist!
Du aber sollst in dir die Liebe finden, die da
Gott ist, und sollst in der Liebe sein, auf
daß Gott in dir sei, und du in Gott! ‒ ‒ ‒
.Noch «bist» du nicht, denn was du dein
«Dasein» nennst, ist nicht wahres, seiner
selbst bewußtes Sein!
Was du dein «Dasein» nennst, ist ebenso nur
übertragenen Sinnes «Sein» zu nennen, wie
das, was dir als «Liebe» gilt, nur in «über‐
tragenem» Sinne: Liebe heißen kann! ‒
Was du dein «Dasein» nennst, ist tausend‐
fach bedingt, wie gleicherweise alle Liebe,
die sich an den Gegenstand der Liebe bin‐
det, stets bedingt bleibt durch ein Äußeres,
wie hoch du es auch vor dir selbst erheben
magst! ‒
Über alles dieses hinaus, hinauf und
empor muß ich dich führen, will ich dich zu
93 Das hohe Ziel
jener Liebe leiten, in der dein Gott sich
dir gebären kann und du dich in ihm...
Empor gelangt nur, wer sich in sich selbst
«empört» und gegen alles Niedere zu stem‐
men weiß, das ihn in seiner Niederung zu
fesseln sucht!
Es ist ja wahrlich schon Empörung gegen
alles Niedere, wenn du nach einem «Gegen‐
Stand» der Liebe suchst, denn ahnend
fühlst du hier, daß du entgegen stehen
mußt dem Niederen, wenn du es überwinden
willst!
Aber solange du noch den «Gegen-Stand»
deiner Liebe draußen suchst, kannst du
dich in dir selbst nicht gründen, und dar‐
um werde vorerst selbst dir «Gegenstand»
deiner Liebe! ‒
Hast du in solcher Art dich in dir selbst
gegründet, dann mag es wohl dir leichter
werden, auch diese letzte Stütze dahinzu‐
geben und gegen dich selbst dich zu «em‐
pören», bis du dorthin emporgelangst, wo
weder Höhe noch Tiefe ist, da alles räum‐
liche Gleichnis zunichte wird, weil Unver
94 Das hohe Ziel
gleichliches hier zum Ereignis sich ge
staltet! ‒
.Siehe: die Himmel vermögen nicht zu
fassen, was dem Menschen vorbehalten ist,
der seines Anrechts sich nicht entäußern
mag!
Zwar werden nach Äonen alle einst zur
«Seligkeit» gelangen; doch jene «Seligkeit»,
die allen so erreichbar wird, ist keineswegs
dem hohen Ziele je vergleichbar, das du
erreichen kannst, wenn du in deiner erdge‐
bundenen Erscheinungsform schon dich em‐
porzuringen trachtest und aus den Banden
der Gewaltigen des Kosmos dich zu lösen
weißt, die dich umschlungen halten können
durch Jahrtausende und durch Äonen!
Davon aber ist gesagt, daß keiner Befreiung
finden kann, «bis er den letzten Heller
bezahlt»! ‒ ‒ ‒
Heute jedoch hast du noch die Möglichkeit,
solcher Fessel zu entrinnen!
Heute noch kannst du wahrlich deines
95 Das hohe Ziel
Schicksals Meister werden, und solche deiner
Erdenbrüder, die es längst geworden sind,
kennen kein höheres Glück, als daß sie dir
helfen dürfen...
96 Das hohe Ziel
DER MEISTER VON NAZARETH
.«Und wenn ich mit Menschen- und
mit Engelszungen redete und hätte
der Liebe nicht, so wäre ich gleich
einem tönenden Erz oder einer klin
genden Schelle
So redete einer, der um die Liebe wußte! ‒ ‒
Doch ein anderer war, der hatte vordem
diese Liebe dargelebt in seines Lebens
unvergänglich hoher Lehre...
Er, den wir den größten aller Liebenden
nennen, war zwar von vielen seiner Brüder
vorgeahnt, doch hatte keiner seiner Liebe
Glut erreicht!
Und viele sind nach ihm gekommen und
werden viele noch erscheinen, die wahrlich
«Liebende» zu nennen sind; jedoch trotz
aller ihrer Liebeskraft war keiner und kann
keiner je erstehen, der ihm vergleichbar
wäre, ‒ obwohl ich hier von seinen geist‐
geeinten «Brüdern» rede!
Doch, was in jedem dieser seiner Brüder
einst zur Offenbarung kam, war stets das
Gleiche, was in ihm in seiner ganzen
Fülle sich zu offenbaren wußte.
99 Das hohe Ziel
Und was noch in der Zeiten Lauf zu Offen‐
barung werden kann, wird nur das Glei
che in stets neugeformter Offenbarung,
sein! ‒ ‒
Es ist nur hirnverbrannter Wahn, der da
vermeint, daß die Gestalt des Zimmermanns
aus Nazareth der frommen Mythe ange‐
höre; doch der, den nun die Nachwelt nur in
einer Zeichnung kennt, die erst Jahrhunderte
nach seinem Erdendasein seine Züge formen
wollte, sah freilich anders aus als jener
fakirhafte Wundertäter, den man aus ihm
gebildet hat in einer Zeit, da längst der Aber‐
glaube östlicher und westlicher Gehirne um
sein Bildnis rang...
Wer wirklich hier der Wahrheit Spur er‐
kunden will, der muß die Zutat wundersüch‐
tig erdgebundener Geschlechter aus jenem
Bilde tilgen lernen, das ihm von früher Ju‐
gend an als unantastbar galt.
Alsdann erst wird ihm des hohen Meisters
Auge entgegenleuchten und er wird eines
Menschen Antlitz schauen, der ‒ Gott
geeint, im tiefsten Sinne solchen Wortes
100 Das hohe Ziel
‒ dennoch als Mensch dem Menschen dieser
Erde «frohe Botschaft» brachte von je‐
nem Reiche wesenhaften Geistes, das er
«das Reich der Himmel» nannte. ‒ ‒ ‒
.Wenn ich von anderen ‒ wie von mir
selbst ‒ als seinen «Brüdern» künde, so
würde jeder meine Worte irrig deuten, wenn
er etwa vermeinen wollte, es sei hier ausge‐
sprochen, daß wir anderen dem erdenfernen
Zauberbilde gleichen wollten, das mit dem
Namen dieses Zimmermanns aus Nazareth,
in später Zeit, die ihn dem «Logos» gleichzu‐
stellen suchte, unterzeichnet wurde. ‒
Fern liegt uns solche Torheit!
Die ihn durch ihre zweifelhafte Kunst auf
solche Weise in den höchsten Himmeln si‐
chern wollten, haben ihn nur allem Erden
menschlichen entfremdet, so daß er denen
nicht mehr faßbar ist, die er empor zu höch
sten Geisteshöhen führen wollte!
Was Wunder, wenn er ihnen schließlich dann
zur Mythe wurde!
101 Das hohe Ziel
.Seht, Freunde, ich weiß gar wohl, wovon
ich rede, wenn ich den größten aller Lie
benden den hohen «Bruder» nenne!
Kein einziger aus uns, so hoch ihn auch der
Geist erhoben haben mag, wird je dem Irr
sinn huldigen, er ‒ der Sprecher ‒ sei das
«Urwort» selbst, das aus ihm spricht, ‒
und also dünkt es uns: es sei verbrecherische
Schmähung, von jenem Größten aller
Liebenden zu glauben, daß er in solchem Irr‐
sinn sich gefallen habe...
Wir wollen ihn euch zeigen, so, wie er wirk‐
lich war, als er, gleich uns, der Erde Mühsal
trug, ‒ so, wie er heute noch, ‒ der geist‐
geeinte Bruder seiner Brüder, ‒ in Geist‐
gestaltung uns erkennbar und vereinigt, sich
uns Tag für Tag bezeugt!
Wenn wir, die ihn so hoch verehren, uns
seine «Brüder» nennen, so soll dies nur be‐
sagen, daß er als Erdenmensch der Unseren
einer war und daß er auch in geistiger
Gestalt der Unseren einer bleibt, mag
man auch aus dem Sohn des Menschen, der
alles Menschliche in sich erfahren hatte,
102 Das hohe Ziel
als er auf der Erde lebte, in einer heute fer‐
nen, wunderargen Zeit den «Gott» gestaltet
haben, der da aus seiner Gottesherrlichkeit
herniedersteigen mußte, weil eines kleinen
alten Volkes Rachegötze vorgeblich seine
Wut nicht zügeln konnte, bevor der eigene
«Sohn» sich ihm als Opfer dargeboten hatte.
‒ ‒
.Wir reden nicht von einem, den wir nur
aus alter, dunkler Kunde kennen! ‒
Wir sind mit dem, von dem wir künden, so
vereinigt, wie keine irdische Vereinigung
jemals den Menschen mit dem Menschen
einen kann! ‒ ‒ ‒
Wir wissen, wüßten wir es anders nicht,
durch den, um den es hier sich handelt, daß
er einst als Mensch, in allen Stücken
menschlich uns vergleichbar, über diese Erde
schritt und daß er nur an Liebesfeuer
kraft uns also überlegen war, daß er das
überirdisch-hohe Wunder wirken konnte, die
Geistesaura dieser Erde so zu wandeln, daß
103 Das hohe Ziel
jeder, der da «guten Willens» ist, nunmehr
den Weg zurück zum Geiste, in der Liebe
finden kann, ‒ gleichsam «gebahnt», so wie
ein Wanderer durch hohen Schnee den Weg
nicht fehlen wird, den einer bahnte, der des
rechten Weges kundig war...
Auf solche Weise ist es wahrlich seine ei
gene Kunde, die euch durch unser Wort er‐
reicht!
Seht ihr an uns des Menschen Mal, obwohl
wir uns als seine «Brüder» euch bezeugen
müssen, so wisset, daß auch er, gleich uns,
ein wahrer Mensch war, dem nichts
Menschliches erlebnisferne blieb! ‒
Nichts Menschliches schien ihm zu niedrig,
als daß er es nicht einstmals in sich selbst, in
eigenem Erleben, mitempfunden hätte! ‒
Er wäre nicht gewesen, der er war, wenn
nicht die ganze Weite alles Menschlichen in
ihm sich auszuwirken Raum gefunden hätte!
Doch war ihm auch wahrlich keine Macht ge‐
geben, seinem Menschentum sich zu ent
winden, hätte er sich jemals ihm entwinden
wollen!
104 Das hohe Ziel
Nur, daß er letzten Endes Sieger blieb,
macht seine Größe aus, so wie ein jeder, der
ihm folgen will, sich nur als «auserwählt»
bezeugt, wenn er der Erde Torheit, der er
niemals ganz entrinnen kann, solange er
auf dieser Erde lebt, für «Nichts» zu achten
weiß und aller «Sündenschuld» sich zu ent‐
winden lernt, um im Erlösungslicht sich
zu erheben, sich selbst verzehrend in den
Feuergluten jener Liebe, die in dem Meister,
dem er nur in Liebe sich vereinen kann,
das hohe Wunder seines Lebens wirkte...
.Wer da den «Großen Liebenden» im
Innersten des Innern in sich selbst zu
finden hofft ‒ denn er ist wahrhaft allen Erd‐
geborenen so nahe, daß er leicht sich finden
läßt ‒ der muß vor allem jenem Wahn ent‐
sagen lernen, der aus dem reinsten Men
schen, den die Erde trug, den «Gott» zu bil‐
den wußte, der seinem Vatergott sich als Ver‐
söhnungsopfer irren Rachedurstes, mensch‐
lich allzumenschlicher Erfindung, bot! ‒
105 Das hohe Ziel
Dann erst kann er den hohen Meister in sich
vernehmen: ‒ den weisen Zimmermann aus
Nazareth!
106 Das hohe Ziel
ENDE
ÜBER DIE
GOTTLOSIGKEIT
Verlagslogo
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASEL 1939
COPYRIGHT BY
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASLE 1939
BUCHDRUCKEREI KARL WERNER IN BASEL
INHALT Seite
I.
Ein „Gegenstand” des Führwahrhaltens und
.die Wirklichkeit
5
II.
Lebendiges Geschehen und Sperrbereiche
.des Denkens
25
III.
Verkümmerung der Empfindungsfähigkeit 41
IV.
Gottlosigkeit aus „Gottesfurcht” 57
V.
Was ist Wahrheit?” 69
VI.
Hinweise zu meinem geistigen Lehrwerk 83
Originalscan
Ein „Gegenstand”
des Fürwahrhaltens und
die Wirklichkeit
.Als Mensch meiner geistigen Wesensart
gänzlich im Bewußtsein Gottes innerhalb
des ewigen substantiellen Geistes lebend,
wird es mir kaum noch möglich, rück‐
schauend in irdisch gehirnlich bedingte Er‐
kenntnis, eine Vorstellung des Bewußtseins‐
zustandes zu reproduzieren, in dem irdische
Mitmenschen von ihrer lediglich gedanken‐
bestimmten Perspektive her „das Dasein”
Gottes in Frage stellen, oder gar jeden
Gottesglauben auf Erden als Priesterlüge
und fossile Wahnidee verwerfen zu müssen
meinen.
.Nur, wenn ich mich ‒ unter allem, heute
damit verbundenen Grauen ‒ jener Zeiten
erinnere, die auch mich voreinst einmal an‐
gesichts eines, aus unwissentlich durch sich
7 Über die Gottlosigkeit
selbst mißgeleitetem menschlichen Gestal‐
tungsdrang und allzuirdischer, Jahrhunderte
währender gedanklicher Spekulation stalag‐
mitenhaft erstarrten, vorgeblichen „Gottes‐
bildes” in schwersten Zweifeln fanden*, wird
mir noch nachfühlbar, was die Seele derart
bedrücken kann, daß sie sich lieber selbst
alle Möglichkeit sicherer Gottbewußtheit ab‐
erkennt, als daß sie weiterhin den Zwang
eines Vorstellungsgebildes in sich zu ertra‐
gen vermöchte, dem das ihr empfindbare
geistig Wirkliche so wenig entspricht.
.In solchem Zweifeln und Negieren liegt
aber wahrhaftig keine „Abkehr von Gott”,
sondern vielmehr: ‒ aus ewigem göttlichen
Geiste her dringlich gefordertes Ausschließen
jeglicher Außenprojektion, wo immer die
Seele zum Empfindungsbewußtsein ihres
wirklichen lebendigen Gottes in ihrem
eigenen allerinnersten Empfindungsbereich
* Siehe: „Mehr Licht”, „Denen, die des Schlafens müde wurden!”
8 Über die Gottlosigkeit
gelangen will. ‒ Abgelehnt wird nicht die
ewige und aus sich das ewige Sein der Seele
be-wirkende Wirklichkeit, sondern ein im
Ablauf der Jahrtausende von unzähligen Ge‐
hirnen erklügeltes, in sich selbst starres und
bewegungsunfähiges Gedankenbild, das
den Suchenden immer wieder aufgezwun
gen wurde, weil seine Gestalter in solchem
Gebilde Gott die Form gegeben zu haben
meinten, deren der Unfaßliche, ihrem Glau‐
ben nach, bedürfen sollte, um der Seele des
Erdenmenschen gegen-ständlich zu sein. So
ist ein „Gott” ohne Gottheit entstanden: ‒
ein „Gegenstand” des Glaubens, den dieser
„Glaube”, der nichts als ein immer frag‐
würdiges „Fürwahrhalten” ist, anneh
men oder aber ablehnen kann!
.Es ist kaum erstaunlich, daß die Neigung
zur Ablehnung in gleichem Grade wächst,
wie die erdenmenschliche Einsicht in alle die
Zusammenhänge erdenhaften Geschehens,
als deren alleiniger Urheber der besagte
9 Über die Gottlosigkeit
Gegenstand” des Glaubens geglaubt wer‐
den soll! ‒
.Daß sich unter denen, für die das Wort
„Gott” allenfalls nur noch eine Redensart
bedeutet, ‒ unter denen, die jegliche Er‐
wähnung dieses Wortes in gebildeter Gesell‐
schaft als veraltete Hinterwäldlerei bespötteln,
‒ wie unter denen, die es nur als Heraus‐
forderung zu Kampf und Verwerfung an‐
sehen lernten, nicht wenige „gute Köpfe”
finden, darf nicht zu falschen Schlüssen
führen, denn keiner dieser vorgeblichen
„Überwinder veralteten Menschenwahns” ist
in Tat und Wahrheit „Gottesleugner”! Jeder
lehnt nur auf eine laxe oder brüske Weise
eben diesen von Menschenhirnen gedanklich
gestalteten starren Gottes-Begriff ab, der
von Anderen ‒ und unzähligen Anderen ‒
noch gewohnheitsmäßig als „Gegenstand
ihres Glaubens und somit als ihr einziger
scheinbarer Halt im Unsichtbaren, Jen‐
seitigen, ihnen gedanklich aber in Wahrheit
10 Über die Gottlosigkeit
Unzugänglichen und niemals im redlichen
Denken Erreichbaren, angstvoll und freilich
nur vermeintlich, umfaßt wird. Der in
seiner Selbstkritik strengste und im Denken
unbestechlichste Mensch würde jedoch nie‐
mals dem Gedanken verfallen, daß er das
ewige Wirkliche, das in Wahrheit nur not‐
weise Benennung erfährt, wenn von „Gott”
die Rede ist, „leugnen” könne, wäre es ihm
auch nur ein einzigesmal im eigenen, hoch
allem Denkbaren entrückten Empfindungs‐
bewußtsein, als geistige Wirklichkeit be
wußt geworden! ‒
.Lange vor den frühesten geschichtlich
verzeichneten Spuren des Menschen auf die‐
ser Erde gab es eine Zeit, in der dem schwer
in die bloße irdische Tierheit gefesselten
Menschen auf diesem Planeten durch die
damals hier geistig Wirkenden des ewigen
Urlichtes wahrhaftige „Er-Lösung” gewor‐
den war, so, daß jeder Einzelne aus unzähl‐
11 Über die Gottlosigkeit
baren gleichzeitig Lebenden, seines in ihm
selber sich offenbarenden lebendigen Got
tes bewußt, auch um den lebendigen Gott
in seinem Nebenmenschen wußte und
ihm die gleiche Liebe darbot, durch die er
in sich selbst sich Gottes innegeworden
sah. In jener Zeit gab es kein Verbrechen
des Menschen gegen den Menschen! Die ihm
gemäße Tierheit, als Notwendigkeit ir‐
dischen Daseins, war gebändigt und belehrt
worden von der Liebe aus dem in jedem
Einzelnen gegenwärtigen lebendigen Gott!
Keiner derer, die ihren lebendigen Gott in
sich wußten, konnte „fremde Götter neben
ihm” wähnen, denn jedem war bewußt ge‐
worden, daß sich Gott nur als sein Gott
ihm offenbaren mußte und als der Gott
seines Bruders zwar ihm selber unerreich‐
bar, aber im Wesen kein anderer war,
als der Gott, den er in sich selbst erlebte.
.Jahrtausende waren so vergangen, ehe
die Degeneration des ehedem schon geistig
12 Über die Gottlosigkeit
erlösten irdischen Menschen einsetzte, ‒
hervorgerufen durch neuerwachten irdischen
Verdrängungstrieb des Tieres gegenüber dem
Tiere und tierhaften Neid, ‒ die den bereits
im Geiste Bewußten der Tierheit wieder
gänzlich untertan und somit geistig blind
und taub werden ließen. Nur allzudeut‐
liches Symbol des hemmungslosen Wütens
der wieder ganz den niedrigsten Tier
trieben unterworfenen gegen die noch
dem lebendigen Gott in sich geeinten
Erdenmenschen ist in der alten, tiefste Er‐
kenntnis bergenden Sage von dem ungleichen
Brüderpaar „Kain und Abel” gestaltet! ‒ Es
ist natürlich naive Deutung, die Richtung
des Opferrauches nur durch uralten Aber‐
glauben für die beiden Brüder bedeutsam
werden lassen zu wollen, während in diesem
Motiv der Sage aufs deutlichste das Auf
steigen desUntereninsObere” dem
trägen Haften am nur Irdischen gegen‐
übergestellt wird. ‒
13 Über die Gottlosigkeit
.Man sollte vielleicht etwas vorsichtiger
im Deuten der Einzelelemente solcher alten
Menschheitssymbole sein, ‒ was besonders
in heutigen Tagen anzuempfehlen ist, nach‐
dem die Werte mancher Elemente der in‐
tuitiven echten Symbolik den die west
liche Hälfte des Erdballs bewohnenden
Menschen gänzlich abhanden kamen, und
auch der Erkenntnis des irdischen geo‐
graphischen Ostens mehr und mehr ent
schwinden...
.An Gott zu zweifeln oder gar Gott zu
leugnen, ist für Gottesbewußte nur unbe‐
greifliche Torheit, wenn je unter dem Namen
„Gott” ‒ wie das doch gemeinhin selbst‐
verständlich ist ‒ das Allem übergeordnete,
aus sich selbst seiende ewige, in absolutem
Sinne allumfassende schöpferisch Erhaltende
aller geistigen und physischen Welten ver‐
standen werden soll! ‒ Wenn unzählige
Menschen Gott „in Frage” stellen zu dürfen
14 Über die Gottlosigkeit
meinen, so steht ihnen, wie ich schon dar‐
legte, in Wahrheit nicht „Gott” ‒ in dieser
höchsten Bedeutung des Wortes ‒ in Frage,
sondern eine gehirnlich erdachte Vorstel
lungsform, die mit der Wirklichkeit,
der man den Namen „Gott” gibt, so viel und
so wenig zu tun hat, wie die in allem Wirk‐
lichen bestimmende Notwendigkeit mit
Willkür! Daß nur so wenige Erdenmen‐
schen bis jetzt und schon während ihres ir‐
dischen Daseins in innerstes Gottesbewußt
sein gelangen, das unbeschreibbar hoch über
jeglichem Fürwahrhalten steht und keiner
lei Zweifel mehr zuläßt, hat darin seinen
Hauptgrund, daß man mit vorgefaßter
Meinung sucht und Gott gleichsam die
Form vorhält, in der er sich in der Seele
offenbaren müsse, „falls er Wirklichkeit
sei”. . .
.Und was wird nicht alles gar von naiven
Ahnungslosen als Gottes „Stimme” er‐
klärt! ‒ Wenn es nur wenigstens das echte
15 Über die Gottlosigkeit
und nicht mit allerlei beschönigendem Mei‐
nungsgemengsel verfälschte „Gewissen”, als
das Zeugnis des ewigen Geistesfunkens in der
Seele, wäre! So aber glauben die sich selbst
so billig und leicht Genügenden bereits „die
Stimme Gottes” in sich bei jedem Selbst
gespräch zu vernehmen, indem sie aus ver‐
schiedenen Auffassungsmöglichkeiten her in
sich die Rollen selbst produzieren und ver‐
teilen, die zu ihren vermeintlichen „Gesprä‐
chen mit Gott” vonnöten sind, ‒ wenn sie
nicht gar sich mit kläglichen animistisch‐
spiritistischen Tändeleien zufrieden geben.
.In solcher Weise lernt man aber nicht
einmal sich selber kennen, geschweige denn
Gott, und diese selbstgefälligen „Hörer” der
vermeintlichen Stimme Gottes sind wahr‐
haftig davor gesichert, jemals Gott in sich
zu vernehmen!
.Es handelt sich jedoch auch nicht um eine
„Aufgabe”, irdischen Aufgaben gleich, die
16 Über die Gottlosigkeit
bewältigt werden müßte, wolle man Gottes
bewußt werden, sondern was not tut, ist die
Bereitschaft der Seele, in ihr Empfindungs
bewußtsein aufnehmen zu wollen, was ihr
aus Gott zuteil werden kann, ‒ ohne Vor
behalt und ohne vorgefaßte Meinung!
(Eben deshalb weiß naturgemäß die ratio
nalistische Form des Buddhismus nichts
von Gott! Sie will nicht Gott, sondern ihre
Philosophie bestätigt sehen.)
.Gott ist aber auch wirklich etwas ganz
Anderes, als was die Gestalter eines starren
Gedankenbildes meinen, das sie in gutem
Glauben als ihrer Annahme nach „verpflich‐
tenden” Glaubensbegriff aufstellen! Auch
ihnen gegenüber läßt sich sagen: „Vater ver
gib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie
tun!” ‒
.In „Briefe an Einen und Viele” habe ich
dort, wo es sich ausschließlich um das Sein
Gottes innerhalb der Struktur ewigen
17 Über die Gottlosigkeit
Geistes handelt, deutlich genug gezeigt, daß
ich in diesem Sein alles Ewige einbegriffen
weiß, da dieses nicht ohne Gott, und Gott
nicht ohne das Ewige ist! Man darf also dem
Worte ‒ Gott ‒ wahrhaftig die denkbar
umfassendste Deutung geben, ohne jemals
einem Irrtum verfallen zu können! Nur muß
man sich davor hüten, im voraus die Art
der Empfindung ewigen substantiellen
Geistes in sich bestimmen zu wollen, bevor
man ihrer in Wahrheit innegeworden ist!
Das erfordert schon die irdisch unvorstellbare
Unendlichfältigkeit des ewigen Geistes,
dessen unzählbare Selbstdarstellungen unter‐
einander in Myriaden von geistigen Relationen
stehen. Jeder einzelne Mensch kann nur in
der einen Selbstdarstellung ewigen substan‐
tiellen Geistes zu Gottesbewußtheit kommen,
die gerade seiner individuellen Eigenart
entspricht, und gelangt dadurch in ganz
präzis gegebene Beziehungen zu allen un‐
endlichfältigen Selbstdarstellungen ewigen
Geistes.
18 Über die Gottlosigkeit
.Nicht umsonst habe ich in meinen Lehr‐
schriften immer wieder die vielfachen Ein‐
wirkungen aufgezeigt, in denen diese un‐
endlichfältigen Selbstäußerungen des Ewigen
gegenseitig zueinander stehen! ‒
.Ich könnte mein bewußtes unauslösch‐
liches Leben im ewigen substantiellen gött‐
lichen Geiste niemals nur im Allermindesten
behindert sehen, auch wenn kein einziger
anderer Mensch der Erde in aller Ewigkeit
zu seinem ewigen, in Gott gegebenen Ur‐
sprung zurückkehren würde. Soweit also
mein eigenes Wünschen, Hoffen oder Erwarten
in einer, mein eigenes geistiges Schicksal
irgendwie bestimmenden oder auch nur leise
berührenden Richtung in Frage kommen
könnte, bin ich wahrhaftig an solcher Rück‐
kehr Anderer ganz und gar uninteressiert,
und ich hege auch gewiß keinerlei irdischen
Ehrgeiz, um meines im ewigen substantiellen
Geiste bewußten Daseins willen von den
19 Über die Gottlosigkeit
gleichzeitig oder später Lebenden gefeiert
zu werden.
.Es wird mir schwer genug, mich zu diesem
Leben im Geiste Gottes bekennen zu
müssen, das ich ‒ meiner ganzen Artung
nach ‒ wahrhaftig lieber als mein stillstes
Geheimnis hüten würde.
.Ich weiß nur aus geistigem unbeirrbaren
und niemals täuschendem erschauernden
Wirklichkeits-Wissen um die unsagbaren
seelischen Qualen, die Keinem erspart oder
abgenommen werden können, der die Heim‐
kehr in seinen geistigen Ursprung: ‒ in das
Leben in Gott! ‒ dem er durch seinen Fall
in das materielle Dasein entfiel, nicht schon
während seines irdischen Lebens mit allen
Kräften und ‒ bedingungslos ‒ wieder
anstrebte. In „Gelassenheit” göttlicher Be‐
stimmung überlassend, ob ihm das Bewußt‐
werden in seinem lebendigen Gott schon
innerhalb der körperlich dargebotenen irdi
20 Über die Gottlosigkeit
schen Lebenszeit, oder erst nach ihrer Be‐
endigung, dann in neuer Lebensform, zuteil
werden soll. Ich will aber nicht Andere im
Leide wissen und unvermeidlichem Leid ah‐
nungslos entgegengehen sehen, die ich durch
Klärung ihrer Meinungen und durch Offen‐
barung des mir geistig Bewußten vor unnützen
seelischen Qualen zu behüten vermag! Wenn
ich also vermieden sehen will, daß sich Men‐
schen der Erde selbst ins Unheil stürzen,
indem sie alles Göttliche in diesem Erden‐
dasein negieren, nur weil sie außerstande
sind, einen ihnen als „Gegenstand” des Für‐
wahrhaltens gestalteten „Gott” als ewige
Wirklichkeit anzusehen, so handle ich wie
doch wohl jeder nicht ganz Gefühlsrohe auch
im praktischen Außenleben handeln würde,
wenn er einen Unkundigen vor nicht von ihm
geahnten Unglück sähe. Man wird nicht er‐
warten wollen, daß meine mir im substan‐
tiellen Geiste geborenen und in gleicher
Einung wie ich geistig in Gott bewußten
Brüder etwa anders handeln könnten, wären
21 Über die Gottlosigkeit
sie an meiner äußeren Stelle, wenngleich je‐
der aus ihnen ebenso wie ich weiß, daß seiner
eigenen geistigen Seligkeit dadurch weder
Minderung noch Mehrung geschieht.
.Das Unheil aber, vor dem wir die sich
ihm ahnungslos Aussetzenden aus liebege‐
zeugter Pflicht zu bewahren trachten, ist
weder göttliche „Strafe” noch Folge gött‐
licher „Erziehungsabsichten” oder gar Erfül‐
lung vermeintlicher „Forderung göttlicher
Gerechtigkeit”! ‒ Es handelt sich dabei viel‐
mehr einzig und allein um unvermeidbare
Folgen der Nichtbeachtung bestimmter,
dem Leben im substantiellen ewigen Geiste
auf allen seinen Stufen ‒ seiner Struktur
nach ‒ eigener inhärenter Gesetze, die nicht
aufzuheben sind, ‒ durchaus vergleichbar
den Wirkungen von Verstößen gegen physi
kalische Gesetze im irdischen Alltag.
.Gott hierfür „verantwortlich” zu glau‐
ben, wäre gleich töricht, wie wenn man den
22 Über die Gottlosigkeit
Konstrukteur eines Hochofens dafür verant‐
wortlich erklären wollte, daß der glühend
flüssige Stahl die Hand vernichten müßte,
die in ihn einzutauchen versuchen wollte!
Ebenso könnte ein Unzurechnungsfähiger
eine chemische Fabrik dafür verantwortlich
machen wollen, daß sie dem Erdenmenschen
unzuträgliche Gifte, die keinesfalls dem Ge‐
nuß durch Menschen dienen sollen, erzeugt,
‒ oder Haftung der Ingenieure verlangen,
wenn ein Unvorsichtiger ahnungslos eine
Hochspannungsleitung berührt, während sie
„unter Strom” steht und damit eine Kraft
repräsentiert, die dem erdenmenschlichen
Körper zwar durch mancherlei Instrumen‐
tarien wahrhaftig zum Heil gereichen kann,
aber ebenso bei direkter Berührung der
nichtisolierten Stromleiter zum Verhäng
nis werden muß.
.Es ist einer der betörendsten blinden
Trugschlüsse menschlichen Denkens, anzu‐
nehmen, göttliche „Allmacht” müsse die
in Gott gegebenen ‒ durch sein Dasein
23 Über die Gottlosigkeit
„gesetzten” ‒ Auswirkungsgesetze ewiger
geistsubstantieller Kräfte auch je nach Be‐
lieben wieder aufheben können, sobald
das dem Erdenmenschen wünschbar erschei‐
nen würde! ‒
24 Über die Gottlosigkeit
Lebendiges Geschehen
und
Sperrbereiche des Denkens
.In meinem geistig geleiteten äußeren ir‐
dischen Leben wußten die es vom ewigen
göttlichen Geiste her Lenkenden mich von
Anbeginn davor zu bewahren, mich dem
gehirnlichen Denken auch dort anzuver‐
trauen, wo alle Ergebnisse folgerichtigen
Denkens noch nicht einmal zu der alleräußer‐
sten „Pforte” zu führen vermögen, die auch
jeder andere Mensch der Erde durchschrit
ten haben muß, wenn er hoffen will, jemals
den Weg zu erreichen, der allein ihn zu
seinem ewigen Ziele geleiten kann. Es gab
zwar gewiß keine Zeit meines äußeren Da‐
seins, in der ich nicht dankbar manches auf‐
genommen hätte, was sich mir als Ergebnis
des Denkens anderer Erdenmenschen oder
auch meiner eigenen denkerischen Bemü‐
hungen darbot, wenn es nur den Anfor‐
27 Über die Gottlosigkeit
derungen jener gedanklichen „Reinlichkeit”
entsprach, die mir lange schon ganz selbst‐
verständlich bestimmend waren, bevor ich
erfahren konnte, daß seriöses Denken sie
verlangt! Aber niemals kam ich in die
Lage, Aufschlüsse über die Art meiner un
vergänglichen Natur vom Denken her zu
erwarten, denn ich bedurfte dergleichen
wahrhaftig nicht, da mir aus meinem ewigen
geistigen Sein her ja immer alle Aufschlüsse
zuteil geworden waren, so oft ich danach ver‐
langen mochte.
.Ich weiß vielleicht erst heute ausreichend
zu beurteilen, vor wieviel verschlungenen
Irrwegen mein irdisches Bewußtsein nur
dadurch behütet wurde, daß ihm aus dem
in mir, als dem Irdischen, sich darbietenden
ewigen geistigen Leben her längst bereits
geistiger Besitz geworden war, wonach
gehirnliches Denken zu seiner Zeit hätte
„fragen” können. ‒ Es bestanden da in
meinem irdischen Leben, von seinem Beginn
28 Über die Gottlosigkeit
an, ewigkeitsbegründete geistige Bestim‐
mungen, deren Vorhandensein mir erst viel
später zur Gewißheit werden konnte, ‒ die
ich aber alsdann in unzählbar vielen Ge‐
schehnissen meines gesamten erdenhaften
Lebens zu sicherster sichtbarer Auswirkung
gekommen sah. Von meinem gehirnlichen
Denken, Erkennen und Folgern her, hätte
ich mir vielleicht die Bedingnisse meines
Erdendaseins mehr als einmal auch anders
vorstellen können, als sie sich, mein irdi‐
sches Leben bestimmend, bezeugten. Aber
immer wieder sah ich dann aus ewig-gei
stiger „Ein”-Sicht in die urtiefen „Gründe
des mir da und dort scheinbar wahllos zuteil
gewordenen Geschehens, so, daß alle Ge‐
fahr verschwand, zu falschen gedanklichen
Schlußfolgerungen zu kommen.
.Das „Geschehen” hier auf Erden ist
in erster Ursächlichkeit von jener geistigen
Zone her bestimmt, die ich „das Reich der
29 Über die Gottlosigkeit
geistig erzeugten Ursachen” nenne. Nur
relativ weniges geschieht bereits als Folge
von Impulsen, die sich diesem substantiell
geistigen Bereiche schon entzogen haben,
und infolgedessen auch nicht mehr von ihm
her aus ihrer starren Auswirkungsrichtung
abgelenkt werden können.
.So sind denn alle geistigen Einflüsse
auf das Geschehen innerhalb der irdi‐
schen Umwelt keineswegs etwa durch hirn‐
bedingte Gedanken, Neigungen, Affekte
und Wünsche bestimmbar, sondern allein
davon abhängig, ob die jeweilige Veran‐
lassung irdischen Geschehens noch in der
Zone der primären, rein geistigen und da‐
her auch durch ewigkeitsbestimmte geist
substantielle Impulse noch lenkbaren
Ursachen zu finden ist, oder bereits im Irdi‐
schen zu sekundärer, mechanisch weiter‐
stoßender starrer irdischer „Ursache” wur‐
de! Innerhalb dieser Region der endgültigen
Erstarrung der Zielrichtungen ursprünglich
30 Über die Gottlosigkeit
im Geistigen noch bewegbarer Impulse,
ist selbst ewiger Gottesmacht aus eigener
Satzung jede ändernde Einwirkung verwehrt.
Hier ist aller gedanklich vermuteten „All‐
macht” gesetzte Grenze, die ohne Selbst‐
aufgabe Gottes nicht überschritten werden
kann! Wären nicht die allermeisten Im‐
pulse, die Ursache irdischen Geschehens
sind, noch im bewegbaren ‒ der Ablenkung
erreichbaren ‒ substantiell geistigen Be‐
reich zurückgehalten, solange das irgend
geistig möglich ist, dann müßte das mensch‐
liche Erdenleben erbarmungslos auf allen
aus Gott geschenkten wahrhaftigen „Zu-fall”
verzichten und würde gänzlich zum fürch‐
terlichen Ergebnis starren, ausschließlich
„mechanisch” bestimmten vorausberechen‐
baren Ablaufs unabänderlicher irdischer
Kausalitätsreihen. „Determinismusin
denkbar schauerlichster und: ‒ lang
weiligster Gestalt! Man könnte es keinem
Menschen verübeln, wenn er darauf ver‐
zichten wollte, ‒ gesetzt, er wäre wirklich
31 Über die Gottlosigkeit
dann davon befreit! ‒ ein solches Leben
weiterzuführen, nachdem er dessen starrer
Unabänderlichkeit innegeworden wäre . . .
Glücklicherweise liegen aber die Dinge
anders, und es ist nicht weniges von dem,
was irdischer Verstandeserkenntnis gemäß,
als unabwendbar erscheint, vom substan‐
tiellen ewigen Geiste her noch in andere
Auswirkungsrichtung zu dirigieren.
.Uns im Urlichte Leuchtenden ist es nicht
nur begrüßte geistige Pflicht, alle von unseren
Erdenmitmenschen geschaffenen Impulse so
lange wie irgend möglich in der geistigen
Zone zurückzuhalten, in deren Bereich alle
Auswirkung noch bewegbar, ablenkbar
und umkehrbar bleibt, ‒ sondern auch
alle unsere Hilfe einzusetzen, um den durch
verderbliche Impulse angetriebenen Wir‐
kungskräften, vom Geistigen her den größt‐
möglichen Widerstand zu bieten, und ihre
üble Ausgangsrichtung zum noch Rettung
32 Über die Gottlosigkeit
gewährenden Besseren innerhalb des irdi‐
schen Geschehens umzusteuern. Wo aber
die Auswirkungen der im Willen geschaffenen
Impulse sich bereits der Zone substantieller
Geisteskraft entwunden haben, in der jeg
licher Impuls seine primäre Kräftekumu‐
lation hervorbringt, dort ist auch uns keiner
lei Hilfeleistung durch geistsubstantielle
Einwirkung mehr möglich und wir müssen
zusehen, wie sich nun der in irgend einem
irdischen Willen geschaffene Impuls, seiner im
irdischen Bereich erstarrten Richtung nach
auswirkt, mag diese Auswirkung Wünsch‐
bares oder Unerwünschtes für Einzelne
oder Viele auf Erden herbeiführen.
.Niemals aber ist unsere Hilfe ‒ wo
sie noch möglich wird ‒ durch gedankliche
Erwägungen, Schlußfolgerungen oder dem
Gehirn entsprossene Urteile über Wert und
Unwert gesetzter Impulse bestimmbar!
.Wir sind aus Ewigem her wahrhaftig
davor gesichert, dem gehirnlichen Denken
33 Über die Gottlosigkeit
und seinen ihm gesetzlich eigenen Schluß‐
folgerungen auch dort vertrauen zu müssen,
wo ihm kein Vertrauen zukommen kann!
Hilfeleistung und Abwehr sind bei uns ‒
ausnahmslos ‒ nur durch die Forderungen
des urewigen substantiellen Geistes gelenkt,
die hinwieder der lebendigen Struktur des
Geistes entsprechen.
.Es herrscht im ewigen, allen irdischen
Gehirngedanken unbestimmbar hoch über‐
ordneten substantiellen Geiste keinerlei
Willkür, und es wäre daher auch denen,
die der ewige göttliche Geist als seine erden‐
hafte Selbstgestaltung in sich bejaht, niemals
eine direkte oder indirekte geistige Ein
wirkung verstattet, wenn eine solche etwa
von gedanklichen oder gefühlsbestimmten
irdischen Urteilen her angeregt würde! ‒
.Die Hilfeleistung aus dem geistigen Rei‐
che der Ursachen her, wie sie nur allein uns
34 Über die Gottlosigkeit
Leuchtenden im Urlichte möglich und da‐
her aus ewiger Liebe gesetzte „Pflicht” ist,
hat jedoch sehr wesentlich andere Vor‐
aussetzungen als die jedem Erdenmenschen
erreichbare Kunst des wirksamen Betens,
die ich in dem Buche „Das Gebet” lehre,
das schon ungezählten Gebetsbereiten die
Augen dafür öffnete, was rechtes Beten
ist und wie es seine Wirksamkeit erhält.
Ich verleugne gewiß nicht, daß ich, von mei‐
nem Irdischen her, auch ein Kundiger des
Gebetes bin, und Ausübender dessen, was
ich in der genannten Lehrschrift lehre, ‒
geistig in meinem Gebet verbunden mit
Allen, die auf Erden wahrhaft zu beten ver
stehen, einerlei, aus welcher Glaubens
überzeugung heraus sie beten lernten!
Aber in dieser nun hier gegebenen Dar‐
stellung handelt es sich deutlichst um Dinge,
die nur uns Leuchtenden im Urlichte
möglich und geboten sind: ‒ nämlich um
unsere geistige Einwirkung auf eine, sol‐
chem Einwirken zugängliche Zone inner‐
35 Über die Gottlosigkeit
halb der Struktur des ewigen substantiellen
Geistes. Hier kommt keine Gebetsinten
tion in betracht, sondern die bedingungs
lose Darbietung der im eigenen geisti
gen Sein sich auswirkenden geistigen
Schwingungsenergien, zum Dienste im
Bereich dieser Zone, gemäß geistverliehener,
aller irdischen Trübung entzogener „Ein”‐
Sichten in die primären, ‒ irdischem Er‐
forschen unzugänglichen ‒ noch bewegbaren
geistigen Ursachen erdenhaften Geschehens.
.Erst dann, wenn die bewußt oder ohne
Wissen durch Auswirkung der Seelenkräfte
eines Erdenmenschen im geistigen Reiche der
Ursachen gleichsam „automatisch” gesetzten
Impulse bei ihrem unvermeidlichen Rück‐
prall in die Welt irdischen Geschehens, die
Grenze zwischen dem beweglichen substan‐
tiellen geistigen Zustand und physischer Starr‐
heit, bereits durchschritten haben, wird
diese oben beschriebene Einwirkung auch
uns Leuchtenden des Urlichtes unmöglich.
36 Über die Gottlosigkeit
.Vergeblich müht sich der menschliche
Verstand, diese Dinge, die viel zu fein sind,
als daß sie ihn eindringen lassen könnten,
zu ergründen! Wie ein schlechter Detektiv,
den seine eigenen Rekonstruktionen eines
verborgenen Tatbestandes derart binden, daß
er die nächstliegenden Beobachtungsmög‐
lichkeiten übersehen muß, geht er an allem
vorüber, was er nicht selbst sich erdachte,
und verliert die Wirklichkeit gerade dann
am allerweitesten aus den Augen, wenn er
ihr in seinen Schlüssen am nächsten gekom‐
men zu sein glaubt. ‒
.Dem Denken zu mißtrauen, wo Erkennt‐
nis irdischer Zusammenhänge nur durch
folgerichtige Denkarbeit zu erlangen
ist, wäre arge Torheit. Noch weit ärgere
Torheit aber ist dort zu finden, wo das Den‐
ken an Aufgaben verschwendet wird, die
nicht die seinen sind, so daß es unter
allen Umständen nur zu irrigen Resulta‐
ten kommen kann!
.Gewiß darf man über geistige Dinge
37 Über die Gottlosigkeit
auch dann nachdenken, wenn man bisher
noch nicht den geringsten Schimmer geisti‐
gen Bewußtseins in sich wahrgenommen hat.
Man kann ja auch die Installierung einer
elektrischen Beleuchtung vornehmen, ohne
bereits eine Zuleitung vom allgemeinen
Stromkabel zum Hause zu besitzen. So aber,
wie gewiß niemand erwarten wird, seine
Räume am Abend beleuchtet zu sehen, bevor
der Kontakt mit dem Stromnetz des Elektri‐
zitätswerkes hergestellt ist, so darf man auch
nicht erwarten, daß geistsubstantielles Be‐
wußtsein jemals im Denken zum Aufleuchten
kommen könne, bevor der nur außerhalb
aller Denkmöglichkeiten liegende Anschluß
des eigenen Bewußtseins an die dem Erden‐
menschen lediglich durch seine geistig be‐
stimmte Empfindungsfähigkeit zugäng‐
liche Schwingungs-Sphäre des ewigen sub‐
stantiellen Geistes effektiv erfolgte.
.Wohl wird das wirklich erlangte Emp‐
findungsbewußtsein der gedanklich unerfaß‐
baren Wirklichkeit, die das Wort: „Gott”
38 Über die Gottlosigkeit
andeuten will, in der dem Erdenmenschen
normalerweise erschließbaren Region ewi‐
gen Geistes sodann eine unerschöpfliche
Anregungsquelle des Denkens bilden
und tausenderlei Probleme erhellen, die
sich vorher auch durch die intensivste Denk‐
arbeit nicht auflichten lassen wollten, ‒
aber zur Erreichung dieses Bewußtseins
im ewigen Geiste ist und bleibt das Den‐
ken nur ein aussichtsloses Bemühen mit
absolut ungeeigneten Mitteln!
.Es kann einer auch sein ganzes Erden‐
leben lang Tag für Tag die erhabensten
Gedanken über Gott formulieren und
„Beweise” des „Daseins” Gottes aufstellen,
die selbst dem schärfsten Dialektiker „zu
denken geben”, ohne bei dieser Tätigkeit
jemals etwas von der Wirklichkeit in sich
zu erfahren, die er so gut zu kennen
meint! Mißtrauen gegenüber allem, was irdi‐
sches Denken sich über „Gott” zu ergrü‐
beln wußte, ist deshalb nur Regung gesunder,
geistig geleiteter Instinkte! ‒
39 Über die Gottlosigkeit
.Gewiß fällt es dem „denkenden” Erden‐
menschen nicht leicht, sich davon zu über‐
zeugen, daß es in ihm eine Bewußtseins‐
möglichkeit gibt, über die zwar, nachdem
sie erreicht ist, nach-gedacht werden kann,
die aber dem Denken nicht primär als Ziel
erreichbar wird, da sie außerhalb aller ge‐
danklichen Erschließungsbereiche liegt. Aber
die Erringung dieser Überzeugung ist aller‐
erste Notwendigkeit, wenn das „Empfin‐
dungsbewußtsein” aus seinem Schlafe er‐
wachen soll!
40 Über die Gottlosigkeit
Verkümmerung
der Empfindungsfähigkeit
.Ohne dessen bewußt zu werden, ist der
vermeintlich „Gottlose” durch psychische
Unfähigkeit gehemmt, Gottes ‒ das Wort
hier wieder im umfassendsten Sinne ge‐
meint ‒ empfindungsbewußt zu werden.
In Wahrheit „gottlos”, also Gottes ledig
oder von Gott gelöst, kann ja kein Erden‐
mensch sein, da das für ihn heißen würde,
im gleichen Augenblick physisch wie im
Psychischen ein Nichts zu werden, wenn
das möglich wäre. ‒ Es ist immer eine
„Asthenie”, eine Fähigkeitsschwäche, die
den Erdenmenschen dazu bringt, sich ein‐
zureden, er sei losgelöst von Gott; ‒ los‐
gelöst von dem, was Sekunde um Sekunde
allen irdischen Daseins Voraussetzung aus‐
macht, wie immer man diese ewige Kraft
auch mit Worten benennen mag. Der Mensch
43 Über die Gottlosigkeit
mit intakter seelischer Empfindungsfähig‐
keit ist deutlich der ewigen Tatsache be‐
wußt, daß er nicht auf sich selbst gestellt,
sondern die irdische „Darstellung” einer ihn
himmelhoch überragenden Kraftäußerung
ist, auch wenn er eine so weitgehende Frei‐
heit der Eigenformung genießt, daß er leicht
durch sich selbst verführt werden kann,
Ursache und Wirkung im eigenen Dasein
zu verwechseln...
.Jedweder Versuch, die vermeintliche Los‐
gelöstheit von Gott vor sich selbst und An‐
deren zu rechtfertigen ‒ möge er in vul‐
gärer, bramarbasierender Selbstbetäubung
durch das Überschreienwollen der inneren
Warnungen, oder durch ruhiges und vor‐
nehm gehaltenes Beibringen der subtilsten
philosophischen Argumente erfolgen ‒, er‐
weist in Wahrheit die Verkümmerung
der seelischen Empfindungsfähigkeit
eines Menschen! Wenn der gleiche Mensch
auch über die staunenswertesten Fähigkeiten
44 Über die Gottlosigkeit
zum „Denken” und sicheren Schlußfol
gern verfügt, so liegt dennoch seine Schwäche
der seelischen Empfindungsfähigkeit offen zu
Tage und kann durch keinerlei denkerische
Leistung aus der Welt geschafft werden.
.Auch der hervorragendste Reiter kann
ein unfähiger Bergsteiger sein, und an nörd‐
lichen wie südlichen Meeresküsten begegnet
man heute noch wetterfesten, alten, erfah‐
renen Fischern, die mehr als ihr halbes
Leben auf dem Meere zubrachten, ohne
die ihrem Fahrzeug noch irgend übersteh‐
baren Stürme zu scheuen, die aber dennoch
‒ nicht des Schwimmens kundig sind, so
daß ihr Mut nur im Zutrauen zu ihrem
Boote begründet ist.
.Das im Denken erlangbare und zum
Ausdruck kommende Bewußtsein des Men‐
schen dieser Erde ist im Verlaufe von Jahr‐
tausenden derart hypertrophiert, und es ste‐
45 Über die Gottlosigkeit
hen ihm eine solche Menge Entfaltungs- und
Übungsmöglichkeiten zur Verfügung, daß
man um seine weitere Förderung gewiß
nicht besorgt zu sein braucht, ‒ es sei denn
im Sinne ernster Besorgnis um eine Mensch‐
heit, die sich ihm heute immer noch ahnungs‐
los ausliefert, auf Kosten des allein nur durch
geschulte und gepflegte, lebendige Empfin
dungsfähigkeit zu erlangenden Bewußt‐
seins der ewigen Seele...
.Darum sind alle die Einzelstücke, die
zusammen das von mir geformte geistige
Lehrwerk ausmachen, so gestaltet, daß sie
die seelische Empfindungsfähigkeit
wecken, befreien, und aus ihrer in den aller‐
meisten Seelen erfolgten Verkümmerung zu
neuem lebendigen Wachstum aufrichten. Es
wäre wahrhaftig allzu wenig gewesen, hätte
ich nur gedankliche Definitionen ge‐
geben, wie sie in unzählbarer Menge schon
durch Denker erdacht wurden, um durch
andere Denker zerdacht zu werden! Und
46 Über die Gottlosigkeit
was immer in diesem geistigen Lehrwerk
Ausdruck in Worten fand, ist in geistigem
Sinne ‒ als vom Standpunkt geistiger
Einsicht her gezeigt ‒ zu „verstehen”, so‐
weit es dem Verstande zugänglich werden
kann.
.Wie wollte man auch, angesichts aller
Schrecken, die der Erdenmensch seit Jahr‐
zehnten für den Nebenmenschen ersinnt,
meine Worte als aus irdischer Einsicht
her gemeint deuten, wenn ich davon rede,
daß des Menschen Bahn wieder an der
Schwelle eines jener lichten Höfe angelangt
ist, die auch inmitten tiefster Finsternis zu‐
zeiten neue Hoffnung für die geistige Er‐
hellung geben?! ‒
.Wie wollte man begreifen, daß ich Hut‐
tens bekanntes Wort zitiere: „Es ist eine
Lust zu leben!” ‒ und diese Behauptung
ausdrücklich auf die heutige und kommende
Zeit beziehe, wenn man nicht als aus rein
47 Über die Gottlosigkeit
geistiger Einsicht her gesehen und erfühlt
empfindet, was da gemeint ist?! ‒
.Aber alle inneren Unruhen, alle undurch‐
bildeten Triebe und Dränge nach „ganz
Neuem”, Andersgeartetem, die jetzt
gespenstige Trennungswälle und Haßburgen
zwischen Menschen und Menschen aufrichten,
sind nur dann sachlich richtig der treibenden
und drängenden wirklichen Ursache nach
zu begreifen, wenn man eben um das ‒
geistige! ‒ Angelangtsein „an der Schwelle
eines jener lichten Höfe” (Sonnen- und Mond‐
ringe sind hier als Bild benützt!) weiß. Es
ist kein einziger irdisch normal gehirn‐
bewußter Mensch zu dieser Zeit im Dasein,
der nicht dieses geistig-kosmische Nahe‐
sein einer Umgestaltung des Erdenlebens
in irgend einem Grade zu fühlen bekäme,
aber die übergroße Mehrzahl der Menschen
auf Erden deutet dieses Fühlen falsch, indem
sie in das materielle irdische Gebiet der
Außenwelt projiziert und hier finden zu
48 Über die Gottlosigkeit
können meint, was sich im ewigen sub
stantiellen Geiste ‒ soweit er dem Erden‐
menschen zugänglich werden kann ‒ in
Wahrheit schon für Wenige ereignet hat,
und in einem heute erst sachte und zö‐
gernd beginnenden Zeitalter, nach und
nach für Viele ereignen wird! ‒ Und
wahrhaftig ist es nur erst für die Weni
gen bereits „eine Lust zu leben”, die im
eigenen Empfindungsbewußtsein sich schon
als Vorerben einer helleren geistigen Zu‐
kunft erkennen!
.Daß diese kommende Erhellung und
Erleuchtung aus dem ewigen Geiste alsdann
auch in das alltägliche äußere irdische Leben
der Menschen auf Erden ausstrahlen wird,
unterliegt nicht dem leisesten vernünftigen
Zweifel, aber von aller Vernunft entblößt
ist die lächerlich törichte Anmaßung irdischen
Denkens, gänzlich von sich aus das irdische
Außengeschehen, auf die Dauer, nach dem
Vorbild gehirngezeugter Vorstellungen
49 Über die Gottlosigkeit
gestalten zu können, und seien diese Vor‐
stellungen auch noch so ‒ verführerisch!
.Immer aber ist es nur das unverkümmerte,
wache Empfindungsbewußtsein, das da
imstande bleibt, Wahrheit und Wahn mit
sicherer Zuverlässigkeit auseinanderzuhalten,
und es hat, was eben diese Zuverlässigkeit
anbelangt, auch vom schärfsten gedanklichen
Erschließen her nie und nimmer irgend‐
welche ernst zu nehmende Konkurrenz zu
befürchten.
.Darum handelt es sich heute vor allem
und mehr als je darum, die erdenmensch‐
liche Empfindungs-Fähigkeit aus ihrer Ver
kümmerung zu erwecken! Diese Fähigkeit
ist zwar in jedem irdischen Menschen bis zu
gewissem Grade noch vorhanden, aber durch
Angst, ihrer nicht richtig mächtig zu sein,
sowie durch die Scheu vor jeglichem Ver
such, sie zu gebrauchen, bei den Allermeisten
50 Über die Gottlosigkeit
dermaßen entartet, daß es vieler Geduld
und der tagtäglich ganz bewußt erneuerten
innerlichen Zuversicht bedarf, um sie aus
der Verkümmerung heraus zu kraftvoller
Entwicklung zu bringen.
.Diese Entfaltung der Fähigkeit zur
Wahrnehmung des substantiellen ewigen
Geistes in seiner ihm eigenen Struktur,
kann im Menschen dieser Erde in der
beginnenden Zeitperiode erreicht werden,
als Folge des Angelangtseins der geistig
kosmischen „Bahn” des Erdverhafteten an
einem der „lichten Höfe”, von denen ich
sprach, ‒ und es ist wahrhaftig „eine Lust”
zu leben in dieser beginnenden Zeit, für
jeden Menschen, der bewußt dazu fähig wird,
ihre geistige Gestaltung mitbestimmen zu
dürfen, denn es handelt sich ja hier um nichts
Geringeres als das Freiwerden des vergäng‐
lichen irdischen Lebens für die ihm aufnehm‐
baren Einwirkungen substantiellen ewigen
Gottesgeistes! ‒
51 Über die Gottlosigkeit
.Es ist kein Wunder, daß die ganze
menschliche Natur sich durch dieses von ihr
vorgefühlte, aber ihr noch nicht deutbare
Anderswerdenwollen der geistig-kos‐
mischen Einflüsse auf das irdische materielle
Leben, erregt und zur Unruhe gedrängt
fühlt, in der irrigen Meinung, daß sich ein
Neues in ihr rege, was auf Grund ver
standesmäßiger Erwägungen ‒ die
sich ja auch mit Vorliebe der Affekte als
Attrappen bedienen ‒ von ihr im irdischen
Außenleben geschaffen werden wolle.
.Gerade darum aber handelt es sich
nicht! ‒
.Alles, was aus verstandesmäßiger Er
wägung her in das Blickfeld des Erden‐
menschen gelangt, ist ‒ von gewissen
grundlegenden, rein mathematischen Er‐
kenntnissen allenfalls abgesehen ‒ : „Pro
visorium”, und selbst höhere mathema
tische Erkenntnis dürfte zuweilen provi‐
52 Über die Gottlosigkeit
sorischen Charakters sein. (Das mögen die
Mathematiker entscheiden!) In jeder Wissen‐
schaft, jeder Praxis der Technik und jeder
Form gesellschaftlichen Lebensverbandes,
die aus gehirnlichen Denkschlüssen, Beo‐
bachtungen, Erfahrungen und affektbetonten
Folgerungen her ihre Direktiven empfangen,
reiht sich so ein Provisorium an das an
dere, wobei die Aufstellung eines neuen
immer ‒ zu Recht oder zu Unrecht ‒ so‐
lange als Fortschritt, Vertiefung der Ein‐
sicht, oder Verbesserung angesehen wird,
bis ein allerneuestes Provisorium Geltung
erlangt.
.Jedes gerade geltende verstandes‐
mäßige Provisorium der Erkenntnis, der
Weltansicht und der Lösungsbereitschaft
wirtschaftlichen, physikalischen, chemischen,
wie mechanisch technischen Problemen ge‐
genüber, wirkt eine zeitlang ‒ und mit‐
unter sehr lange Zeit! ‒ mit hypnotischer
Gewalt auf die in betracht kommenden Ge‐
53 Über die Gottlosigkeit
hirne, denn es ist ihnen Anlaß zu unge‐
wollter, weil unbewußter Selbsthypnose,
aus der auf jedem Einzelgebiet wieder eine
unberechenbare Menge von Selbstsuggestio‐
nen hervorsprießen wie Pilze nach warmen
Regennächten. Jede Wahl und Wertung
ist infolge solcher Selbsthypnotisierung un
möglich gemacht, bis irgendwo Einzelne
doch durch besondere Umstände ihrer Frei‐
heitsbenommenheit innewerden, um kraft
ihrer wiedererlangten Urteilsfähigkeit die
bisherigen Wege abzulehnen und neue zu
bahnen, die aber auch nur wieder neue
Provisorien sind. ‒
.Was dem Erdenmenschen jedoch, durch
die Entfaltung seiner verkümmerten Emp
findungsfähigkeit, aus dem ewigen sub‐
stantiellen Geiste her aufnehmbar werden
soll, ist zuerst die hohe Geistesmacht des
Schutzes gegen das ungewollte Verfallen
in irgend eine Art der Selbsthypnose aus
eigenen erdgebundenen Gedankenkräften. Er
54 Über die Gottlosigkeit
soll nicht der Sklave seiner selbst bleiben,
sondern aus ewigem Lichte Herr seines ge‐
danklichen Meinens, Fürwahrhaltens und
exakten Wissens werden, der frei von aller
hypnotischen Bindung an Provisorien, in
untrüglicher Sicherheit wählt und wertet
nach einer geistigen Einsicht, die nur dem
Ewigen in ihm offenbar werden kann!
.Dann aber wird er wahrhaft auch von
aller Angst vor Gott frei, die aus der
Schwäche der Empfindungsfähigkeit genährt,
den Menschen dazu verführen kann, sich
„gottlos” zu wähnen, nur um sich dadurch
solcher Angst zu erwehren! ‒
.Nehmt auf, was ich euch bringe, wie ihr
es aufnehmen könnt, aber seid um eurer
selbst willen, willens, euch den immer
nur provisorischen, gehirnerzeugten „Hyp
nosen” zu entziehen, damit ihr zu geisti
gem Erwachen gelangt, das euch nicht wie‐
der in die trüben Bereiche der durch euch
55 Über die Gottlosigkeit
selber euch suggerierten Träume zurück‐
fallen lassen wird!
.Ich habe nicht die leiseste Absicht, euch
irgendwohin zu führen, wohin ihr nicht
wollt. Nur jenes Ziel, das ihr, noch auf
Irrwegen, selbst zu erreichen strebt, will
ich euch auf sicheren Pfaden auch wirklich
erreichen lehren!
56 Über die Gottlosigkeit
Gottlosigkeit
aus „Gottesfurcht”
.Unter denen, die sich vor sich selber
„gottlos” glauben, sind nicht wenige, die
voreinst allzusehr litten unter der Furcht
vor dem „Gegenstand” eines ihnen aufge‐
zwungenen Fürwahrhaltens, der ihnen ver
pflichtend und drohend als „Gott” dar‐
gestellt worden war. Diese „Furcht des
Herrn” ließ manch einen dahin gelangen,
daß er ‒ seiner Schwäche und „Sündhaftig‐
keit” vermeintlich unwiderlegbar bewußt ‒
kaum mehr vom Boden aufzusehen wagte,
aus Angst, den Gegenstand seines Fürchtens
plötzlich vor Augen zu erblicken. So schuf
sich der in solcher Bedrängung lebende
Gottesfürchtige Vor-Wand auf Vor-Wand
um sich vor dem vermeintlichen Gotte ver‐
steckt zu wissen, bis endlich Zweifel die
Angst ermatten ließen und den Gequälten
59 Über die Gottlosigkeit
frugen, ob er sich nicht etwa vor etwas zu
verbergen suche, das allen Grund habe, sich
vor ihm selbst zu verbergen? ‒
.Und wenn dann der vorher durch Furcht
Bedrückte es wagte, das Haupt zu erheben,
so gewahrte er alsbald ein aus Hirngedan
ken gestaltetes Gebilde, dem seine eigenen
Gedanken sich mehr und mehr „gewachsen”
fühlten, bis sie es allmählich aufzulösen
vermochten und er damit des vermeintlich
zu Fürchtenden sich entledigt hatte.
.Aus dem „Gottesfürchtigen” war ein
„Gottesleugner” geworden!
.In Wahrheit aber war nichts anderes
geschehen, als daß eine dem Fürwahrhalten
dargebotene Vorstellung sich als irrig er‐
wiesen hatte, wonach der bisher durch sie
Bedrängte in seiner Enttäuschung den Mut
nicht mehr in sich fand, nun noch weiter
und nun erst recht, nach der Wirklich
keit zu suchen.
60 Über die Gottlosigkeit
.Was aber in WirklichkeitGott!
‒ ist, das kann niemals in Furcht, son‐
dern allein nur in Liebe empfunden und
empfindungsbewußt werden!
.In Gott ‒ so wie Gott wirklich ist ‒
findet sich weder Grimm noch Zorn, weder
Vergeltungslust noch Rachedurst, und auch
keine andere vermeintliche „Eigenschaft”,
die zu „fürchten” wäre. Gott ist Liebe und
Gnade! ‒ Liebe, seiner selbstgezeugten
essentiellen Natur nach, und Gnade in
ebendieser „Natur”, aber aus dem Emp‐
finden dessen, was außerhalb ihrer exi‐
stiert, und was nicht „Liebe aus sich sel‐
ber” ist!
.Doch, nichts liegt mir ferner, als Theo‐
logie betreiben zu wollen, und so sei nur
gesagt, daß es auch für den räudigsten
„Sünder” keine Furcht vor Gott hinfort
mehr geben darf, ‒ wohl aber: Scham!
61 Über die Gottlosigkeit
.Es ist vermessen, unbegründet und ver‐
ächtlich, Gott gegenüber das gottfremdeste
aller menschlichen Gefühle in sich zuzu‐
lassen und Gott zu „fürchten”, aber es ist
durchaus der in Gott begründeten Relation
des Menschendaseins zu dem, was Gott ist,
angemessen, ‒ tiefste Scham in sich zu
erwecken, sobald man erkennt, daß man zu
träge, zu lüstern oder zu feige war, um seine
Fähigkeiten so gebraucht zu haben, wie man
sie hätte gebrauchen können, ohne sich
selbst vor Gott beschämt fühlen zu müs‐
sen. Nur Scham ist dem Fehlbaren ‒
Liebe und Gnade gegenüber ‒ geistnatur‐
entsprechend, nicht aber: ‒ Furcht! ‒
Wo der Fürchtende zurückweicht, weil
er Schädigung entgehen möchte, dort ist
der Mensch, der Scham empfindet über
sein zuvor erwiesenes Verhalten, bereits auf
dem Wege, seine Versäumnis oder seinen
geschehenen Rückschritt auszugleichen und
wieder voran zu schreiten.
62 Über die Gottlosigkeit
.Furcht ist ein hemmendes Gespenst,
das allen Mut erstickt, ‒ Scham aber
eine fördernde Hilfe, die kraftvoll neuen
Mut erweckt!
.Es ist natürlich hier nicht von sexueller
Scham die Rede, die darauf beruht, daß der
Mensch, der sich körperlich tierischer Natur
weiß, in bestimmten Relationen zu seinen
Nebenmenschen nicht als Tier erscheinen
und nicht als Tier gewertet werden will, ‒
oder aber aus ästhetischen Gründen, be‐
stimmt durch Eitelkeit, seine tierhafte Gestalt
nur darum zu verhüllen und vor anderen zu
verbergen sucht, weil er ihre sichtbaren
Mängel nicht gesehen wissen möchte. (Wie
weitgehend daneben die sexuelle Scham
durch Konvention bedingt ist, zeigen
die verschiedenen Anschauungen exotischer
Völkerschaften über das, was zu verhüllen
sei am Körper und was nicht, wobei
auch metaphysische Anschauungen mit‐
63 Über die Gottlosigkeit
bestimmend sein können, so daß der in
einem blickgeschützten Park Indiens „mit
den vier Weltgegenden bekleidete” [das
heißt: völlig nackte!] hochgebildete Sannyâsi
sehr ungehalten wäre, wenn der ihn auf‐
suchende, des Sanskrit kundige europäische
Gelehrte es sich einfallen ließe, die Be‐
kleidungsfrage in der gleichen, für ein
abnorm heißes Klima recht praktischen
Weise zu lösen. Nach des weltabgeschieden
lebenden Einsiedlers Ansicht hat nur ein
Mensch, der geistig so hoch emporgelangte,
daß er alles Irdische ‒ seiner Meinung
nach ‒ unter sich zurückließ, das heilige
Recht, gänzlich auf jede Verhüllung seines
Körpers zu verzichten, nicht aber der nur
zu Gehirnwissen gelangte Mann, der ihm
gegenübersitzt um mit ihm metaphysische
Fragen gedanklich zu erörtern.)
.Die Scham der Seele vor Gott, von
der ich hier sage, daß sie die Furcht Gottes
ablösen soll, ist Folge der Erkenntnis
64 Über die Gottlosigkeit
des eigenen Versagens, wo die Kräfte
der Seele ausgereicht hätten, Widerstand
gegen die Verlockung zu seelisch nicht ge‐
mäßem Gedankengebrauch, wie zu seelisch
unverantwortlichem Reden oder Tun, zu
leisten!
.Aus dieser Scham vor Gott: sich selber
und seinen gegebenen Kräften nicht ent
sprochen zu haben, obwohl man dazu
imstande gewesen wäre, resultiert ‒ wenn
die Scham wirklich echt ist ‒ unweigerlich
ein Willenswiderstand gegen neuerliches
Versagen, der schon an sich ein Voran
schreiten darstellt, weil er den Menschen
veranlaßt, nach allen Mitteln und Wegen
zu suchen, die dienlich dazu sein könnten,
weiterhin der Herzensträgheit, Hemmungs‐
losigkeit und Lüsternheit zu entgehen.
Scham in dieser Form ist die mächtigste
Erweckerin aus einem bis dahin traumhaft
verlebten Leben! Alle vorhandenen Kräfte
seelischer Erneuerung werden durch sie
65 Über die Gottlosigkeit
wachgerüttelt und zu wachsamer Tätigkeit
aufgerufen.
.Die in solcher Scham der Seele vor Gott
Erwachenden zu sich selbst, sind für alle
Ewigkeiten be-kehrt: ‒ das heißt umge
kehrt aus ihrer von Gott abgekehrten
Richtung ihres gesamten irdischen Strebens
zu der Hinwendung auf Gottes Wirk
lichkeit. Gott ist ihnen nicht mehr ein
Gegenstand des Fürwahrhaltens, an den
man zwar „glauben”, den man aber auch
„leugnen” kann, sondern erlebtes Fak
tum: ‒ unangreifbare, allersicherste „Ge‐
gebenheit”, gegeben durch sich selbst!
Wer einmal bis hierher gelangte, der ist für
alle Zeiten gesichert davor, jemals wieder
an dem „Dasein” Gottes ‒ also an Gottes
substantiellem geistigenSein” ‒ zwei‐
feln zu können, denn er hat eben dieses
„Sein” ja in sich selbst wach und nüch‐
tern erlebt! ‒
66 Über die Gottlosigkeit
.Es ist ihm für alle Zeiten unmöglich
geworden, sich selbst für „gottlos” zu halten,
aber auch alle „Furcht” vor Gott hat ihn
verlassen, weil er in sich untrüglich er‐
kannte, daß es nichts in Gott gibt, was
von dem Menschen der Erde zu fürchten
wäre!
.Gar nicht selten aber versteckt sich hinter
der vermeintlich empfundenen, konventio‐
nell in manchen Kreisen so hoch gewerte‐
ten „Gottesfurcht” nichts anderes, als platte
Lebensangst, die dem Verängstigten nur
als „Furcht vor Gott” verstehbar erscheint.
.Ein solcher Mensch ist dann freilich
durchaus nicht bereit, in sich Scham der
Seele vor Gott zu empfinden, sondern seine
„Gottesfurcht” ist Auswirkung verängstigten
Hasses gegenüber der halb gläubig, halb
abergläubisch vermuteten geistigen Instanz,
von deren Reagieren auf sein Denken, Reden
oder Tun er pädagogisch gemeinte absicht‐
67 Über die Gottlosigkeit
liche Schädigung seines Daseins und Beein‐
trächtigung des damit verbundenen Befrie‐
digungsgefühls fürchtet. Der als „Gegen‐
stand” des Glaubens angenommene „Gott”
eines derart aus purer Lebensangst „Gottes‐
Fürchtigen” steht diesem nur im Wege
und bedeutet ihm desto ärgerlichere Störung,
je fester er an ihn glaubt. ‒ An dem ei
genen Verhalten Kritik zu üben, fällt ge‐
rade einem derart durch sich selbst Ver‐
ängstigten am allerwenigsten ein. Wie sollte
er also dazu gelangen, Scham vor Gott zu
empfinden? ‒ Vermeintlich dann doch
eines Tages Gott „los” geworden, ahnt der
Mensch, der nun sich einzureden versteht,
daß sein Tun und Lassen lediglich in sein
eigenes Belieben gestellt sei, niemals, ‒
daß er nur um entsetzlichen Preis sich
Lösung aus seiner Lebensangst erkaufte,
die ihm vordem einst „Gott” geheißen
hatte!
68 Über die Gottlosigkeit
„Was ist Wahrheit?”
.Unzähligemale zitiert, ist doch nur sel‐
ten das Wort des in seiner Skepsis weg‐
werfend und müde resignierenden römi‐
schen Prokurators zu Jerusalem in dem nur
verächtlichen und überheblichen Sinne
verstanden worden, in dem es die Welt der
Zeit des Johannesevangeliums verstehen
mußte und allein verstehen konnte. Es
wird ja als die Antwort des Prokurators
auf die Angabe des vor ihm Angeklagten
berichtet, daß dieser in die Erdenwelt ge‐
kommen sei, um die Wahrheit zu künden,
und daß die in sich selber Wahrhaftigen
ihn gewiß zu verstehen wüßten! Lächer
lich und nur für den offenbar allzu engen
Gesichtswinkel des vor ihm Angeschuldigten
zeugend, mußte dem Manne antiker Bildung
die Berufung des hilflos ihm Überantwor‐
71 Über die Gottlosigkeit
teten ‒ an dem er „keine Schuld” fand ‒
erscheinen, wenn dieser nichts anderes an‐
zuführen wußte, als daß er die „Wahrheit
zu bringen wisse! ‒ Hatten nicht römische
und griechische Weltweise Widersprechen‐
des genug zu sagen gewußt, wenn es um die
Frage nach letzter „Wahrheit” ging, und nun
wollte dieser arme todesbedrohte religiöse
Wanderlehrer sich gar „die Wahrheit” zu
Hilfe holen! ‒ Wie harmlos mußte im
Grunde seine, von der fanatisch unduldsa‐
men jüdischen Priesterschaft sicherlich arg
überschätzte Lehre sein, wenn dieser arme
wunderliche Tor nicht einmal wußte, daß
doch selbst der geübteste philosophische
Spürsinn vor der Frage versagte, was denn
unangreifbar sichere, unbedingte „Wahrheit”
sei!? ‒
.So ungefähr sahen die Argumente aus,
die hinter der achselzuckend hingeworfenen
und keinerlei Antwort erwartenden Frage
zu suchen sind, in der so knapp wie ein‐
72 Über die Gottlosigkeit
deutig über die zynische Skepsis einer an aller
Erkenntnismöglichkeit zweifelnden Zeit, im
Bilde des Beispiels eines Einzelnen, berich‐
tet werden sollte!
.Man wird nicht lange zu suchen brau‐
chen, um gänzlich gleicher übermüdeter
Resignation auf jede Gewißheit Ewigem,
Seelischem, Göttlichem gegenüber, auch in
den heutigen Tagen zu begegnen, ‒ und
ebenso begegnet man schon in geringer Ent‐
fernung von den Kreisen wirklicher Gläu‐
bigkeit, dem auch im späten Rom geläufig
gewordenen „Jargon”, über Gott und Gött‐
liches schamlos zu reden, wo man längst
alles „überwunden” zu haben wähnt, was
die mißbrauchten Worte meinen.
.Es braucht keinen besonderen Scharfsinn,
um zu erkennen, daß Menschen, die zu sol‐
cher seelischen Armut herabgesunken sind,
nur durch unsägliche Schwäche der Emp‐
findungs-Fähigkeit zu der bei ihnen kon‐
73 Über die Gottlosigkeit
statierbaren Verkümmerung entarten konn‐
ten. ‒ Heute, wie ehedem und wo immer! ‒
.Pathologisches seelisches Unvermögen!
.Daß der Erkrankte seiner Erkrankung
nicht bewußt zu werden vermag, fördert
nur die Auswirkungsmacht seiner Krank‐
heit!
.Wer bereits weiß, wie krank er ist und
wo seine Krankheit ihren Sitz hat, der ist
auch schon auf dem Wege zur Gesundung,
vorausgesetzt, daß die gegebene Konstitution
Heilung noch zuläßt, und die rechten Mittel
angewendet werden, um die Wandlung zum
Bessern herbeizuführen. Das ist im Bereiche
des unsichtbaren psychischen Organismus
durchaus nicht anders als wie in dem Le‐
bensgebiet des physischen, auf sinnen
hafte Wahrnehmung beschränkten mensch‐
lichen Körpers!
74 Über die Gottlosigkeit
.Nun ist zwar die Wiederaufrichtung und
Erkräftigung des verkümmerten seelischen
Empfindungsvermögens gewiß nicht so leicht
zu erreichen wie die Beseitigung eines leich‐
ten, nach etwelcher Überanstrengung aufge‐
tretenen körperlichen Schwächeanfalls, aber
sie ist in vielen Fällen dennoch durchaus
möglich, solange dem Menschen noch die
Resonanzkräfte seines irdischen Körpers als
Heilfaktoren zur Verfügung stehen, wenn er
nur wirklich mit aller Zuversicht zur Ge‐
sundung seiner seelischen Empfindungsor‐
gane gelangen will, ‒ so, wie auch ein am
physischen Erdenkörper Erkrankter den
Willen zur Gesundung in sich tragen muß,
soll ihm ‒ falls die organischen Voraus‐
setzungen gegeben sind ‒ Genesung wer‐
den! Da aber in der geistig seelischen Sphäre
unzählige Hindernisse fortfallen, die in den
Bereichen physischer Körperlichkeit zuweilen
wirklicher Heilung entgegenstehen, so sind
auch die Möglichkeiten unverhoffter Heilung
alldorten unvergleichlich ausgebreiteter.
75 Über die Gottlosigkeit
.Freilich genügt es wahrhaftig nicht,
über die in religiös bestimmten Bezirken
gängigen und als „unwiderleglich” betrachte‐
ten „Gottesbeweise” zu meditieren oder
sonstwie Gott in Gedanken-Netzen einfangen
zu wollen! Es muß vielmehr die Wirklich
keit empfunden werden im eigenen Inner‐
sten! Kein bloßes Beglücktsein über die
Ergebnisse gedanklicher Spekulation!
.Um die verkümmerte Empfindungsfä‐
higkeit so zu erkräftigen, daß der Erden‐
mensch in sich selber gottesbewußt zu
werden vermag, ist die Erweckung freier
und froh zuversichtlicher Bereitschaft,
Gottes inne werden zu wollen, nötig.
.Diese Bereitschaft verlangt kein Glau
bensbekenntnis und keine verstandes‐
mäßig erklügelte oder gar aus gewollten
Gefühlsüberschwängen erzeugte Vorstel
lung, sondern besteht nur im Willen, das,
was des eigenen übertierischen Bewußt‐
76 Über die Gottlosigkeit
seins „Ursache” ist, in dieses und zugleich
in das erdentierische Bewußtsein aufneh
men zu wollen, ohne irgendwelche Hin‐
dernisse durch selbstgesetzte Meinungen zu
schaffen. Es ist im Grunde nur Allerein
fachstes hier als Voraussetzung gefordert,
aber zugleich damit ein Beiseitelassen aller
erdenmenschlichen Neigung, Einfaches zu
komplizieren!
.Alles, was von uns Leuchtenden im Ur‐
licht aus dem in uns selber Gottes Bewuß‐
ten her über Gott gesagt werden kann, will
nicht „Vorstellungen” schaffen, sondern die
Wirklichkeit in Worten um-schreiben.
Aber jedes Wort jeder Sprache muß bei
solcher Umschreibung unumgänglich seine
Unzulänglichkeit bekennen. Es kann nur
zur Richtungsweisung dienen, ‒ kann
zeigen, wie und wo das höchste aller gei‐
stigen Ziele zu erreichen ist, ‒ kann aber
niemals das Ziel selbst zum Gegenstand
einer Darstellung machen.
77 Über die Gottlosigkeit
.So ist ‒ in rein geistigem Sinne ge‐
meint ‒ sehr wohl zu sagen: ‒ Nicht der
Mensch ist Gott, aber Gott istMensch”,
doch kann diese Rede dem nur richtung‐
weisend werden, der bereits in sich selber
zur Gewißheit gelangte, daß ihm das Men‐
schentier in das er sich irdisch gefesselt fin‐
det, nicht als „der Mensch” gelten darf, son‐
dern unerbittlich und unbedingt nur als
irdisch animalisch zeitweilig nötiger Aus‐
drucksorganismus, in dem sich jedoch ebenso
die niederste Bestialität wie die höchste Gei‐
stigkeit Ausdruck zu schaffen vermag. Erst
dort, wo dem ewigen Geistesfunken, der
sich in jedem zur Welt gekommenen neuen
Menschtierwesen Eingang zu schaffen sucht
und zuerst auch aufgenommen wird, vom
Tierhaften her, der tiergemäße Organismus
für alle Dauer als Ausdrucksmittel über
lassen wurde, ist füglich vom „Menschen
zu reden! ‒ Nicht aber dort, wo dem
ewigen Geistesfunken vom Tierischen her
die Ausdrucksmöglichkeit dauernd versagt
78 Über die Gottlosigkeit
wird, und der vermeintliche Mensch nur das
vielseitiger Entwicklung fähige bloße Tier
noch ist, das als einziges unter allen Erden‐
tieren durch sein Dasein Matrize des ewigen
substantiellen Geistes in dieser Sinnenwelt
hätte sein können.
.Wahrhaftig: ‒ Gott ist Mensch! Wer
aber wollte auch nur einen Augenblick daran
denken, das Wort „Mensch” könne hier das
Erdentier meinen, das des ewigen Men‐
schen sinnlich wahrnehmbare Ausdrucksge‐
staltung in seinem Tun und Lassen auf
Erden zu werden vermag!?
.Es ist jedoch hier auch keineswegs vom
ewigen Geistesmenschen in einem indivi
duell gemeinten Sinne die Rede, sondern
von dem aus sich selbst urewig be
stimmten geistigen Sein, in dem alles
lebt, was substantieller geistesmensch
licher „Natur” ist. Gott ist die tröstlichste
79 Über die Gottlosigkeit
Gewißheit, die dem zum Wiedererwachen sei‐
ner Empfindungsfähigkeit gelangten Men‐
schen dieser Erde werden kann! Aber Gott ist
nicht ein gedanklich definierbares „Wesen”,
sondern das ewige geistige Menschsein
an sich, das sich als „männlich” und „weib‐
lich” und zugleich in dem, was seiner ewigen
Zeugung ewige „Frucht” ist, darlebt ‒ Ur‐
sprung und Ursache allen Geistesmenschen‐
tums ‒, wie auch des Geistesfunkens im
tierverhafteten Menschen dieser Erde...
.In den Benennungen: „Ursein” ‒ „Ur
licht” ‒ und „Urwort” ist das bezeich‐
net, was in dem in mir Gottesbewußten
die stets gegenwärtige Wirklichkeit Gottes
ausmacht. Ich brauche meine Verstandes‐
kräfte wahrhaftig nicht, um zu meinen, mir
geistig eröffneten Einsichten zu kommen,
wohl aber ‒ und in einer zuweilen selbst
physisch peinigenden Weise ‒, um immer
wieder zu kontrollieren, inwieweit meine
Darstellungsform von allem Vermeidbaren
80 Über die Gottlosigkeit
freibleibt, was Mißdeutung und Irrtum be‐
wirken könnte, statt jedes Abirren unmög‐
lich machende, eindeutige Klarheit zu
schaffen. So sind denn alle Schriften, die
nach dem Abschlußband meines geistigen
Lehrwerkes „Hortus conclusus” noch ent‐
standen, Führungen zu dem, was in den
Schriften dieses Lehrwerkes bereits von An‐
fang an gesagt worden war. Obwohl ich im‐
mer wieder gerne glaubte, daß nichts von
dem, was ich niedergeschrieben hatte, je‐
mals einer Kommentierung bedürfen könn‐
te, mußte ich doch mit der Zeit zu meiner
Bestürzung erfahren, daß ich mit allzuviel
nüchtern objektivem Aufnahmewillen ge‐
rechnet hatte. Zu arg sind die Gehirne ver‐
wirrt durch anerzogene Begriffsgewöhnun‐
gen, die sich niemals mit der bestehenden
Wirklichkeit im substantiellen ewigen
Geiste in Einklang bringen lassen können!
.So nahe ich allerdings in meinen Wor‐
ten dem Ewigen komme, aus dem ich als
81 Über die Gottlosigkeit
Mensch meinen Mitmenschen Kunde zu ge‐
ben verpflichtet bin, so wenig kann ich ver‐
hüten, daß auch die dem Ewigen nächsten
Worte noch: ‒ Umschreibungen bleiben
müssen, deren höchste Werte nicht in dem
liegen, was sie dem Verstande etwa zu
„erklären” vermögen, sondern in den nur
der Seele erfahrbaren realen substantiell
geistigen Kräften, deren Träger sie bei
ihrer Gestaltung ein für allemal wurden.
Der Wille, diese Kräfte in sich aufnehmen
zu wollen, führt alsbald auch zu der beton‐
ten „Bereitschaft”, Gottes inne zu werden.
Erst nach diesem Innegewordensein im
Empfindungsvermögen der Seele läßt sich
beurteilen und ermessen, was meine Worte
zum voraus gegeben hatten.
82 Über die Gottlosigkeit
HINWEISE
zu meinem geistigen Lehrwerk
und den es umgebenden Schriften
.Wie ich dieses ganze geistige Lehrwerk im
Titel seines letzten Buches „Hortus conclusus”
umschrieben empfinde, einem aller bloßen Neu‐
gier verschlossenen „Garten” gleich, der sich nur
solchen Suchenden aufschließt, die sich zu seinem
Betreten als berechtigt erweisen, so betrachte ich
„DAS BUCH
DER KÖNIGLICHEN
KUNST”
als den „Heiligen Hain”, der sich sogleich nach
dem Durchschreiten der aufgeschlossenen Pforte
dem Suchenden darbietet um ihm die seelische
Stimmung zu geben, in der er allem was er weiter‐
hin wahrnimmt begegnen muß, wenn es sich
seiner Seele zu eigen geben soll. Man wird gut
tun, sich zuerst nur den seelischen Schwin
gungen dieses Buches ruhig zu überlassen und
nicht allzu eilig seine Symbolik verstehen
lernen zu wollen, die sich zur rechten Zeit dem
berechtigten Suchenden ganz von selbst enthüllt.
.Es folgt dann ‒ auch der zeitlichen Ent‐
stehung nach ‒ die Trilogie:
„DAS BUCH
VOM LEBENDIGEN GOTT”
85 Über die Gottlosigkeit
„DAS BUCH VOM JENSEITS”
und
„DAS BUCH VOM MENSCHEN”
deren seelische Aufnahme dem nicht in Vor‐
urteile Gefesselten keinerlei Schwierigkeiten be‐
reiten wird, aber notwendig ist, wenn der Suchen‐
de sich künftig sogleich auf allen Wegen des
„Gartens” der Lehre zurechtfinden will.
„DAS BUCH VOM GLÜCK”
zeigt sodann seinem Leser, daß von ihm wahr‐
haftig kein Verzicht auf irdisch erlebbares Glück
erwartet wird, sondern daß er sogar dazu ver
pflichtet ist, sich das ihm erreichbare irdische
Glück zu erringen.
.In dem dann folgenden Buche:
„DER WEG ZU GOTT”
wird dieser geistige Weg in seinem Verlauf über
alle Hindernisse hinweg auf das deutlichste ab‐
gesteckt und bezeichnet, wonach dann
„DAS BUCH DER LIEBE”
aufzeigt, um welche hohe geheimnisreiche ewige
86 Über die Gottlosigkeit
Kraft es sich sowohl in der geistigen, wie schließ‐
lich auch in der irdischen Liebe handelt.
„DAS BUCH DES TROSTES”
ist geschrieben für Menschen, die trostbedürftig
wurden, aber wirklichen Trost noch nicht fanden,
und jedem tröstenden Wort eher Mißtrauen ent‐
gegensetzen.
„DAS BUCH DER GESPRÄCHE”
aber läßt den Leser teilnehmen an vielem, was
in meinem geistig gelenkten irdischen Erleben
für mich bedeutsam wurde, und vermittelt zu‐
gleich tiefe Einblicke in ewige Bereiche.
.In erzählender Form führt dann ein Buch, das
die Bezeichnung:
„DAS GEHEIMNIS”
trägt, den Suchenden bis zu einer Erkenntnis‐
höhe, die ihn weiteste Strecken göttlichen Lebens
im Irdischen überschauen, und die daraus zu fol‐
gernden Notwendigkeiten für sein eigenes Leben
erfassen lehrt.
„DIE WEISHEIT DES JOHANNES”
heißt das Buch in dem ich zeige, was mir aus
87 Über die Gottlosigkeit
der Wirklichkeit des Lebens und Sterbens Jesu,
als unangreifbar geistig gesichert bekannt ist.
„WEGWEISER”
nennt sich ein Buch des Lehrwerkes, das eine
Anzahl von Einzelabhandlungen über vielerfragte
Gebiete, sowie eine kleine Sammlung von Lehr‐
gedichten die nicht verlorengehen durften, in sich
zusammenfaßt.
.Was ich über die gesellschaftliche Lebensbin‐
dung meiner Mitmenschen hier auf Erden, aus
meiner im Ewigen gegebenen geistigen Anschau‐
ung her, zu sagen habe, ist in einem Buche dar‐
gestellt, dem ich die Benennung
„DAS GESPENST DER FREIHEIT”
gab. Ein anderes Buch, das den Titel:
„DER WEG MEINER SCHÜLER”
führt, bringt das Wichtigste zur Sprache, was
jeden Suchenden angeht, der sich als geistigen
Schüler meines Lehrwerkes betrachtet.
.In dem Buche:
„DAS MYSTERIUM VON GOLGATHA”
werden sehr verschiedenartige Dinge behandelt,
88 Über die Gottlosigkeit
über die der im Geistigen Suchende in sich Klar‐
heit erlangt haben muß, wenn sein Suchen ihn
nicht auf Wege des Irrtums gelangen lassen soll.
Seinen Titel führt dieses Buch nach seinem ersten
Kapitel. Auch jeder folgende Abschnitt ist zum
Schluß auf das Mysterium von Golgatha und den
dort Geopferten bezogen.
.Das Buch:
„KULTMAGIE UND MYTHOS”
ist geschrieben um jedem unbefangenen Suchen‐
den die Augen zu öffnen für die wahre Bedeutung
der Werte die hier, dem Titel folgend, aufgezeigt
werden.
„DER SINN DES DASEINS”
ist Betrachtungsgegenstand eines Buches, das
Fragen aufhellt, die sich viele pessimistisch ge‐
fesselte Menschen stellen, denen eine Sinn
gebung dem erdenmenschlichen Dasein gegen‐
über, nur noch als unlösbares Problem erscheint.
.Das Buch:
„MEHR LICHT!”
ist eine Sammlung von Abhandlungen, die sich
89 Über die Gottlosigkeit
mit den verschiedenen Formungen des Suchens
nach geistigem Licht befassen, die der Erden‐
mensch seit den frühesten Zeiten die ihn in Er‐
scheinung treten sahen, sich geschaffen hat.
.In dem Buche:
„DAS HOHE ZIEL”
werden eine Anzahl von Fragen behandelt, die
gelöst sein müssen, wenn das höchste aller geisti‐
gen Ziele erreichbar werden soll.
„AUFERSTEHUNG”
heißt sodann ein wiederum nach seinem ersten
Kapitel benanntes Buch, das in seinen weiteren
Abschnitten durchweg Themen zur Sprache bringt,
die für jeden Suchenden bedeutungsvoll sind, der
selbst aus Irrtum und Moderluft zu geistigem
„Auferstehen” gelangen will.
.Ganz für sich steht in meinem geistigen
Lehrwerk das durch zwanzig Farbendrucke nach
meinen geistlichen Bildern erläuterte Buchwerk:
„WELTEN”
das in einen Bereich der Struktur ewigen Geistes
90 Über die Gottlosigkeit
führt, der ohne bildhafte Darstellung, der Seele
nicht in seiner Eigenformung erfaßbar werden
könnte, ‒ ja, diese Nachgestaltung in Farbe und
Linie kategorisch erheischt, um die innerhalb
der irdisch bedingten Vorstellungswelt des Erden‐
menschen geschmiedeten Fesseln zu lösen in
die seine Vorstellungen vom Ewigen eingekettet
sind. ‒
„PSALMEN”
nannte ich sodann eine Reihe von Erlebensnach‐
gestaltungen, die den geistig Suchenden in Er‐
griffenheit auf dem Wege vom bloßen Ahnen
bis zum wahrhaften Finden des im Ewigen Ge‐
suchten zeigen.
.Daß ich dem großen irdischen Problem:
„DIE EHE”
ein besonderes Buch widmen mußte, bedarf wohl
keiner weiteren Begründung, und kein Leser dieses
Buches wird an einer der Erörterungen die es dar‐
bietet, achtlos vorübergehen.
.Ebenso war es selbstverständlich geboten, daß ich
91 Über die Gottlosigkeit
„DAS GEBET”
zum Thema eines besonderen Buches werden
lassen mußte, dessen Gebetsformularien dann
danach verlangten, in einem kleinen Taschen‐
buch separiert zugänglich gemacht zu werden
unter dem Titel:
„SO SOLLT IHR BETEN!”
.Um aufzuzeigen, wie bedeutungsvoll für alle
äußere Selbstformung und Formgestaltung
die Bezogenheit auf die Struktur ewigen
Geistes ist, habe ich die kleine Schrift:
„GEIST UND FORM”
geschrieben.
.Das Heftchen:
„FUNKEN”
und die zugehörige kleine Begleitschrift:
„MANTRA PRAXIS”
sind entstanden um dem Suchenden eine Reihe
von Wortgebilden an die Hand zu geben, die
durch ihre Einwirkung auf jede sich ihnen er‐
öffnende Seele wieder und wieder zeigen, daß
die geistige Kraft gewisser Lauteformungen, die
altindische Weisheit entdeckte, durchaus nicht
nur an das Sanskrit gebunden ist.
92 Über die Gottlosigkeit
„WORTE DES LEBENS”
mußte ich aus innerster Notwendigkeit eine kleine
Schrift nennen, die ebenso einzigartig in meinem
geistigen Lehrwerk steht, wie ‒ in wieder anderem
Sinne „Welten”. Es sind feierliche Worte Gottes
als des ewigen Lebens, an die Seele, die zuletzt
in beglücktem „Gelöbnis” antwortet.
.Es folgen dann die drei Bändchen Lehrge‐
dichte ‒ zumeist in freien Rhythmen:
„ÜBER DEM ALLTAG”
„EWIGE WIRKLICHKEIT”
und
„LEBEN IM LICHT”
die wahrhaftig sehr vieles zur Sprache bringen,
was in Prosagestaltung voluminöse Bände gefüllt
haben würde.
.Da man mir jahrzehntelang ungezählte Briefe
widmete, auf die ich auch, solange das physisch
noch möglich war, zumeist antwortend einging,
sah ich mich in der Folge, ‒ als ich mich ge‐
zwungen fand, aller Korrespondenz mit den Lesern
meiner Bücher zu entsagen, ‒ veranlaßt, eine
93 Über die Gottlosigkeit
„Summa” solchen früheren Briefwechsels darzu‐
bieten in dem Buche:
„BRIEFE AN EINEN UND VIELE”
dem ich auch manche aufschlußreiche Verszeilen
mitgab, wo sie dem Ganzen angemessen waren.
.Zuletzt aber formte ich den Abschlußband des
geistigen Lehrwerkes:
„HORTUS CONCLUSUS”
dessen Benennung zugleich für das ganze Lehr‐
werk gelten kann. Der Inhalt des Buches gibt
Antwort auf viele Fragen, die innerhalb der vor‐
hergehenden Stücke des Lehrwerkes noch keinen
Anlaß zu ihrer Beantwortung gefunden hatten.
.Mein geistiges Lehrwerk war mit dem Ab‐
schluß seines letzten ihm zugehörigen Buches
beendet.
.Aber zugleich war es nun als Objekt der
Erörterung in Erscheinung getreten. So ergab
sich die Möglichkeit, „Führungen” zu ihm durch
Schriften zu unternehmen, die ihrerseits die
Existenz des abgeschlossenen Lehrwerkes vor
aussetzen konnten.
94 Über die Gottlosigkeit
.Da ich ein Menschenleben lang berufsmäßig
mit bildender Kunst praktisch vertraut war, hatte
ich ohnehin schon vor vielen Jahren in dem außer‐
halb der Einzelstücke des geistigen Lehrwerkes
erschienenen Buche:
„DAS REICH DER KUNST”
manches niedergelegt, was mir im Gebiete der
bildenden Kunst erörterungswert war. Es ist wohl
kaum nötig, zu betonen, daß ich an vielen Stellen
auch aus meiner rein geistigen Einsicht her zu
sprechen hatte.
.Nichts lag sodann näher, als daß ich eines
Tages auch über meinen Lebensgang als Maler
einigen allgemeinen Aufschluß gab, was überdies
durch meine in farbigen Reproduktionen er‐
schienenen geistlichen Bilder und das bei Franz
Hanfstaengl in München in Wandbildgröße her‐
ausgekommene als „Portrait” aufzufassende Jesus
Bild geradezu gefordert war. So ist denn, eben‐
falls neben den Schriften des Lehrwerkes, das
Bändchen:
„AUS MEINER MALERWERKSTATT”
entstanden, das sich auch sehr ausführlich mit
95 Über die Gottlosigkeit
dem Werden der geistlichen Bilder und dem,
nur durch in mir individuell gegebene Voraus‐
setzungen ermöglichten Entstehen des Bild
nisses Jesu befaßt.
.Ohne mein Zutun, Wünschen oder Wollen war
ich im Laufe meines Lebens auch mit mancherlei
okkultistischen Angelegenheiten sachlich bekannt
geworden, so daß ich schließlich unzähligen Fra‐
genden doch zu antworten beschloß, wodurch ‒
wiederum außerhalb des Lehrwerkes ‒ das
Bändchen:
„OKKULTE RÄTSEL”
entstanden war.
.Hingegen verdankt die kleine Abwehrschrift:
„IN EIGENER SACHE”
der ich aus guten Gründen mein photographisches
Portrait beifügen ließ, nur dem Umstand ihr Ent‐
stehen, daß immer mehr unzulässiges Gerede von
unverantwortlicher und kaum zu fassender Seite
her über mich in Umlauf gebracht worden war.
.Es ergab sich ohne Zwang, dieser genannten
Reihe auch die neuen Schriften beizufügen,
die nun das Bestehen des Lehrwerkes zur
96 Über die Gottlosigkeit
Voraussetzung haben! So erschien das:
„KODIZILL ZU MEINEM
GEISTIGEN LEHRWERK”
das seinen kurialen Titel, ‒ mir, in freilich an‐
derem Zusammenhang, aus der Kinderzeit her
vertraut, ‒ einem Inhalt dankt, der sich besonders
nahe an das Lehrwerk anschließt, ‒ wie ein Ko‐
dizill an das es voraussetzende Testament.
.Bald danach folgte das Bändchen:
„MARGINALIEN”
als eine Reihe in freie Rhythmen gefaßte Rand‐
bemerkungen zu mancher längst geschehenen
Bekundung. Vor- und Nachwort in Prosa bilden
die erläuternde Umfassung.
.Daß ich mich in dieser gegenwärtigen Zeit
noch zur Veröffentlichung der kleinen Schrift:
„ÜBER DIE GOTTLOSIGKEIT”
gedrängt fand, wird keiner besonderen Begrün‐
dung bedürfen, nachdem der Inhalt dieses Bänd‐
chens einmal zur Kenntnis des Lesers gelangte.
Im März 1939
J.Schneiderfranken       Signatur
97 Über die Gottlosigkeit
ENDE
KODIZILL
ZU MEINEM
GEISTIGEN LEHRWERK
Verlagslogo
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG AG
BERN
UM DEN BEDINGUNGEN DES URHEBERRECHTES
ZU ENTSPRECHEN, SEI HIER VERMERKT, DASS
ICH IM BÜRGERLICHEN LEBEN DEN NAMEN
JOSEPH ANTON SCHNEIDERFRANKEN FÜHRE,
IN MEINEM EWIGEN SEIN HINGEGEN IMMER DER
WAR UND BLEIBE, DER DIESE BÜCHER ZEICHNET
BÔ YIN RÂ
2. Auflage
Unveränderter Nachdruck
der 1937 erschienenen Ausgabe
© 1969 Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Bern
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Übersetzung
in fremde Sprachen und der Verbreitung in Rundfunk und
Fernsehen
Druck: Graphische Anstalt Schüler AG, Biel
 SEITENZAHLEN DER ABSCHNITTE  Seite
Erster
.Abschnitt
5
Zweiter
.Abschnitt
31
Dritter
.Abschnitt
53
Vierter
.Abschnitt
73
Fünter
.Abschnitt
91
Sechster
.Abschnitt
111
Siebenter
.Abschnitt
133
Originalscan
.Dieses „Kodizill” zu meinem geistigen Lehr‐
werk ist mein letztes Wort, das ich über mein
Werk zu sagen hatte. Die Vielfältigkeit des In‐
halts der einzelnen Abschnitte verhindert, ihnen
hinweisende Titel zu geben.
.Anfangs Mai 1937.                     Signatur
149 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
ERSTER ABSCHNITT
.Wenn ich auch weiß, daß ich in nicht
gar ferner Zeit vielen als Mitlebender feh‐
len werde, da sie erst dann, wenn ich aus
ihrer Mitwelt abgeschieden bin, entdecken
werden, daß ich mitten unter ihnen war und
auch dann für sie lebte, wenn sie mir nie‐
mals im Äußeren begegneten, so ist es mir
dennoch unmöglich, in Parallele zu den Mär‐
chenmeistern, die sich ungebändigte Phan‐
tastik schuf, mein Erdenhaftes ungezählte
Tage ‒ sei es auch in meinem Falle nur
für andere ‒ zu erhalten. Wie lange wird
es dauern, und ich werde nicht mehr Gast
in diesem greifbaren Körper sein, der mir
bis heute noch dient, obwohl er schon über
ein Jahrzehnt hin von Tag zu Tag erneutes
Wunder braucht, um sich mir willig immer
wieder zum Dienste darzubieten. Hätte ich
7 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
also aus purem Sagedrang, aus bloßem Willen,
zu helfen, aus Trieb zur Sprachformung oder
gar aus Lehrsucht das gewiß Außergewöhn‐
liche und Überzeitliche bekundet, was in mei‐
nem geistgegebenen Lehrwerk durch mich
aus Pflichtgehorsam dargeboten ist, so wäre
wahrhaftig der irdische Preis der hier von
mir zu fordern war, für diesen vergänglichen
Körper zu hoch gewesen. Nur aus dem Unver‐
gänglichen her läßt sich verstehen, daß sol‐
cher hohe Preis gefordert werden mußte und
darum denn auch von mir im Irdischen ent‐
richtet wurde! Auch nach meiner Erdenzeit
werde ich ihn, so wie ich ihm zustimmte,
auf der anderen Seite des Lebens zu ent‐
richten haben, und niemals wird er mir
lästig sein!
.Daß mein geistiges Lehrwerk schon in
recht nahen Generationen als unzerstörbare,
für alle irdische Zukunft außerordentlich
nötige, man könnte in heutiger Sprache sagen:
„stählerne” Armierung eines jeglichen
8 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Gottesglaubens erkannt werden wird ‒ wie
eminent „ketzerisch” konfessionell Satten,
ahnungslos stumpf Befriedigten und engher‐
zig traditionell Gebundenen meine Schriften
heute auch noch erscheinen mögen ‒, ist mir
ohne jedes Verlangen nach solcher Voraus‐
sicht zukünftigen irdischen Geschehens in
tiefster Ergriffenheit unbezweifelbar bewußt.
Allerdings weiß ich auch von Wurzeln des
Gottesglaubens zu künden, die tiefer im
Leben des ewigen Geistes gesichert und unbe‐
rechenbar älter sind als alle alten „heiligen”
Schriften aller Menschheit auf Erden, ja
älter als diese Erde selbst!
.Aber auch ohne die unaufhaltsame, geistig
gelenkte und gesicherte kommende Erkennt‐
nis Unzähliger aus vielen Rassen und Völ‐
kern der Erde, nicht etwa ausschließlich
innerhalb Europas und des europäisierten
kirchlichen „Christentums” in betracht zu
ziehen, würde es vergebliches Bemühen sein,
an den Bezeugungen der ewigen Wirklich‐
9 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
keit, die mein offenbarendes Lehrwerk ent‐
hält, rütteln zu wollen. Seiner Notwendigkeit
entsprechend, ist es auch längst schon tief ins
Leben aufgenommen, wo immer Menschen
leben, die sich die deutsche Sprache, falls sie
nicht ohnehin die ihrer abstammungsmäßi‐
gen Heimat ist, zu eigen gemacht haben, und
auch anderen Sprachbezirken durch Über‐
setzungen nicht mehr ganz fremd, wenn auch
keine, noch so vorzügliche Übertragung seine
Kenntnis in der Ursprache jemals ersetzen
kann. Man wird eines Tages Deutsch ler‐
nen, wie man ehedem Lateinisch und Grie
chisch lernte, weil man die alten Autoren
in ihrer Sprache verstehen wollte. Das ist
keine „Prophezeiung”, sondern unabänder‐
liches Blickbild geistig gesicherter Einsicht,
das sich allerdings nur auf mein Werk und
ausschließlich auf seine Sprache ‒ um
ihrer selbst willen ‒ bezieht!
.Menschen, die nach den Ratschlägen mei‐
nes geistigen Lehrwerkes zu leben wissen
10 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
oder wenigstens zu leben streben, gibt es
ja schon in fast allen Teilen der Erde und
unter allen Ständen, Glaubens-, Weltanschau‐
ungs- und Lebenskreisen dieser Zeit.
.Menschen aber, die solche Bücher und
Schriften, wie sie in meinem, die Struktur
ewigen Geistes offenbarenden Lehrwerk ent‐
halten sind, wirklich nach allen Seiten sicher
zu „wägen” und ihr Gewicht zu bestimmen
wüßten, bin ich bis heute ‒ wenn ich von
wenigen, mir menschlich nächsten, allem
Wesenhaften nüchtern zugewandten Freun‐
den allenfalls absehen will, gewiß noch
nicht begegnet! ‒ Es wäre auch unbilliges
Verlangen, wollte ich die dazu nötige, jedes
Einzelgebiet, das hier in Betracht käme, ein‐
dringlich beherrschende, unbeirrbar sichere
geistige Tatsachenkenntnis von Menschen
erwarten, denen mein Lehrwerk ja gerade
erst unumstößliche Urteils-Sicherheit und
nicht mehr zu zerstörende Gewißheit durch
seine Ratschläge bringen kann, falls das
11 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Erwachenwollen der Seele schon empfunden
wird, und der zu Erweckende die dazu nötige
innere Reife aufweist.
.Mein geistiges Lehrwerk wird sich über‐
all dort als unentbehrliche, aus dem Ewigen
kommende Lebensförderung selbst bestä‐
tigen und beglückend auswirken, wo man
seine Offenbarungen begrüßt, weil sie be‐
reits innerlich ersehnt und herbei
gewünscht worden sind.
.Wo man aber durch die jedes lichte Er‐
kennen abschnürende Meinung gefesselt ist,
man habe schon längst alles, was man
brauche, oder man habe am Ende gar
kein Bedürfnis mehr nach dem, was
ich der heutigen Welt aus dem ewigen
Geiste zum Aufnehmen heranzubringen
wußte, dort wird man unvermeidlicher
weise eines Tages erfahren, daß man doch
einer Torheit erlegen war, die man sich
alsdann kaum noch zu verzeihen wissen
12 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
wird und nur sehr ungern von anderen er‐
kannt sehen dürfte.
.Man wird sie nur leider dann erkannt
sehen müssen, da es auch Menschen gibt,
die ihr nicht erliegen!
.Ich bin zwar der Bezeuger dessen, in
dem ich lebe, und weiß daher nur zu gut
von so mancher folgefordernden Notwendig‐
keit, um die sonst keiner wissen kann, aber
ich vermag wahrhaftig nicht, ewigkeitsbe‐
stimmte Gesetze an ihrer unerbittlichen
Auswirkung zu hindern. Mir ist es unter
bestimmten Umständen möglich, Geschehens‐
abläufe, die nicht von aller Ewigkeit her
ihre Notwendigkeit in sich tragen, sondern
ausschließlich durch zeitlich entstandene Im‐
pulse die Anregung zu ihrem Ablauf emp‐
fangen, vom ewigen Geiste her, fördernd,
leitend und segnend, zu ihren Gunsten zu
beeinflussen, welcher „Einfluß” allerdings
nur aus dem Geiste der Ewigkeit her seine
13 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Direktiven empfängt. Ihnen allein sind die
von mir ausgehenden geistigen Kräfte unter‐
stellt.
.Wollte man mir auch ‒ im Stile früherer
Zeiten gesprochen ‒ „alle Königreiche der
Erde” anbieten, so wäre ich doch nicht in
der Lage, einen Wunsch zu erfüllen, der
meinen geistigen unausweichlichen Anwei‐
sungen zuwider ginge, die gänzlich unberührt
bleiben von allen Wünschen, Sympathien
oder Antipathien meines erdkörperlichen
Daseins!
.Das alles sind meinetwegen „merkwür‐
dige”, keinesfalls aber leicht verstehbare
Dinge, ‒ doch bin ich weder in der Lage,
sie abzuändern, noch etwa, sie leichter ver‐
stehbar zu machen. Es handelt sich hier um
Unabänderliches! Seher, Philosophen und
Dichter haben sich wahrlich nach Kräften
abgemüht, hinter die Geheimnisse der Wirk‐
14 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
lichkeit zu kommen, aber diese Geheimnisse
liegen für die sehende Seele, strahlend aus
sich selber, im Geistigen ganz offen vor
aller Augen, nur ‒ sind leider die geisti‐
gen Augen des Erdenmenschen unvermeid‐
licherweise „blindgeboren”!
.Um sie sehend zu machen, mußte mein
geistiges Lehrwerk erwachsen, dem ich zwar
pflichtgemäß kundiger Former wurde, das
ich aber in keiner Hinsicht meinem Ver‐
gänglichen zurechne oder etwa für mich als
Bewertungsfaktor meiner irdischen Per
sönlichkeit in Anspruch nehme, obwohl
diese nun auch im Bewußtsein untrennbar
meinem Ewigen zugehört. Aber Ewiges will
nicht in irdische, konventionell gültige
Münze umgewechselt werden!
.Ich „nenne” mich ja auch nicht aus Will‐
kür ‒ wie ein Pseudonymus ‒ Bô Yin
Râ, sondern bin aus ewigem Sein, was
diese sieben Buchstaben oder drei Silben
15 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
im Diagramm geistig darstellen, substan
tiell im Ewigen! Ob man sich allerdings
das, was hier gemeint ist, wirklich und als
Wirklichkeit vorstellen kann, erscheint mir
recht ungewiss. Eine Vorstellungshilfe bietet
allenfalls die Tonkunst in der Unterschei‐
dung zwischen dem in Notenzeichen ge
schriebenen und dem schwingenden, als
Klang zum Tönen gebrachten Akkord, ‒
wenn auch dieser Vergleich nur sehr vor‐
sichtig gebraucht werden darf. Dem wenigst
entwickelten Sprachgefühl schon sollten aber
diese drei Silben wahrlich mehr sagen, als
alle „Erklärung” je sagen könnte, denn hier
sind Laute: ‒ Lebensträger!
.Wem das alles etwa „zu phantastisch” er‐
scheint, den bitte ich inständig, sich von
den Schriften meines Lehrwerkes fernhalten
zu wollen! Er würde ihm sicher ‒ und viel‐
leicht in aller guten Meinung ‒ Inhalte zu‐
schreiben, die ihm so fern wie nur möglich
16 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
sind. Ich habe Entsetzliches in dieser Hin‐
sicht erlebt und kann es durch deutungs‐
lüsterne Vielbelesene immer noch erleben,
aber ich vermag dennoch dort nicht zu ver
urteilen, wo nur wirkliche Unkenntnis
der vorausgesetzten unerläßlichen geistigen
Einsichten den Ahnungslosen, der sich viel‐
leicht gerade für besonders unterrichtet hielt,
zu grotesker Ausdeutung meiner Worte ver‐
führte.
.Wohl aber muß ich mich zu schärfster
Verurteilung entscheiden, wo meine War
nungen, trotz aller Fähigkeit, sie zu ver‐
stehen, einfach nicht beachtet wurden. ‒
Wer sich um diese so nötigen Warnungen
nicht kümmert, der verdient nichts anderes,
als von jedem, die psychologische Urteils‐
losigkeit seiner Mitmenschen ausnützenden,
pfiffig „frommen”, zielbewußten Schläuling
oder von gleichwertigen spiritistischen „Le‐
muren” gefoppt zu werden! Auch das, was
so viele bewußte oder unfreiwillige „Spiri‐
17 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
tisten” ihren „Schutzgeist” oder „Führer”
nennen, ist Ausgeburt übler Täuschungslust
aus der unsichtbaren physischen Welt, ‒
soweit es nicht selbsterzeugter Schemen phan‐
tastischer Selbsttäuschung ist.
.Wer aber gar nach allem, was er in meinen
Schriften lesen darf, noch glaubt, er könne
etwa schon zu meinen Lebzeiten oder doch
bald nachher außer dem, der in mir sich
selbst zum Bekenntnis wurde, einem „Leuch‐
tenden des Urlichtes”, ‒ oder außerhalb
strengstens zurückgezogen lebender, ver‐
borgener Kreise asiatischer Religionen, auch
nur dem niedersten wirklichenEin
geweihten” in die auch heute noch leben‐
digen „Mysterien” begegnen, den muß man
allerdings weder bedauern noch stören. Möge
er durch den Verbrauch des Trüben zur
Klarheit gelangen! Die meisten, ihrer Ur‐
teilskraft niemals mißtrauenden Menschen
machen sich keine Vorstellung davon, welche
platt niedrigen und geradezu „satanischen”
18 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Willenskräfte am Werke sind, nur um vor
allem die so Selbstsicheren und daher weit‐
aus mehr, als sie ahnen, ‒ Ahnungslosen
‒ durch Befriedigung ihres naiven Selbst‐
bestätigungsverlangens schonungslos aus dem
Unsichtbaren her zu hintergehen, oder in
der Sichtbarkeit, um finanzieller Ausbeu‐
tung willen, wie auch zu manchen anderen
Zwecken, sich hörig zu machen!
.Wer mein geistiges ‒ in einem anderen
Sinne genommen: ‒ „geistliches” ‒ Lehr‐
werk „verstehen” lernen will, der wird ihm
von innen her nahekommen müssen und
keinesfalls glauben dürfen, daß er von außen
her sich ein Urteil darüber zu bilden ver‐
möge. ‒
.Sein Gehirnverstand vermag ihn jedoch
sehr sicher aufzuklären, sobald ihm einer
der tausenderlei unverantwortlichen Seelen‐
fänger aus der sichtbaren oder auch unsicht‐
19 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
baren Welt auf seinem Lebenswege unver‐
mutet gegenübersteht, und bei ihm probiert,
aus menschlichem seelischen Suchen „Kapital
zu schlagen”, mag es sich auch vielleicht zu‐
weilen nicht einmal um klingende Münze,
sondern um die Befriedigung des „Geltungs‐
bedürfnisses” eines Menschen handeln, der
anders seine „Minderwertigkeitsgefühle”
nicht loszuwerden vermag, oder um die bloße
Jagdlust eines unsichtbaren Seelenjägers,
wie sie mein Lehrwerk ja genügend charak‐
terisiert. Die weitaus meisten Opfer aller
dieser Verderber hätten sich selber bewahren
können, wären sie nicht zuvor ihrem eigenen,
gerne gehegten Aberglauben anheimgefallen,
wodurch sie alles Unterscheidungsvermögen
bereits verloren hatten.
.In den zweiunddreißig Einzelstücken
meines geistigen Lehrwerkes finden sich:
Lehre, Bericht und Ratschlag in leben‐
diger Vereinigung. Von den ersten Worten
20 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
an, die ich im Druck erscheinen ließ, habe
ich offen bekannt, daß es mir um anderes
geht als etwa um die Darbietung irgend‐
welcher ‒ vielleicht durch Nachdenken oder
geistige Erleuchtung ‒ gewonnener „Über‐
zeugungen”, die, als nur private Meinung,
mich gewiß nicht zur Mitteilung veranlaßt
hätten. Ich habe niemals verhehlt, daß die
Lehre, die durch mich in meiner Mutter‐
sprache Gestaltung fand, viele Jahrtausende
altes Erbgut einiger weniger, ihrem ewigen
Sein bewußt geeinter Erdenmenschen ist,
die jeweils zu ihrer Zeit, verhüllt, in Ver‐
borgenheit, als Leuchtende des ewigen Ur‐
lichtes ihre ihnen zubestimmten Erdentage
erleben. Ich habe immer wieder bekannt,
daß aller Bericht über die Struktur des
ewigen geistigen Lebens, den ich zu geben
vermag, aus meinem eigenen, mir irdisch
bewußt gewordenen urewigen Leben im
Lichte des sich selbst erlebenden ewigen
Geistes hervorgeht, und daß die von mir
erteilten Ratschläge oder Weisungen nicht
21 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
primär von mir ‒ dem irdischen Verkünder
‒ stammen, sondern in ganz bestimmten
Forderungen begründet sind, die sich un‐
abänderlich aus der Struktur geistig sub‐
stantiellen Lebens ergeben, das nur in sich
aufnehmen kann, was aus ihm hervorging,
und nur dann, wenn das voreinst von seinem
Lebensgrunde Hinwegstrebende wieder mit
allen Kräften ihm zustrebt.
.Bei denen, für die mein geistiges Lehr‐
werk bestimmt ist, wird die möglicherweise
vorhandene anfängliche „Fremdheit” in glei‐
chem Grade von innerster Vertrautheit ab‐
gelöst, in dem das Empfindungsvermögen
sich öffnet für mein geistiges Leben in meinen
Schriften. Nicht Bericht und Weisung sind
die höchsten Werte dieses Lehrwerkes! Über
alledem steht sein übertragbarer Inhalt an
wirklichem ewigen geistigen Leben, das
ich meinen Worten mitgegeben habe, damit
es der Empfindungsfähige erlangen könne.
Nicht durch Denkarbeit, sondern durch Ein‐
22 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
fühlung und Aufnahme in sein eigenes
Leben!
.Das, von dem ich als von uraltem „Erb‐
gute” spreche, ist irdische Tradition der
Offenbarungsform, gründet aber letztlich
im Erlebenkönnen substantiellen geistigen
Lebens. Es handelt sich da um das irdisch
bewußt gewordene, in ewiger Dauer sich un‐
ausgesetzt erlebende Leben des ewigen
lebengebenden Geistes, von dem keiner
künden kann, der nicht unermeßliche Zeiten
vor seiner irdischen Inkarnation in ihm be‐
reits seiner selbst bewußt gewesen war!
Alle Erkenntnis der bewunderungswürdig‐
sten irdischen Gehirne war und ist nur ein
Spiel mit Spielmarken, gegenüber der
vollwertig reinstes Gold greifbar dar‐
bietenden Einsicht, die wirkliches Erleben
ewigen Lebens den Wenigen aller Zeiten
eröffnet, die aus ihm künden können!
.Ich vermag es nicht zu ändern, daß ich
für diese Zeit und auf recht zahlreiche Jahr‐
23 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
hunderte hin der einzige der hier Gemeinten
auf dieser Erde bin, dem Offenbarung seines
geistigen Wissens aus eigenem ewigen geisti‐
gen Erleben, nicht nur vom ewigen Geiste
her „erlaubt”, sondern zur heiligsten Auf‐
gabe des Erdenlebens zubestimmt ist. Täu
schern freilich wird man gewiß immer, und
so auch in Zukunft begegnen, denn sie fehlen
zu keiner Zeit auf Erden und finden immer
wieder ihre Hörigen.
.Um keinerlei Irrtum irgendwo irgend‐
welchen Raum zu lassen, muß ich hier noch
eindeutig sagen, daß sämtliche in dem
meinem geistigen Lehrwerke zugehörigen
Buche: „Welten”, sowie in der im Buch‐
verlag der Kunstanstalt Franz Hanfstaengl,
München, erschienenen Monographie: „Der
Maler Bô Yin Râ” teilweise zu farbiger Re‐
produktion gelangten oder auch in Schwarz‐
druck wiedergegebenen „geistlichen Bil
24 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
der”, ‒ die in künstlerischem Ringen um
das gegebene Problem, aus dem wachen Er‐
leben der Struktur innerster, alle Kräfte
der Seele erschütternder Gestaltungs
welten im ewigen Geiste Gottes hervor‐
gingen, ‒ ohne Ausnahme, untrennbar
meinem geistigen Lehrwerke einver
woben sind. Das gilt natürlich auch von
den nicht reproduzierten Originalen, soweit
die privaten Besitzer die geistigen Kräfte
verlangen, die in diesen Bildern leben.
.Für die Vorstellungswandlungen, die
zur Aufnahme des konkreten geistigen Le
bens in meinen Lehrschriften unerläßlich
sind, können diese Darstellungen geistiger
Welten mit den Mitteln der Farbe und Linie
den Aufnahmefähigen sogar sehr Erheb
liches gerade dort bedeuten, wo das Wort
der Sprache seine Grenzen gezogen sieht,
auch wenn nicht nötig ist, jede Darstellung
zu kennen. Ich fand das durch Menschen
aller Bildungsgrade, ‒ die aus meinen
25 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Worten geistig „leben” lernten, ‒ deutlich
bestätigt.
.Die „Wurzeln” unseres geistigen und ‒
irdischen ‒ Lebens sind nun einmal ganz
anders gestaltet, als das nach allen religiösen
und philosophischen, zu Gemeingut gewor‐
denen Lehren angenommen wird! ‒ Hier
ist die dringlichste Umformung der bis‐
herigen Vorstellungsinhalte nötig, wenn der
irdische Mensch sich ein auch nur halbwegs
der Wirklichkeit nahekommendes Wahr‐
bild schaffen will, an dem sein ohnehin vor‐
erst bestenfalls nur „ahnendes” Erkennen
sich erfaßbaren, gesicherten Halt zu erwirken
vermag. Hier muß die Haftung am „Her‐
gebrachten” wahrlich überwunden werden,
will man die wirklichen Werte heben, die
das Überkommene in sich verbirgt! ‒
.Ich muß aber ernstlich daran erinnern,
daß ich niemals um „Gläubige” geworben
26 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
habe oder gar „Anhänger” zu gewinnen
suchte! Wenn der in den Schriften meines
geistigen Lehrwerkes Lesende meinen Worten
glaubt, so wird das für ihn selbst gewiß
bedeutsam sein, aber ‒ er soll seinen
Glauben nicht wie ein „Geschenk” bewerten,
das er mir darbringen zu können meint!
Die authentische Wirklichkeitsentsprechung
meiner Lehrworte über die Struktur des
ewigen Geistes kann weder durch den in‐
brünstigsten Glauben verherrlicht, noch
durch Unglaube, Behinderung, Kritik oder
Bekämpfung herabgemindert werden! Ich
habe zu keiner Zeit nach menschlicher „Zu‐
stimmung” gestrebt, weil ich nichts lehrte,
was ihrer hätte bedürfen können, und noch
unermeßlich weit ferner lag und liegt mir
jedes Erstreben irgendwelcher eigenen irdi‐
schen „Macht” ‒ sei es auch nur der so
zeitbedingten und ganz im Vergänglichen
wurzelnden Macht, Menschen von der Wahr‐
heit eigener Worte zu überzeugen! Ich will
nicht, daß man mir „glaube”, sondern lehre,
27 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
wie man sich selbst geistige Gewißheit
schaffen kann. ‒ Das ist alles, was ich zu
geben habe!
.Denen, die in einer irrigen Beurteilung
meines Erdenwerkes befangen, sich von einer
persönlichen Begegnung noch mehr verspre‐
chen, als was sie von mir in meinem Lehr‐
werk erhalten haben, muß ich leider sagen,
daß ich ihnen im Gespräch keinesfalls auch
nur entfernt das zu geben haben würde,
was ich in meinen Büchern aus dem Geiste
Gottes gab, ‒ in ihm allein bewußt und
durch ihn allein bestimmt! Man muß hier
resolut eine sehr scharfe Trennungslinie
ziehen zwischen allen Menschen, die sich
des Buchdrucks bedienen, um ihre Gedan‐
ken darzulegen oder über ihre Gefühle zu
reflektieren, ‒ und mir, der aus dem
Ewigen spricht und seine Worte zu Trägern
seines eigenen ewigen Lebens werden ließ.
Man muß in heller Nüchternheit sich klar
darüber sein, daß ich in das Leben dieser
28 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Erde mein urewiges Erbe mitgebracht
habe, ‒ nicht erst das Geistige in mir durch
irdisches Suchen erlangte. Wer den Worten
meiner Bücher begegnet, der empfängt alles
Geistige und alles Persönliche, was in
mir auf dieser Erde lebt! Meine leibhafte
Gegenwart hätte ihm das niemals vermitteln
können. Überdies bin ich kaum in der Lage,
auch nur die mir allervertrautesten Menschen
dann und wann bei mir sehen zu können,
aber außerstande, statt dessen etwa mir un‐
bekannte Besucher zu empfangen. Ebenso‐
wenig ist es mir möglich, durch Briefe
privaten Rat zu erteilen, oder gar private
Kommentare meines Lehrwerkes zu formu‐
lieren, so erwünscht das auch Einzelnen er‐
scheinen mag, und für wie „wichtig” sie
auch ihre Fälle ‒ von ihrem Blickpunkte
her gesehen ‒ nehmen mögen. Anderes
und weitaus Nötigeres braucht nunmehr Tag
um Tag, aus dem Geiste gefordert, bis zum
letzten Atemzug meine erdhaften Kräfte, so‐
lange ich noch körperlich in diesem Erden‐
29 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
leben bin. Dieses „Andere” aber läßt nichts
anderes zu!
.Was diese Worte in ihrer Gesamtheit
besagen, vermag nur ich selbst zu ermessen,
obwohl der Abschlußband meines geistigen
Lehrwerkes, „Hortus conclusus”, wahrhaftig
alles darüber berichtet, was in irdischer
Sprache sich zur Not berichten läßt. Dort‐
hin, wohin ich täglich gehen muß, mein
Werk zu wirken, das mir nunmehr noch
während des irdischen Leibeslebens geist‐
gewollt zu tun obliegt, dorthin kann ich
niemand mit mir nehmen. So kann ich denn
auch keinem zeigen, was meine Kräfte ferner
geistig, wie im irdisch Dinglichen braucht,
denn keiner kennt Beispielhaftes, das ich
ihm nennen könnte, um daran meine Worte
anzuknüpfen.
30 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
ZWEITER ABSCHNITT
.Mein geistiges Lehrwerk ist eine nach Mög‐
lichkeit objektive Darstellung der Struktur
des ewigen Geistes, von seiner ihm fernsten,
dem Erdmenschen aber nächsten erdgemäßen
Bekundung bis zu seinem allerinnersten,
höchsten und heiligsten Sein in sich selbst.
„Nach Möglichkeit” objektiv will besagen,
daß absolute Objektivität nur im ewigen
Geiste selbst besteht, aber in sprachlicher
Darstellung unerbittlich und gegen alles
Wollen des Darstellenden, durch die unter
allen Umständen subjektiv bestimmte Art
seines Darstellungsvermögens zu einer re
lativen wird, was sich auch durch keine
Kraft des ewigen Geistes gänzlich verhüten
läßt. So gebe ich also das, was ich als einer,
der des Geistes ist, zu geben habe, in der
Darstellungsform, die mir in meinem Erd‐
33 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
menschlichen dargeboten ist, aber stets kor‐
rigierender bewußter Kräfte des ewigen
Geistes in mir selber bewußt. Der Vorgang
ist nicht ganz so einfach, wie er hier be‐
schrieben steht, und dennoch, in anderer
Hinsicht, zugleich von unmitteilbarer Ein‐
fachheit! Das Allereinfachste im substan‐
tiellen ewigen Geiste ist nicht mehr mit‐
teilbar, weil es nichts anderes außer sich
bewußt bleiben läßt, von dem es bei der
Mitteilung zu unterscheiden wäre.
.Wie immer aber auch die sprachliche
Darstellung des Ewigen sich der absoluten
Objektivität naturgedrängt enthalten muß,
so könnte doch niemals ein wirklicher Irrtum
sich dabei ereignen, denn was aus Ewigem
vernehmbar wird, bleibt ewiger Erkenntnis
eingefügt und ungeschieden von ewiger Wirk‐
lichkeit. Eben darum ist alle Rede über ewige
Dinge erfüllt mit Trug, wenn sie nicht aus
34 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
dem Munde eines Menschen kommt, der
selber vollbewußter geistiger Mensch ist in
dieser Wirklichkeit des einzigen Unver
gänglichen! Auch Religionen sind nicht
vor solchem Trug gesichert! Soweit sie aus
Irdischem Anstoß schaffen, schlafende Seelen
zu Zellen ewiger Liebe zu erwecken und als‐
dann in Glut und Inbrunst erwacht zu halten,
wie Kult und Gebet das vermag, sind Reli‐
gionen geistgewollte erdenhafte Bünde, die
nicht zu entbehren wären. Wo aber ihre
Diener das, was sie empfangen haben aus
der Wahrheit eines Wirklichkeitsbewußten,
unter andere und eigene Rede mengen um
ein Wissen darzustellen, das nur ein Worte
wissen bleibt, dort können die gleichen Re‐
ligionen zu allerärgsten Hemmnissen auf den
Wegen der Seelen werden! Es gibt keine
Religion auf Erden, die hier nicht der Selbst‐
reinigung bedürftig wäre, und am dringlich‐
sten ist diese Reinigung dort, wo man sich
derart vermessen konnte, daß man sich nicht
scheute, aus religiösem Urgut den Stoff zu
35 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
einer scheinbaren Wissenschaft zu machen,
statt ehrerbietig hinzunehmen, was allein
Menschen „verstehbar” ist, die selbst als
Ewigkeitsbewußte leben in ewiger Wirklich‐
keit. Daß wahrhaftig solche Menschen jeder‐
zeit auf dieser Erde erstanden sind und er‐
stehen werden, kann freilich nur ein Mensch
bezeugen, der selber zu ihnen gehört! Als
solcher habe ich diese bis zur Identität ge‐
hende Vereinung Gleicher, aus dem Geiste
her aller Menschheit bewußtseinsnahe zu
bringen gesucht durch das Wort!
.Ich habe die mir untrennbar Geeinten
gleichnishaft als im Geistigen geborene
„Brüder” bezeichnet, in Analogie mit dem
irdischen Begriff, der männliche Menschen
aus gleichem Elternblute meint. Kein Ver‐
gleich, den die Erde bietet, wäre jedoch hin
reichend, um die vollkommene Einung in‐
dividueller Geister begreifbar zu machen,
36 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
die real vollzogen ist in des Urlichtes Leuch‐
tenden. Am allerwenigsten darf man den
von mir schließlich gewählten auf die „Men‐
talität” irdischer Brüder aus dem gleichen
Elternhause beziehen, denn ausschließlich
nur auf das gleiche Blut bezogen, wird er
von mir gebraucht! Irdischer Leibesursprung
aus gleichen Wurzelstämmen, soll zum Bilde
dienen für eine ewige geistige Herkunft in
der geistigen Welt. Seinem Inhalt nach ihr
inkommensurabel und darum aufs schärfste
von ihr geschieden, bleibt mein Vergleich von
aller Gepflogenheit, nach welcher Menschen,
die gleiche Ziele erstreben, sich auf Grund
gedanklicher Zustimmung oder gleicher Ver‐
pflichtung „Brüder” nennen! Jeder der Leuch‐
tenden des Urlichtes ist nicht nur Formung
gleichen ewigen Willens im substantiellen
göttlichen Geiste, sondern als solche Formung,
unbeschadet aller geistgewollten Unterschei‐
dungsmöglichkeit, dem Sein im Geiste nach
mit allen ihm Gleichgeformten substantiell
identisch.
37 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
.Genugsam habe ich wahrhaftig betont,
daß aus geistig gegebenen Gründen niemals
ein Mensch, in dem ein Leuchtender des Ur‐
lichtes sich darlebt, zugleich Diener oder
Leiter irgend einer irdischen Religion sein
kann. Auch der Meister von Nazareth war
wahrlich keines von beiden, was immer für
Worte sie ihm auch späterhin zugeschoben
haben, um sich selbst in dem neuen Glaubens‐
kreise nicht als überaltert zu empfinden. Es
ist törichtes Beginnen, nachdem man kaum
von denen erfahren hat, aus deren Mitte
ich spreche, alle Religionsbezirke der Welt
zu durchstöbern um innerhalb ihrer Gefilde
etwa Leuchtenden des Urlichtes zu begegnen,
denn die Leuchtenden des Urlichtes waren
weder Mysterienpriester noch Hierophanten,
und sind weder Verpflichtende noch im Ge‐
wissen Verpflichtete irgend einer Religion.
Nicht etwa, weil sie, ‒ die geistigen Er‐
wecker aller echten Religiosität, ‒ „Reli‐
gionsgegner” wären, sondern weil sie als im
ewigen Geiste Lebende, ewiger Ordnung
38 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
eingefügt sind, und Gesetze überzeitlicher
Art befolgen! So mußte ich denn auch zur
Einsicht mahnen, wo ich die Meinung Ah‐
nungsloser Verwirrung stiften sah, die Leuch‐
tende des Urlichtes unter Brahmanen, Pun‐
dits, Sâdhus, Sannyâsins und Bikshus, unter
Lamas und ihren „Wiedergeborenen”, unter
Derwischen und Fakiren oder auch wirkli‐
chen „Yogis” verborgen glaubte. Auch jene
gehen nicht minder fehl, die vermeinen, sie
könnten sich aus den Tempeln östlicher Reli‐
gionen Begriffsbilder borgen, in deren Nim‐
bus etwa ein Leuchtender des Urlichtes ein‐
zubeziehen wäre. Alles das ist verwirrende
Sucht nach Bestätigungen der unkontrol‐
lierten Wunschträume einer phantastischen
Romantik! Man muß von alledem absehen
lernen, wenn man auch nur ahnungsweise
sich den lauteren, kristallklaren, firnen‐
frischen Regionen geistig nähern will, die
uns geistiger Seinsodem sind.
.Alle Einwirkung ewigen Geistes auf die
39 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
physische Gestaltung der Erde, ‒ alle Be
nützung dieser Gestaltung durch geistige
Kräfte der Ewigkeit, ‒ schafft Situationen,
die als Symbole sprechen. Es ist kein „Zu‐
fall”, daß die für die Aufnahme ewiger
Wellenströme und Schwingungen in ihrer
höchsten Potenz einzig vorhandene Stelle
auf diesem Planeten, hoch in der Region
seiner höchsten Berge liegt, mitten in Schnee
und Eis! Erdenmenschlichen Träumen läge
es weit näher, diese Kontaktstelle, die es
den lichten Kräften ewigen Geistes möglich
macht, die zähe düstere Erdaura zu durch‐
dringen, um durch das Innere der Erde die
Seelen der aus ihr lebenden Erdmenschen
zu erreichen, auf einer paradiesischen Insel,
mitten in lichtübergossenen südlichen Meeren
zu suchen, oder zum mindesten doch dort,
wo der physische Körper die seinem Leben
und Gedeihen gemäße Förderung findet.
Aber gerade die für ein Leben im physischen
Erdenkörper nötigen Voraussetzungen sind
in der meilenweiten Hochzone des inner‐
40 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
halb der ganzen Erdaura einmaligen Kraft‐
feldes, das hier gemeint ist, wahrhaftig nicht
gegeben. Menschlicher Impuls vermag hier
nur dann sich auszuwirken und die ihm
einmalig hier gebotenen Möglichkeiten zu
nützen, wenn er sich einem anderen Bewußt‐
seinsträger als dem physischen Körper an‐
zuvertrauen imstande ist: ‒ einem Bewußt‐
seinsträger, den die in diesem gemeinten
Erdraum gegebenen physikalischen Verhält‐
nisse meteorologischer Art in keiner Weise
behindern. Es ist aber beileibe nicht etwa
die Rede von der sogenannten „Aussendung
des Astralkörpers”, der hier noch rascher
aufgelöst würde als der alpinistisch genügend
ausgerüstete Außenmensch zum Erliegen
käme, der immerhin mit geeigneten Hilfs‐
geräten ähnliche Bereiche zu durchqueren
vermag! Der Vorgang, von dem ich rede,
erfolgt bei völlig klarem gehirnlichen Be‐
wußtsein durch einen im eigenen ewigen
Geiste geschehenden, unendlich sublimen
Auslösungsakt, und ist allein den Leuchten‐
41 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
den des Urlichtes möglich, gleichgültig, wo
sich der physische Körper befindet. Er darf
nur nicht vor einer Narkose oder irgend
einer sonstwie drohenden Betäubung und
Bewußtseinsverengung stehen, weil er dann
nicht mehr erwachen würde, sondern der
Seele verlorenginge durch sofortigen Tod.
Daher käme auch jeder „Trancezustand”
hier einem Selbstmord gleich! Leben im
Geiste kennt keinerlei „abgeblendete” Be‐
wußtseinszustände, sondern bewirkt viel‐
mehr erweitertes Wachsein in allen
Bewußtseinsreichen, zu gleicher Zeit!
.Die geistige Gestaltung des „Tempels der
Ewigkeit”, von dem ich in meinem Lehr‐
werk spreche, konnte nur an dieser einzigen
Stelle des Planeten erfolgen, die ich hier
nun nochmals charakterisierte. Von dieser,
durch ein feinstmaterielles Kraftfeld, das nur
ihr eigen ist, auch im Physischen überaus
bedeutungsvoll separierten Stätte allein, die
42 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
sich allerdings über einen gewaltigen Erd‐
raum hin erstreckt, vermag es ewiger Geist,
wieder mit den in die physische Erschei‐
nungswelt gefallenen Geistesfunken, die im
Menschen dieser Erde ihre Erlösung suchen,
in Vereinung zu gelangen. An dieser Stätte
ist auch die absolute „Unio mystika” der
Erdenmenschen, in denen sich die Leuch‐
tenden des Urlichtes darleben, allein auf die‐
ser Erde erreichbar. Es versteht sich von
selbst, daß die geographische Bestimmung
dieser Stätte selbst den Menschen, in denen
sich die Leuchtenden des Urlichtes erleben,
versagt bleiben muß, da das bloße Wissen
um die genaue erdräumliche Lage des Ortes
in menschlichen Gehirnen schon genügen
würde, um Schwingungen zu erzeugen, die
alle rein geistigen Impulse empfindlichst
stören, wenn nicht gänzlich an ihrer Auswir‐
kung hindern würden. Daß die Impulse aus
dem ewigen Geiste ihren Weg durch das
Innere der Erde nehmen, weil die Erdaura
durch den Menschen, infolge des Mißbrauchs
43 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
der in seiner Tiernatur ‒ im weitesten
Sinne ‒ gegebenen Möglichkeiten, grauen‐
haft verunreinigt ist, ‒ wurde ebenso Ur‐
sache der Symbolbildung: ‒ heilige Grotten
und Höhlen! ‒ wie das geistige Geschehen
selbst, ‒ das von hohen Bergen her erfolgt!
Die Erdaura, die wie eine über und über
beschriebene Schriftrolle angefüllt ist mit
den dunklen Zeichen des Erdenmenschen,
ist der tötende „Buchstabe”, während Geist
der Ewigkeit „lebendig macht” aus dem
Innern der Erde her, ‒ in die Erde ein‐
gedrungen an einer Stelle, an der die Erd‐
aura nicht durch den Menschen entheiligt
ist, und wie nirgends fähig, geistige Strah‐
lung einzulassen. Durch geistig gelenktes Ge‐
schehen war mir dieser im höchsten Sinne
heiligste Ort der Erde schon in meiner frü‐
hen Jugendzeit innerlich zugänglich gewor‐
den. Ich habe damals nicht geahnt, daß er
mir so sehr viel später dann jederzeit zu‐
gänglich werden würde, und ich verstand
noch weniges von dem, was ich heute weiß.
44 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Ich fand mich nur, wenn man mich „holte”,
ohne jede Bewußtseinstrübung für meine
gewohnte Umgebung, zugleich an dem so
fernen geheimnisvollen Erdort bewußt, aber
dort in einer unnennbaren erschütternd feier‐
lichen Glückseligkeit, und weinte nach der
„Rückkehr” heiße Tränen, wenn ich zur Be‐
fürchtung kam, daß ich vielleicht zum letz‐
tenmal „hingeholt” worden sei. Es folgten
dann auch tatsächlich viele Jahre, in denen
ich nicht im Traume mehr geglaubt hätte,
die gleiche Stätte könne mir jemals wieder
erreichbar werden. Das war bedingt durch
Entwicklungen mannigfacher Art, die ich erst
übersehen lernte, nachdem sie durchlaufen
waren.
.Gewiß ist es nicht das äußere Erleben‐
können unvergleichlicher hochalpiner Land‐
schaft, das uns hierherzieht, ‒ so gewaltig
auch der Eindruck dieser unzähligen Gipfel‐
pyramiden, Eisnadeln und Felswandschrof‐
45 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
fen, die hier aus einem Meere von unermeß‐
lichen Schneefeldern und Gletschern hervor‐
ragen, die Seele erregt. Es erfolgt ja eine
Übertragung dessen, was dem physischen
Auge wahrnehmbar wäre, fände es sich an Ort
und Stelle, in die fernen Gehirnregionen des
physischen Körpers, die normalerweise Au‐
geneindrücke zu Bewußtsein bringen! Wer
in seinen jungen Jahren, wie es mir geschah,
Äquivalente zu allen diesen Eindrücken,
wenn auch nur in alpinen Gebieten erfahren
hat, die sich hier als Vergleichsobjekte nicht‐
einmal nennen lassen, dem ist es freilich wie
ein unbegreifliches Wunder, wenn er hier mit‐
ten im Toben der Elemente auch zu einem
Erleben kommt, das ihn vernichtet hätte,
wäre es körperlich zu erleben gewesen.
Aber das alles ist ja wahrhaftig nicht Grund
unseres gemeinsamen Erlebens in dieser Re‐
gion! Die geistigen Träger unseres Bewußt‐
seins sind vielmehr nur darum hierher diri‐
giert, weil wir nur von hier aus bewirken
können, was uns aufgetragen ist. Um was
46 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
es sich da handelt, ist in meinem Lehrwerk
oftmals beschrieben. Ich möchte nur in dieser
Eisregion gar zu gerne zuweilen einen der
Philosophen neben mir haben, ‒ von denen
der Antike bis zu denen neuester Zeit, ‒
aus deren gedanklichen Spekulationen sich
alle Vorstellung vom ewigen Geiste bis auf
diese Tage nährt. Wie würden diese wahr‐
haftig zu verehrenden Männer, deren Namen
jedem Gehirnanbeter als geheiligt gelten,
bestätigt durch die Unfehlbarkeit ihrer Ge‐
dankenschlüsse, vor der Wirklichkeit des
Geistes erbeben und in sich zusammensinken,
gerade weil ihre Ehrlichkeit es nicht ertragen
könnte, nunmehr noch aufrechtzuerhalten,
was sie vor solchem Erleben stets besten
Glaubens für die gedanklich gesichertste
Erkenntnis hielten! Es ist wahrhaftig etwas
anderes, ob man sich mit einem „ewigen
Geiste” zufrieden gibt, der nur Produkt
der körperlichen Gehirnzellen und ihrer
ihnen gemäßen Erregung ist, oder ob man
den unvorstellbar gewaltigen wirklichen
47 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
ewigen Geist in seiner Allgewalt am Werke
sieht, wie er sich selbst wieder seinem Ge‐
bilde mitteilt, das gleichsam im „Leerlauf”
sich unvermeidlich zugrunde richten würde,
könnte es nicht neuer Einung mit seinem
Ursprung, aus einer nun aufs neue geistkraft‐
erfüllten fluidischen Substanz des Erdpla‐
neten her, teilhaftig werden.
.Die Allgewalt der Wirklichkeit ewigen
Geistes bleibt allen erdmenschlichen Defini‐
tionen unerreichbar. Der „Geist”, der sich
erdenken und durch Gedanken bestimmen
läßt, existiert nur in den Gehirnen die ihn
erdacht haben und in denen, die das Er‐
dachte nachzudenken trachten. Wenn auch
alles Irdische ‒ einschließlich des „Fürsten
der Finsternis”, von dem Jesus sprach ‒
nur geistfernste physikalische Projektion
von Reflexwirkungen wirklicher Geistes‐
kraftstrahlungen ist, so finden sich dennoch
in der physischen Welt Fährten zu der
Wirklichkeit ewigen Geistes. Man findet
48 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
sie überall, wo unsichtbare aber urgewaltige
bloße Naturkräfte schon die erstaunlichsten
Vorgänge und Veränderungen innerhalb der
physikalisch faßbaren Formenwelt hervor‐
bringen durch ihre bloße Manifestation.
Solcher Manifestation ähnlich ‒ wenn
auch keineswegs gleich ‒ muß man sich
die Einströmung des wirklichen ewigen,
substantiellen göttlichen Geistes vorstellen,
wenn man als Erdmensch endlich aus jahr‐
tausendealtem gedanklichen Irren wieder zu
einem fühlenden Vorahnen des Wirkli
chen gelangen will, das in menschlich er‐
faßbare, fühlbare Form gewandelt, im Men‐
schen dieser Erde erlebbar werden kann!
Wandlung in solche menschenfaßbare Form
zu bewirken, ist Trachten und Tun der im
ewigen Urlichte Leuchtenden.
.Wo immer auf der ganzen Erde echte
Religiosität nach dem ewigen Ziele des Men‐
schen strebt, dort wird der suchenden oder
49 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
gläubig verehrenden Seele Hilfe, Trost, Er‐
leuchtung und Führung durch die dazu be‐
stimmten Leuchtenden des Urlichtes aus dem
Geiste Gottes zuteil, von dieser heiligsten
Stätte der Erde her. Darum sagte ich bereits
im Buch vom lebendigen Gott, daß „die ver‐
borgenen geistigen Helfer weiter führen als
nur zu jenen Himmeln, die jede Zeit sich
erschuf als Auswirkung ihres frommen Seh‐
nens.” Freilich ist der Leuchtenden Hilfe und
innere Lenkung gänzlich unabhängig davon,
ob der Mensch, der sie empfängt, von dieser
Instanz innerhalb der Struktur des ewigen
Geistes etwas vernommen hat oder nicht. Da
es jedoch für zahlreiche Menschen Zeit dazu
geworden war, daß sie Authentisches darüber
erfahren sollten, mußte ich, als der einzige
dazu Befähigte unter den mir Geeinten, der
Wirklichkeit die ihr gemäßen Worte sprechen
und mein geistiges Lehrwerk bringen. Nicht
ohne Bedeutung war hierbei, daß ich zugleich
der einzige Mensch des Abendlandes unter
ihnen bin. Sollte die Offenbarung wirkliche
50 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Hilfe bringen, so mußte einer sie formen,
der europäisches Denken und seine Schwierig‐
keiten geistigen Dingen gegenüber aus ei‐
gener Erfahrung von Jugend auf kennt. Wie
ich aber das im Johannesevangelium verkün‐
dete Wort Jesu, ‒ allerdings weitab von aller
kirchlichen Lehrmeinung, ‒ nunmehr auf
meine Erscheinung in der Welt bezogen,
auf Grund der Struktur des Lebens im ewigen
Geiste, wiederholen darf: „Wer mich sieht,
der sieht auch den Vater!” ‒ den ewigen
geistigen Vater in dem ich lebe, ‒ so muß
ich zugleich sagen: Wer meine Worte ver‐
nimmt, der empfängt auch die Worte der
mir im Ewigen Geeinten!
.Die auf dieser Erde dem Bewußtwerden
geistiger Erleuchtung zustrebenden Men‐
schen bilden sehr verschiedenartige und ver‐
schiedenwertige Kategorien. Mit keiner
dieser, der Mehrzahl nach schon unterein
ander inkommensurablen Kategorien see‐
51 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
lisch Suchender, die gewiß vom Geiste her
„gefunden” werden können, wenn sie so zu
suchen wußten, wie es der ewige Geist aus
seinem eigenen Leben heraus erheischt, dür‐
fen etwa die Leuchtenden des Urlichtes ver‐
wechselt werden, die eben das von aller
Ewigkeit her sind, was ihre zum ewigen
Geiste strebenden Mitmenschen in einer für
sie erfaßbaren Form zu erreichen suchen.
Die „Schulung”, die auch der vergänglichen
erdgeborenen Erscheinung eines im Urlichte
Leuchtenden nicht erspart werden kann, ist
nicht auf das Finden eines gesuchten Zieles
gerichtet, sondern auf das irdische Aufneh‐
men dessen, was aus dem Ewigen „mitge‐
bracht” wurde und ‒ vorerst sich dem Ver‐
stande durchaus versagend ‒ in dieses ir‐
dische, vergängliche Dasein Eingang fand.
Auch ich mußte lange genug solche Schulung
erleiden!
52 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
DRITTER ABSCHNITT
.Das im ewigen Geiste mir zur Formung
vertraute Lehrwerk, dem ich jahrzehntelang
diente, will die aus seinen geheiligten Schätzen
Schöpfenden nicht etwa ‒ wie manche aus
ihnen zu meinen scheinen ‒ zu einer ab‐
sonderlichen oder gar überheblichen Haltung
dem irdischen Leben gegenüber führen, son‐
dern vielmehr zu wahrer Liebe dieses, nur
dort, wo es die Liebe nicht trägt, der Seele
oft allzuschweren Lebens! Um es tragen und
ertragen zu können, bedarf der Mensch dieser
Hilfe der Liebe, und um solche Hilfe zu er‐
langen, muß er der Liebe aus sich selber
Nahrung bieten, Tag um Tag. Er muß sich
selbst zum seelischen Entbrennen bringen,
damit die Liebe in ihm nicht friert und in
Frost erstarrt. Sehr ungleich dem, was in
der tierhaften Natur tierhafte Form der
55 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Liebe ist und wahrlich keine Entfachung
des Glutbegehrens verlangt, bleibt die hohe
Liebe der ewigen Seele scheu und verhalten,
solange der Mensch in sich nicht den Willen
erweckt, ihr Nahrung und Erwärmung zu
schaffen. Das triviale Allerweltswort, daß
man sich zur Liebe „nicht zwingen” könne,
mag gerne gelten in allen Lebensbereichen,
die letztlich aus Trieben der Tiernatur ihre
Bewegung erhalten. Für die hohe seelische
Form der Liebe gilt es nicht! Hier ist der
Mensch vielmehr fähig, selbst da noch Liebe
empfinden zu können, wo alles tierhaft Be‐
dingte in ihm sich auflehnt und widersetzt.
Wo der Wille die hohe seelische Form der
Liebe will, dort hält ihm kein körperlich
erzeugter Widerwille stand!
.Der Wille will aber noch nicht die
hohe, seelische Form der Liebe, solange ein
Mensch noch meint, es bedürfe erst außer‐
ordentlicher Ereignisse, damit er Liebe wol
56 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
len könne. Nur im gewöhnlichen Lebens‐
ablauf des nicht übersteigerten Alltags gedeiht
der Wille, der den Menschen in seiner Seele
Liebe wollen lehrt! Keine menschliche Be‐
ziehung im Alltag ist zu unbedeutend, als
daß sie nicht den Willen zur Liebe wecken
könnte, ‒ zur Liebe in ihrer rein seeli
schen Form, die sich selbst die Möglich‐
keiten schafft im Tun und Lassen, durch die
sie zur Auswirkung kommt.
.Mit sich selbst muß der Mensch anfangen,
denn an sich selber kann er am besten die
Anfangsgründe des nicht instinktgefesselten
seelischen Liebenkönnens lernen! An sich
selber wird er am ehesten entdecken, wo ihm
der seelische Liebeswille mangelt, und was
zu tun ist, um diesen Mangel auszugleichen.
Ist die Einsicht bis dahin gelangt, dann weiß
sie schon leichter den seelischen Willen zur
Liebe für die Menschen des leiblich und
seelisch nächsten Kreises zu erwecken,
und ist sie hier erst seiner sicher geworden,
57 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
dann wird sie weiter und weiter wirken, so
daß der Liebe Wollende zu einem Helfer
aller wird, die seine Lebenswege im weite‐
sten Alltag kreuzen.
.Wer das Lehrwerk, dem ich die Form
gab, nur wie eine Fundgrube sonst nicht
erreichbarer Erkenntnisse auswühlt, der
hat noch nicht entdeckt, daß es nur Men‐
schen gegeben ist, die durch ihren Willen
mit allen Kräften zu Liebenden ewiger Liebe
geworden sind. Ihnen erst kann es sich ganz
erschließen. Auch denen wird es nicht dauernd
unerschlossen bleiben, die, von irgend einer
seiner Darstellungen ausgehend, sich selbst
davon überzeugen, daß es für die Seele
notwendig ist, ewige Liebe empfinden zu
wollen, wenn sie jemals in dieser Liebe
selbst ihre Erlösung finden soll, zu der
ihr jedes Einzelstück meines geistigen Lehr‐
werkes den Weg zeigt. Es handelt sich also
darum, zu begreifen, daß alle Beschäftigung
58 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
mit meinen Lehrworten, alles Durchforschen
der in ihnen gegebenen Offenbarung und
alle Zustimmung ganz gleichgültig ist, wenn
die hier Suchenden nicht vor allen Dingen
danach trachten, Ausübende ewiger Liebe
zu werden und als Liebende der Tat sich
dem ewigen Geiste zu eigen zu geben in
ihrem Willen! Ich muß aber sehr vor einer
Art Bekundung vermeintlicher „ewiger
Liebe” warnen, die nichts anderes ist als
eine Ausdrucksweise der Selbstgefälligkeit,
oder aber gar der scheelsüchtigen Furcht,
man könne am Ende die ewige Glückselig‐
keit anderen überlassen müssen, ohne selbst
daran teilzunehmen, wenn man solche schein‐
heiligen Liebesäußerungen unterlassen hätte.
Im Geistigen ist es auch dem raffiniertesten
Charlatan unmöglich gemacht, zu betrügen,
und keine „fromme” Gebärde kann hier die
Täuschung bewirken, die ihr im irdischen
Außenleben doch allzuleicht gelingt! Man
darf aber auch anderseits nicht glauben, das
irdische Leben sei von den dieses Lebens
59 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Müden verleumdet worden und die Abfin‐
dung mit diesem Leben sei für alle, die an
ein ewiges Leben glauben, nur ein Kinder‐
spiel! Das zeitliche Leben ist dem irdischen
Menschen wahrhaftig nicht leicht gemacht!
Er stammt aus einer dem Irdischen durchaus
inkommensurablen Region und findet sich
nun in eine Welt der tierhaften Instinkte
und Triebe verhaftet, die seiner geistigen Art
in jeglicher Weise unangemessen ist. Kein
Wunder, wenn Irrtümer, Fehler und trieb‐
haft bestimmte irrige Entscheidungen für
den Erdenmenschen unvermeidlich sind!
.Man hat das alles wohl „Sünde” genannt,
aber: ‒ Sünde ist nur dort vollzogen, wo
der Mensch im vollen Bewußtsein der gei‐
stigen Verwerfung seines Tuns, dennoch un‐
bekümmert tut, was ihm gefällt. Dieser Tat‐
bestand aber ist nur in den allerseltensten
Fällen unentschuldbar gegeben, und weitaus
häufiger glaubt sich der Erdenmensch der
60 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Sünde schuldig, wo er nur die Kraft nicht
in sich zu fassen vermochte, die ihm ge‐
holfen hätte, allem tierhaft bedingten Trieb
entgegen, nach seiner höchsten seelischen
Entscheidung zu handeln. Ja, ich kannte
eine bejahrte christlich-fromme Frau bäuer‐
licher Herkunft, die sehr gerne lachte, aber
jeden Ausdruck spontaner Fröhlichkeit gleich‐
sam „rückgängig” zu machen suchte durch
den Ausruf: „Gott verzeih' mir mein' Sünd'!”
‒ Soweit kann die Sündfurcht auch die
prachtvollsten Gestalten dieses Erdenlebens
bringen, denn diese Frau war meine leib‐
liche Mutter und sie hätte keinen geringen
Platz eingenommen unter den einfachen
bäuerlich bestimmten Frauengestalten Gott‐
helfs, wäre er ihr in seinem Leben begeg‐
net. Es ist noch lange nicht alles Sünde,
was man „Sünde” heißt, und vieles ist wirk
liche Sünde, was kein Mensch als solche
bezeichnen würde! ‒ Unbezweifelbare und
nicht leichte Sünde ist es, wenn einer eine ge‐
ringe Anstrengung aus Bequemlichkeit unter‐
61 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
läßt, durch die er einem Mitmenschen eine
Freude bereitet haben würde, ‒ aber sehr
fraglich bleibt es, ob überall Sünde zu suchen
ist, wo klares Unrecht geschah, weil etwa Affekt
dazu trieb. So ist es auch keinerlei Sünde,
mein geistiges Lehrwerk, obwohl man es
kennt, zu mißachten, ‒ wohl aber ist es
Sünde, dieses Lehrwerk oder auch nur ein‐
zelne Lehren, Menschen aufdrängen zu wollen,
die nicht danach begehren! Ein Tier zu töten,
das Menschennahrung werden darf, ist nie
mals eine Sünde! Ebensowenig die Tötung
eines Tieres, das menschliches Leben auf die‐
ser Erde behindern will. Wohl aber ist es
Sünde, ein solches Tier ohne Zwang mehr
als unbedingt nötig, leiden zu machen,
oder auch nur das kleinste Insekt zu
quälen, weil es Unbehagen zu erzeugen
wußte durch seinen Stich! Es ist Pflicht
aller Menschen, die Herr über ihre Grau‐
samkeitstriebe geworden sind, ihren noch
nicht soweit gelangten Nebenmenschen die
Befriedigung roher Triebe an Mensch und
62 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Tier unmöglich zu machen oder zum aller‐
wenigsten wirksam zu verleiden, aber das
darf nicht zu der Empfindungsverwirrung
führen, die dem Tiere Gutes zu erweisen
meint, wenn sie es in der Vorstellung zu
vermenschlichen sucht. Man muß sich
klar darüber sein, daß durch solche Ver‐
wirrung des menschlichen Empfindens, im
Tiere nicht das Geringste zu des Tieres
Gunsten geändert wird, während im Men‐
schen ‒ das Bewußtsein, daß außer seiner
vergänglichen Tierseele, eine andauernde
Entelechie: eine unzerstörbare, allem phy‐
sischen Leben überordnete Seele Trägerin
seiner ewigen Seinsmöglichkeit ist, durch
die Aufhebung der klaren Scheidungsgrenze
zwischen beiden Emanationen, mehr und
mehr verkümmert. ‒ Es ist eine ganz folge‐
richtige Erscheinung, daß Menschen, denen
sich diese Grenze gänzlich verwischt hat,
zu so perversem Empfinden kommen, daß
ihnen das Tier unverletzlich wird, aber
jede Hemmung fortfällt, wo es sich um die
63 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Achtung des Leibeslebens ihrer Mitmen‐
schen handelt, sobald diese den eigenen
Strebungen im Wege stehen. Tierliebe, die
das Tier vermenschlichen will, führt zu
Menschenhaß! Dem gleichen Gegnertrieb
gegen den Menschen, der in jedem wider‐
standsfähigen waffenbewehrten wilden Tiere
brennt.
.Während aber die, durch verhängnisvolle
Schemen überspitzten Denkens geförderte
Projektion des Empfindens der ewigen Seele
in die niedere und wie alles Irdische vergäng‐
liche Seele des Tieres dazu führen kann, daß
der Mensch jeglichen wachen Bewußtseins‐
kontakt mit seiner ewigen Seele verliert,
schafft der Wille zur Liebe gegenüber dem
Nebenmenschen wachsendes Bewußt‐
werden in der eigenen ewigen Seele, und
immer klarere Bestimmung der wirklichen
Grenzen zwischen eigener vergänglicher Tier‐
seele und der den Menschen so unermeßlich
64 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
hoch über seine eigene wie jede Tierheit
erhebenden „Menschenseele”. Hier ist Ein‐
fühlung Pflicht! Hier ist Einfühlung
kein gemeinschaftvortäuschendes Projizieren
eines Empfindens in eine Wesenheit, die
von solchem Empfinden nichts weiß, wie
das beim Tiere der Fall ist, dem nur unser
tierseelehaftes Empfinden korrespondiert,
sondern ein Beiseitelassen der Tierseele‐
situation, um in der eigenen ewigen Seele
erfühlen zu können, was in der ewigen Seele
des Nebenmenschen ersehnt, erhofft und er‐
wartet wird. Es ist oft nur so weniges nötig,
damit solches Ersehnen, Erhoffen oder Er‐
warten Erfüllung findet, und es handelt sich
zumeist keineswegs um große oder schwer
erlangbare Dinge, die da in der exilierten
ewigen Seele des anderen um ein wenig
Widerhall bitten. Nicht große Anstrengungen
kommen in Betracht, sondern nur ein recht
unbedeutender Willensimpuls, der die Träg‐
heit und Eigenliebe überwindet um der
Freude des andern willen! Das ist die
65 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Liebe, zu der man sich wahrhaftig „zwingen”
kann, und weniges wirkt so wohltätig auf
die eigene Seele zurück, als dieser „Zwang”!
.Aber das will durchaus nicht etwa heißen,
daß man nun wahllos jedem Menschen seine
Liebe entgegenbringen müsse! Die vielver‐
langte „allgemeine Menschenliebe” ist wahr‐
haftig ein allzuungenügendes und allzubilli‐
ges Surrogat für die wirkliche Liebe, von der
dieser Abschnitt handelt, denn was bei sol‐
chem Selbstbetrug: „Liebe” genannt wird,
hat mit echter Liebe auch nicht das Mindeste
zu tun. Wirklicher Liebe allererstes Kenn‐
zeichen ist die Auswahl! ‒ Wo das ver‐
langte Gefühlsgeträume allen und jedem
gelten soll, dort kann von Liebe, wie sie wirk‐
lich ist, nicht die Rede sein! Sorge sich keiner,
daß dann viele Menschen ungeliebt bleiben
müßten! Die hohe seelische Liebe kann viel‐
mehr erst dann diese Erdenmenschheit einen,
wenn jeder Einzelne seine Liebe nach sei
66 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
ner Auswahl lenkt. Infolge der Verschie‐
denheit der Sympathien, die den Willen be‐
stimmen, müßte jeder Mensch die Liebe
derer finden, die sich zu ihm hingezogen
fühlen, wenn einmal wahre seelische Liebe
allen Menschen Willensbedürfen würde!
Aber auch innerhalb selbstgezogener Kreise
der Auswahl bleibt die Notwendigkeit be‐
stehen, sorglichst zu differenzieren, damit
jeder in solcher Auswahl das empfange, was
ihm als persönliches Liebeszeichen gilt,
denn ‒ jeder wird hier anderes erwarten,
ersehnen und erhoffen. Nicht anders als im
Bereiche der im weitesten Umfang durch
die Tierseele bestimmten Liebe zwischen
Weib und Mann, wäre es auch in der Region
rein seelischer Liebe verächtlich, erbärm‐
lich und unwürdig, wollte ein Mensch seine
Auswahl mit Seitenblicken auf das, was ihm
erdenhaft nützlich werden könne, treffen.
Selbst eine Auswahl im Hinblick auf jen‐
seitigen, postmortalen Vorteil wäre nicht we‐
niger zu verachten und bliebe außerdem gänz‐
67 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
lich zwecklos. Noch bedenklicher aber muß
sich jede fehlgreifende Abstufung inner‐
halb des eigenen Auswahlkreises auswirken
‒ und man darf wohl, ohne daß da ein Rächer
wäre, sagen: „rächen” ‒ denn wenn man
die allgemeine Auswahl mit der Wägung
durch eine Marktwage vergleichen will, wird
hier nun auf einer Goldwage gewogen! Hier
ist auch nichts rückgängig zu machen oder
zu revidieren, und wer sich hier „geirrt”
hat, wird seinen Irrtum noch im irdischen
Leben bitter büßen müssen. Es ist darum
sehr zu erwägen, wie man in seinem Willen
zur Liebe seine Sympathien verteilen will!
Hier wird das angeblich oder vermeintlich
so ernste Erdenleben wirklich ernst, denn
überall sonst läßt sich der Fehler, der Irrtum,
die irrige Handlung noch korrigieren, ‒
hier aber nicht!
.Zuletzt aber kommt auch hier alles darauf
an, daß der Mensch in seinem Innersten voller
uneigennütziger Güte sei. Wirkliche „Güte”
68 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
ist seelische Hingabe, ohne Frage, Bedin‐
gung und Einschränkung, zum Wohle de‐
rer, die solche Hingabe anderer benötigen,
wenn sie nicht durch ihr eigenes Unvermögen
zugrunde gehen sollen. Etwas von solcher
Hingabe muß jeder Mensch in sich haben,
wenn er nicht seine dereinstige Erlösung
aus erdentierhaft bedingter Fessel ernstlich
in Frage gestellt sehen will! Und was hier
vom einzelnen Menschen gilt, das gilt auch
von den einzelnen Völkern! Der Bund, in
dem sich die Völker der Erde zu einigen
suchen, wird zu einem Trennpunkt wer‐
den, wenn nicht hingebungsbereite Güte
und Wille zur Liebe, dieses Bundes Ver‐
bindungsbänder weben! Noch ist die Kata‐
strophe keineswegs unvermeidlich, jedoch
wird sie ganz ohne Frage unvermeidlich
werden, ‒ trotz aller herrlichen Gebäude
und des ganzen von ihnen umschlossenen
Apparats, ‒ wenn nicht in letzter Minute
die Erkenntnis durchdringt, daß von neuem
begonnen werden muß, auf neuen Fundamen‐
69 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
ten! Wille zur Liebe kann auch hier noch
wahrhafte Güte erwecken! So töricht mein
Wort auch politischen Weisen klingen mag,
so sicher dürfen sie alle sein, daß jede bisher
geleistete Arbeit im Interesse eines Bundes
der Völker, in den Schüttstein geworfen wer‐
den darf, wenn nicht zuletzt noch, an Stelle
eines Scheinbundes gegenseitig sich mißtrau‐
ender Politiker, ein in menschlicher Güte
wurzelnder Bund leibhaftiger, einander in
seelischer Liebe verstehen wollender Völ
ker tritt! Solche Wandlung ist selbst heute
noch möglich! Ich rede hier allerdings nicht
als ein Mensch mit politischen Ambitionen,
denn alles, was mit Politik auch nur im ent‐
ferntesten zusammenhängt, war mir jeder‐
zeit fremder als fremd. Ich spreche hier
nur aus, was die Zukunft so oder so be‐
stätigt finden wird. Ich habe nicht von po‐
litischen Dingen, sondern von der ewigen
Liebe zu sprechen! Ich wüßte nicht, wie sie
mit Politik in dem verhängnisreichen
Sinne dieses Wortes, zu vereinigen wäre!
70 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Wohl aber weiß ich, daß Wille zur Liebe
politisches Streben dorthin zu bringen ver‐
möchte, wohin es im Grunde ja doch ver‐
langt und zu Zeiten sogar notgetrieben
drängt, ohne sein selbstgestecktes Ziel je‐
mals allein von sich aus ohne praktisch
geübte Liebe erreichen zu können.
.Ich will hier nicht nochmals begründen,
weshalb die Dinge so liegen, deren ich in
diesem Abschnitt gedachte, denn die in Frage
kommenden Begründungen sind bis zu den
letzten Einzelheiten ausführlichst in meinem
geistigen Lehrwerk gegeben, das der Struk
tur des ewigen Geistes ja nur deshalb Dar‐
stellung schuf, weil der Erdmensch außer‐
stande ist, die Begründung geistiger Forde‐
rung zu verstehen, solange ihm die Struktur
des ewigen Geistes nicht vorstellungsge
genwärtig ist. Daß die Vorstellungsbilder,
die im Umlauf sind, sich nur an sehr weni‐
gen Stellen mit den Konturen der Wirk‐
71 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
lichkeit decken, braucht nicht erst bewiesen
zu werden. Die drastische Folge ist, daß es
Einzelmenschen wie Völkern mehr und
mehr als ein vergebliches Bemühen er‐
scheint, nach gegenseitigem Verstehen zu
streben. Jeder Einzelne und jedes Volk
hängt an Vorstellungen, die viel zu ver‐
härtet sind, als daß sie noch gemeinsam
sich der ewigen Wirklichkeit angleichen
lassen könnten, ohne zu zerbrechen. Es gibt
aber kein dauerndes gütliches Miteinander‐
leben der Menschen auf Erden ohne ge‐
meinsame nachgiebige Bezogenheit auf das
für alle Ewig-Wirkliche!
72 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
VIERTER ABSCHNITT
.Jede sprachliche Formulierung ist für
mich eine rechte Qual. Die zweiunddreißig
einzelnen Schriften, in denen mein gesamtes
geistiges Lehrwerk umschlossen vorliegt, sind
überdies zumeist trotz vielen und schwer
überwindbaren äußeren Hinderungen
entstanden. Die einzelnen Lehrstücke und
Hilfstexte mußten in immer neuer Weise
die Offenbarung ewigen Geistes zur Darstel‐
lung bringen, die fordernde Ursache der Ver‐
kündung war, aber zugleich sollten sie der
Seele in solcher Weise dienen, daß jedem
Seelenzustand und jeder individuellen Sehn‐
sucht der Einzelseelen Genüge geleistet
würde. Es handelte sich nicht darum, ein
Lehrgebäude zu errichten, bei dem jedes neue
Stockwerk aus dem vorher erbauten erwächst,
oder das, was ich zu bringen hatte, durch
75 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
möglichst schlüssige „Beweise” gedanklicher
Art der Annahme zu empfehlen, sondern
darum: ‒ das, was sich offenbaren wollte,
in Reihen lebendiger Sprachdarstel
lungen aufzuzeigen. Was nicht sagbar war,
mußte durch Bild und Gleichnis gegeben
werden, und was auch Bild und Gleichnis
nicht umfassen konnte, in der weiteren
Spannung einzelner Abhandlungen oder er‐
zählender Stücke Ausdruck finden. Die Seele
des Lesers sollte nicht durch die Dar‐
legungen „überzeugt” sondern wiederer
weckt werden, durch Aufruf ihrer eigenen,
bis dahin noch schlafenden Erinnerung.
Das Geistmenschliche in mir hat wahrhaftig
nicht durch meine Verkündung zu einem
Glauben im Sinne eines Fürwahrhaltens
überreden und „bekehren” wollen, was mir
gleichzeitig auch in meiner allerirdisches
ten Menschlichkeit gegen allen Geschmack
gegangen wäre. Ich habe nie ein Wort nieder‐
geschrieben in der Absicht, „überzeugen” zu
wollen. Es muß der freien Entscheidung
76 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
jeder einzelnen Seele überlassen bleiben,
mein Lehrwerk anzunehmen oder abzuleh‐
nen. Sie allein kann auch entscheiden, was
von den einzelnen Lehrstücken speziell ihrer
Eigenart entspricht, und was offenbar an‐
derer Seelenart zubestimmt ist. Nur darf
das nicht zu der Meinung führen, man
könne sich das Lehrwerk auch dann noch
zu eigen geben, wenn man nach Gutdünken
sondere, was man annehmen und was man
ablehnen wolle! Wer auch nur ein einziges
wesentliches Wort dieser Lehrschriften seiner
eigenmächtigen Entscheidung zur Ausson‐
derung anheimgestellt glaubt, der erbringt
sich nur den Beweis, daß er dem Ganzen
noch nicht gewachsen ist, und würde viel
besser tun, das Ganze abzulehnen. Nur,
wenn man nichts davon fortnimmt und
nichts dazutut, kann ich für den Einzelnen,
dem es dienen soll, die ewige Verant
wortung für mein geistiges Lehrwerk tra‐
gen. Wo aber der Einzelne sich selber be‐
rufen meint, fröhlich aussondern zu dürfen
77 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
was ihm nicht gefällt, oder einzufügen, was
irgendwo in seinem Kopfe als Lesefrucht
von andern Lesegelegenheiten her verwahrt
ist, dort muß ich strikte meine Verantwor‐
tung entziehen! Da ich um jeden Erden‐
menschen bitter leide, der sein ewiges Ziel
versäumt, welcher Farbe, Rasse und Stufe
der Zivilisation er auch zuzuzählen sein mag,
so liegt mir gewiß der Wunsch nicht allzufern,
es möge jedem Menschen während seines
irdischen Daseins die Einsicht in sein Ewiges
werden, die jedem durch Aufnahme und Be‐
folgung der Schriften meines Lehrwerkes
allmählich erreichbar werden kann. Aber
dieser Wunsch ist nicht nur unerfüllbar,
sondern auch aller Eigensucht entrückt,
denn was ich geschrieben habe, wurde nicht
geschrieben, um den Schriften „Erfolge” zu
erringen, sondern damit es da sei für die,
denen zubestimmt ist, sich das Gegebene zu
eigen zu machen. In deutlichen Worten muß
ich immer wieder einzelnen Lesern meiner
Schriften sagen, daß sie mir keinerlei Ge‐
78 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
fallen tun, wenn sie mir den Glauben an
mein Lehrwerk und damit an mich, wie
eine liebe Freundlichkeit, die man mir sagen
will, bekennen, und daß sie mich ebenso‐
wenig „kränken” könnten, wenn sie mir mit‐
teilen wollten, sie hielten alles, was ich
geschrieben habe, für leere Worte und
wesenloses Hirngespinst. Aus rein sprach
lichen Gründen verwahre ich mich jedoch
gegen die unleidliche Redensart: man „stehe
in der Lehre”. Diese muffig konventikel‐
mäßige Phrase sollte wahrhaftig jedem Men‐
schen, der etwas von dem kennt, was ich
lehrte, wider den guten Geschmack gehen
und unaussprechbar sein!
.Daß nicht alles, was zu erörtern oder
zu beschreiben nötig war, von den Lesern
so aufgenommen werden darf, als ob es
wahllos jedem, der meine Anweisungen
befolgt, erreichbar wäre, liegt auf der Hand.
Diese Anweisungen sind jedem für ihre Be‐
79 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
folgung reifen Leser dargeboten. Wenn er
sie nicht eulenspiegelartig scheinwörtlich
nimmt, sondern sich von ihrem wirklichen
Sinn durchdringen läßt, ohne sie mit Vor‐
schriften zu vermengen, die ihm etwa von
anderer Seite her bekannt sind und für
deren Wert oder Unwert ich nicht bürgen
kann, dann wird er geistig erlangen was
ihm nötig und was seiner Art gemäß ist!
Um aber Einsicht in die geistigen Zusammen‐
hänge zu vermitteln, wie sie zu einer wirk‐
lichen Befolgung der gegebenen Weisungen
nötig ist, durfte ich nicht nur beschreiben,
was der Suchende für sich selber zu er‐
warten hat! Diese Einsicht ist ohne gerei‐
nigte und nach jeder Richtung hin richtig
bestimmte Vorstellungen von der Struktur
ewigen substantiellen Geistes unmöglich zu
erlangen, was mir, wenn ich wirksame Hilfe
bieten will, die Pflicht auferlegt, den Leser
in weitreichendem Maß an meiner eigenen
geistigen Erfahrung aus vorgeburtlicher wie
postnataler Existenz her teilnehmen zu las‐
80 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
sen. Es ist schon unstrittig schuldhafte
Torheit, wenn der Leser sich nun kurzer‐
hand mit dem ihm nur zur Förderung seiner
Erkenntnis Nahegebrachten einfach identi‐
fiziert, ja frischweg aus den ihm dargebotenen
Mitteilungen her Forderungen für sich selber
ableitbar glaubt. Abgesehen davon, daß es
auch im Außenleben töricht ist, nach Dingen
zu verlangen, die man nicht erlangen kann,
führt im Geistigen ein Fordern des Uner‐
füllbaren ‒ zum Sturz! Wenn es gut geht,
zum mindesten in ein Labyrinth von Selbst‐
täuschungen, aus denen erst nach vielen
Jahren ‒ vielleicht erst lange nach der Ab‐
kehr vom Dasein auf der Erde ‒ ein mühe‐
bringender Ausweg im Dämmerlicht später
Selbsterkenntnis entdeckt werden kann.
.Aber eine so „mechanische” Sache, wie
manche das Lehrwerk Begrüßende glauben,
ist das Befolgen seiner Anweisungen wahr‐
haftig nicht! Und dann ist auch diese Be‐
folgung ganz unmöglich, wo ein Mensch sich
81 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
vermißt, ihr „nur so nebenbei” gerecht‐
werden zu wollen. Wer nicht mit seinem
ganzen Menschtum ‒ mit Leib und Seele
‒ dem Bewußtwerden im Ewigen zustrebt,
der darf sich nicht wundern, wenn in ihm
alles bei zeitweilig aufleuchtenden Ahnungen
bleibt, die in Kürze wieder vom Dunkel ver‐
drängt werden und nicht mehr wiederkehren,
wie sehr auch nach ihnen gerufen wird. Wer
sein Suchen sachlich kühl wie eine Labora‐
toriumsarbeit betreibt und meinen Weisun‐
gen zu folgen glaubt, wenn er sie wie Rezepte
ausprobiert, der macht seine Sache ebenso
verkehrt wie einer, der sich in schwärme‐
rische Verzückungen treibt und nicht merkt,
daß er sich selber immer weiter entgleitet,
im Wahn, sich selber „begegnet” zu sein und
im Ewigen zu atmen! Wer aber noch siche‐
rer sein will, daß er sich Selbsttäuschungen
schafft, der braucht nur an meine Anweisun‐
gen heranzugehen ohne den Willen zur Liebe,
von dem ich im vorigen Abschnitt sprach!
Es ist schade um jede Mühe, wenn man
82 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
glaubt, man könne dem, was vom ewigen
Geiste erwartet wird, entsprechen, auch wenn
man den Kontakt, den allein geistige Liebe
zu erwählten Mitmenschen schafft, vom Rost
der Herzensträgheit zerstören läßt! Uner‐
bittlich wird im Geiste jeder Selbstbetrug
offenbar, durch den ein Mensch sein Ver‐
halten gegenüber anderen Menschen vor sich
selbst zu beschönigen sucht. Der Weg zur
Erkenntnis verläuft in gleicher Richtung
wie der Weg zur Liebe. Man kann nicht zur
Erkenntnis kommen, wenn man auf dem
Wege zur Liebe die umgekehrte Richtung
einschlägt, auch wenn man sich gut gerecht‐
fertigt glaubt! Jede ungenützte Gelegenheit,
einem Mitmenschen Freude zu bereiten, wirft
den Suchenden wieder und wieder zurück,
auch wenn er sich einreden mag, auf seinem
Wege zum Geiste erhebliche Strecken er‐
wandert zu haben! Die geistverlangte Hal‐
tung ist aber durchaus nicht schwer zu finden,
wenn man seinen Nebenmenschen ‒ liebt
„wie sich selbst”!
83 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
.Man darf aber auch nicht glauben, daß
man den Weisungen, die ich anzuraten habe,
nachkommen könne, wenn man ihre Befol‐
gung zu einem Scheingrund dafür werden
läßt, dem Alltag, vermeintlich mit Recht, zu
entziehen, was er zu verlangen hat. Mit
anderen Worten: ‒ es ist nicht nötig und
es geht nicht an, sein Tagewerk leiden zu
lassen, wenn man befolgen will, was nötig
ist, um dieses Tagewerk im Ewigen zu ver‐
ankern! Wer nicht sein äußeres Leben so
liebt, daß er ihm gewährt, was es von ihm
verlangt, der hat auch hier noch nicht die
Liebe in sich erweckt, die in ihm brennen
muß, wenn er sein ewiges Ziel dereinst er‐
reichen will. Was meine Lehrschriften raten,
will nicht als lebensgelöstes abseitiges Tun
betrachtet, sondern muß dem Weltleben ein‐
gewoben werden Tag um Tag und Stunde
um Stunde! Nicht neben und nach der
Arbeit des Tages soll man sich einer neuen
„Arbeit” im Sinne der durch mich vermit‐
84 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
telten Ratschläge widmen, sondern mitten
im regen Werktagsleben muß man an sich
geistig „arbeiten” lernen, und jede Tätigkeit
um des leiblichen Lebens willen wird dann
zu einer Quelle geistiger Erkenntnis werden!
Was ich zugleich für Stunden der Stille an‐
geraten habe, wird dem, der sein Werktags‐
tun vom Geiste durchdringen ließ und es
aus dem Geiste lieben lernte, wahrlich dann
Schätze zu geben haben, die keinem erlang‐
bar wären, der nur in ständiger Ruhe ver‐
harren wollte. Ruhe und Tat sind im Zu‐
stande ewiger Dauer ewig vereinigt. Die nur
der Ruhe ergebenen Träumer, die sich in
ewiges Bewußtsein einzuruhen glauben, sind
Gefesselte eines argen Wahns, der sie zwar
immer ungeheuerlichere Schemen ihrer un‐
gezähmten Phantasie gewahren läßt, aber un‐
fähig macht, das Göttliche noch jemals wahr‐
zunehmen. Der mitten im lauten Getriebe
einer heutigen Großstadt mit allen seinen
Kräften Tätige, der sein Tun dem Geiste dar‐
zubieten strebt, ist Göttlichem wahrhaftig
85 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
näher als ein Mensch, der sich vor allem
Zwang zum Tun versteckt!
.Wer dem zu entsprechen sucht, was meine
Ratschläge meinen, der wird bald gewahren,
daß auch seinem Werktagsleben ein Zustrom
an geistigen Energien kommt, von dessen Da‐
sein er vordem nichts ahnte. Der Ertrag jeder
irdischen Arbeit, die im Bewußtsein getan
wird, in ihr, ‒ mag sie noch so „geisttötend”
erscheinen, ‒ dem ewigen Geiste in sich zu
entsprechen und sich ihm durch sie zu einen,
erhöht sich deutlich sichtbar oder indirekt
und in der Folge für den so Handelnden,
wie die Menge des Saatgutes sich durch die
Aussaat in einem überreichen Erntejahr er‐
höht!
.Daß jeder derer, die Licht in die Dunkel‐
heit dieser Erde brachten, auf irgend eine
Weise auch leiblichen Tribut an die nächtige
Macht des „Fürsten der Finsternis” zu ent‐
richten hatte, ist nur durch die Weite des
86 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Wirkens der Tat dieser wenigen Einzelnen
provoziert, und hatte immer nur wenig mit
ihrem Dasein als Erdenmensch zu tun, das
gänzlich unbehelligt geblieben wäre, hätte
das zeitliche Fernsehen, das in der bezeichne‐
ten Naturmacht seine zentrale Stätte besitzt,
keine wesentlich über die Zeit des Erden‐
lebens der Wirkenden hinausreichende
Auswirkung gewahrt. Es scheint fast, als ob
man sich durch mich bestätigt sähe, wenn
man die Ursache unerfreulichen irdisch leib‐
lichen Schicksals in der Rache des Fürsten
der Finsternis gefunden sehen will, die dem
Streben nach dem Lichte gelte. Aber in meiner
Abhandlung „Der große Kampf”, die von
dieser Wesenheit handelt, steht kein Wort
von einer rächenden Einwirkung auf ir
disch leibliches Schicksal! Es ist aus‐
schließlich von innerem Kampfe und seeli
scher Gefahr die Rede, und auch hier wird
gezeigt, daß beide überwindbar sind. „Der
große Kampf” findet seinen Austrag aus‐
schließlich nur in der Seele, obwohl er
87 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
auchvon außen her”, sinnlich unwahr‐
nehmbar in die Seele hineingetragen wird.
Auf mich darf man sich wahrhaftig nicht
berufen, wenn man widriges Erdenschicksal
oder irgendwelche Leibespein gar zu billig
und abergläubisch als von dem geistfeind‐
lichen Herrn der Erde verhängte „Strafe”
deuten will! Nur ist solche bequeme Deu‐
tung sehr verhängnisvoll, weil der mit ihr
leicht-fertig Zufriedene sich selbst verhin‐
dert, nach den wahren Ursachen seines Un‐
gemachs zu suchen. ‒ Es ist die gleiche
Geschichte wie mit den „okkulten Angriffen”,
die manche erfahren zu haben meinen, seit
dem sie sich auf dem Pfade zum ewigen
Geiste fühlten. ‒ Man darf ganz sicher
sein, daß einer, der in solchem Zusammen‐
hang leichthin von „okkulten Angriffen”
redet, ‒ wobei er sich selbst sehr interes‐
sant vorkommt und es gar zu gerne auch
für andere wäre, ‒ keine Ahnung davon
hat, wie sich wirkliche okkulte Angriffe
vollziehen, und nicht ein einziges Mal in
88 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
seinem Leben einen erduldete, denn auch
der leichteste okkulte Angriff drängt den
von ihm Betroffenen einer Grenze des im
physischen Körper Ertragbaren zu, hinter
der nur noch Irrsinn lauert und Tod! Ich
bin noch keinem Menschen des Erdteils,
in dem mir mein Leib geboren wurde, be‐
gegnet, der fähig gewesen wäre, einen wirk
lichen okkulten Angriff abzuwehren. An
Opfern okkulter Angriffe fehlt es allerdings
in den Irrenhäusern und in den Leichen‐
hallen wahrhaftig nicht. Möchten sie eines
Tages seltener werden! Die rechte Befol‐
gung der von mir dargebotenen geistigen
Anweisungen, wie man zu seinem auch schon
hier erreichbaren geistigen Bewußtsein ge‐
langen könne, ist das wirksamste Mittel, um
die Zahl solcher Opfer zu verringern. So
sollte denn auch der „gesunde Menschen‐
verstand”, auf den man sich weitherum gar
zu gerne bezieht, wahrhaftig genügen, um
zu begreifen, daß dem Menschen, der sich
aus all seinen Kräften in Übereinstimmung
89 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
mit den Forderungen ewigen Geistes setzt,
die Aufgaben des irdischen Lebens in jeg‐
licher Hinsicht unvergleichlich leichter
lösbar werden als jedem seiner Neben‐
menschen! Voraussetzung bleibt freilich
immer, daß der Mensch nicht sich selber
betrügt. ‒ Wer da glaubt, er handle nach
meinen Anweisungen, während er nur nach
seinem eigenen Gutdünken handelt, für das
er bei mir sich Stützen und Krücken leiht,
der wird sich gewiß nicht zu denen rechnen
dürfen, auf die ein alter Wissender seine
Worte bezogen sehen wollte, als er verkün‐
dete: „Und wenn Tausende fallen zu deiner
Rechten und Zehntausende zu deiner Linken,
so wird es doch dich nicht treffen”,...
„der unter dem Schutze des Höchsten
wohnt!” Es wohnt durchaus nicht, wie so
manche selbstgerechten Frommen meinen,
‒ jeder unter diesem Schutz, sondern nur,
wer auf Leben und Tod sich der ewigen
Liebe anvertraut!
90 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
FÜNFTER ABSCHNITT
.Ich habe meinem gesamten geistigen
Lehrwerk den Namen seines letzten Bandes:
„Hortus conclusus” vorbehalten und das
Ganze zum Abschluß in diesem Namen zu‐
sammengefaßt, denn es ist wahrhaftig ein
„Hortus conclusus”, ‒ ein verschlossener
Garten, in den kein Mensch gelangt, wenn
ihn seine eigene geistige Führung nicht hin‐
einführt. Ich habe wohl diesen „Garten” an‐
gelegt und mit Liebe, Sorgsamkeit und Hin‐
gabe gepflegt, bis er herangewachsen war,
aber ich bin nur der Gärtner, nicht der Herr
des Gartens, und kann ihn keinem öffnen,
wenn er nicht von dem Herrn des Gartens,
‒ der mein ewiger Vater ist, ‒ erwartet
wird als Freund. Ich kenne die Freunde
meines Vaters in dem ich lebe, und meines
Vaters echte Freunde kennen auch mich und
93 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
wissen, wo ich zu finden bin, damit ich ihnen
öffnen könne. Wer aber kein Recht hat, in
diesen verschlossenen Garten zu gelangen,
weil er von meinem Vater nicht erwartet
wird, dem könnte ich nicht öffnen, auch
wenn ich gegen das Gebot verstoßen wollte,
das mir auferlegt ist!
.Mit anderen Worten gesagt: ‒ wenn
auch alle Schriften, die zusammen mein gei‐
stiges Lehrwerk ausmachen, öffentlich er‐
schienen und dort, wo man Werke des Geistes
sucht, zu kaufen sind, so wird doch keiner,
der diese Bücher erwirbt, ihre verborgenen
Werte erlangen, der dazu nicht bereits be‐
rufen ist! Er kann wohl die Worte lesen und
ihren Sinn sich deuten, aber dennoch wird
er nicht fassen, was er hier fassen lernen
könnte, wenn er bereits dazu berufen wäre.
.Nun ist aber in meinen Schriften zugleich
alle Anleitung enthalten, wie ein Mensch zu
der hier gemeinten Berufung gelangen
94 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
kann, und was hier in Betracht kommt ist
jedem Leser verständlich, wie auch Bäume
und Gebäude eines verschlossenen Gartens
denen sichtbar sein können, die noch keinen
Einlaß haben, um sich auf den Wegen des
Gartens in seine Tiefen zu verlieren. So ist
dennoch die Möglichkeit gegeben, daß man
mein geistiges Lehrwerk deuten lerne, noch
in dieser Erdenzeit. Nur muß solche Deu‐
tung von innen her erfolgen und ist nicht
durch Bitten oder Fragen zu erhalten. Ich
kann wahrhaftig keinen in mein geistiges
Lehrwerk einführen, mag er auch alle meine
Schriften besitzen und kennen, wenn er
nicht selbst sich dazu bereitet, daß man ihm
innerlich zu eröffnen vermag, was ihm
derzeit noch verschlossen ist.
.Obgleich dieses geistige Lehrwerk voll
Ehrfurcht im Dienste ewigen Offenbarungs‐
willens erwachsen ist, blieb dennoch viel
mehr Inhalt in Verborgenheit, als offenbar
95 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
werden konnte. In den Schlußrhythmen des
„Buches der Königlichen Kunst”, ‒ das in
hohen symbolischen Bildern vom Wege zum
Geiste spricht und bereits alles im Lichte
aufleuchten läßt, was dann in den anderen
Schriften der Seele im Einzelnen von allen
Seiten her erkennbar wird, ‒ habe ich
darauf hingewiesen, daß die mir im Geiste
Vereinten, ja im Geiste mit mir bis zur
Identität Verschmolzenen doch in ihrem
Irdischen zuerst den Gedanken nur schwer
ertrugen, daß da nun im Westen durch den
Buchdruck jedem der lesen könne, ohne
jede Erprüfung dargeboten werden solle,
was sie selbst gewohnt waren, erst nach
härtesten Prüfungen den dafür Vorberei‐
teten mitzuteilen. An gleicher Stelle ist je‐
doch sodann ausgesprochen, wie diese mir
wahrhaftig auch aus dem Fühlen meines
Blutes wohlverständliche Besorgnis entkräf‐
tet wurde durch die Erwägung, daß man
mit Namen nennen kann, was verborgen
ist, ohne es denen offenbart zu haben, denen
96 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
es noch nicht offenbar werden kann. ‒ Es
ist im Grunde die ewige Erkenntnis selbst,
die alle Offenbarung bewirkt, und nicht etwa
der Bildner der Texte in denen sie beschlos‐
sen bleibt für alle, denen sie nicht selbst
sich offenbaren will.
.Dahinter steckt keinerlei Geheimnis‐
krämerei, und nichts liegt mir ferner, als
das Bestreben, den von mir verfaßten Schrif‐
ten einen mysteriösen Nimbus anzudichten!
Sie haben das auch wahrhaftig nicht nötig,
denn sie sind selbst Mysterium und leuchten
aus ihrer eigenen Lichtesfülle. Ich kann nur
immer wieder vor der Torheit warnen, die
da vermeint, den „Inhalt” dieser Schriften
erfaßt zu haben, weil die Worte dieser
Schriften gelesen wurden. ‒ Man kann
sie hundertmal „lesen”, ohne ihren Inhalt
auch nur zu ahnen, weil der erst dann
sich mitteilt, wenn der Lesende sich vor‐
her selbst zu seiner Aufnahme bereitet hat.
Ein volles Gefäß kann nichts anderes in sich
97 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
aufnehmen, als was es bereits in sich umfaßt.
Erst muß darum der Leser zur Leere kom‐
men, bevor er die Lehre meiner Schriften
in sich aufnehmen kann! Erst muß er sich
selber gereinigt haben, ehe die reinste
Erkenntnis, die in den Schriften meines
geistigen Lehrwerkes sich verbirgt, ihn zu
erfüllen vermag! ‒ Das ist kein Spiel mit
Worten, sondern nüchterne Feststellung.
.Man kann auch nicht durch „Hinter‐
türen” in den „verschlossenen Garten” ge‐
langen! Es nutzt nichts, daß man alte und
neuere mystische Schriften, alte und neuere
Philosophen, oder gar noch okkultistische
Bücher befragt um seinen Blick zu schärfen
für die Dinge, die in meinen Schriften
stehen, ohne daß sie einer finden könnte,
der nicht dazu berufen ist. Wer solcher Be‐
rufung teilhaft werden will, der muß nicht
nur leben, wie ich ihn leben lehre, und tun,
was ich ihm zu raten habe, sondern auch
98 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
tagtäglich wieder und wieder ohne Ungeduld
die Seiten meiner Lehrschriften abfragen,
die ihm noch so vieles verbergen, daß er
später kaum fassen kann, wie ihm vormals
verborgen sein konnte, was ihm dann son‐
nenklar entgegenleuchtet, wenn er die glei‐
chen Sätze liest. Das ist eine Erfahrung, die
jeder macht, der sich zu den Schriften meines
Lehrwerkes hingezogen fühlt, auch wenn sie
ihm längst mehr zu geben haben, als was
er von ihnen zu erhalten erwartet hatte. Und
es gibt kein Gebiet des irdischen mensch‐
lichen Lebens, für das nicht Rat und Hilfe
aus diesen Büchern zu holen wäre. Weit
mehr, als nach Buch- und Kapitelbezeich‐
nung jemals erhofft werden dürfte! Ich sage
das nicht nur ohne die leiseste Regung zu
Ruhmredigkeit, sondern auch fast ohne
Wissen um meine Autorschaft, wie wenn
ein Fremder das geschrieben hätte, dem ich
Formung geben durfte. Freilich kann ich
nicht verhüten, daß ich darum weiß, was
dieses geistige Lehrwerk umschließt, und
99 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
was daher in ihm zu finden ist. So wäre
unnatürlich, wollte ich nicht, daß es mög‐
lichst viele meiner Mitmenschen schon in
ihren Erdentagen fänden. Ich habe wahr‐
haftig dieses Findenkönnen, soweit es an
mir lag, so leicht gemacht wie ich konnte,
und ich suche es ja auch hier durch dieses
Kodizill zu meinem geistigen Nachlaß noch
zu erleichtern. Das ist wahrhaftig der einzige
Grund, der mich veranlaßt hat, das was hier
zugefügt wird, noch aufzuzeichnen, und ich
wüßte keinen anderen, der mich noch zu
dieser Niederschrift nach dem Abschluß des
Lehrwerkes hätte bestimmen können. Das
Wesentliche muß aber der Leser tun, und
wie er es tun kann, habe ich ihm hier noch‐
mals gezeigt.
.Nur in äußerem Zusammenhang sei hier
der Zuschriften gedacht, die mir entweder
in recht wenig erfreulichem Gönnerton mit‐
zuteilen pflegen, man habe sich die Sache
100 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
etwas kosten lassen und sich für „die teurere
Halblederausgabe” der Bücher entschieden,
oder aber ‒ unverblümt ihrem Befremden
Ausdruck geben, daß ich mir meine Unter‐
schrift „so hoch bezahlen” ließe. Allen diesen
guten Leuten sei hier zu ihrer besseren
Orientierung gesagt, daß mein Honoraran‐
teil an den Büchern, den ich im Erdenda‐
sein nicht entbehren kann, so gern ich auch
auf ihn verzichten möchte, und so wenig er
gesammelt ergibt, lediglich nach dem Laden‐
preis errechnet wird, den eine broschierte
Ausgabe kosten würde, wenn es eine solche
gäbe, und daß sich dieser Anteil weder bei
Leinen- noch bei Halbledereinband erhöht,
da diese dem Verlag ja nur Mehrkosten berei‐
ten. Meine Unterschrift aber erfolgt selbstver‐
ständlich ohne jegliche Honorierung und
verursacht mir nur die zusätzliche Mühe
neuer Verpackung wie die Kosten und Um‐
stände der Rücksendung. Damit dürften die
wunderbaren Errechnungen, die nach den
Preisverzeichnissen meiner Bücher ‒ offen‐
101 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
bar an vielen Orten! ‒ vollzogen wurden,
wohl endlich richtiggestellt sein. Ich muß
diese Dinge für alle Zukunft ausgesprochen
haben, denn ich bin es dem Offenbarungs‐
willen im ewigen Geiste, der alleinige Ursache
meines Lehrwerkes ist, in meinen Erdenta‐
gen schuldig, dafür zu sorgen, daß dieses
geistige Lehrwerk nicht in den Ruf kommt,
es sei um des Geldes willen entstanden.
Zugleich aber muß ich zu bedenken geben,
daß doch die Anzahl signierter Sonder‐
exemplare in jedem Einzelfall mit Absicht
so klein gehalten wird, daß aus diesen Vor‐
zugsausgaben für bibliophil interessierte
Leser unmöglich nennenswerte Gewinne für
Autor und Verleger erwachsen könnten!
.Ich besitze keine Erdkrume des Bodens,
auf dem ich mietweise wohne, und die Kon‐
zentration auf die Niederschrift meines Lehr‐
werkes ließ wahrhaftig keinen Erwerb irdi‐
scher Güter zu. Damit aber dieser kleinen
Abschweifung auch der Humor nicht fehle,
102 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
sei sie abgeschlossen mit dem Bericht, daß
mir auch zuweilen in aller Unschuld Briefe
geschrieben wurden mit Bitten, dies oder
jenes in meinen Büchern doch ein wenig
abzuändern, da ich „bei nochmaligem Über‐
legen” sicher zu Resultaten käme, die der
Meinung des Lesers „Recht geben” müßten...
.Daß Leser, die sich zu solchen Äuße‐
rungen gedrängt sehen, noch keinen Hauch
des Geistes verspüren, der das Lehrwerk ver‐
anlaßt hat, dem ich die sprachliche Form
geben mußte, wird allen, dem Gegebenen
etwas näher gekommenen Freunden des
Werkes gegenüber nicht erst „zu beweisen”
sein. Wer in solcher schiefen Einstellung
seines Denkurteils an die Bücher heran‐
kommt, der wird recht lange Zeit brauchen,
um zu entdecken, daß er hier nicht vor will‐
kürlichen Mitteilungen steht, und daß er den
Autor allein aus dem durch ihn Gestalteten
103 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
erspüren könnte. ‒ Es wäre für solche Leute
besser, sie würden nicht eine einzige von mir
niedergeschriebene Zeile lesen, weil sie dann
wenigstens ohne Verantwortung vor ihrem
Ewigen blieben! Wer das geistige Lehrwerk,
das hier in Rede steht, einmal kennt, auf
dem liegt Verpflichtung, die Erfüllung er‐
wartet. Verpflichtung gegenüber sich selbst!
Es war kein „Zufall”, daß er diesen Bü‐
chern im Bereich seiner Sprache begegnen
mußte, so zufällig ihm auch vielleicht die
Begegnung erschien, da ihm ja in Wahrheit
etwas zu-gefallen war, von dem er vordem
nichts wußte, und dessen Wert für ihn er
vorerst noch nicht abschätzen konnte. Die
hier gemeinte Verantwortung wird niemals
als eine Last zu empfinden sein. Darum muß
ich die Leser dieser Bücher bitten, ihre Ver‐
antwortung sich selbst gegenüber nicht zu
vergessen, auch wenn sie auf ihren Schul‐
tern kaum zu spüren ist, denn sie ist nicht
minder bedeutsam, als wenn ihre Schwere
den Träger keuchen lassen würde! Leider
104 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
kommt diese Verpflichtung gegen sich selbst
den wenigsten Lesern von sich aus in den
Sinn, obgleich fast jede Seite, die ich ge‐
schrieben habe, dazu Anlaß geben sollte,
sich zu fragen, ob man weiterhin nicht vor
sich verpflichtet sei, aus dem Gelesenen auch
Konsequenzen für sich abzuleiten. Viel
lieber nimmt man meine Ratschläge hin wie
die Aufgaben eines Schulungskurses, in dem
man „Fortschritte” zu machen sucht, oder
sich quält, wenn sie zuweilen auf sich warten
lassen. Aber diese Art, meine Weisungen
zu verwenden, ist leider ‒ ihr Mißbrauch,
und kann nicht dahin führen, wohin ich
den Weg durch mein Werk neu bereitet
habe! Diese unerfreuliche, gleichsam alt‐
kluge Art, vermeintlich „in der Lehre zu
stehen” ‒ wie man das immer wieder in
seltsamer Geschmacksbescheidenheit nennt,
ist ein Erlebenwollen neben dem Leben,
während mein Lehrwerk gegeben ist, um
das Leben leben zu lernen! Alles, was ich
anrate, soll das Leben bereichern! Es darf
105 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
nicht ein Faden vermeintlichen Erlebens
neben dem Leben gesponnen und auf se‐
parater Spindel aufgewickelt werden, in der
irrigen Meinung, so würden meine Wei‐
sungen befolgt!
.Alles, was ich in meinem geistigen Lehr‐
werk gegeben habe, lehrt die Liebe zum Leben.
Man wird einst auf der anderen Seite wenig
Anlaß haben, sein Weiterleben zu lieben,
wenn man sein Leben ‒ wie es auch sein
mag ‒ hier auf dieser Seite nicht liebt!
Selbst einer, der weiß, daß er in wenigen
Minuten diesen Erdenkörper verlassen muß,
wird noch gut tun, in diesen letzten Augen‐
blicken dem Leben Liebe zu erzeigen. Dem
gleichen Leben, das er vorher vielleicht hun‐
dertmal verfluchte, trotz aller Angst, es wirk‐
lich zu verlieren! Wer so sehr das Leben
zu verlieren fürchtet der „braucht” zwar
das Leben, auch wenn er es nur zum Miß
brauch braucht, aber ‒ er hat das Leben
106 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
niemals geliebt! Wie sollte er auf der an
deren Seite des Lebens urplötzlich das Leben
lieben lernen?! Wie sollte er in derer Be‐
wußtseinsreich gelangen, die dort das Leben
lieben in lichter Glut!? Wie sollte sein eigenes
Leben nunmehr in der Liebe leuchten, da
es nie in ihm Liebe fand!? Er wird auch
auf der anderen Seite das Leben nur „brau‐
chen” und dann kaum ertragen, daß es sich
nicht durch ihn verbrauchen läßt... So
ist aber auch hier auf Erden kein geistiges
Licht zu erlangen ohne glühende Liebe
zum Leben! Es ist ein schrecklicher Irrtum,
dem jene erliegen, die meinen, sie müßten
die Liebe zum Leben ertöten, um „in den
Geist” zu kommen! Unsagbares ist durch
solchen Wahn an Erdenmenschen gesündigt
worden! Freilich hervorgerufen durch den
anderen Wahn, als ob Liebe zum Leben
gleichbedeutend sei mit Versinken in tier‐
menschlichen Gelüsten und Affekten. Davon
aber kann keine Rede sein! Auch wer in
den Lüsten des Tiermenschlichen versinkt,
107 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
der liebt das Leben nicht, das ihm in seinem
tierhaften Leibe anvertraut ist, sondern läßt
sich vielmehr nur von dem, was er lenken
und leiten sollte, dorthin treiben, wohin er
im Grunde nicht einmal wirklich will, ‒
und darum kann er das Leben nicht wahr‐
haft lieben, das ihm erst liebenswert er‐
scheinen würde, hätte er es für alle Dauer
in seiner Gewalt.
.Mein geistiges Lehrwerk lehrt weder
Askese, noch begünstigt es ungebändigten
Sinnenrausch, wobei hier durchaus nicht
nur an Sexualität zu denken ist, ‒ weder
im Sinne der Verneinung, noch dem unge‐
bändigter Triebhaftigkeit. Alle Erlebens‐
möglichkeit auf Erden, die dem Menschen
Kraftquelle werden kann zur Erkräftigung
seines Seelenlebens, kann leider ebenso‐
wohl in einer anderen Weise ausgenützt
werden, die zu seelischer Not, ja zum Be‐
täuben und Ersticken der Seele führt. Wenn
108 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
ich von der Liebe zum Leben spreche, so
will ich den Willen im Leser wecken, seiner
Seele Nahrung zu schaffen aus dem Leben
hier auf dieser Erde. Darum lehre ich den
Willen zur Freude! Darum zeige ich, wie
alles Geschehen im irdischen Leben das
rechte Beten lehren kann! Darum ist allem,
was ich lehre, alles Leben dieser Erde ein‐
bezogen, wie immer es dem Menschen in
seinen Bereichen hier erlebbar werden mag!
Man lese selber im „Buch vom Jenseits”
nach, was ich aus geistiger Urerfahrung über
die Identität des Lebens, ‒ werde es nun
als „Diesseits” oder als „Jenseits” in der An‐
schauung erlebt, ‒ zu sagen habe! Was
dort gesagt ist, will Aberglaube und Irrtum
aus dem Wege schaffen, damit die Seele
sich auch hier auf dieser Erde dem gleichen
Leben anvertraut wisse, das ihr ewig er‐
halten bleiben soll. In dieser Identität des
Lebens hier im Irdischen wie in allen nach‐
irdischen Bewußtseinsreichen ist alles, was
ich zu lehren kam, gegründet! Der Mensch
109 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
dieser Erde ist nur eine untergeordnete, tier‐
gebundene Art des ewigen geistigen Men‐
schen, aber unausgesetzt, wenn auch un‐
bewußt, mit jedem, auch dem höchsten
Menschtum in innerster geistiger Verbindung,
mag er sich ihrer würdig erweisen oder nicht.
Soweit er ahnend erfühlt, daß sein Erden‐
leben nur ein kleines Teilstück des Le‐
bens ist, nennt er das ihm noch unbekannte
andere Leben „jenseitig”, aber sehr wenigen
nur kommt zu Bewußtsein, daß alles irdi‐
sche Erleben nur ein physisch-sinnliches
Gewahren des gleichen Lebens ist, das
als „Jenseits” geahnt, geglaubt oder emp
funden wird, und zugleich jeglicher erd‐
menschlicher Willenswirkung letzte Folge
in sich verwahrt.
110 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
SECHSTER ABSCHNITT
.Ich weiß um eine Zeit, da es mir wahr‐
haftig noch überaus unbehaglich war, meinen
Mitmenschen bekennen zu müssen, daß mir
im ewigen Geiste wohlvertrauter Besitz ist,
was ihnen unmöglich während der irdischen
Lebenszeit bereits zugänglich werden könnte.
Dieses Unbehagen war um so heftiger, weil
meine irdisch ererbte, Wald und Feld ent‐
sprossene Natur allem sich selbst Voran- und
Hinausstellen geradezu grimmig entgegen‐
gerichtet ist, und sich mit allen Kräften
wehrt, wo immer ihr abgezwungen werden
soll, aus ihrer Reserve herauszutreten. Ich
habe es wahrlich niemals irgendwo erstrebt!
So war es mir aber auch lange Zeit hin kaum
erträglich, daß mir verwehrt sein sollte, mei‐
ner irdischen Neigung entsprechend, alle mit
mir im ewigen Geiste Identischen, ‒ alle
113 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
„eingeborenen” Söhne des Vaters, ‒ soweit
sie noch im sichtbaren Erdenkörper lebten
und leben, mit ihren irdischen Namen nen‐
nen zu dürfen und ihre irdischen Wohn‐
stätten postgenau bezeichnen zu können, denn
dazumal fehlte es mir sehr empfindlich, daß
ich vor meinen anderen Mitmenschen nicht
wenigstens meine Person durch eine all‐
gemein nachprüfbare äußere Bestätigung aus
aller Diskussion gezogen sehen durfte. Es
hat recht lange gedauert, bis ich fassen konnte,
daß ich mich selbst allein bestätigen müsse
vor den Menschen, und durch mein eigenes
Wort für mich Zeugnis abzulegen gezwungen
sei. ‒ Selbst das Evangelienwort: „Wenn ich
für mich selber Zeugnis gebe, so ist mein
Zeugnis wahr, weil ich weiß, woher ich ge‐
kommen bin, und wohin ich gehe; ihr aber
wißt nicht, woher ich komme, oder wohin ich
gehe.” Joh.8,14, konnte mir die irdische
Tröstung nicht bringen, die mir im Äußeren
vonnöten gewesen wäre, ‒ und wenn ich
mir auch selbst sagte, daß einer, der meinen
114 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Worten nicht zu vertrauen vermöge, auch
keinem Worte derer Vertrauen schenken
würde, die in meinen Worten mit mir ver‐
eint, durch mich bereits zu ihm sprechen,
so blieb mir das doch nur ein im irdischen
Alltag allzu wenig befriedigender Trost.
Wenn es mir aber seinerzeit hart und grau‐
sam erschienen war, daß man mir so sorglich
jede Möglichkeit verwehrte, im Außenleben
Daten zu sammeln, auf die ich notfalls mich
hätte berufen können, so bin ich heute nur
dankbar für solche Bewahrung vor nicht
mehr zu tilgender Schuld, wie sie durch
Preisgabe der Verborgenen, die sich selbst
im Äußeren nicht der Welt offenbaren kön‐
nen, entstanden wäre, mich niedergeworfen
und zertrümmert haben würde, ohne an‐
deren das Geringste zu helfen. Es blieben
mir Momente nicht erspart, die einen Wider‐
stand gegenüber guten Verstandesgründen
erfordert hätten, den der äußere Mensch am
Ende doch in seiner ihn quälenden Bedrän‐
gung nicht mehr aufgebracht haben würde,
115 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
so daß mir heute das ehedem nicht Gewährte
so wenig verlangenswert erscheint, daß ich
darum bitten müßte, mich um des Himmels
Willen nicht damit zu belasten, falls man
nunmehr die Besorgnis nicht mehr für nötig
halten wollte... Glücklicherweise ist solche
Entscheidung nun mir allein überlassen!
.In ähnlicher Weise, wenn auch durch we‐
sentlich andere Notwendigkeiten bestimmt,
bin ich gezwungen, dem Leser der Bücher
meines geistigen Lehrwerkes um seinetwillen
manches verborgen zu halten und auf manche
„Erklärung” des Dargebotenen zu verzichten.
Ich bin allerdings der mir ja von meinen
früheren Tagen her nur zu gut bekannten
Sucht des Verstandes, alles „erklärt” zu sehen,
dennoch bis zur alleräußersten Grenze des
noch Verantwortbaren entgegengekommen,
was freilich keiner bemerkt, der diese Grenze
nicht kennt. Man sollte aber dessen dennoch
bei der Aufnahme meines Lehrwerkes ein‐
gedenk bleiben, auch wenn man das Mit‐
116 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
geteilte nicht selbst überprüfen kann! Es
läßt sich so manches nicht vorher überprüfen,
was nachmals recht spürbar zu werden ver‐
mag. Es ist zwar nichts gegen das Suchen
nach Erklärung für die Dinge, die dem Erd‐
menschen nicht durchsichtig und verstehbar
sind, zu sagen, aber dieses Bedürfnis nach
„Erklärung” ist lediglich in der tiermensch
lichen Natur begründet und hat mit der
ewigen geistsubstantiellen Seele nicht
das mindeste zu tun. Es entspricht vielmehr
durchaus der Neugier der Tiere, wenn auch
auf einem dem Menschen vorbehaltenen
höheren ‒ oder genauer gesagt: ‒ durch
seine Fähigkeit, auch abstrakt denken zu
können, bestimmten Niveau. Erklärungsbe‐
dürfnis ist ein niederes, lediglich gehirn
liches Verlangen, und darf nicht mit Sehn‐
sucht nach geistiger Erkenntnis verwechselt
werden! Jede „Erklärung” weckt neue „Fra‐
gen”, es sei denn, das Gehirn beruhige sich
freiwillig, oder seiner Unzulänglichkeit für
wirklich geistige Einsichten bewußt, bei
117 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Axiomen. In der Struktur des ewigen Geistes
gibt es das nicht, was man im gehirnlichen
Bereich „Erklärung” nennt! Hier wird er
kannt, aber nicht „erklärt”! Erkenntnis
weiß sich fraglos begründet im L e b e n
ewigen Geistes, unabhängig von erdach
ter Begründung. Wo Erkenntnis erreicht
ist, hört jedes Bedürfnis nach „Erklärung”
auf. Die Klarheit wirklicher Erkenntnis be
darf keiner weiteren Er-klärung und steht
hoch über allem, was sich „erklären” lassen
könnte. Mein geistiges Lehrwerk aber ist
gegeben um zur Erkenntnis zu führen,
‒ nicht um die Dinge geistigen Lebens
zu ‒ „erklären”! ‒
.Man sage sich los von dem verhängnis‐
vollen Drängen nach „Erklärung”, wenn man
den hohen Kräften des Erkennens erreich‐
bar werden will! Erkenntnis wird nur dort
erlangt, wo das Verlangen nach „Erklärung”
im Menschen überwunden ist. Die Frage
„Warum?” ist ein Überbleibsel aus chthoni‐
118 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
scher, erdgefesselt nächtiger Vorzeit, und ist
nur dort noch angebracht, wo der Mensch sich
um Aufdeckung mechanistischer Zusammen‐
hänge müht! ‒ Im Vokabular der suchen‐
den Seele, die nach dem Bewußtwerden im
ewigen substantiellen Geiste strebt, ‒ nach
dem Leben in Gott, ‒ darf dieses Wort
nicht mehr gefunden werden! Wer anderes
lehrt, ist ein Täuscher der Seelen, auch wenn
er fest an seine Weisheit glaubt und ehrlichen
Herzens helfen will! ‒ Nie könnte ein Erden‐
mensch zur Erkenntnis kommen, wenn es
vonnöten wäre, erst allem „Warum?” eine
Antwort zu finden, denn auch hinter der
letzten Antwort erhebt sich neue Frage.
Hier ist die Ur-Schuld zu finden, die jeder
Mythos von einem ersten Fall in die Sünde,
das ist: ‒ in ein geist-widriges, gott-ab
gewandtes Verhalten, ‒ aufzeigen will!
Längst glaubt der Mensch der jüngeren Zeit,
wenn nicht Religionsbekenntnis ihn noch
bindet, solchen Mythen hoch sich überhoben,
und es ahnen nur wenige, was diese Ge‐
119 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
staltungen weit höherer Einsicht als sie selbst
heute besitzen, für alle Zeiten der Seele zu
verwahren suchen. „Gott sprach” ‒ will
besagen: Gott ließ den Menschen erkennen
und sprach aus eines Leuchtenden sprechen‐
dem Mund. Wo aber der Mensch das „Gebot”
übertrat, dort handelte er entgegen der ihm
gewordenen Erkenntnis. Es ist die im wört‐
lichsten Sinne des Wortes „un-schuldige”
Tierseele, die im Kinde tausende Male
„Warum?” fragt und jedesmal ein „Weil!”
erwartet. Unzählige Menschen bleiben ihr
ganzes Erdenleben lang ihrer Tierseele hörig,
und nur verhältnismäßig wenige lernen all‐
mählich ihre ewige, geistsubstantiell im lau‐
teren Lichte lebendige Seele kennen. Diese
ewige Seele aber kennt kein „Warum?” und
„Weil!” aus eigenem Bedürfen, wohl aber
weiß sie den Drang der Tierseele mitzufüh
len und in deren Unvermögen zur Erkenntnis
begründet. So sucht sie selbst diesem Drang
zu geben, was ihm gegeben werden kann,
um ‒ ihn zurückzudrängen, damit
120 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
sie der Tierseele Vertrauen finde und willige
Einordnung in die Planung ewigen Geistes‐
willens im Menschen dieses Planeten, dem
niemals durch „Erklärung” die Befreiung
aus der Hörigkeit unter der Tiernatur kom‐
men kann, sondern nur durch Erkenntnis.
.Erkenntnis im ewigen Geiste ent‐
stammt aber wahrlich anderen und uner‐
meßlich höheren Regionen als das, was
man in den Bezirken irdischen Denkens
und gehirnlichen Forschens wohl auch ge‐
wohnterweise als „Erkenntnis” bezeichnet.
Erkenntnis im ewigen Geiste ist eine leben‐
dige, ihrer selbst, auch außer dem Bewußt‐
sein des Erdenmenschen, bewußte Kraft, die
ewigem Geiste entstrahlt, und wie das Ur‐
gute selbst, alles Gute, alle Liebe und alles
Lichte in sich umfaßt. ‒ Was hier gemeint
ist, hat nichts zu tun mit den Denktriumphen,
die das manische Grübeln überzüchteter öst‐
licher Gehirne schon vor Jahrtausenden als
121 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
„Erkenntnis” pries! Erkenntnis im ewigen
Geiste ist ein Ewiges, das sich im Zeitlichen
menschlichem Bewußtsein zu eigen gibt.
Nichts, was durch Folgerungen aus Gedanken
entstanden ist! Nichts, was durch Denken
etwa zu „beweisen” wäre oder solchen Be‐
weises bedürfte! Aber nach dieser Erkennt‐
nis verlangt alles Sehnen im Menschen, auch
dann, wenn sein Denken alle Reiche der
äußeren Natur und gedanklicher Spekulation
durchwandert, oder die Meere der Gedanken,
die jemals von Menschen gedacht worden
sind, mit geschwellten Segeln durchfährt.
Was immer auch an „Erkenntnissen” auf
diesen Fahrten und Wanderungen erlangt
werden mag, ‒ stets ist solche „Erkennt‐
nis” nur Feststellung. Aller Freude dieses
„Erkennens” folgt die Resignation und das
Bedauern, daß man am Ende ist, wo man
seinem Streben noch lange kein Ende setzen
würde. Nicht in der Weise solchen Forschens
und Denkens wird man meinem geistigen
Lehrwerk begegnen dürfen, wenn man er‐
122 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
langen will, was es darzubieten hat! Darum
warnte ich auf so manchen Seiten dieser
Bücher ebenso vor dem unfruchtbaren ge
danklichen Zerspalten wie vor dem bloßen
Einsammeln dessen, was in ihnen zu finden
ist. Wenn nicht ohne Grübeln und Speku‐
lieren aufgenommen wird, was bei dem Leser
Aufnahme erwartet, dann kann es sein Bestes
nicht bei ihm lassen. Er liest und merkt nicht,
daß er nicht das, was ich niedergeschrieben
habe, sondern ‒ seine eigenen Gedanken
liest, so wie sie eben meine Worte in ihm
erregten. Eine Anregung zu Abwandlungen
eigener Gedanken kann freilich aus jedem
Satz eines jeden Autors kommen, aber es
ist nicht der Zweck meiner Schriften, den
Leser zum Weiterdenken zu überreden, auch
wenn sie gewiß genügend dazu Anlaß geben
können. Wie der Sand, den die Gold‐
wäscher sieben, gewiß noch zur Mischung
guten Mörtels gebraucht werden könnte, in‐
dessen man ihn beiseite läßt und nur das
gefundene Gold verwahrt, so handelt es sich
123 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
auch in meinen geistigen Lehrschriften wahr‐
haftig um anderes, als um Anregungen des
Denkens! Dieses Andere ist in erster Linie,
‒ da es das Nötige, Unerläßliche ist, aus
dem alles Weitere erwächst, ‒ die Erwirkung
der Erkenntnis im ewigen Geiste, die mit
Sicherheit erfolgt, wo die Lehre das Leben
durchdringt und nicht nur das Gehirn!
.Ist es einmal dem Leser gelungen, die
rechte Weise des Lesens zu finden, in der die
Bücher dieses geistigen Lehrwerkes gelesen
sein wollen, so wird er sehr bald entdecken, daß
sie ihm die Schätze ihrer Texte nur dann zu
eigen geben können, wenn er auch dort, wo
Notwendigkeit verlangt, daß er sein Fragen
zügle, sich zu meistern weiß. Er wird dann bald
nichts mehr zu fragen haben, da er Erkennt‐
nis erlangte, die keine Frage mehr in der
Seele findet! Es handelt sich, wie ich oft genug
betont haben dürfte, um ein Werden, nicht
um ein Wissen! Inhalt und Form meiner
124 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Bücher, die das Lehrwerk bilden, schließen
sich zusammen, um den Leser das werden
zu lassen, was er sein muß, wenn er zur Er‐
kenntnis im Ewigen kommen soll. Anders
ist das nun einmal hier auf Erden unerreich‐
bar, und der Leser schädigt sich selbst, wenn
er meine Worte mit seinen schweifenden Ge‐
danken mengt, die allzumeist nicht einmal
die seinen sind, auch wenn er längst ver‐
gessen hat, aus welcher obskuren Küche sie
ihre Nahrung empfingen, bevor er ihnen
Obdach und Nahrung bot. ‒ Lernt lesen,
wie man meine Bücher lesen muß. Ihr
werdet es nicht bereuen! Es ist unmöglich,
das, was diese Bücher vermitteln können,
zu empfangen, wenn man sie wie die Zei‐
tung liest, oder wie Eisenbahnromane! Vor
allem muß man ihnen Zeit geben, in die
Seele einzudringen, um die der Staub so
mancher Nichtigkeit eine dicke Hülle legte.
Je ruhiger der Leser während dieser Zeit
seine Gedanken hält, desto eindringlicher
wird ihm bewußt, was zu ihm gekommen
125 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
ist. Das alles ist von vielen lange schon und
oft erprobt, doch dürfte es vielen anderen
immer noch anzuempfehlen sein.
.Ich sehe auch viele, die sich mir zu‐
gehörig und bei mir geborgen glauben, aber
nur sich selber meinen, wenn sie den Namen
nennen, der mich im Geiste bezeichnet. Sie
glauben in vermessenem Glauben, daß ihnen
alles zu eigen sei, was sie hier auf Erden
sich zu eigen geben, und ahnen nicht, daß
sie dereinst vor der Frage stehen werden,
‒ mit welchem Rechte sie sich dessen be‐
dienten, was ihnen nicht zugehörte... Ich
muß sie warnen, solange Warnung sie noch
vor Selbstverurteilung bewahren kann, und
wahrlich wollte ich, daß meine Warnung
sie bewahren würde! Aber ich kann nicht
verhüten, daß sie am Ende dennoch zu
Schaden kommen, wenn sie zu rechter Zeit
nicht noch erkennen, daß die Gesetze ewigen
Geistes keine Phantasiegebilde sind, die sich
der Erdmensch nach seiner Neigung zurecht‐
126 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
zubiegen vermag. Wenn Wahl und Willkür
gestaltet hätten, was ich in meinem geistigen
Lehrwerk dargeboten habe, dann wäre gewiß
auch der Wahl und der Willkür anheimgestellt,
was sie davon sich zueignen wollten. Da ich
aber nicht aus irdischem Ermessen irdische
Meinung formte, sondern Worte des Vaters
in dem ich lebe, darbot wie ich sie durch
mein eigenes Wort gestalten konnte, so steht
alles, was dieses Lehrwerk umfaßt, nicht mehr
in meiner, des Formers Hand, sondern unter
geistigem Gesetz! Ich hätte gewiß auch, wenn
mich nur Schaffensdrang bestimmt haben
würde und Wille zu helfen, nach freier
irdischer Neigung viel lieber ein systema‐
tisches Werk aus meinem inneren Wissen
heraus gestaltet, das in einem wohldurch‐
dachten Lehrgang den Leser Stufe um Stufe
emporgeführt haben würde. So aber war ich
gehalten, jeweils zu formen, was ich im Vater
empfing, und alles in so freier Folge zu geben,
wie sich Natur gibt, wo sie der Mensch der
Erde nicht in seine Regeln zwängen kann.
127 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
.Zu gutem Ende sei hier nun noch ein
Hinweis wiederholt, auch wenn er längst in
meinem Lehrwerk gegeben wurde, dort, wo
ich vom „Wert des Lachens” sprach. Es war
wie eine Probe aufs Exempel, daß ehedem
gerade das Buch, in dem diese Abhandlung
zu finden ist, ein Bild von mir beigeheftet
erhielt, das wohl auch vorher mir wenig ent‐
sprach, das ich aber so, wie es die Kunst‐
anstalt für den Druck bereitet hat, nicht mehr
ausstehen konnte, so daß mir nur übrig
blieb, herzhaft ‒ zu lachen. Wer es fertig
bringen würde, die Worte des Buches mit
dem Bild zu vereinen, der sollte es ruhig
beigeheftet lassen, und wer fühlte, daß da
„ein Riß” durch das Buch ging, der konnte
ja wählen, was ihm lieber war: ‒ Bild oder
Buch, und das, was ihm nicht gefiel, entfer‐
nen. Hier aber will ich darum bitten, doch
öfters nachzulesen, was dort über den Wert
des Lachens zu lesen steht. Es ist für die
rechte Aufnahme meines geistigen Lehr‐
werkes wesentlich! ‒ Ich meine freilich ge‐
128 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
wiß nicht, daß man über ernste Dinge lachen‐
den Mundes dahinlesen soll, aber ich möchte
den Leser befreit sehen von der leidigen Ge‐
pflogenheit, sogleich eine Leichenbittermiene
aufzusetzen, wenn von ewigen Dingen und
von Gott die Rede ist! Ein merkwürdiger
„Gott” malt sich da in den Gehirnen, wenn
man ruhig von ihm glauben kann, er erwarte,
daß die Seinen ihm nur trist und mit hän‐
genden Ohren begegnen sollten, weil sie, um
ihre Sünden wissend, voll Trauer sein müß‐
ten! Daß diese traurig enge Gottesvorstel‐
lung der Wirklichkeit gegenüber einer Got‐
teslästerung gleichkommen würde, wenn Gott
wirklich zu „lästern” wäre, was ja ebenfalls
eine solche schauerliche Vorstellungsverir‐
rung ist, wird den armen Hirngefesselten,
die ihrem erträumten Gott nur in der „Zer‐
knirschung des Herzens” vor Augen kommen
zu dürfen glauben, natürlich nicht bewußt,
so daß sie schuldlos bleiben in ihrem Wahn.
Sie, wie ihre glaubensstarken Lehrer solchen
Glaubens, möge er christlichen oder anderen
129 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Lehren zugetan sein! Wer aber klarsehen
will, dem muß ich mit aller Unbedingtheit
sagen, daß jede vermeintliche „Gottesnähe”
eitel Täuschung ist, wenn der Mensch ‒ sei
nen Humor dabei verliert! Ich bitte auch
nachzulesen, was ich in den Lehrworten
rhythmischer Fügung: „Ewige Wirklich
keit” über „Göttliches Lachen” und unter
„Selbstüberlegenheit” zu sagen hatte!
.Da nun mein geistiges Lehrwerk nicht
dazu da ist, den Trieb nach Wissen verbor‐
gener Dinge zu stillen, sondern ins Leben
eingehen soll, so ist es notwendig, sich vor
Augen zu halten, daß nur ein Leben, dem
das Lachen nicht fehlt, das rechte Leben im
Willen meines Lehrwerkes ist. Bei sauer‐
töpfigem Brüten kommt man damit nicht
weiter! Und es behaupte keiner, daß die Er‐
denmenschen heute weniger als je einen
Anlaß zum Frohsein fänden! Hier ist im
Gegenteil zu sagen, daß alles weit besser wäre
auf dieser Welt, wenn die Menschen sich
130 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
dazu verschwören würden, vor allem froh
sein zu wollen und einen bewußten star‐
ken Willen in sich zu wecken, allem Trüben,
Gräßlichen und Schauerlichen, das sie um‐
gibt, ihr Streben nach Lebensliebe entgegen
zu setzen. Man kann das Böse, das immer
noch da ist, auch wenn einer meinte, in ein
„Jenseits” von Gut und Böse führen zu können,
nicht dadurch aus der Welt schaffen, daß man
darüber „böse” ist. Man kann es nur eindäm‐
men durch eigene Güte. Freilich wirkt Güte
nicht so plötzlich wie Kanonenschüsse, denn
Güte will ‒ helfen, ‒ nicht zerstören!
.Wer meine Bücher liest und nicht von
Tag zu Tag mehr der Herzensgüte, voll froher
Lebensliebe, Zuwachs in seinem Dasein schafft,
so daß er mehr und mehr für seine Nächsten
und Fernsten zu einer lichten Sonne der Güte
und des frohen Lebens wird, ‒ erst recht,
wenn aller Anlaß vorliegt, tief traurig zu sein,
‒ der lernt vielleicht diese Bücher: „aus
wendig” und könnte sie aufsagen wie das
131 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Kind sein erlerntes Gedicht, aber er ist dem
wirklichen Inhalt meines Lehrwerkes noch
unendlich fern! Mir sind Leser lieber, die
nichts „im Kopf” behalten, weil alles in ihr
tägliches Leben eingeht, sobald sie es ge‐
lesen haben!
.Was ich hinterlasse, ist weder eine neue
„Religion” noch schließt es Verpflichtung zu
einem bestehenden „Glauben” ein. Es ist viel
mehr im ewigen Geiste lebendige, mit mir
selbst identische Lehre, wie der Mensch auf
Erden, wo er auch stehe, sein Leben glück‐
lich und der heiteren Sicherheit des Erken‐
nenden froh, leben lernen kann, um dann
in heller, freudvoller Zuversicht dem Über‐
gang zu begegnen, wenn dieser Erdenkörper
eines Tages die ihm zu Dank verpflichtete
Seele freigeben wird, die in ihm und durch
ihn sich zeitbestimmt in dieser äußeren Erden‐
welt erlebt. Möchten sich aber nur jene um
meinen Nachlaß bemühen, die hier wahrhaft
„erbberechtigt” sind!
132 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
SIEBENTER ABSCHNITT
.Wesentlich, und für den wahrhaft in
sich zu Gott Wollenden wichtig wie die
ewige Liebe von ihrer zartesten bis zu ihrer
urmächtigen Äußerungsform ist die Dank
barkeit! Das Empfinden seiner selbst als
eines Dankenden muß die Grundhaltung
jedes Erdmenschen sein, der danach ver‐
langt, daß sein lebendiger Gott sich in
ihm „gebäre” und ihn mit seinem ewigen
Lichte erfülle! Alles, was mein Lehrwerk
umfaßt, setzt unausgesprochen den innerlich
Dankenden voraus: ‒ den Menschen,
der nicht nur für sein Dasein voll Dank
ist, möge es ihm auch nur irdische Marter
bringen, sondern auch für das Kleinste
Dank empfindet, was jemals an Freundlich‐
keit, allerbescheidenster Schönheit, Gütig‐
keit, Mitgefühl und sorgender Liebe in sein
Leben trat. Wer sich Rechenschaft gibt, der
sieht zu seinem Erstaunen, daß all sein Erden‐
leben erfüllt ist mit Tausenden von kleinen
135 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
und kleinsten Dingen, die noch Dank von
ihm erhoffen, so wenig er sie auch bis heute
beachtet hat. Hier sind die allermeisten
Menschen unbewußt undankbar, auch
wenn sie tief dankbar sind aus Natur, für
jegliche Förderung, jegliche Hilfe und jede
Wohltat, die sie als solche empfinden.
.Alle Freude gedeiht erst zu bleibender
Kraft, wo Dank für genossene Freude ihr
den Boden bereitet. Daß man seinem Beten
die innerste Kraft entzieht, wenn nicht der
Dank auch das Bittgebet erfüllt, ist deut‐
lich in meinen Worten vom Gebet gesagt. Es
darf aber nie dazu kommen, daß man erst dort,
wo Dank „unumgänglich” ist, ein Dankgefühl
mühsälig*) und unter Zwängen in sich er‐
zeugt, sondern die Dankbarkeit muß Lebens
bedürfnis werden, ‒ muß im Tiefsten Nah‐
rung finden und alles Erdenleben durch‐
dringen. Vor allen Lebensempfindungen muß
sie bevorzugt sein, und ihr muß das wärmste
* Ich weiß, daß man sonst „mühselig” schreibt!
136 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
Strahlen der Liebe gehören! Dankbarkeit
ist keine bloße „schöne Eigenschaft”, keine
„Tugend” und keine „Pflicht” vererbter Kon‐
vention, sondern eine Grundkraft der ewigen
Seele des Menschen. Unzählige andere Kräfte
werden aus dieser Grundkraft genährt. Da
auch die vergängliche Tierseele seines Körpers
sich im Erdmenschen erlebt, so ist es kein
Wunder, daß er auch das Sympathiegefühl
in sich verspürt, das zuweilen Tiere, wo Er‐
innerung an Wohltat in ihnen haftet, so stark
zum Ausdruck bringen, daß man von einer
„Dankbarkeit der Tiere” spricht, ‒ aber von
dieser Art „Dankbarkeit” ist hier nicht die
Rede. Wenn auch das Tier aus seinem Sym‐
pathiegefühl heraus imstande ist, sich selbst
zu opfern, sobald es Gefahr für den Menschen
erkennt, dem seine Zuneigung gehört, die
vielleicht durch eine empfangene besondere
Wohltat vormals ausgelöst worden war, so
ist doch bei alledem nichts von jener Dank‐
barkeit im Spiele, die als Voraussetzung jedes
Menschenleben durchdringen muß, in dem
137 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
zu irdischer Zeit sein lebendiger Gott zum
Bewußtsein der ewigen Seele gelangen soll.
Man darf nicht sagen, ich hätte davon zu
selten gesprochen. Fast jede Seite meiner
ersten Schriften schon zeigt deutlich, was
vorausgesetzt wird! Wenn ich nicht wört‐
lich und im besonderen von „Dankbarkeit”
sprach, so hielt mich Besorgnis zurück, daß
man solchen Worten die Deutung unterlegen
könne, es sei auf persönliche Dankbezei‐
gung für mich selber hingezielt. Heute aber
hoffe ich, solcher Besorgnis mich entziehen
zu dürfen, so daß ich dieses „Letzte Wort” zu
meinem geistigen Lehrwerk nicht abschließen
will, ohne des hohen Lebenswertes der Dank‐
barkeit noch ausdrücklich zu gedenken.
.Da ich aber wohl annehmen darf, daß
man weithin jetzt weiß, wie ferne mir jeg‐
liches Dankesbegehren liegt und wie wenig
sich meine Art dazu eignet, auch nur im
Gebiet des äußeren Lebens Dankesworte
anzuhören, so läßt sich wohl auch erwarten,
138 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
daß man es nicht mißdeutet, wenn ich mir
dennoch, dort wo es unausweichlich geboten
ist, danken lasse für die irdische Mühe der
Übermittlung dessen, was mir im ewigen
Geiste vertrautes Besitztum ist. ‒ Ich würde
die geistige Kraft der Dankbarkeit an ihrer
Entfaltung in der ewigen Seele des Dan‐
kenden hindern, wollte ich dort, wo wirk‐
lich Dank empfunden wird, mich einer
hemmenden irdisch ererbten Idiosynkrasie
überlassen und mich dem Ausdruck des
Dankes entgegensperren. Ich muß hier Hel
fer sein, indem ich zum Empfänger des
Dankesausdruckes werde!
.Dankbarkeit, wie sie vonnöten ist um
in Ewiges Eingang zu finden, bedarf aber
kaum des Wortes. Von den ersten Tagen an,
als sie begonnen hatten, den Sinn meiner
Rede zu verstehen, hörten meine Kinder
von mir, daß zwar die selbstverständliche
Höflichkeit verlange: „Danke!” zu sagen,
daß aber das schönste Dankeswort so gut wie
139 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
gar nichts bedeute, gegenüber dem Dankes‐
Empfinden und dem daraus folgenden
Dank-Tun! Sie können heute selbst be‐
zeugen, wie reich an innerem Glück das
„Danktun” machen kann. Dank-Tun läßt
nicht ruhen in dem an sich schon beglücken‐
den Suchen nach im Bereiche des Rechten
und Guten zu findenden Möglichkeiten,
gleichfalls Dankeswürdiges zu tun, werde es
nun dem Menschen, dem gegenüber Dank
empfunden wird, bekannt oder nicht. Solches
Bestreben aber kann die besten Kräfte der
Seele zur Entfaltung bringen, den Willen
bei einem bestimmten Ziele halten und den
Verstand ermuntern, alles zur Erreichung
dieses Zieles aufzubieten. Der höchste
Gewinn aber bleibt für die Dauer erhalten,
als Durchdringung des ganzen Lebens
mit jenem Danken-Können, das Vorbedin‐
gung eines jeden echten Aufstiegs zu ewig
geistiger Erkenntnis ist. Niemals darf man
ein Kind zum Danken zwingen! Man hat
als Erwachsener hingegen die seelisch ge‐
140 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
forderte Pflicht, ihm zu helfen ‒ wie es
sich freiwillig helfen läßt ‒ das Glück
des Danken-Dürfens empfinden zu lernen!
Von dem, der zum innersten Ursprung
seines Lebens, ‒ zur Bürgschaft der ewigen
Dauer dieses Lebens in Gottgemeinsam
keit strebt, wird aber im ewigen Geiste ver‐
langt, daß er auch für das Danken-Dürfen
schon dankbar ist, damit er innewerde, was
ihm in diesem „Dürfen” an Glückesmöglich‐
keit gegeben wurde...
.Das Danken-Können muß allmählich
so entwickelt werden, daß es auf den leise‐
sten Anlaß reagiert, der Dankesempfinden
hervorrufen könnte. Es ist nichts leichter
als diese Entwicklung, wenn man sie wirk‐
lich will! Man muß sich nur daran ge‐
wöhnen, Tag für Tag und auf jedem Schritt,
nach Anlaß zu Dankesempfindungen in sich
selbst und in der Außenwelt bewußt zu ‒
suchen. Hier läßt sich schwerlich des Guten
zuviel tun, aber was sich finden läßt, kann
141 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
alles Erwarten hoch übersteigen. Freilich
nutzt hier die bloße Selbsteinrede oder gar
die leere Geste nichts! Man darf sich auch
nicht zwingen wollen zu einem Gefühl,
dem alles im Innern widerstrebt und das nur
Vortäuschung bleibt, auch wenn man es
schlecht und recht zu empfinden glaubt!
Der Himmel aber halte diese Worte des Rates
allen denen fern, die ohnehin schon der
Schrecken ihrer Umgebung sind, weil sie von
morgens bis abends keine Gelegenheit ver‐
säumen, die Ohren zu langweilen mit ihrer
ständig wiederholten Predigt über all das, wo‐
für ‒ die anderen ‒ dankbar sein müßten!
.Soll die große seelische Kraft der echten
Dankbarkeit zur Auslösung kommen, so ist es
am besten, möglichst wenig von Dank und
Dankesempfinden zu reden. Ist sie aber ein‐
mal entfaltet worden, so daß jeder Grashalm,
jedes Blütenreis, jeder Sonnenstrahl, jedes
leidlich gute Wort eines fremden Menschen,
den man nach dem Wege fragte, oder schließ‐
142 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
lich schon das eigene Wohlbefinden bei guter
Gesundheit, wie die geringste Erleichterung,
wenn der Körper Schmerz oder Krankheit
bewältigen muß, voll Dank im Bewußtsein
begrüßt wird, dann ist auch der Weg nicht
mehr weit zu jener steten Dankes-Bereit
schaft, die fast ein Vorher-Darbieten des
Dankes ist, und die kraftvollste Hilfe eines
jeden Menschen, der den Weg beschreitet,
den mein Lehrwerk finden lehrt! Von solcher
Dankes-Bereitschaft bis zu dem Seelen‐
frieden, „den die Welt nicht geben kann”,
weil er nur in der selbst herbeigeführten
eigenen inneren Ruhe erlangbar wird, ist
dann nur noch ein Schritt!
.Aber auch diese innere Ruhe muß Tag
um Tag gepflegt, geübt, und bei ihrem Kön‐
nen erhalten werden. Sie wird nur äußerst
selten als eine Folge angeborener Neigung
gefunden, sondern muß fast in jedem Falle
durch den Willen erworben werden und
durch Übung zum „Können” kommen. Mit
143 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
dem bloßen Empfinden innerer Ruhe, solange
auch außen alles ruhig bleibt, ist noch wenig
getan. Erst wenn jede äußere Unruhe nur
die Nerven und die Gehirngedanken zu
erregen vermag, während im seelischen Innern
alles ruhig bleibt und den ganzen Sturm be‐
trachtet, als trage er sich zu auf einer fernen,
fremden Welt, obwohl man sich sehr genau
daran beteiligt weiß und seine Stöße heftig
empfindet, ‒ erst dann darf man sagen, man
habe seine innere Ruhe erlangt. Viele Men‐
schen aber kommen niemals zu dieser Ruhe,
weil sie zuviel von sich verlangen. Statt nach
der Erregung ihrer Nerven und Gehirngedan‐
ken nun nach innen zu gehen, wo die Ruhe er
halten blieb, meinen sie, es könne in ihnen
erst wieder Ruhe geben, wenn Nerven, Affekte
und Gedanken sich im Äußeren beruhigt ha‐
ben würden. Das ist nur ungeheuerliche Kraft‐
vergeudung, denn die innere Ruhe ist sofort
in der Seele, wo sie erhalten blieb, auch wieder
zu erlangen, und die verstörten Nerven finden
alsbald danach wieder ihr Gleichgewicht.
144 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
.Alles aber, was dieser letzte Abschnitt
bisher noch beschrieben hat, ist gleichnis‐
weise nur „Vorland” vor dem „Hortus con‐
clusus”, der mein geistiges Lehrwerk in sich
umschließt, und muß längst bekanntes Ge‐
lände geworden sein, wenn man mit einigem
Recht nun Einlaß zu finden hoffen will.
Aber das Dorngestrüpp dieses Vorlandes
wurde immer wieder von mir gerodet, und
Pfade wurden getreten, die nicht zu ver‐
fehlen sind. Gehen muß man sie freilich
selbst! Ich fürchte, daß noch viele weit
draußen vor dem „Vorland” sind, die sich
behaglich wohl in der Täuschung fühlen,
mir recht nahe zu sein... Ich kann nur
warnen vor solchen allzuwillfährigen Träu‐
men, aber ich kann nicht ändern, was nur
der Suchende selbst allein zu ändern
vermag. Wie oft soll ich noch sagen, daß
hier die Entscheidung nicht in meinen Hän‐
den liegt, da jeder Schritt auf dem Wege
zum Geiste aus freier Entschließung er‐
folgen muß! Nur Charlatane und durch sich
145 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
selbst schon betrogene Betrüger suchen nach
Hörigen, und halten sie unter einem er‐
probten wirksamen Willenszwang!
.Ich müßte den Inhalt vieler meiner
Schriften hier wiederholen, wollte ich allen
Fragen nochmals Antwort bringen, die mich
trotz aller Abwehr immer noch gelegentlich
erreichen. Noch immer begreift man nicht,
daß mir nicht das Mindeste daran gelegen
ist, ob ein Mensch sich Fragen zu machen
versteht. Mein ganzes Werk ist geworden,
damit der Suchende sich selbst seine Ant‐
wort finden lerne! Ich will jeden, dem meine
Worte gelten, auf eigenen Füßen stehen
und sich frei bewegen sehen. Nicht an
Krücken humpelnd und nicht auf Stelzen
stolpernd! Auch seine innere Führung findet
nur, wer ihr gemessenen Schrittes auf eigenen
festen Füßen zu folgen weiß! ‒
Joseph Schneiderfranken.                 Signatur
146 Kodizill zu meinem geistigen Lehrwerk
ENDE
AUS
MEINER
MALERWERKSTATT
Verlagslogo
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASEL-LEIPZIG 1932
BÔ YIN RÂ
IST DER DICHTER, PHILOSOPH UND MALER
JOSEPH SCHNEIDERFRANKEN
COPYRIGHT BY
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASEL 1932
BUCHDRUCKEREI WINTERTHUR A.-G.
INHALT Seite
Weshalb, was folgt, geschrieben ist 5
Warum ich malen lernen mußte 13
Meine geistlichen Bilder 49
Mein Jesusbildnis 77
Beruf und Berufung 99
Originalscan
Weshalb, was folgt,
geschrieben ist
.Wenn ich nach langen Jahren steten
Zögerns, mich selbst über meine Male
reien zu äußern, dieses aus vielen inner‐
lichen Gründen mir überaus schwer über‐
windbare Zögern nun doch überwunden
habe, so geschah das wahrhaftig nicht um
von mir als Künstler reden zu machen.
.Ich bin über die Tage längst hinaus, in
denen ich mich noch von wohlmeinenden
Anderen hin und wieder, und sehr gegen
eigenen Wunsch und Willen, dazu drängen
ließ, Bilder von mir in öffentlich zugängliche
Ausstellungen zu geben. Ich male nichts ‒
aber auch rein gar nichts ‒ für „das
große Publikum”, ‒ habe nicht den min‐
desten Ehrgeiz, Werke meiner Hand von
den offiziellen Stapelplätzen der Erzeug‐
7 Aus meiner Malerwerkstatt
nisse bildender Kunst angekauft zu wün‐
schen, ‒ will um des Himmels willen nicht
etwa Schule machen, ‒ sondern sehe mich
nur immer stärker und unausweichlicher
meinem geistigen Lehrwerk gegen
über dazu verpflichtet, Allen, die ich
durch das Wort der Sprache zu ihrem ewi‐
gen Ursprung wieder hinzuleiten suche, auch
zu zeigen, wie sich meine künstlerische Ar‐
beit als Maler, die ja vielen der mir geistig
Nahestehenden lange genug schon in hohem
Grade bedeutsam wurde, meinem ganzen
geistigen Wirken einfügt.
.Dieser Pflicht genügezuleisten, zwingt
mich zwar zu mancher Eröffnung, die mir
hart und sauer wird, da sie, notgedrungen,
den Blick in allerpersönlichste Gebiete frei‐
gibt, die in meinem Lehrwerk immer noch
durch wortgewobene Schleier vor allen ver‐
borgen gehalten werden konnten, die sich
nicht selbst das unbestreitbare Recht auf
solchen Einblick durch ihre eigene geistige
Entfaltung erworben haben.
8 Aus meiner Malerwerkstatt
.Aber auch dieser Umstand darf mich, wie
ich täglich deutlicher sehe, nicht mehr da‐
ran hindern, das über die Ursachen und Be‐
weggründe meines Kunstschaffens und die
aus ihm hervorgegangenen Werke mitzutei‐
len, was schließlich nur ich allein bezeu‐
gen kann.
.Dem, was bereits über meine Kunst ge‐
schrieben worden ist, wird das Nachfolgende
gewiß nicht ins Gehege kommen, wenn auch
mancher offenbar aus Mängeln eigener Mit‐
teilung erwachsene beiläufige Irrtum richtig‐
gestellt werden kann.
.Ich gebe diesem ganz persönlichen Buche
keinerlei Reproduktionen mit, weil das, was
ich hier darzulegen habe, aus der Dar
legung selbst verstehbar ist, und keine
Bildbestätigung braucht.
.Zudem sind Wiedergaben meiner Bilder
in mehr als genügender Anzahl bereits er‐
9 Aus meiner Malerwerkstatt
schienen,* und ich hege nicht den Wunsch,
die vorhandenen Reproduktionen auch nur
um eine einzige vermehrt zu sehen.
.Ich will ja auch hier nicht für meine
Kunst „Propaganda” machen, ‒ meine
Bilder sind in festen Händen, ‒ und ich
denke nicht daran, irgendwelchem späteren
kunsthistorischen Urteil vorzugreifen!
.Was ich hier mitzuteilen habe, soll ledig‐
lich verstehbar machen, was der Beruf des
bildenden Künstlers: des Malers, in meinem
Leben bedeutet, und weshalb ich nicht etwa
Arzt oder Rechtsanwalt sein könnte, obwohl
ich mein Sein und Wirken gewiß auch dann
nicht von einer Berufs-Sphäre her beein‐
flussen lassen dürfte.
.Es ist hier vor allem aufzuzeigen, was
sich mir selbst in meiner künstlerischen Pro‐
     *In meinem Buche „Welten”, Kober'sche Verlagsbuch‐ 00
handlung, sowie bei Franz Hanfstaengl, München und W. I. Stacey, 00
London. Bei Hanfstaengl auch die vorzüglichen farbigen Re‐ 00
produktionen der geistlichen Bilder in dem Buche „Der Maler 00
Bô Yin Râ” von Rudolf Schott.
10 Aus meiner Malerwerkstatt
duktion als das Wesentliche ‒ auch von
geistigem Standpunkt her gesehen ‒ er‐
wiesen hat, und wie seine Entstehung da‐
durch vorbedingt war, daß ein dem Er‐
leben im geistig Substantiellen geöffneter
Mensch gleichzeitig die Ausbildung als Maler
erhalten hatte.
.Weiter aber sehe ich mich vor Mit- und
Nachwelt verpflichtet, über ein, auch in
meinem ureigensten, durch meine Gei‐
stigkeit bedingten Schaffenskreis, ganz
isoliertes Werk und seine Entstehung Be‐
richt zu erstatten, weil hier der Gegen
stand der Darstellung zu erhaben ist, als
daß ich nicht zeitig jeder Legendenbil
dung wehren müßte.
.Zuletzt ‒ wenn auch wahrlich nicht in
letzter Linie ‒ werde ich hier auch darauf
hinzuweisen haben, daß die mir infolge an‐
geborener geistiger Artung zuteilgewordene
geistige Bewußtseinsentfaltung mit
der künstlerischen Grundbefähigung des
11 Aus meiner Malerwerkstatt
äußeren Menschen, als mit einer geforder‐
ten Voraussetzung rechnet, einerlei,
nach welchen künstlerischen Bezirken hin
diese Befähigung tendiert.
.Nicht mein Beruf hat meine Berufung
bestimmt, ‒ wohl aber bestimmte die Be‐
rufung mir den Beruf!
12 Aus meiner Malerwerkstatt
Warum ich malen lernen
mußte
.Soviel ist gewiß: ‒ daß ich niemals
einem anderen Künstler Konkurrenz ge‐
macht habe, ‒ niemals gleichen Ehrgeiz
mit anderen Malern teilte, ‒ und niemals
als Maler irgendwo mit in Wettbewerb zu
treten gedenke!
.Wenn Begabte sich der Malkunst zuge‐
wandt haben um ihrem Drang zur Dar
stellung der sachlich gegenständ
lichen Umwelt das nötige handwerkliche
Können zu erwerben, andere um ihre Im
pressionen aus dieser Umwelt wieder‐
geben zu lernen, andere um ein Darstellungs‐
mittel zu beherrschen, das ihnen erlaubt,
ihr subjektives Seelenleben, in was
immer für einer „Kunstrichtung”, bildhaft
dramatisch zum Ausdruck zu bringen,
15 Aus meiner Malerwerkstatt
und alle schließlich danach streben, in ihrer
Art die Gleichbemühten, wenn irgend mög‐
lich, zu überflügeln, so waren mir alle
diese Motive von Anfang an innerlich
fremd.
.In solcher Mitteilung soll aber gewiß
nicht etwa irgendwelche Wertung oder gar
Abschätzung getroffen werden.
.Sie ist lediglich Konstatierung!
.Nötig wird diese Konstatierung, weil
die durch sie bezeichnete, mir von Natur
aus gegebene innere Situation mein Werden
und Schaffen viel stärker bestimmt hat als
jeder äußere Einfluß.
.Vielleicht findet dann aber die mir vom
allerersten Anfang an so selbstverständliche
Auffassung des Zeichnens und Malens als
einer geradezu sakralen Handlung, auch
dadurch ihre Erklärung, daß ich vordem
durch unerwartetes Schicksal, das meine
16 Aus meiner Malerwerkstatt
Eltern betraf, mich gezwungen fand,
kaum dreizehnjährig und noch fast ein
Kind, ‒ der Schule vorzeitig entnommen,
‒ im Fabriksaal an der Drehbank und am
Schraubstock, brauchbare, wenn auch na‐
türlich einfachste Arbeit leisten zu lernen,
deren Resultate immer ein Ganzes
sein mußten, und daß mir dadurch alle
manuelle Arbeit seltsamerweise nicht etwa
verhaßt, sondern geradezu heilig gewor‐
den war. ‒
.Um wieviel gesteigerter mußte mich die‐
ses Empfinden erfüllen gegenüber einer Tä‐
tigkeit die ich endlich, nach drei harten,
frühzeitig vielerlei fordernden, wechselvol‐
len Jahren, nun als Kunststudierender aus‐
üben durfte, und die mich dazu führen
sollte, späterhin ein wirkliches Kunst
„Werk” gestalten zu können!
.Von da aus ward wohl auch meine Auf‐
fassung des „Bildes” als geschlossener
17 Aus meiner Malerwerkstatt
Ganzheit: ‒ als eines in sich ruhenden
Kosmos der zu ihm gehörigen Formen
und Farben, bestimmt.
.Wurde schon die künstlerische Arbeit,
die einmal zur Bildgestaltung führen sollte,
als besonders geheiligt empfunden, so stand
das Bildwerk selbst, lange bevor ich ein
solches schaffen konnte, erst recht als etwas
Heiliges, ja fast als ein Wunder, vor meiner
Seele.
.Man mag diese Betrachtungsweise als
„primitiv” bezeichnen, aber sie war von
meinen ersten Elementarstudien an die
meine, und ist es bis heute geblieben.
.Niemals wäre es mir in den Sinn gekom‐
men, daß ich wie meine Mitstudierenden,
aus den schon genannten Motiven her
malen könnte, ‒ am wenigsten aber: das
Malenkönnen als Mittel zu betrachten um
dem Ausdrucksbedürfen der Seele zu
dienen.
18 Aus meiner Malerwerkstatt
.Dazu schien mir schon von der Schul‐
bank her das Wort und allenfalls der
Reim gegeben, denn musikalische Aus‐
drucksmöglichkeit bestand nur in allzu‐
geringer Form, als daß ich ihr mich hätte
anvertrauen mögen, wenn auch die Sehn
sucht nach musikalischem Ausdruck mich
zu den wunderlichsten Torheiten trieb, da
sich ein Nachholen musikalischer Lehre aus
verschiedenen Gründen als unmöglich er‐
wies.
.Resultat meines Malenlernens aber konn‐
te meinem Empfinden nach nur das Bild
als Gegenstand seiner selbst sein
und das Malen faßte ich immer nur auf
als Dienst am Bilde, weshalb ich denn
auch weit mehr von mir Gemaltes wieder
zerstörte als ich bestehen ließ, weil ich
nur gelten lassen konnte, was vor meinen
Augen als in sich beruhendesBild
bestand.
19 Aus meiner Malerwerkstatt
(Was dennoch außerdem erhalten blieb,
dankt seine Erhaltung nicht meinem
Wunsch und Willen.)
.So kommt es, daß die Anzahl der Bilder
die von mir in der Welt sind, recht beschei‐
den ist, wenn man sie als Zeugnis bis jetzt
etwa dreier Jahrzehnte hingebendster künst‐
lerischer Tätigkeit betrachtet.
.Als wahrer Fanatiker des Bildes: ‒ der
in sich abgerundeten, in sich beschlossenen
Schöpfung, ließ und lasse ich auch meine
Vorstudien niemals bestehen, weil mich
alles dergleichen dem Bilde gegenüber stört,
das nach seiner Vollendung in seinem eige
nen Leben allein beruhen soll.
.Gewiß gab es neben dieser Grundströ
mung in mir auch gelegentliche Zuflüsse:
‒ Einflüsse von außenher, mit denen ich
fertig werden mußte, so, wie ich mich auch
zeitweilig darin versuchte, mancherlei mehr
dichterischen Stimmungen in Folgen von
20 Aus meiner Malerwerkstatt
Schwarz-Weiß-Zeichnungen Formung zu
geben.
.Aber derartiges war immer in kürzester
Zeit wieder überwunden und in mir aus‐
gemerzt, auch wenn es mir verhältnismäßig
mehr Anerkennung und Aufmunterung ge‐
bracht hatte als mein mir wesenseigenes
Streben zum völlig in sich ruhenden, nur
in den seelischen Werten seiner Formen und
Farben beschlossenen „Bilde”.
.Mehr als alles andere, was sonst einem
jungen Maler zu schaffen machen mag, gab
mir die schon frühzeitig erlangte Einsicht
innere Beschäftigung, daß auch in der Ma‐
lerei, sogut wie in der Musik, eine mathe
matische Gesetzmäßigkeit herrsche, die
man in sich erfaßt haben müsse, wenn man
in meinem Sinne zum „Bilde” kommen
wolle, als einer wirklich in sich vollendeten,
nicht mehr über den Bildrahmen hinausver‐
langenden, augenfaßlichen Symphonie.
21 Aus meiner Malerwerkstatt
.Bestätigung und Bekräftigung dieser Ein‐
sicht fand ich zuerst bei Hans Thoma,
dem ich durch einen eigenen älteren Ver‐
wandten, der mit dem damals erst kurz vor‐
her zu breiterer öffentlicher Anerkennung
gelangten Maler bekannt geworden war, ‒
ganz gegen meinen Willen ‒ zugeführt
wurde.
.Ich hatte große Scheu vor der Begegnung
mit dem dazumal von dem Kunsthistoriker
Henry Thode gerade so hochgepriesenen
Manne, aber Thoma interessierte sich wider
Erwarten sogleich außerordentlich für meine
ersten landschaftlichen Bildversuche und
gab mir dann ohne irgendwelches Entgelt
etwa anderthalb Jahre lang überaus instruk‐
tiven Unterricht, bei dem er den Hauptwert
darauf legte, daß ich, an Hand seiner eige‐
nen Studienmappen, lernen solle, für alles
die möglichst einfachste Darstellungsart
zu finden.
.Heute noch denke ich voll Dankbarkeit
an jedes Wort zurück, das er mir damals
22 Aus meiner Malerwerkstatt
sagte, und wenn auch die anfängliche enge
Anlehnung an die ureigenste Darstellungs‐
art des großen Malerpoeten bald wieder von
mir aufgegeben worden war, so wirkt doch
seine prachtvoll eindrückliche Unterweisung
bis auf den heutigen Tag lebendig und an‐
regend in mir fort.
.Von dem, was ich für mich: „die Ma
thematik der Raumverteilung und
der Farbenwerte” nannte, wußte Hans
Thoma offenbar mehr, als er zugeben mochte,
denn er sah nicht gerne das innere Leben
eines Kunstwerks allzugenau erforscht, weil
das Bewußtwerden der Schaffenskomponen‐
ten seinen eigenen ‒ von ihm selbst schon
dazumal mir gegenüber als Drang zum
schöpferischen „Spiel” definierten ‒ künst‐
lerischen Darstellungstrieb irritierte.
.In den Äußerungen Böcklins, ‒ wie
sie nach seinem Tode durch seine Freunde
und Schüler überliefert wurden, fand ich
nachmals vieles auf sehr ähnliche Art er‐
23 Aus meiner Malerwerkstatt
klärt und aufgelichtet, wie es mir Thoma,
trotz seiner mangelnden Neigung, die be‐
stimmenden Faktoren der Bildwirkung frei‐
gelegt zu sehen, ehedem ratend und war‐
nend, aus seiner eigenen Erfahrung heraus,
an manchem Beispiel aufgezeigt hatte.
.Jene Maler und Kunstkritiker seiner
Zeit, die Hans Thoma den kritisch sichten‐
den „Kunstverstand” absprechen woll‐
ten, waren sehr im Irrtum, und ahnten
nichts von der bescheiden verborgengehal‐
tenen weltweiten Bildung dieses Künst‐
lermenschen!
.Frühzeitig schon durch den von mir mit
Ehrfurcht und Liebe bewunderten großen
Meister in meiner Neigung bestätigt, die
Landschaft zum Gegenstand meines
Kunstschaffens zu wählen, ging ich bewußt,
und nur höchst selten durch ein anderes
Verlangen gestört, meinen Weg zur Bild‐
24 Aus meiner Malerwerkstatt
gestaltung auf Grund der seelischen Ein‐
drücke, die ich in der Natur empfing.
.Wie ich ehedem in dem normalen Stu‐
diengang, den Kunstschule und Akademie
vorschrieben, viele Hunderte von Akten,
Modellköpfen, Gewandstudien und Kom‐
positionsentwürfen im Laufe der Lehrjahre
gemalt oder gezeichnet hatte, so folgten
jetzt die intensivsten Studien aller land
schaftlichen Elemente und zwar keines‐
wegs nur im Sinne impressionistischer Auf‐
fassung, sondern allermeist so, daß diese
Studien gut auch als geognostische und
botanische Darstellungen hätten gelten
können.
.Auf solche ‒ fast allzupedantisch gründ‐
liche ‒ Weise vorbereitet, kam ich zu mei‐
nen ersten, von mir auch heute noch künst‐
lerisch anerkannten „Bildern”.
.Sowohl dem gegenständlich Dargestell‐
ten, wie der Ausführung nach, erstrebte ich
die äußerste Einfachheit.
25 Aus meiner Malerwerkstatt
.Vorn ein paar Geländeüberschneidungen,
ein paar dunkle, kegelförmige Tannengrup‐
pen oder Tannen- und Kiefern-Stämme, ‒
seltener auch Laubgehölz, ‒ dahinter be‐
waldete Kuppen und in der Tiefe die Linien
ferner Berge über denen zarte oder hochge‐
ballte Wolken sich zeigten: das war gewöhn‐
lich alles auf dem Bilde Dargestellte.
.Fast immer waren es Stimmungen der
Morgenfrühe, oder des späten Nachmittags,
der Abendruhe und Dämmerung oder der
lichten Nacht.
.Auch einige Mondscheinbilder stammen
aus dieser Zeit.
.Das ganze Bild pflegte ich in sonoren,
satten Tönen zu halten, doch auch in seinen
dunkelsten Partien von innen heraus durch‐
leuchtet.
.Die Malweise war breit und flächig, aber
so, daß jeder Pinselstrich aufgelöst wurde
26 Aus meiner Malerwerkstatt
in den opaleszierenden oder tiefdunkel in
sich belebten Farbenmassen, die nur höchst
selten einmal mehr pastos aufgetragen wur‐
den.
.Die strengste Aufgabe die ich mir damals
stellte, war: daß man dem vollendeten Bilde
nicht mehr ansehen dürfe, wie es entstanden
sei. Für den sogenannten künstlerischen
„Schmiß” und jegliche Pinselbravour war
natürlich bei solchem Bestreben kein Platz,
hingegen aber gab es auch auf dem ganzen
Bilde keinen Quadratzentimeter in dessen
Fläche die Farbe nicht zum „Klingen
gekommen wäre.
.Mein Bild: „Abend im Spessart”, das der
in London lebende Japaner Urushibara, in
die Technik des altjapanischen Farbenholz‐
schnittes übersetzt, auf seine Art wieder‐
gegeben hat, und das unstreitig bis jetzt
auch die getreueste seiner Wiedergaben
meiner Bilder* blieb, gehörte zu der Reihe
* Sämtlich bei W. J. Stacey, London. (Das genannte Blatt
vergriffen!) hier
27 Aus meiner Malerwerkstatt
dieser ersten Werke, die ich hier zu beschrei‐
ben suche.
.(Mittlerweile sind meinerseits zwei Varia‐
tionen des gleichen Themas entstanden, bei
denen ich aber dem Aufbau des Bildes durch
die Flächen der Pinselstriche größere Rechte
eingeräumt habe.)
.Hier sei denn auch gleich einiges über
meine Stellung zur Malweise eines Bildes
gesagt.
.Bestimmend blieb mir in dieser Hinsicht
bis auf den heutigen Tag die durch Hans
Thoma seinerzeit erhaltene künstlerische
Erziehung zur möglichsten Einfachheit
der Darstellungsmittel, aber ich habe
mich nie auf eine bestimmte Malweise
festgelegt, sondern im Laufe der Jahre
die erstrebte äußerste Einfachheit auf sehr
verschiedene Weise zu erreichen gesucht,
28 Aus meiner Malerwerkstatt
und dabei auch einmal den gelegentlichen
Rat eines zu virtuoserer Kunstauffassung
geborenen, befreundeten Ateliernachbars
dankbar begrüßt, als ich, ‒ damals durch
Segantini stark beeindruckt, ‒ Schnee‐
landschaften, die mich lange Zeit in Bann
hielten, statt in meiner flächigen Art, in
einer äußerst mühseligen schraffierenden
Aufteilung der Fläche zu bewältigen
suchte, deren Nachteile er mir durch eine
verkleinerte rasche Wiedergabe meines Bil‐
des in einer breiten flächigen Manier, auf
einem Malkarton sehr augenfällig zu bewei‐
sen wußte, und mich so wieder auf meinen
eigenen Weg brachte.
.Als ich aber dann in Südschweden Meer‐
und Felsklippen-Landschaften in den
zerklüfteten Buchten der Halbinsel Kullen
malte, war ich, durch die Struktur des zer‐
rissenen Gesteins veranlaßt, zu einer mir
scheinbar ganz fernliegenden lebhaft be‐
wegten zeichnerischen Traktierung der
Farbe gekommen, um dann vor den Ruinen
29 Aus meiner Malerwerkstatt
der Antike in Griechenland mir wieder
eine zu diesen und den dortigen groß‐
linigen kahlen Bergwänden besser geeignet
erscheinende Malweise die den breiten
Pinselstrich als Aufbauelement gelten
ließ, zu schaffen.
.So habe ich mich immer in meiner Mal‐
weise dem gegebenen Darstellungsproblem
angepaßt, und es ist daher ganz unvermeid‐
lich, daß eine Datierung meiner Bilder auf
Grund der in ihnen zutagetretenden manuel‐
len Behandlung der Farbe, zu irrigen Schlüs‐
sen führen müßte.
.Auch heute noch wahre ich mir durch‐
aus die Freiheit, mir für jedes neu ent‐
stehende Bild die Malweise neu zu be
stimmen, denn es handelte sich ja bei den
verschiedenen Darstellungsweisen, die ich
jeweils pflegte, nicht um aufeinanderfol‐
gende Stufen einer technischen Entwick‐
lungs-Skala, sondern immer um einen be‐
30 Aus meiner Malerwerkstatt
wußten, freien Entschluß zur Anwen‐
dung einer anderen Arbeitsweise.
.In jeder Art der Darstellung, die ich je‐
mals wählte um ein Bild zu gestalten, wird
man aber die mir eigene ornamentale Auf‐
fassung der Natur gewahren, und selbst die
Formung des Gegenständlichen durch zahl‐
lose Linien- und Farbenfäden, wie ich sie vor
den rissigen Felsklippen von Kullen zur An‐
wendung brachte, durfte keineswegs das Or‐
namentale in meiner Auffassungsart unter‐
drücken.
.Ich muß hierbei darauf aufmerksam ma‐
chen, daß mir das freie Ornament, schon
von sehr jungen Künstlerjahren an, als die
höchste, weil reinste Form künstlerischer
Darstellung in der Fläche gilt, und daß
mir das Auflösen der Fläche, soweit es
über die Darstellung eines innerhalb des
Bildrahmens klar gegliederten Raumes hin‐
aus, unbestimmbaren Raum zu schaffen
sucht, als künstlerische Verirrung er‐
31 Aus meiner Malerwerkstatt
scheint, auch wenn auf Grund dieser Ver‐
irrung zahllose Werke der Malerei entstan‐
den sind, deren Bewunderungswürdigkeit
gewiß nicht angezweifelt werden darf.
.Natürlich weiß ich, daß diese hohe Be‐
wertung des „Ornaments” in der Malerei
nicht nur bereits in den einzigen erhaltenen
altgriechischen Malereien, die ich im Mu‐
seum von Volo in Thessalien studieren
durfte, erkennbar wird, und weit später
über Cimabue und Giotto bis zu Raffael
führt, sondern auch in vielen vorgriechi
schen Kunstzeugnissen der Welt ‒ von
den asiatischen Kunstdenkmälern ganz ab‐
gesehen ‒ zutagetritt, aber in allen Län‐
dern der Erde ebenso auch heute zu finden
ist, wo immer Künstler leben, deren Empfin‐
den das materialistisch primitive Kunst‐
stück, die Fläche zur Raumillusion zu
mißbrauchen, nur schwer erträgt.
32 Aus meiner Malerwerkstatt
.Daß mir die Maltechnik an sich,
also das chemisch Technische, wie die
Präparierung der zu bemalenden Fläche, die
Bereitung der Farben, ihre Herkunft und
ihre Haltbarkeit in der Vereinigung mit den
verschiedenen Bindemitteln, jahrelangen
Studiums wert erschien, so daß es keine
Technik gibt, von der altägyptischen En‐
kaustik über das Fresko bis zu den neueren
Malverfahren, die ich nicht experimentell
und zum Teil auch praktisch erprobt habe,
möchte ich nur nebenbei hier nicht ganz
unerwähnt lassen. Gründliche Studien der
Farbenchemie gaben diesen Arbeiten
sicheren Grund. Daneben war das intensive
Studium der Alten Meister und ihrer
Technik, ‒ unterstützt durch Kopien, bei
denen diese Technik jeweils Anwendung
fand, ‒ ein stets neuer Genuß.
.Die Galerien in München, Schleißheim,
Berlin, Dresden, Wien und Paris gaben da‐
zu reichlich Gelegenheit, nachdem dieses
33 Aus meiner Malerwerkstatt
Studium schon in der Städel'schen Galerie
in Frankfurt begonnen worden war.
.Auch eine, sonst bei Malern kaum all‐
tägliche Vertiefung in das Studium der
Architektur fiel in diese Zeit und hat mir
späterhin Vieles erschlossen.
.Zu gutem Ende folgte dann noch das
Erlebnis Italien, und danach, ‒ aller‐
dings erst viel später, ‒ das bis ins
Tiefste erschütternde Erleben Griechen
lands, ‒ sowohl landschaftlich, wie ar‐
chäologisch.
.Alle dem gingen strenge kunstwissen
schaftliche Studien parallel, deren Durch‐
führungsmöglichkeit ich an den verschiede‐
nen Orten immer wieder Gelehrten zu
danken hatte, die an meinen Interessen
lebendigen Anteil nahmen, und mir die
Hilfsmittel ihrer Institute ausgiebig zur
Verfügung stellten.
34 Aus meiner Malerwerkstatt
.Auch andere und mir scheinbar sehr
ferneliegende wissenschaftliche Bezirke sind
mir in gleicher Weise zugänglich gemacht
worden.
.Alles das hier Erwähnte gehört für mich
mit in dieses Kapitel: „Warum ich malen
lernen mußte”, denn es bekundet die Stre‐
bungen, die schon in mir bis zu gewissem
Grade lebendig waren, als ich, in immer
noch zeitigen Jünglingsjahren, endlich zu
der knappen Möglichkeit des Studiums ge‐
langt, das Kunststudium wählte, obwohl
ich im schulmäßigen Zeichnen ehedem kei‐
neswegs einer der Ersten war, und mich nun
auch viel leichter einem anderen, damals
näherliegenden Studiengebiet hätte, zuwen‐
den können.
.Das ganze unendlich reiche ‒ und vom
Elternhause her kaum wie eine ferne, wun‐
dersame „terra incognita” erahnte ‒ Ge
35 Aus meiner Malerwerkstatt
biet der bildenden Kunst war innerlich
gemeint”, als ich den ersten Schritt zum
Erlernen des Malens endlich wagen durfte
und wagte. Der Beruf als Maler erschien
mir nur als die praktisch geforderte Weihe,
um in dieses von mir als überaus hehr und
heilig geglaubte Reich Zutritt zu erlangen,
das ich heute, nachdem ich wahrlich in ihm
Heimrecht fand, ‒ auch trotz aller Profa‐
nation, die mir nun einmal doch schlechter‐
dings begegnen mußte, weil sie nur allzu‐
reichlich vorhanden ist, ‒ keineswegs in
geringerem Grade als „heilig” empfinde,
wie dazumal.
.Die wirkliche Würde und Erhabenheit
einer so hohen seelischen Auswirkungs‐
fähigkeit des irdischen Menschen, wie sie
in der bildenden Kunst zutagetritt, ist ja
vom substantiellen ewigen Geiste
her bestimmt, und kann niemals ge
mindert werden durch irgendwelche Mas‐
sen Einzelner, die sich in der ihnen dar‐
gebotenen und vom Geiste her vorbehalte‐
36 Aus meiner Malerwerkstatt
nen seelischen Höhenlage nicht zu er
halten wissen.
.Es handelt sich bei diesem Erhalten‐
können im Seelischen nicht darum, daß
man sich auf Grund seiner besonderen Be‐
gabung ‒ etwa als „Maler”, als „Plastiker”
‒ seelisch determiniere und verenge,
sondern darum, daß man sich, ganz ab
gesehen von der spezifischen Begabungs‐
art, als ungeteilter, ganzer Mensch,
in der seelischen Höhenlage zu erhalten
strebe, die jeder, seines anvertrauten Talen‐
tes Würdige, in seinem innersten Innern als
die ihm allein wirklich gemäße Atmo‐
sphäre empfindet.
.Der bohememäßige fatale Beiklang, den
die Berufsbezeichnung bildender Künstler
im Verlaufe der ersten Hälfte des letzten
Jahrhunderts allmählich erhielt, und der
jetzt noch vielfach als Unterton einer ver‐
logenen Romantik mitschwingt, wenn von
„Malern und Bildhauern” etwa die Rede
37 Aus meiner Malerwerkstatt
ist, hat wirklich nichts mit diesen Berufs‐
bezeichnungen zu schaffen, auch wenn er
zu manchem antiquierten „Talentierten”,
der sein Leben lang schlecht und recht in
ungeordneter Weise sein Talent verschleu
dert hat, noch passen mag.
.Der bildende Künstler besitzt auch wahr‐
lich durch sein berufsgefordertes selbstver‐
ständliches Können keinerlei Ausnahme
stellung gegenüber anderen menschlichen
Berufungen und Berufen, in denen ebenso
das ihnen gemäße Können und Wissen
selbstverständlich ist.
.Soll ich aber nun, nach so manchen
scheinbaren Abschweifungen auf die ich
nicht verzichten durfte, endlich den mir
heute bedeutsamsten Grund aufzeigen,
„warum ich malen lernen mußte”, so ist
hier vorauszuschicken, daß ich allerdings
gerade diesen Grund zu Beginn meines
38 Aus meiner Malerwerkstatt
Studiums gewiß auch nicht ahnungsweise
kennen konnte.
.Er wurde mir erst dann bewußt, als
schon seit langer Zeit die Resultate vor‐
lagen, die ihm Bestätigung geworden waren.
.Nicht im Traum hätte ich damals, als
ich mich endlich dem Kunststudium zu‐
wenden konnte, geglaubt, daß es auch mög‐
lich sei, als Maler etwas wiederzugeben, was
durch das physische Auge unmöglich wahr‐
zunehmen ist.
.Daß alle die Darstellungen wie sie die
alten Maler aus der christlichen heiligen
Geschichte wählten, nicht im Augenschein
erlebt worden waren, hatte hier nichts zu
besagen, da doch alles zur Darstellung
Nötige jederzeit als Studienobjekt zugäng‐
lich war.
.Wie aber hätte ich mir vorstellen sollen,
daß es auch möglich sei, Dinge, die keine
39 Aus meiner Malerwerkstatt
irdischen Dinge sind, in Farben, die nur
selten an irdischen Dingen faßbar werden,
durch die Kunstmittel der Malerei wieder‐
zugeben!?
.Ich hatte ja dergleichen noch nicht er
lebt, obwohl mir Erlebnisse damals schon
lange fraglos waren, die man auch heute
noch als lediglich subjektiv begründet
glaubt, soweit man von ihnen hört, weil
auch reifste westliche Wissenschaft nichts
von den außerordentlichen Möglichkeiten
weiß, die unter bestimmten Voraussetzun‐
gen im physischen „Natur”-Bereich dafür
geeigneten Menschen dargeboten sind.
.Erst als ich auch jenes, mir in jeder Weise
neuartige Erleben kennengelernt hatte, ‒
das eine ganz neue Art des Er-hörens und
Er-blickens voraussetzte, ‒ konnte mir der
erste Gedanke kommen, ob das von mir
Erlebte nicht auch mit malerischen Mit‐
teln für meine Mitmenschen darstellbar sei,
um ihnen dadurch, in einer für das physi‐
40 Aus meiner Malerwerkstatt
sche Auge aufnehmbaren Übersetzung,
etwas von der erlebten Schönheit der in
aller Erscheinung wirkenden geistigen
Kräftewelten zu vermitteln.
.Eine bildhafte Vorstellung von diesen
Welten allerursprünglichster, ursäch
licher Realität geben zu können, und durch
die ganz von selbst allmählich wahrnehm‐
bar werdenden, primären geistigen Schwin‐
gungen meiner Bilder dieser Art, die Seelen
ihrem eigenen Ursprung wieder näher zu
bringen, war mir von da an höchste Auf‐
gabe für meine Kunst, der nun die erlebten
Formen der geistigen Kräftewelten genau
so Material der Bildgestaltung wur‐
den, wie das vordem nur die Formen und
Farbenbeziehungen der irdisch physischen
Landschaft gewesen waren.
.Obwohl ich sehr lange Zeit hin die
äußerste Zurückhaltung geübt hatte, wenn
41 Aus meiner Malerwerkstatt
sich Gelegenheit bot, diese geistlichen Bil‐
der zeigen zu können, veranlaßte mich
doch eines Tages die Möglichkeit, sie Max
Klinger vor Augen zu bringen, der seit ein
paar Jahren warmes Interesse an meiner
allgemeinen künstlerischen Entwicklung
nahm, zu einer Überwindung aller Scheu.
.Ich hatte es auch durchaus nicht zu be‐
reuen, denn ich fand bei dem sonst mit Be‐
wunderungsäußerungen eher recht kargen
Künstler eine begeisterte Bejahung die‐
ser Bilder, obwohl er sich meiner Erklärung
des inneren Erlebens, dem sie allein ihr Da‐
sein verdankten, keineswegs zugänglich
zeigte.
.Es sei ihm gleichgültig, „woher” diese
Bildmotive mir kämen, ‒ er sähe nur die
Bilder, und mich, der sie gemalt habe, ‒
alles andere gehe ihn nichts an.
.Beim Abschied noch konnte er sich kaum
genugtun, mir einzuschärfen, ich möge mich
42 Aus meiner Malerwerkstatt
nur „ja nicht dekouragieren lassen”,
und ich höre diese lebhaft betonten Worte
heute noch im Ohr, als wären sie gestern
gesprochen worden.
.Diese Mahnung bezog sich darauf, daß
er vorher mit aller Energie meine Abnei‐
gung gegen ein öffentliches Ausstellen die‐
ser Bilder bekämpft hatte.
.Seiner Meinung nach gehörten sie
schleunigst” in die Öffentlichkeit, da
ich mich hier ‒ wie er sich ausdrückte ‒
nun wirklich „gefunden” hätte, ‒ und
so sollten sie, unter Berufung auf ihn, an
seriöser Stelle gezeigt werden.
.Ich habe aber keinen der mir angerate‐
nen Schritte getan, da meine Gegengründe
doch stärker waren. Er hätte mir das nie
verziehen, wäre er nicht zur Überzeugung
gelangt, daß ich hier gegen die Kraft eines
inneren Widerstandes nicht aufkommen
könne.
43 Aus meiner Malerwerkstatt
.Wie ich Klinger gesagt hatte, verspürte
ich zu jener Zeit, als es noch keinen Expres‐
sionismus, Surrealismus und dergleichen
gab, recht wenig Lust, auf der einen Seite
womöglich das Interesse der Neurologen zu
erregen, auf der anderen aber Formen und
Farben, die für mich mit höchsten geistigen
Erlebnissen unlösbar verbunden waren,
fabrikmäßig vulgärer „kunstgewerblicher”
Ausbeutung preisgegeben zu sehen.
.Daß ich mindestens mit der letzten Be‐
fürchtung im Recht war, konnte ich später,
nach dem Erscheinen der ersten Reproduk‐
tionen meiner geistlichen Bilder, an Theater‐
dekorationen und ‒ lächerlicher noch ‒
an „modernen” farbigen Textilwaren fest‐
stellen, wo in beiden Fällen die nichts‐
ahnenden Nacherfinder in aller Seelenruhe
Formen dieser Bilder zusammen verwen‐
det hatten, die den ärgsten Nonsens in
solcher Kombination ergaben... Es ging
den Herren wie jenem Delikatessenhändler,
der sein Schaufenster mit Teepaketen deko‐
44 Aus meiner Malerwerkstatt
rierte und recht geschickt dabei auch einen
mit chinesischer Schrift gezierten Kisten‐
deckel als Beweis des Imports mit zu ver‐
wenden wußte, bis ein des Chinesischen
kundiger Gelehrter ihn auf die Seltsamkeit
solcher Reklame aufmerksam machte, denn
ein Boshafter oder ein Witzbold hatte in
China, in den dekorativen Charakteren der
chinesischen Schrift, auf die Kiste geschrie‐
ben: „Dreimal überbrühter Tee für die
westlichen Teufel”.
.Wenn ich nun aber auch dem so wohl‐
meinenden Ratschlag Max Klingers in mir
zu viel Hemmungen entgegenstehen fand,
als daß ich ihn vor mir selbst hätte befolgen
dürfen, so war begreiflicherweise die freu‐
dige Zustimmung des sonst so vornehm ver‐
haltenen Künstlers doch ein großes Ge‐
schenk für mich geworden.
.Klinger war allerdings nicht nur bilden‐
der Künstler, sondern auch ein eminent
45 Aus meiner Malerwerkstatt
musikalischer Mensch, dem möglicher‐
weise manche Formen- und Farbenbezie‐
hungen auf meinen Bildern Empfindungen
ausgelöst hatten, die er sonst nur durch das
Medium der Musik zu empfangen gewohnt
war, und ich durfte gewiß nicht von seiner
spontanen Begeisterung für diese Bilder
auch auf die Empfindungsfähigkeit ande
rer Menschen schließen. Aber zum minde‐
sten mußte ich doch seinem unendlich dif‐
ferenziert abwägenden künstlerischen Urteil
vertrauen, wenn das, was er nunmehr von
mir gesehen hatte, solche unbedingte An‐
erkennung bei ihm fand.
.Wenn vorher noch irgend ein Schatten
eines Zweifels in mir war, „warum ich
malen lernen mußte”, so konnte er jetzt
gewiß nicht mehr in mir aufkommen, auch
wenn für Klinger nur das Kunstwerk, so
wie es vor ihm stand, in Betracht kam, ganz
abgesehen von der mir im Geistigen auf‐
geschlossenen Farben- und Formenempfin‐
46 Aus meiner Malerwerkstatt
dungswelt, aus der es tatsächlich seine Be‐
fruchtung empfing.
.Ich habe mich gewiß auch weiterhin
nicht veranlaßt gesehen, etwa keine Bilder
aus landschaftlichen Motiven mehr zu
malen, wie Klinger mir ernsthaft angeraten
hatte, und die ganze Reihe von Bildern aus
Griechenland ist erst lange nach der Er‐
kenntnis entstanden, daß ich in erster
Linie darum zum Malen gekommen war,
um meine geistlichen Bilder schaffen zu
können, ‒ wohl aber wußte ich fortan
immer zu unterscheiden zwischen dem, was
auch Andere konnten, und dem, was mir
infolge einer ganz singulären Bewußtseins‐
entfaltung nur allein darzustellen mög
lich war.
.Heute aber weiß ich mit aller Be
stimmtheit, daß ich seinerzeit, ohne es
zu ahnen, nur um der später ermög
lichten Entstehung dieser geistli
47 Aus meiner Malerwerkstatt
chen Bilder willen, der Malerei zuge‐
führt worden war, deren praktisches Stu‐
dium mir damals weit weniger nahe lag und
weit geringere Förderung finden konnte, als
etwa das von mir lange Zeit hin vorher er‐
sehnte Studium der Theologie, vor dem
mich seltsamerweise von außenher der Wille
meines streng religiösen irdischen Vaters,
‒ von innenher aber meine geistige Füh‐
rung fernezuhalten wußte.
.Ich mußte malen lernen, damit von die‐
ser meiner Zeit an die Realität der sub‐
stantiellen geistigen Welt durch augen
faßliche Gestaltungen vorstellbar wer‐
den konnte, auch wenn erst ein viel später
kommendes Geschlecht diese Möglichkeit
werten können wird.
.Ich mußte malen lernen, um ein Zeuge
substantiellen geistigen Lebens zu
werden...
48 Aus meiner Malerwerkstatt
Meine geistlichen Bilder
.Die Bildwerke von denen hier nun zu
sprechen ist, sind bisher vielfach, ‒ in der
Verlegenheit, ein Rubrum dafür zu finden,
‒ als „mystische” Bilder bezeichnet wor‐
den, und ich vermochte es ehedem um so
weniger, mich über diese Scheindeklaration
zu ereifern, da ich ja selbst damals keine
Bezeichnung zu finden wußte, die ich als
unbestreitbar richtig empfunden hätte.
.Endlich aber sehe ich mich doch dazu
verpflichtet, hier ein für allemal auszuspre‐
chen, daß nicht ein einziges dieser als
„mystisch” bezeichneten Bilder auch nur
das Geringste mit „Mystik”, oder zu Recht
als „mystisch” bezeichnetem „Schauen
zu tun hat, und daß sämtliche, ohne Aus‐
nahme, auf die durchaus normale Weise
51 Aus meiner Malerwerkstatt
entstanden sind, in der jedes wirkliche
Kunstwerk entsteht, also auf Grund ehrlich
erworbenen handwerklichen Könnens, nach
zahllosen Vorstudien und Versuchen, und
in hartem künstlerischen Ringen.
.Es handelt sich bei diesen aus linearen
Gliederungen erwachsenden dynamischen
Farbenkompositionen vielmehr um etwas
Ähnliches, wie etwa um künstlerische Ge‐
staltungen nach jenen Formen und Farben,
die ‒ vergleichsweise gesagt ‒ bei leben‐
den Präparaten zuweilen unter dem Mikro‐
skop sichtbar werden, oder, vielleicht noch
richtiger: ‒ um Darstellungen von Form‐
und Farbgebilden, die ihrer dynamischen
Art nach den „Chladni'schen Klang
figuren”, ‒ wenn auch auf ganz unermeß‐
lich höherer Ebene entstanden, ‒ ver‐
glichen werden könnten.
.So bestechend dieser Vergleich aber auch
für mich selber ist, wenn es sich darum han‐
delt, verstehbar zu machen, wie ich zu die‐
52 Aus meiner Malerwerkstatt
sen, der Außenwelt sichtlich so fremden
Lineargebilden und Farbengestaltungen
komme, bei deren Formung mir nichts fer‐
ner liegt als etwa künstlerhafte Neuerungs‐
sucht oder irgend eine Art Mystizismus, ‒
so muß ich doch hier, um Irrtümern jeden
Boden zu entziehen, deutlichst aussprechen,
daß es sich in keiner Weise etwa um die
künstlerische Auswertung physikali
scher, wenn auch noch so verborgener, ‒
also „okkulter” ‒ Vorgänge handelt, son‐
dern um Darstellung ewigen substantiell
geistigen Geschehens.
.Ich möchte aus eigener Erfahrungs‐
bestätigung fast mit Sicherheit annehmen,
daß unter den Musikern: Johann Seba
stian Bach innerlich das gleiche geistige
Erleben irgendwie in sich erfahren haben
müsse, so daß er in Tönen darzustellen
suchte, was ich der Farbe nach wieder‐
zugeben strebe. Daß Goethe ähnliches Er‐
leben kannte, steht für mich außer aller
Frage.
53 Aus meiner Malerwerkstatt
.Von allen Bezeichnungen, die man
dieser meiner durchaus in rein geistigem
Erleben gegründeten und nur von daher
befruchteten künstlerischen Produktion
etwa geben könnte, scheint mir die Benen‐
nung als „geistliche” Bilder am wenig‐
sten irreführend zu sein.
.Die Bezeichnung als „geistige” Bilder
würde keineswegs das Gleiche besagen, da
es ihr nach ja auch möglich wäre, anzuneh‐
men, die Bilder seien unter irgend einem,
von mir nur als „geistigempfundenen
Einfluß erzeugt, oder gar auf andere, als
die in aller Kunstgestaltung übliche Weise
der Darstellung entstanden.
.Auch könnte angenommen werden, daß
ich subjektiven Vorgängen in meinem Geiste
eine symbolisierende Darstellung schaffen
wolle.
.Ich stelle aber auf diesen Bildtafeln nichts
anderes dar, als was ich infolge meiner sub‐
stantiell geistigen Bewußtseinsentfaltung in
54 Aus meiner Malerwerkstatt
nur innerlich zugänglichen, alle Erschei‐
nungswelt durchdringenden Regionen be‐
wußt empfindend erlebe ‒ und meiner Eig‐
nung nach, in erster Linie seinen farbigen
Ausdruckswerten entsprechend aufnehme.
.Ich fühle mich bei dieser Darstellung
durchaus als „Realist”, denn ich suche das
fast Undarstellbare dem Beschauer auf eine
Weise nahezubringen, die ihm meine eige‐
nen, geistig erlebten Eindrücke so getreu
wie nur irgend möglich vermitteln.
.Gewiß soll das nicht etwa heißen, daß
ich das von innen her Wahrgenommene ein‐
fach „abmale”!
.Das ginge schon insoferne nicht, als die
Formen- und Farbgebilde, die ich darzu‐
stellen habe, in immerwährender lebendiger
Bewegung sind.
.Außerdem aber kennen die Regionen aus
denen die Vorbilder der Gebilde meiner
geistlichen Gemälde stammen, nicht nur un‐
55 Aus meiner Malerwerkstatt
sere äußerlich-irdisch allenthalben gültigen
drei Dimensionen, sondern eine solche Viel
zahl der Dimensionierung, daß ein irdisches
Auge nur Verwirrung erfahren würde, wollte
es diese vieldimensionalen Welten auf
seine gewohnte Art zu verstehen versuchen.
.Es ist für mich immer eine zuerst fast
unlösbar erscheinende Aufgabe, ein solches
geistiges Geschehen darzustellen, weil zu‐
meist ganz ausgeschlossen erscheint, daß
man für die vieldimensionalen Formen und
Vorgänge eine Möglichkeit der Projektion
in die Malfläche zu finden wisse, die noch
irgendwie zulassen könnte, daß der viel‐
dimensional eingebettete Vorgang, oder
die vieldimensional bestimmte Form von
dem an Dreidimensionalität gewöhnten, und
nur für sie eingerichteten physischen, kör‐
pergemäßen Auge des irdischen Menschen
optisch „verstanden” werde.
.Ich muß daher in vielen und überaus
mühereichen Versuchen erst festzustellen
56 Aus meiner Malerwerkstatt
suchen, welche zweidimensionale Form bei
entsprechender Farbendynamik die gleiche
Empfindung im Unbewußten hervor‐
zubringen geeignet ist, die in mir in bewuß
ter Weise ausgelöst wurde durch die viel‐
dimensional sich auswirkenden geistigen
Kräfte, deren Wirken ich darzustellen
trachte.
.Das ist keineswegs einfach, und kann
viele Monate, oder auch Jahre währen!
.Nur äußerst selten wird es mir möglich,
auch allenfalls ohne solche Studien zum
Ziele zu kommen, aber dann nur auf Grund
vieler, die bereits früher entstanden waren.
.Erst wenn alle Vorstudien dieser Art
beendet sind, kann ich zur Komposition
des „Bildes” in meinem Sinne gelangen, des‐
sen geistlicher „Inhalt” seit langer Zeit
schon Ausdruck durch die Mittel des Malers
finden will.
57 Aus meiner Malerwerkstatt
.Ich bin auch dann keineswegs in gleicher
Weise frei, wie als Maler der irdischen Dinge,
denn alle Projektion vieldimensionaler For‐
men will immerfort erkämpft sein, bevor
sie der Fläche einer Leinwand sich ergibt.
.Unter Tausenden der Betrachter meiner
geistlichen Bilder werden nur recht wenige
sein, die sich ahnend eine Vorstellung davon
zu bilden vermögen, welche Qual und Pein,
welches Ringen und Bangen, welche Be‐
glückung und Enttäuschung, welche Siche‐
rung und urplötzliche Preisgabe als Ein
satz verlangt werden, bei dem hohen Spiel,
dessen Gewinn endlich ein solches Bild dar‐
stellt. ‒
.Es handelt sich ja nicht um die Wieder‐
gabe von „Schauungen” und „Gesichten”,
sondern um Darstellung eines Geschehens,
in dem man mitteninne steht, und das
keineswegs nur in einer dem Sehen durch
das körperhafte Auge analogen Weise auf‐
58 Aus meiner Malerwerkstatt
genommen, sondern im substantiell-geisti‐
gen Organismus nach aller Empfindungs‐
weise hin erlebt wird.
.In meinem Buche „Welten”,* das der
Aufnahme dieses Buches unbedingt fol
gen sollte, sind ausführlichste Hinweise auf
diese Erlebensform gegeben.
.Sie läßt sich allerdings nur bis zu be‐
stimmten Grenzen durch das Wort der
Sprache beschreiben.
.Man wird vor allem zu verstehen suchen
müssen, daß alle diese Formen, die auf den
Bildern in lebendiger Farben-Dynamik
dargestellt sind, in Wirklichkeit gleichzeitig
tönen, und daß Linienform, Farbe und
Ton nur die Ausdruckswerte substan‐
tiell-geistig erlebbarer innerer Spannun
gen, Strebungen, Drohungen, Wider
     * In „Welten” habe ich noch die Worte: „Schauungen” 00
und „Gesichte” unbedenklich in einem allgemeinen, nicht streng 00
exakten Sinn angewandt. Ich bitte den Leser, diese Worte aber 00
als durchaus das Gleiche meinend, wie „Erlebnisse” und 00
Bilder” auffassen zu wollen.
59 Aus meiner Malerwerkstatt
stände, und schließlich: ‒ Erlösungen
sind, aus seelisch oft kaum noch ertrag‐
barem Miterlebenmüssen der Urformen
allen Geschehens.
.Ganz abwegig bleibt jeder Versuch, das
Dargestellte verstandesmäßig ausdeuteln
zu wollen, also z. B, anzunehmen, irgend
eine Form bedeute irgend etwas, und das
Bildganze sei zu „erklären”, wenn man nur
die „Bedeutung” aller darin enthaltenen
Formen und Farben kenne.
.„Erklären” läßt sich nur etwas, das
noch nicht klar, oder aber verdunkelt,
also unklar geworden ist.
.Das aber, was auf diesen, meinen geist‐
lichen Bildern zur Darstellung gelangt, ist
an sich ursprüngliche Klarheit, denn es
ist die Matrix aller Erscheinung: ‒ das
Urgeschehen, wie es als Ursache jeg‐
lichen Geschehens in allen kosmischen Be‐
reichen, sich von Ewigkeit zu Ewigkeit er‐
eignet.
60 Aus meiner Malerwerkstatt
.Dieses Urgeschehen ist ein durchaus
konkreter, in geistiger Ursubstanz sich
vollziehender, ununterbrochener und un‐
unterbrechbarer Vorgang.
.Um von der Struktur geistiger Ursub‐
stanz eine Vorstellung zu geben, kann ich
nur den Vergleich mit einer unendlich‐
fältigen Schichtung hauchdünner Mem
branen oder Lamellen gebrauchen. Ich
werde immer wieder an die kaum faßlich
feinen, nur mit Hilfe eines subtilen Appa‐
rats erzielbaren, durchscheinenden Schnitt‐
häutchen erinnert, wie man sie zu mikro‐
skopischen Forschungen braucht.
.Aber auch die exakteste Vorstellung der
Struktur geistiger Substanz wird doch nicht
genügen, um eines meiner geistlichen Bilder
wirklich empfindend zu erleben.
.Geholfen ist erst dann, wenn man, auf
jeden Vergleich mit irdisch Gegenständ‐
lichem verzichtend, damit anfängt, sich
selbst: ‒ sein eigenes Seelisches, ‒ in
61 Aus meiner Malerwerkstatt
diesen Form- und Farbengebilden lebendig
nachzuerleben.
.Dann erst ist man bei der Möglichkeit
angelangt, das Dargestellte nacherlebend
auch in sich erfassen zu können, was aller‐
dings einen seelischen Gewinn zu vermitteln
vermag, der durch nichts anderes auf dieser
Erde gewonnen werden kann.
.Es ist das einzige Motiv meiner überaus
undankbaren Aufgabe bei der Darstellung
dieser geistigen Ur-Vorgänge, Anderen eben
diesen seelischen Gewinn zu vermitteln!
.Er kann aber niemals vermittelt werden,
solange noch das Bestreben besteht, irgend
etwas in den Bildern zu suchen, das ver
standesmäßig verstehbar zu machen
wäre.
.So fern mir auch das, nur durch roman‐
tisch-phantastische Illusion angeregte, tö‐
richte Bestreben liegt, der Musik augen‐
mäßig faßbare Entsprechung in Linie und
62 Aus meiner Malerwerkstatt
Farbe schaffen zu wollen, so muß ich hier
doch wieder, allerdings in ganz subjektiv
durch mein musikalisches Empfinden be‐
stimmter Weise, an die Tonwerke Johann
Sebastian Bachs erinnern, denn ich kom‐
me nicht von dem Eindruck los, daß der be‐
deutendste Teil seines Schaffens, in dem
alles unerfaßlich hohe technische Können
nur Seelischem dienen muß, durch ein
Erleben gleichartiger Erlebensbezirke be‐
stimmt war, wie es mich, ‒ der ich statt
in Tönen, in Linien und Farben das
sonst Unfaßliche faßbar zu machen suchen
muß, ‒ dazu veranlaßt, meine geistlichen
Bilder zu malen.
.Hier ist zur Verständigung ja nicht ein
Abmessen ganz inkommensurabler künst‐
lerischer Kapazität vonnöten, sondern nur
die Erkenntnis, daß meine Bilder ebenso
Vorhandenem in der Seele begegnen, wie
eine Bach'sche Fuge, die ja auch von Din‐
gen erzählt, von denen nur die Seele
weiß...
63 Aus meiner Malerwerkstatt
.Wer sich einmal mit der Vorstellung
der Situation vertraut gemacht hat, in der
diese meine geistlichen Bilder entstehen,
den dürfte es sicherlich auch nicht befrem‐
den, daß von den dargestellten Gestaltun‐
gen und ihren Farben gleichgeartete Schwin‐
gungen immerfort ausgehen, wie sie von
den geistigen Urgebilden in dem zur Dar‐
stellung gewählten, erlebten Augenblick
in schöpferischer Tendenz ausgegangen sind.
.Diese Schwingungen bleiben jedoch un‐
berührt von dem seelischen Erfühlen und
Empfinden des Bildes, so wie die rein opti‐
schen Strahlen die von ihm ausgehen, eben‐
falls sich nicht ändern, einerlei, ob ein
Sehender oder ein Blinder sein Auge dem
Bilde zuwendet.
.Das Wissen um diese Schwingungen, die
nicht nur durch das Auge aufgenommen
werden, ist der Grund, weshalb es unter
meinen geistlichen Bildern nur einige we
nige gibt, die einem Erleben zertrüm
64 Aus meiner Malerwerkstatt
mernder, vernichtender, oder auch
nur drohender Wirkung der dargestellten
geistsubstantiellen ewigen Kräfte ihr Da‐
sein zu verdanken haben... Die Entste‐
hung der hier bezeichneten Bilder liegt
jetzt über zwei Jahrzehnte zurück, und seit
dieser Zeit konnte ich mich, im Wissen um
die erwähnten, von den Formen und ihren
Farben ausstrahlenden Schwingungen, nicht
mehr entschließen, einer destruktiven
Auswirkung der mir jederzeit erlebnisnahen
Urkräfte im Geistigen, auf einer Bildtafel
ein entsprechendes Äquivalent zu schaffen,
auch wenn mir sehr oft der Verzicht auf die
künstlerischen Möglichkeiten, die sich aus
solchem Erleben ergaben, gewiß nicht leicht
wurde.
.Wenn es sich auch um experimentell
wohl kaum faßbare Schwingungen handelt,
so weiß ich doch nur zu gut, welche gewal‐
tigen Kräftewirkungen sich unter dafür gün‐
stigen Umständen durch diese Lineamente
und Farbengebilde übertragen lassen, ‒ und
65 Aus meiner Malerwerkstatt
es sind in dieser Zeit weit mehr aufnahme‐
bereite lebende Antennen in menschlichen
Gehirnen zu finden, die alles was irdische
destruktive, zertrümmernde Kräfte ver
stärken könnte, mit wahrer Gier an sich
ziehen, ‒ als es Aufnahmeorgane gibt für
positiv wirkende, aufbauende, erheben
de geistige Kräfteschwingungsformen...
.Im Grunde handelt es sich bei den durch
die künstlerische Darstellung der farbigen
und linearen Auswirkung substantiell gei‐
stiger Urkräfte ermöglichten Schwingungs‐
übertragungen um nichts Geringeres als um
die schon vorgeschichtlichen Zeiten ‒ und
diesen besser als der heutigen Zeit ‒ be‐
kannt gewesene „Magie der Zeichen”, wenn
auch in meinen geistlichen Bildern die „Zei‐
chen” nicht isoliert werden, sondern sich in
ihrem „organisch” zu nennenden Seins‐
zusammenhang auswirken.
.Man kann gewiß auch, wie Max Klinger,
in meinen geistlichen Bildern nur intuitiv
66 Aus meiner Malerwerkstatt
geschaffene Linien- und Farbensym
phonien sehen wollen, aber das enthebt
mich nicht der Pflicht, die Dinge nach
bestem eigenen Wissen aufzuzeigen.
.Ein gewisses Recht dazu, diese Bilder
lediglich als farbige Symphonien zu
werten, ist unstreitig dann gegeben, wenn
von der Anregung zur Darstellung ganz
abgesehen wird und nur der ornamental
dargestellte Farbenkosmos interessiert, der
durch die verschiedenen formalen und Far‐
benbeziehungen innerhalb des Bildrahmens
besteht.
.Die von mir in meinem substantiell-gei‐
stigen Organismus erlebten und infolge mei‐
ner angeborenen, primär wohl auf das
Optische gerichteten Auffassungsweise, in
erster Linie ihren Farbenwerten nach
empfundenen geistigen Kräftegestalten
geben ja nur das Material zur Bildgestal‐
tung, die in ihrem ganzen Aufbau ebenso
67 Aus meiner Malerwerkstatt
meine Komposition bleibt, wie jedes
Landschaftsbild, einzig dadurch be‐
stimmt, welchem Erleben ich den Weg zur
Seele des Beschauers schaffen will.
.Ich muß ja auch die Formen- und Far‐
benelemente der Landschaft in ganz ver‐
schiedener Weise verwenden, je nachdem,
ob das Bild Ruhe und Frieden, trost
volle Zusprache, oder aber befeuernde
Hilfe dem Betrachtenden vermitteln soll.
.Die gleichen gegenständlichen Kom‐
ponenten einer Landschaft werden wesent
lich andere Behandlung verlangen, wenn
ich eine schwere Gewitterstimmung malen
will, als wenn es sich darum handelt, eine
Stimmung der taufrischen Morgenfrühe
fühlbar zu machen.
.Ebenso muß ich auch die mir innen
gegenwärtigen, farbigen Diagramme und
Projektionen geistiger Kräftewelten in sehr
verschiedener Art behandeln, je nachdem,
68 Aus meiner Malerwerkstatt
welches genau präzisierte geistige Erleben
ich darstellen, oder welchen geistigen Vor‐
gängen ich die analoge Bildform schaffen
will.
.Es wäre auch gewiß kein Sakrileg, die
einmal bis zu ihrer Darstellungsmöglichkeit
in der Fläche gebrachten Formen mit ihren
Farben nun in völlig freier künstleri
scher Komposition intuitiv angeregt zu
verwenden, aber der Reichtum an sachlich
Erlebbarem ist in diesen geistigen Welten
derart unerschöpflich, daß auch im längsten
Erdenleben immer nur erst ein winziger
Teil des Erlebensmöglichen dargestellt wer‐
den könnte, auch wenn der es Darstellende
tagtäglich konzentriert an der Staffelei ar‐
beiten wollte.
.So ist man der freien Erfindung, die
ohnehin nicht meine Stärke wäre, glück‐
licherweise enthoben und kann sich allein
der Komposition des „Bildes” widmen,
dessen geistiges Vorbild immer gegeben
69 Aus meiner Malerwerkstatt
ist, auch wenn die künstlerische Darstel‐
lungsmöglichkeit erst gefunden werden
muß.
.Daß aber diese geistlichen Bilder dem
Betrachter nur dann etwas zu geben haben,
wenn er sich selbst nicht krampfhaft in
irgend einer ihm lieb gewordenen Kunst‐
auffassungsart festzuhalten sucht, sondern
den Mut findet, sich frei und unbeschwert
von Deutelust den ganz andersartigen
Augeneindrücken zu überlassen, die sich
ihm hier darbieten, ergibt sich unschwer
schon aus der fürs Erste befremdlichen
Farben- und Formenwelt, auch wenn man
noch nicht weiß, daß sie einer Wirklich
keit entspricht, die diesen Namen tausend‐
mal mehr verdient, als alles, was in unserem
äußeren physischen Dasein mit gleichem
Namen bezeichnet wird.
.Geradezu warnen muß ich demgemäß
davor, den Namen, durch die ich die Bilder
70 Aus meiner Malerwerkstatt
für die Sprache bezeichenbar mache,
etwa einen Deutewert beizulegen!
.Würde mir eine andere Bezeichnungs‐
art für die einzelnen Werke angängig er‐
scheinen, dann würde ich ihnen gewiß
keine „Namen” geben, ‒ oder das doch
nur in den seltensten Fällen für geboten
halten.
.So aber, auf Wortbenennungen ange
wiesen, bitte ich in den „Namen” nichts
anderes sehen zu wollen, als Hinweise auf
die mir zum Erfassenkönnen des jeweiligen
einzelnen Bildes am sichersten tauglich er‐
scheinende Empfindungseinstellung.
.Ein solches Bild läßt sich aber erst dann
empfinden”, wenn es von dem Betrach‐
tenden erlebt wird, und zu erleben ist es
von ihm nur, wenn er sein eigenes Be
wußtsein in das Bild versenkt: ‒ sich also
in den Formen und Farben des Bildes selbst
findet, als sei hier sein eigenes Seelisches
71 Aus meiner Malerwerkstatt
dargestellt, was ja auch oft genug der Fall
ist...
.Nur auf diese Art ist es möglich, in der
Seele den Widerklang zu wecken, der mit
den von mir dargestellten geistigen Kräfte‐
projektionen wirklich korrespondiert.
.Jeder andere Versuch, eines dieser geist‐
lichen Bilder in sich aufzunehmen, muß zu
einem Fehlschlag führen.
.Es darf sich nichts zwischen Auge und
Seele stellen!
.Jede Zwischenschaltung bewirkt eine
Verfälschung des Dargestellten für die
eigene Erfahrung.
.Das Wesentliche ist also die durch kei‐
nerlei Deutelust behinderte Einfühlung,
und nur dem sich Einfühlenden kann sich
ein solches Bild zu eigen geben.
.Jedem, der es sich auf andere Weise
habhaft machen will, wird es nicht mehr
72 Aus meiner Malerwerkstatt
von sich zu sagen wissen, als irgend eine
seltsame Tapete.
.Wie aber der von mir dem Bilde bei‐
gegebene „Name” nur wie das Anschlagen
einer Stimmgabel wirken soll, so sind auch
die zuweilen in den Bildern dargestellten
Formen fast irdischer Art, die deutliche
Anklänge an Elemente physisch sichtbarer
Erdendinge zeigen, nicht viel anders auf‐
zufassen.
.Es handelt sich hier nicht um eine will‐
kürliche Symbolik oder Allegorie, son‐
dern um Formen, deren Aufbauelemente
sich in nichts von denen der anderen Ge‐
stalten dieser geistigen Kräftewelten unter
scheiden, aber während bei diesen ande‐
ren Gestalten die ursprüngliche, durch
rein geistige Strebung bewirkte Formung
vor dem Auge des Betrachters steht, sind
die dem Irdischen nahen Formgebilde
sekundäre Gestaltungen, bestimmt durch
73 Aus meiner Malerwerkstatt
irdischer Sichtbarkeit entlehnte Wertbil
der wirkensdurstigen menschlichen Vor
stellungsvermögens.
.Diese Influenz-Gestaltungen treten
überall in den geistigen Kräftewelten auf,
wo durch starke stille Willens-Ströme,
menschlicher Vorstellungsinhalt bis in die
Regionen des substantiell-geistigen Kräfte‐
waltens emporgetragen wird, und es gibt
daher fast unendlich viele solcher gei‐
stig substantiellen Sekundärformen.
.Kein über das irdisch Tierische hinaus‐
reichendes Streben, kein Glaubensbezirk
und keine Vorstellungswelt dem Geistigen
zustrebender Weltanschauungen ist an der
Schaffung solcher sekundärer substantiell
geistigen Influenz-Gestaltungen unbe
teiligt.
.Dahin gehören auch die auf manchen
meiner geistlichen Bilder dargestellten,
schneebedeckten Bergesgipfel, die
74 Aus meiner Malerwerkstatt
pflanzenartigen Gebilde, die da oder dort
erscheinenden, rein geometrischen gei‐
stigen Ursymbole, so wie die allereinfach‐
ster Vorstellungsart entstammenden Tuben
auf dem Bilde: „Tempel der Ewigkeit”,* ‒
ferner die scheinbaren Meeresflächen
und Wellen, die Edelsteingebilde und
Blumenkelchformen, wie auch sonst
alles, was rein irdisch befruchteter Vor‐
stellungsfähigkeit allenfalls entstammen
könnte.
.Die primären geistigen Kräfteformen
finden hingegen, ihrer Gesamtgestalt
nach, keine irdischen Parallelerscheinun‐
gen, außer vielleicht in allerkleinsten
Aufbauformen, wie sie allein das Mikroskop
offenbaren kann, sowie in elektrischen
und elektro-magnetisch bedingten Er‐
scheinungen (insbesondere solchen, bei Ent‐
ladung hochgespannter Ströme) und ‒ in
gewissen, aus der Notwendigkeit entstande‐
.*) Wandbildreproduktion in Farbenlichtdruck: Neue Photogr. OO
Gesellschaft, Berlin-Charlottenburg.
75 Aus meiner Malerwerkstatt
nen Formen technischer Gebilde, wie sie
der Ingenieur er-findet, weil sie in seinem
rein Geistigen zu finden sind.
.Löste man aber alle diese vielfältigen
Formen substantiell geistiger Kräfteprojek‐
tionen in ihre letzten Komponenten
auf, so würde auch von der primären For‐
menwelt nicht das kleinste Detail übrig
bleiben, zu dem nicht Entsprechungen in
der dem physischen Auge zugänglichen
Natur irgendwie und -wo gefunden werden
könnten, denn alles Naturgestaltete ist ja
nur Bezeugung der Formen ursächlich
wirkender geistiger Kräftewelten, die in
meinen geistlichen Bildern künstlerisch
verarbeitetes Bildmaterial wurden, ‒
und auch das in physischem Leben durch
diese Kräfte Gewirkte kann keine ande
ren Formen zeigen, als die ihm geistig
zugeteilten.
76 Aus meiner Malerwerkstatt
Mein Jesusbildnis
Jesusbildnis
Anmerkung: Das Bild ist im Buch nicht enthalten.
.Die himmlisch-erhabene Gestalt des
Gottmenschen”, wie sie ‒ viel weniger
aus den Evangelien, als aus anderen, der
beginnenden Dogmenbildung zu ihrer Zeit
weit weniger erwünschten Schriften, ‒
bis in unsere Tage herunterstrahlt, ist alles
andere eher, als „Portrait”, ‒ als Bildnis,
das auf formale Ähnlichkeit mit einer
dahin gegangenen menschlichen Erscheinung
sich berufen dürfte.
.Es ist nicht die Gestalt des Rabbi
Jehoschuah, des „Nazareners”, die vor
der Seele auftaucht, wenn von dem Chri
stus Jesus die Rede ist, sondern ein simul‐
tanes Vorstellungsbild, zu dem das Vorstel‐
lungsvermögen ungezählter Wort- und Bild‐
gestalter die einzelnen Elemente im Laufe
79 Aus meiner Malerwerkstatt
von fast zwei Jahrtausenden beigesteuert
hat, ‒ fast in allen Stücken Zeugnis der
Verwirrung und Betörung durch dogmati‐
sche Festsetzungen, die mit der Wirklichkeit
auf sehr gespanntem Fuße bleiben müssen
um sich zu erhalten.
.Und doch sind unter den vielen, von bil‐
denden Künstlern geschaffenen Messiasbil‐
dern nicht ganz wenige zu finden, die offen‐
bar aus dem Willen heraus konzipiert wor‐
den waren, der menschlichen, voreinst
sichtbaren Erscheinung des Meisters, nach
einer auf Vermutung gegründeten künst‐
lerischen Vorstellung, ein „vielleicht” der
Wirklichkeit doch irgendwie ähnliches Ab‐
bild zu gestalten, da ja, ‒ von vulgärem
Unfug, der es vortäuschen möchte, hier
natürlich abgesehen, ‒ kein authentisches
Bildwerk aus der Zeit Jesu existiert, das ihn
zur Darstellung gebracht hätte.
.Ganz frühe Kultbilder mögen zwar, ‒
wie ich heute zu vermuten geneigt bin, ‒
80 Aus meiner Malerwerkstatt
auf irgendwelche Tradition zurückgehen,
an deren Ausgangspunkt der optisch
empfangene Eindruck eines mit dem Volks‐
lehrer Jehoschuah gleichzeitig Lebenden
gestanden haben kann, aber alles was später
gestaltet wurde, ist in jedem Falle Werk
der Phantasie, die der künstlerischen
Vorstellung jeweils das Vorbild schuf, das
in der Auffassung des Künstlers seelisch oder
durch äußere Eindrücke vorbestimmt
war.
.Auch ich habe vor Zeiten einen Gekreu
zigten und einen Auferstandenen ge‐
malt und in beiden Bildern den Gesichts‐
typus des blonden, blauäugigen Juden fest‐
gehalten, wie er unter den Chasidim,
den jüdischen Mystikern des europäischen
Ostens, gar nicht selten ist, und wie er mir
zuweilen in geradezu erschütternder Hoheit
des Ausdrucks begegnet war.
.Aber auch der bartlose Christus der
Katakomben hat zeitweilig meine Vor‐
81 Aus meiner Malerwerkstatt
stellung zu bestimmen versucht, während
der menschlich so ergreifende Jesus Rem
brandts für mich stets dermaßen zur sub‐
jektiven Gesamtgestalt des Künstlers ge‐
hörte, daß ich unmöglich von da her etwas
in mein eigenes Vorstellungsbild überneh‐
men konnte.
.Anders war es gegenüber dem Kopf des
Jesus auf dem „Zinsgroschen”-Bilde von
Tizian.
.Der dort Dargestellte wollte sich in sei‐
ner vornehmen Überlegenheit über die Pha‐
risäer recht gut mit meiner eigenen Vorstel‐
lung von dem irdischen Meister Jehoschuah
vereinen lassen, wenn ich auch seinen
menschlichen Typus nicht als überzeugend
empfand.
.Ich erwähne das alles nur um zu zeigen,
daß auch ich, solange ich auf ein Vorstel
lungsbild angewiesen war, das sich nur
auf Vermutungen über die mögliche
82 Aus meiner Malerwerkstatt
äußere Erscheinung des erhabenen gott‐
einigen Menschen gründete, genau so von
den vorhandenen Gestaltungen der Kunst,
oder auch durch das Leben, Vorstellungs‐
einflüsse empfing wie jeder Andere.
.Das hörte erst auf, nachdem ich, nach
langen Jahren der Schulung, die, als mit
mir geborene Pflicht aufgetragene Be
wußtseinsentfaltung im Erkenntnis‐
bereich des substantiellen ewigen Gei
stes erreicht hatte, durch die ich mit dem
in diesem Bereiche ewig Lebendigen, der
ehedem im Irdischen als der wandernde
Lehrer Jehoschuah durch Palästina ge‐
zogen war, in die Bewußtseinsvereinung
kam, die alle hier Bewußten einigt.
.In meinem Buche: „Das Mysterium
von Golgatha”* sage ich über diese Ver‐
einung Folgendes:
.* Richard Hummel-Verlag Leipzig. (Seite 194 der Neuausgabe!)
83 Aus meiner Malerwerkstatt
„Wir stehen... in permanenter, bewuß‐
ter geistiger Verbindung untereinander, so,
als ob ein steter gleichmäßiger elektrischer
Strom uns immerfort alle ‒ auch die nicht
im Erdenkörper Lebenden ‒ durchkreisen
würde.” Und später sage ich dort:
.„Auf geistig-reale Weise können wir
uns alle einander sichtbar und vernehm
bar machen durch bloßen Willensakt.”
.Hier kann ich nur eindringlich auf diese
Worte verweisen!
.Es versteht sich von selbst, daß auch ein
leiblich bereits von der Erde Geschie
dener, wenn er diesen Willensakt voll‐
bringt, dem irdischen Auge des mit ihm
Vereinten, seine ehemalige irdische Er‐
scheinungsform darstellt!
.Diese Erscheinungsform aber war mir ja
in Bezug auf den mir seit der Vollendung
84 Aus meiner Malerwerkstatt
meiner geistig realen Entfaltung allerinnerst
Vereinten, von dem ich ehrerbietigst hier
spreche, im rein geistigen Bewußtsein
ohnehin vertraut.
.Daß ich aber, soweit ich auch Künstler
bin, den begreiflichen Wunsch haben mußte,
dieser Erscheinungsform ein künstleri
sches Dokument zu schaffen in ihrer
Wiedergabe durch die Mittel des Malers,
dürfte wohl ebensowenig befremden können,
wie die Tatsache, daß die Befruchtung durch
den optischen Eindruck auf das kör
perliche Auge, einem jeden Bildnis mehr
bestimmendes Leben verleiht, als das
bloße Zurückgreifen auf eine innerliche An‐
schauung, bei deren Betrachtung doch der
Nimbus subjektiver Gefühlswahr
nehmung begreiflicherweise die rein far
bige, plastische und lineare Gestaltung
ganz erheblich überstrahlt.
85 Aus meiner Malerwerkstatt
.Bis nun meine erste Studie nach dem
durch oben bezeichneten Willensakt ver‐
mittelten optischen Augeneindruck vor Jah‐
ren zustandekam, war sowohl von Seiten
des Dargestellten, wie von meiner Seite her
keineswegs mehr erstrebt worden, als eine
intensive optische Beeindruckung meiner
künstlerischen Erinnerungsfähigkeit.
.Erst die im hier gegebenen Falle nicht
von mir vorausgesehene längere Dauer der
geistig geschaffenen, plastischen, lebendigen
Erscheinungsform aus geistiger Substanz
ließ in mir den Gedanken entstehen: ob
nicht der Versuch zu wagen wäre, die ge‐
liebte Gestalt ebenso wie sonst eine andere
Impression aus den Bereichen der Sichtbar‐
keit, so gut es gehen mochte in Lineament
und Farbe, dem Gesamteindruck nach,
wiederzugeben.
.Da ich ja keine Leinwand vorbereitet
hatte, mußte mir eine beidseitig grundierte
86 Aus meiner Malerwerkstatt
Maltafel dienen, auf deren anderer Seite be‐
reits eine landschaftliche Bildstudie aus
früherer Zeit zu sehen war.
.Es gelang mir, während der Dauer der
Sichtbarkeit der geistsubstantiellen Form,
den ersten Eindruck so festzuhalten, daß
ich nun neben meinem stärkstens bestimm‐
ten optischen Erinnerungsbild auch eine
äußere Unterlage und Kontrolle für das
später zu malende Bildnis des heißgeliebten
Meisters besaß.
.Nachdem ich aber, von einer Ausnahme
abgesehen, seit Jahrzehnten nichts Figür‐
liches zu malen versucht hatte, weil mir
schon in meinen jungen Jahren klar wurde,
daß die Art meiner Begabung nicht auf
Darstellung der menschlichen Erscheinung
gerichtet ist, so stand diese Bildgestaltung
lange Zeit als eine Aufgabe vor mir, der ich
mich, in Ermangelung der nötigen künst‐
lerischen Zuversicht, kaum zu nahen wagte.
87 Aus meiner Malerwerkstatt
.Als dann der Tag herangekommen war,
an dem ich die Leinwand für das Bild prä‐
parierte,* war auch die Möglichkeit, meine
Arbeit statt an der gemalten Studie, an der
geistig verursachten, zeitweiligen plasti‐
schen Wiedergestaltung der früheren
irdischen Erscheinung des Darzustel‐
lenden zu kontrollieren, in derart gesteiger‐
tem Maße gegeben, daß ich die erste Studie
nur nebenbei noch zu Rate zog, und nur
im Hinblick auf gewisse, dort schon er‐
reichte lineare Bestimmungen, die ich bei‐
behalten wollte.
.Daß ich mich in der Zwischenzeit dazu
bereitgefunden hatte, schon die erste Studie
in einem kleinen Dreifarbendruck reprodu‐
zieren zu lassen, war nur die Gewährung
der Wünsche und Bitten Anderer, denen ich
nicht verhehlte, daß dieses Bild mir später‐
hin als Grundlage für die durchzuführende
Bildgestaltung auf der Leinwand dienen
.*) Jetzt in Farbenlichtdruck als Wandbild reproduziert bei OO
Franz Hanfstaengl, München.
88 Aus meiner Malerwerkstatt
solle. Man wollte aber nicht erst darauf
warten bis das Endresultat vorliegen würde,
für dessen Zustandekommen ich ja auch
keinen Termin anzugeben vermochte.
.Das ist die wahrheitsgemäße nüchterne
Schilderung der Vorgänge, die zur künst‐
lerischen Gestaltung meines Jesusbildes
führten, das durchaus und eindeutig als
Portrait” genommen werden will, einer‐
lei wie man das Können des Portraitisten
bewerten mag, der sich selbst der Mängel
dieses Könnens nur zu sehr bewußt bleibt.
.Das Bild ist nicht etwa auf eine beson‐
dere, „geheimnisvolle” Weise entstanden,
sondern so, wie jedes künstlerische Werk
der Malerei entsteht.
.An der bewußt gewollten Selbstprojek‐
tion des mir substantiell-geistig vereinten
Dargestellten fand ich zwar das Vorbild
für mein Werk, dieses Werk selbst aber
89 Aus meiner Malerwerkstatt
verlangte von mir genau die gleiche hand‐
werkliche Arbeit, wie sie das Portrait eines
gegenwärtig in äußerer irdischer Gestaltung
Lebenden von mir verlangen würde.
.Auch ihn würde ich ja wahrhaftig nicht
„modellstehen” lassen, sondern sein Leben‐
diges im bewegten geistigen Austausch zu
fassen suchen, wie es nicht anders bei der
Darstellung meines Jesusbildnisses geschah.
.Wem dieses Bildnis nicht aus sich selber
für sich selber spricht, dem dürften auch
alle Aufschlüsse und Bekenntnisse in Bezug
auf das Lebensgeschehen im substantiel
len ewigen Geiste, ‒ so, wie sie in mei‐
nen Büchern vereinigt sind, ‒ schwerlich
etwas zu sagen haben...
.Es gibt jedoch auch Menschen, die sich
sowohl einem Schriftwerk als auch einem
Bildwerk gegenüber, fraglos auf die er‐
fahrungsbestätigte Urteilsgewißheit ihres
unverbildeten und unverkrüppelten Emp
findens zu verlassen vermögen, und die‐
90 Aus meiner Malerwerkstatt
sen werde ich kaum erst zu bekräftigen
brauchen, daß mein Jesus-Bildnis weder die
gemalte Wiedergabe einer „Vision”, noch
gar einer auf okkulte Weise irgendwie her‐
vorgebrachten „Materialisation” ist, son‐
dern das Bildnis des Lebendigen, so, wie
er vor fast zwei Jahrtausenden in seinem
Geburtslande allen ihm Begegnenden sicht‐
bar war, und wie er sich jederzeit, aus seiner
substantiellen geistigen Gestalt heraus, ‒
die erdensinnlich nicht erfaßbar ist, ‒
jedem, der ihm substantiell geistig Ver
einten für dessen erdenkörperliches Auge
sichtbar machen kann.
.Mir war dieses sich Sichtbarmachen
durch eine andere Persönlichkeit von Kind‐
heit an vertraut.*
.Die zu dem von mir dargestellten Ant‐
litz gehörende Körpergestalt ist kaum
mittelgroß: schmächtig und zart.
.*) Siehe: „Das Buch der Gespräche”, Kober'sche Verlags‐ OO
buchhandlung (Seite 80 u.f.)
91 Aus meiner Malerwerkstatt
.Unter einer Anzahl ähnlich gekleideter
und fast die gleiche Haar- und Barttracht
zeigender Menschen gleicher Rasse, muß
dieser Mann geradezu wie in einem Versteck
verborgen gewesen sein, und nur schwer
mochten die ihn Suchenden ihn finden.
.Daß die nur aus der künstlerischen
Vorstellung hervorgegangene Gestalt der
meisten Kunstwerke, die ihn darzustellen
suchen, eine große, auch schon äußerlich
überragende Erscheinung zeigt, ist leicht zu
verstehen aus der Neigung künstlerischer
Formensprache, das geistig Große in er‐
haben großer Gestaltbildung ahnen zu las‐
sen, bleibt aber ferne aller „Ähnlichkeit”!
.Wenn nun auch die in der christlichen
Kunst erwachsenen Darstellungen Jesu, von
gewissen byzantinischen Mosaiken und an‐
deren Frühkunst-Werken abgesehen, dem
Gottmenschen die Proportionen der ihn
umgebenden Gestalten lassen, so kön‐
nen sich die Künstler dennoch den „Erlö‐
92 Aus meiner Malerwerkstatt
ser”, so, wie sie ihn empfinden, nur als
großgewachsene, „imponierende” Erschei‐
nung vorstellen, da ja, ihrem Glauben ge‐
mäß, hier die „zweite Person der Gottheit”
menschliche Gestalt „angenommen” hatte,
und es doch schließlich einem Gotte ziemt,
sich auch in menschlicher Verkleidung mög‐
lichst respektabel darzustellen, wovon aller‐
dings der arme Zimmermannsgehülfe Je
hoschuah, der Mann aus Nazareth, zu sei‐
ner Zeit nichts wußte.
.Bevor die Gebildeten auf ihn aufmerk‐
sam wurden, galt er ja auch seinen Zeit- und
Landesgenossen keineswegs mehr, als uns
heute irgend ein braver, noch jugendlicher
Handwerksmann.
.Allen, die aus diesen meinen Mitteilun‐
gen etwa eine Blasphemie heraushören
möchten, gebe ich nur zu bedenken, daß
ich hier nicht von einer theologisch kon‐
93 Aus meiner Malerwerkstatt
struierten und im Verlaufe vieler Jahrhun‐
derte durch die Patina unzähliger Gebete
altehrwürdig gewordenen, ‒ auf gnosti‐
schen Spekulationen fundierten Vorstellung
ihnen liebgewordener Glaubenslehre spre‐
che, ‒ sondern von dem reinen Menschen,
der durch sein Lehren nachmals Anderen
zum Anlaß wurde, ihn zum Gotte zu er
klären.
.Auch ihn haben sie voreinst der Blasphe‐
mie beschuldigt...
.Was ich hier und an anderen Orten von
ihm zu sagen habe, ist bis auf das scheinbar
nebensächlichste Wort auf den geistigen
Austausch mit ihm gegründet. ‒ Wer will
mir verargen, ihm selber mehr zu glauben
als seinen Chronisten und den so viel später
gekommenen Ausdeutern seiner wirkli‐
chen Lehren?! ‒
94 Aus meiner Malerwerkstatt
.Nun ist bereits ein Jahrzehnt vergangen,
seitdem sein Bild durch meine Hand ent‐
standen ist, ‒ ein Jahrzehnt, das mir reich‐
lich Gelegenheit zu Kritik und Prüfung gab,
‒ aber ich habe dennoch nur zu sagen, daß
meine Wiedergabe des Dargestellten jeder
erdenklichen Nachprüfung jederzeit stand‐
hielt, soweit es sich hier um den Eindruck
handelt, den auch seine Zeitgenossen von
der irdischen Erscheinung des Menschen her
erhielten, und den ich seit der Entstehung
meines Bildes unzählige Male wieder und
wieder erhalten habe.
.Nichts Anderes aber wollte ich durch
dieses Bildnis vermitteln, als diesen irdi‐
schen Eindruck seiner Züge und seines
Blickes.
.Des Bildes rein künstlerische Bedeu‐
tung kann für mich gewiß nicht in erster
Linie stehen.
.Es fehlt mir jeglicher Ehrgeiz, etwa als
Bildnismaler betrachtet zu werden.
95 Aus meiner Malerwerkstatt
.Daß es mir möglich wurde, den Eindruck
der Erscheinung des irdischen Menschen
um den es sich hier handelt, wiederzugeben,
verleiht diesem Bildnis seinen ausschließ
lichen Wert, denn dieser Erdenmensch
war der Leuchtende: Jehoschuah = „Je
sus”, aus Nazareth, auf den sich alle Aus‐
sagen der vier Evangelien bezogen wissen
wollen.
.Ich werbe hier wahrhaftig nicht um
Glauben” an diesen Bericht von der Ent‐
stehung des einzigen authentischen Bild
nisses des erhabensten geistigen Lehrers,
der je unter Erdenmenschen erstanden ist,
sondern spreche mit aller Bewußtheit und
uneingeschränkter Verantwortung durch‐
aus autoritativ, als der einzige, mit den
hier erörterten Möglichkeiten wissend und
praktisch Vertraute, der in der Zeit die‐
ser Niederschrift innerhalb des westlichen
Kulturkreises zu finden ist.
96 Aus meiner Malerwerkstatt
.Ich sehe mich zwar von innenher ver‐
hindert, hier Antwort auf alle die Fragen zu
geben, zu denen der moderne, naturwissen‐
schaftlich denkende Mensch sich den von
mir berichteten Vorgängen gegenüber an‐
geregt finden kann, ‒ bin aber in der Lage,
auszusprechen, daß eine solche Selbstdar‐
stellung in rein geistiger Substanz bis ins
Kleinste den bekannten irdischen For‐
derungen entspricht, die wir „Natur
gesetze” nennen.
.Ich weiß, daß sich mein hier gegebener
Bericht sehr vielen Lesern gegenüberfinden
wird, denen es längst bereits „feststeht”,
daß ich mich „natürlich” einer Selbst
täuschung hingebe.
.Ihnen zum Troste kann ich aber in aller
Bescheidenheit vermerken, daß mir der heu‐
tige Stand der praktischen Erkenntnisse
innerhalb der Neuropathologie, der Tiefen‐
97 Aus meiner Malerwerkstatt
psychologie, wie der verschiedenen psych‐
analytischen Auffassungsbezirke recht wohl
vertraut ist, und daß ich darüber hinaus
noch von so manchen Täuschungsmöglich‐
keiten weiß, von denen die innerhalb der
genannten Gebiete berufsmäßig Erfahrenen
noch so gut wie nichts wissen.
.Es wäre wirklich eine klägliche Aus‐
flucht, mir eine „Selbsttäuschung” impu‐
tieren zu wollen, nur um sich nicht ein‐
gestehen zu müssen, daß es für bestimmte
Menschen Möglichkeiten des Erlebens gibt,
die keineswegs Allen zugänglich werden
können. ‒
98 Aus meiner Malerwerkstatt
Beruf und Berufung
.Schwerlich wird einer den der Kunst so
hoch verpflichteten Beruf des Malers höher
zu schätzen, ehrfurchtsvoller zu ehren
wissen, als es mich, mein ganzes Leben hin‐
durch, von innen her erhobene Forde
rung lehrte.
.Beträchtliches weiß ich diesem, mir zu‐
teil gewordenen Berufe zu danken.
.Dennoch habe ich niemals in ihm meine
ausschließliche „Berufung” gesehen.
.Auch ehemals nicht, als ich um diese Be‐
rufung noch keineswegs mit Gewißheit
wußte.
.Ich empfand es als unbedingt zu mir ge‐
hörig, daß ich unter anderem auch mit der
101 Aus meiner Malerwerkstatt
Farbe umgehen können müsse, und das
rein Handwerkliche des Malerberufes
war mir von allem Anfang an nicht nur
geheiligtes Tun, sondern zugleich auch
liebend umhegtes Gebiet schaffender
Formungsfreude.
.Es gab eine Zeit in der ich recht fleißig
in Ton modellierte und Holzbildhauerei
versuchte. Auch den Stein hatte ich be‐
arbeiten gelernt. Aber ich gab die Hin‐
neigung zur Plastik auch wieder auf, ohne
je erneut zu ihr zurückzukehren, denn viel
zu deutlich war mir bewußt geworden,
daß mir das plastische Gestalten niemals,
so wie das Malen, Beglückung werden
könne.
.Ich bin auch überzeugt, daß architek
turales wie musikalisches Schaffen mir
niemals zu solchem Beglücken geworden
wären, auch wenn ich den Studiengang des
Architekten, oder den des Musikers durch‐
laufen hätte.
102 Aus meiner Malerwerkstatt
.Der Beruf des Malers hatte mich zweifel‐
los aus tief in meiner seelischen Konstitu‐
tion verankerten Strebungen her angezogen
und gehört in mein irdisches Wirkungsfeld,
‒ organisch verlangt, ‒ hinein.
.Dennoch gab es für mich vom ersten
Tage meines Studienbeginns an keinen
Zweifel, daß der als so erhaben empfundene
Beruf für mein eigenes Erdenleben nur
sekundäre Bedeutung haben dürfe, was
mich auch gar manche Gelegenheit, durch
ihn zu Ehre und Ruf zu gelangen, zum maß‐
losen Erstaunen Anderer, geruhsam und be‐
wußt übergehen hieß.
.Es war Charakteristikum meiner Be
rufung, ‒ die ich ja heute, angesichts des
bleibenden Werkes das ihr zu danken ist,
nicht erst zu umschreiben brauche, ‒ daß
ich von Kindheit an von innen her geleitet
wurde, allem Leben um mich her, und auch
wenn es mich selbst sehr entscheidend
103 Aus meiner Malerwerkstatt
anging, als gelassener Zuschauer gegen
über zu stehen, wie man einem Schau
spiel, mag es auch noch so sehr ergreifen,
gegenübersteht: ‒ miterlebend, beglückt,
erschüttert oder entsetzt, ‒ aber niemals
wirklich miteinbezogen.
.Daraus ergab sich von selbst, daß ich
zwar viele Lebensbezirke, ‒ innerlich auf
überaus tief empfindende Weise miterlebend
was in ihnen zu erleben war, ‒ kennen
lernte, ‒ aber nie in Gefahr kam, mich
an einen zu verlieren.
.So fühlte und fühle ich mich auch im
Reiche der Kunst, als Maler, aus ein‐
geborenem Erbrecht her heimisch, und
doch wäre es mir niemals möglich gewesen,
die Grenzen dieses Reiches auch als die Ab‐
steckung der mir selbst gebotenen Grenzen
zu betrachten.
.Es war vielmehr stets ein glühendes Ver‐
langen in mir, in jedem neuen Bereich
104 Aus meiner Malerwerkstatt
menschlichen Tuns und Strebens, den ich
auf meinem Lebensweg durchwanderte,
oder den dieser Weg auch nur streifte, mög‐
lichst ebenso heimisch zu werden, wenn
auch oft nur aus dem einzigen Grunde: das
Leben von diesem für Andere bestimm
den Bereiche her sehen und verstehen
zu lernen.
.Auch alles Lesen wurde solchem Ver‐
langen dienstbar gemacht, soweit es über
Fragen der Kunst und Kunstwissenschaft
hinausführen sollte.
.Für belletristische Kunst blieb da‐
neben ‒ bei aller Bewunderung des in ihr
zutagetretenden Könnens ‒ nur wenig Zeit
und Neigung übrig, umsomehr, als ich stets
vorzog, das Leben in allen mir irgendwie
zugänglichen Bezirken nicht in geformter
Nachbildung, sondern durch eigenen
Einblick kennenzulernen.
105 Aus meiner Malerwerkstatt
.Nichts wurde dabei etwa durch den
Beruf bestimmt, den ich vielmehr, soweit
es nur möglich war, in allen meinen Bezie‐
hungen zum Leben fast auszuschalten
suchte, ‒ jedenfalls aber ihm nur dort
Rechte gab auf Mitbestimmung meiner Ein‐
sicht, wo sein ihm innerhalb des allgemeinen
Lebens vorbehaltenes Gebiet allein in
Frage kam.
.Meine Berufung, ‒ nicht mein Be‐
ruf, ‒ hat zu allen Zeiten mein Werden
und mein wirkendes Leben bestimmt!
.An dieser, mit der Berufung selbst ge‐
gebenen, inneren Situation würde sich auch
nichts ändern können, wenn ich noch eine
Reihe reicherfüllter Menschenleben hier in
der irdischen Sichtbarkeit zu durchleben
hätte.
.Niemals könnte mir der Beruf als Maler
Anderes sein, als Akzidenz: ‒ als mir auf
106 Aus meiner Malerwerkstatt
Grund erfüllter kunstgeforderter Voraus‐
setzungsreihen gewährtes Recht zu schö
pferischer Gestaltung im Bereiche der
Sichtbarkeit.
.Niemals könnte von diesem „Recht zur
Gestaltung” her der Umkreis meines irdi‐
schens Wirkens erweitert oder verengert
werden.
.Niemals könnte sich mir aus dem Beruf
her Anlaß zu einer Bekundung ergeben, die
nicht ausschließlich künstlerische Be‐
kundung wäre.
.So ist es auch wahrlich nicht der Beruf,
der mich zu diesen hier gegebenen Berichten
„aus meiner Malerwerkstatt” veranlaßt hat,
sondern ausschließlich der innere Ruf mei‐
ner geistigen Berufung!
107 Aus meiner Malerwerkstatt
ENDE
MANCHERLEI
Verlagslogo
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASEL 1939
COPYRIGHT BY
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASLE 1939
BUCHDRUCKEREI KARL WERNER IN BASEL
INHALT Seite
Zum Titel 5
In meiner Art 7
Zwei Möglichkeiten 11
Folge der Einung 15
Das Wesentliche 19
Voraussetzung 23
Selbstbefreiung 27
Nötige Meinungswandlung 31
Wir „uralten” Schiffer 35
Vereinigung der Gegensätze 39
Bestimmung 43
Glückhaftes Tauchen 47
Geistiges „Atmen” 51
Nicht einfügbar 55
Wesentlicher Unterschied 59
Urgewisses Bezeugen 63
Zeitliche Bewahrung 67
Gottes Bekundung 71
Gesprochener Rede Gefahr 75
Mein Vermächtnis 79
Okzident und Orient 83
Geistige Taufe 87
Gesegnete Insel 91
Transformation 95
Dennoch ewig fremd 99
Notwendige Nährung 103
Mein Acker 107
Urerinnern 111
Wunderliche Käuze 115
Bedauernswertes Irren 119
Langmütige Schonung 123
Ohne mein Zutun 127
An die echten Freunde 131
Freundschaftliches Erinnern 135
Auf des Messers Schneide 139
Leibeslösung 143
Kaum erfüllbar 147
Letzte Bitte 151
Nach dem äußeren Scheiden 155
Originalscan1  Originalscan2
.Was in dieser Sammlung „verdichtet” OO
zu finden ist, erwartet von dem Aufneh‐ OO
menden vorangehende oder nachfolgende OO
Kenntnis meiner geistigen Lehrschriften, die OO
alle einzeln aus der Kober'schen Verlags‐ OO
buchhandlung in Basel, Stapfelberg 2, über OO
jede sachkundig geleitete Buchhandlung be‐ OO
zogen werden können. Verzeichnisse sind OO
auch direkt vom Verlag zu erhalten.
B. Y. R.
I Mancherlei
ZUM TITEL
Mancherlei, was sich zusammenfand,
Ist hier vereinigt in einem Band,
Wie es sich selber zusammenfügte
Und seiner inneren Einheit genügte.
Nichts will hier außer der Reihe stehen
Oder nur eigene Wege gehen.
Alles ist so oder so verbunden
Mit Allem, was sich dazugefunden.
Und wird auch von mancherlei Dingen
.gesprochen,
So wird doch die Einigung nicht
.unterbrochen.
Nur will auch das Einzelne für sich
.allein,
Ein Ganzes jeweils
Im Ganzen sein!
J.Schneiderfranken   Signatur
5 Mancherlei
IN MEINER ART
Es widerstrebt mir tief im Innersten,
Die Worte aufzubauschen: ‒
Mich selbst und Andere
Durch Dithyramben zu berauschen. ‒
Wo ich in irgendwelchen Rhythmen rede,
Rede ich in Worten, die sich anders nicht
Gesprochen wissen wollen,
Doch nicht, um Versgebilde auszuformen,
Die nach allgemeiner Metrik Regeln
Sich bestätigt finden sollen.
9 Mancherlei
Mir ist es gleich, wo man in der Poetik
Unterbringen will, was ich zu formen habe,
Und doch nur forme als Behältnis
Für die dargebrachte Gabe
Aus dem Meer der Seele,
Das in meiner Barke ich befahre,
Aus ihm zu bergen, was in seiner Tiefe
Ich ‒ für Andere ‒ gewahre.
So, wie ich nur nach meinem Sinne ‒
Wohl der Wogen und der Stürme kundig ‒
Setze meine Segel,
So flechte ich auch meine Tragekörbe
Aus den wilden Weiden
Und den Uferbinsen,
Nur nach meiner Regel!
10 Mancherlei
ZWEI MÖGLICHKEITEN
Es ist ein Unterschied
Ob einen Schreibenden
Nur die Bedrängnis seiner Worte treibt,
Die sich geschrieben finden wollen, ‒
Oder, ‒ ob alles was er schreibt,
Ihm erdenhafter Übertragung Träger ist,
Und dennoch allzugleich
Im Reiche wesenhaften Geistes bleibt!
Es ist ein Unterschied,
Ob das, was einer mitzuteilen hat,
Erst zum Gebild durch Worte werden will
Und nach dem Wortbild strebt, ‒
Oder, ‒ ob seine Mitteilung
Geistige Prägung ist
Aus dem, was sich im Wirklichen
Der Ewigkeit ereignet,
Wo er selber leibt und lebt!
13 Mancherlei
FOLGE DER EINUNG
Daß ich mich selber offenbaren muß,
Dient mir wahrhaftig nicht zum Selbstgenuß!
Ein stilles Menschenleben lang
War ich gewohnt, von mir zu schweigen
Und mich, „nicht um die Welt”,
Vor Anderen zu „zeigen”.
Wenn dennoch es zuletzt der Pflicht gelang,
Mein Sträuben in mir selbst zu überwinden,
So war das nicht ‒ Befreiung,
Sondern hartes Binden
An eiserne Notwendigkeit, die von mir
.wollte,
Daß ich: was ich nur von mir wissen
.kann,
Auch selbst berichten sollte. ‒
Nennt es „Atmân”, nennt es „Purusha”,
.„Brahma”, ‒
Nennt es „Allgeist”, ‒ „Vater”, ‒ nennt
.es „Gott”, ‒
Was da in mir, dem Erdenmenschen, spricht,
Sich selbst bezeugt und dargeboten wissen
will, ‒
17 Mancherlei
Nur seid gewiß: ‒ hier wurde Gott
Euch wahrlich nicht „zum Spott”!
Ich bin das „Wort”,
Die „Stimme”
Und der Stimme „Schall”, ‒
Der Sprecher
Und der Stimme Widerhall!
Versagt ist mir
Zu sondern und zu trennen, ‒
In allem muß ich zu mir selber
Mich bekennen!
In Einung bin ich „Stimme” dem,
Was zu euch spricht!
Mir selber aber bin ich still
Und aufgelöst im Licht! ‒
18 Mancherlei
DAS WESENTLICHE
Wenn ich von mir und den mir geistig
.Gleichen
Euch berichte,
Geschieht das, weil es gut ist, daß man auch
Von solchen Menschen weiß,
Wie man in Grönland wohl von Palmen
Wissen kann,
Und in den heißen Dschungeln
Auch von Eis. ‒
Ich zeige uns nicht, um euch aufzuzeigen,
Was ihr erringen könntet, wolltet ihr
Uns gleichen,
Denn was ich zeige, ist nur uns zu eigen
Und läßt von keinem Andern sich
Erreichen.
21 Mancherlei
Doch: ‒ daß ihr von uns wißt,
Kann euer Leben wandeln
Und ändern euren Sinn in Denken, Wort
Und Handeln!
Ja: ‒ daß ihr von uns wißt,
Läßt euch im Lichte finden,
Was unauffindbar ist,
Den geistig Ewig-Blinden. ‒ ‒
22 Mancherlei
VORAUSSETZUNG
Sind wir auch Träger dessen, was euch trägt,
So bitten wir euch doch zugleich: ‒ erwägt,
Daß, was wir tragen, euch wie uns belebt,
Wenn ihr euch selber ihm zu eigen gebt!
Es hat für Myriaden Formen Raum und
.Licht,
Nur überläßt es denen sich wahrhaftig
.nicht,
Die es sich selbst als Eigengut erstreben
Und sich ihm selber nicht zu eigen geben.
Erst, wenn verzichtet wird auf eig'nen
.Schein,
Kehrt das, was wirklich ist, im Menschen
.ein: ‒
Nur wer sich selbst zu leerem Raume weitet,
Findet sich ewig lichtem Leben zubereitet!
25 Mancherlei
SELBSTBEFREIUNG
Euch selber aus euch fortzudenken
.liegt euch denkbar fern,
Denn was hier auszulösen ist,
.habt ihr noch viel zu gern!
Und doch muß Jeder lernen,
.von sich fort zu denken
Soll sich ihm wahrhaft Gott
.zu eigen schenken. ‒
Die nur sich selber denken
.und sich selber meinen,
Kann Gott in Ewigkeit
.sich nicht ver-einen!
Wollt ihr in Gott
.dereinst euch selber finden,
Dann darf Vergängliches
.euch nicht mehr binden!
29 Mancherlei
Was ihr erlebt, das soll euch nicht mehr
.euer: ‒
Soll euch vielmehr der Erdenwelt
.Erleben sein! ‒
Ihr dringt nur, ‒ für ein Mit-Erleben
.teuer”, ‒
In das euch hier erlebbare Erlebnis
.ein, ‒ ‒
Und müßt euch Tag für Tag, ‒
Was auch der Sinn erfahre, ‒
Dem hier gemeinten Mit-Erleben neu
.entwinden,
Daß es euch nicht zuletzt ‒ als
.Selbstgefesselte gewahre,
An harten Ketten die euch peinvoll binden!
30 Mancherlei
NÖTIGE MEINUNGSWANDLUNG
Ein Satz, wie selten einer an Betörung reich,
Gilt vielen Menschen als gesicherte
.Erkenntnis.
Er sagt: ‒ „Vor Gott sind alle Menschen
.gleich!” ‒
Und wer ihn ausspricht, meint ihn
.‒ als „Bekenntnis”.
Was er besagt, schlägt aller Wahrheit
.in's Gesicht,
Denn nicht nur gibt es solche „Gleichheit”
.nicht,
Sondern die Wirklichkeit bezeugt ‒ das
.Gegenteil, ‒
Zeigt, daß „vor Gott” kein einziger
.dem Andern gleicht,
Zu eines Jeden eigenhaftem Heil!
33 Mancherlei
Nur auf der eig'nen, ihm gemäßen
.Geistesstufe
Kann Erdenmenschliches in Gott Erlösung
.finden,
Will es nicht ‒ angelockt durch
.Täuschungsrufe ‒
Sich Gott für Zeit und Ewigkeit entwinden!
Denn jeder steht, in Geisteshierarchie,
.an seiner Stelle
Vor Gott! ‒ Im Lichte der ihm
.zubedingten Helle...
34 Mancherlei
WIR „URALTEN” SCHIFFER
Wir kennen das Meer
Und beherrschen die Welle,
Und wissen um jedwede
Fischreiche Stelle!
Wir fahren nie leer
Unsre Boote zurück, ‒
Nur, daß sie fast sinken
Voll Fang, heißt uns Glück!
So haben wir schon
Vor vieltausenden Jahren
Zusammen und einzeln
Die Meere befahren,
In deren Tiefen
Die Nahrung sich nährt,
Die jeglicher Seele
Ernährung gewährt.
37 Mancherlei
VEREINIGUNG DER GEGENSÄTZE
Wir treiben ein hartes Gewerbe,
Unser Tagwerk ist wahrlich kein Spiel!
Wir lieben das Klare und Herbe:
Wir sind keine „Flöter vom Nil”!
Auf wogend getriebenen Wellen,
Mit Segel und Ruder vertraut,
Da sind wir der Stürme Gesellen
Und wehren uns unserer Haut.
Doch, sind wir dort rauh ohne Reue,
So sind wir auch milde und zart!
Wir wollen, daß Keiner sich scheue
Vor uns und unserer Art.
Wir sind Gottes Lotsen und Fahrer
Auf der Seele unendlichem Meer,
Und der strandenden Schiffe Bewahrer
Am „Land ohne Wiederkehr”. ‒
41 Mancherlei
BESTIMMUNG
Wir fahren auf winzigen Schiffen, ‒
Doch immer bewußt der Gefahr, ‒
Zwischen Felsenstürzen und Riffen,
Stets harter Bedrohung gewahr.
Wir fahren bei Nacht und bei Tage,
Wie Pflicht im Gewissen es will,
Und halten nur heiß banger Frage
Und quälender Seelennot still.
Doch, Keiner noch hat uns gesichtet,
Den wir vordem nicht selbst schon ersah'n
Und zu dem wir die Segel gerichtet,
Weil wir wußten, er fühle uns nah'n!
45 Mancherlei
GLÜCKHAFTES TAUCHEN
Sobald ich unter meinem Fischerboote
Grüne Perlenmuscheln in der Tiefe sehe,
Folge ich allein nur dem Gebote,
Daß mir keine Perle, die sie fassen,
Noch verloren gehe!
Ich werfe allsobald die schweren
.Ankereisen,
Daß mich die Wogen nicht hinweg vom
.Fundort reißen,
Und löse eilig alles von mir, was mich
.hindern würde,
Beim Tauchen in die Fluten als nur
.ungemäße Bürde.
Dann aber knüpfe ich das Tauchertau
.am Kielring ein
Und fasse Messer, Beutenetz und
.Taucherstein
Um mich hinabzustürzen in der Tiefe
.dunklen Grund
Und dort zu bergen den erspähten
.reichen Fund!
49 Mancherlei
Ich weiß, daß Ungezählten er ihr Glück
.bedingt,
Wenn ihn mein Arm ins Boot hinein,
.nach oben bringt!
50 Mancherlei
GEISTIGES „ATMEN”
Mit keinem Taucherkleide,
.keinem Taucherhelm bewehrt,
Weiß jeder, der sich sicher
.zu der Tiefe kehrt,
Um auf dem Meeresgrund der Seele
.Ungehobenes zu heben,
Daß er es nie vermöchte,
Wiederum empor zu steigen,
Wär' ihm des Geistes Atem
.selber nicht zu eigen.
Es handelt sich jedoch hier wahrlich nicht
Um Atemkünste, die der Yogi Hindostans
In jahrelanger Übung lernt,
Wobei er immer mehr sich ‒ ahnungslos ‒
Von allem wahrhaft Geistigen entfernt,
Um Kräfte zu entfalten, die zu Ende sind,
Wenn seines Herzens, ‒ seiner Lungen ‒
Todeslähmung einst beginnt. ‒ ‒
53 Mancherlei
Im Geiste weiß nur der bewußt zu atmen,
Der selber seiner Geistigkeit bewußt,
.bereits im Geiste lebt, ‒
Und wahrlich nicht nach erdenkörperlich
.bedingten Künsten strebt!
Der „Odem Gottes” wird nicht mit des
.Körpers Lungen eingesaugt,
Die auch nicht auszustoßen wüßten,
.was dem Geiste nicht mehr taugt!
54 Mancherlei
NICHT EINFÜGBAR
Es geht nicht an,
Das, was ich offenbare,
Und was ich ohne Zutun
Geistgesetzt gewahre,
Dem Werk der Denker
Und der Dichter einzufügen,
Will man nicht selber sich
Und Andere ‒ betrügen!
Ich habe nichts zu sagen,
Was ich mir erdachte,
Und nichts, was mir
Ein dichterisches Ahnen brachte!
Ich gebe nur Bericht
Von dem, was ich erkunde,
Im Meer der Seele
Auf dem tiefsten Grunde.
57 Mancherlei
Man muß scharf scheiden lernen,
Was ich darzubieten habe,
Von dem, was äußere Erkenntnis wohl
.als Gabe
Erbringt um Meinungen zu
.stützen, ‒
Sonst wird man weder Andern,
Noch sich selber nützen!
58 Mancherlei
WESENTLICHER UNTERSCHIED
Was ich vom „Lebendigen Gott” euch
.berichte,
Das meint nie das gleiche wie jene
.Gesichte,
Die voreinst sich grübelnde Denker
.erschufen,
Und die nur, ‒ in Worten, ‒ der
.Wirklichkeit rufen!
Zwar haben wohl „Arhats” sich manches
.ersonnen,
Und „Rishis” sich manches zu eigen
.gewonnen,
Was in das Wirkliche zielt und weist,
Doch ‒ keiner war selbst im lebendigen
.Geist! ‒
Und ehre ich auch die „Upanishad”,
So ist sie doch immer nur äußerer Pfad,
Der nicht weiter als hirnhaftes Denken
.führt,
Und niemals die Wirklichkeit selber
.berührt...
61 Mancherlei
Wohl ist mir bekannt, was die „Weisen”
.ersannen
Und sich durch ihr Denken zu eigen
.gewannen, ‒
Doch weiß ich auch, wie sie sich irren
.mußten,
Im Wahn: ‒ zu besitzen, wovon sie
.nur „wußten”!
62 Mancherlei
URGEWISSES BEZEUGEN
Ich will dem Glauben, der euch heilig ist
Und dem ihr euch verbunden fühlt,
.wie ich ihn ehre,
Nicht Wehrer, sondern Helfer sein,
Wenn ich euch lehre!
Denn seht: ‒ ich lehre euch das Ewige
.empfinden: ‒
Den Geist der Ewigkeit, in dem ich
.wachend lebe, ‒
Doch will ich wahrlich keine Meinung
.binden,
Durch das, was ich euch aus dem Meinen
.gebe!
Ich will dem Glauben, der euch heilig ist
Und den ich ehre,
Nicht Wehrer, sondern Helfer sein,
Durch meine Lehre!
65 Mancherlei
Denn seht: ‒ ich bin euch urgewisser
.Zeuge
Des Wirklichen, das euren Glauben
.schuf!
Damit der Irrtum nicht die Wahrheit
.beuge,
Erreicht euch aus dem Ewigen mein
.Ruf. ‒
66 Mancherlei
ZEITLICHE BEWAHRUNG
Was ich von mir und den mir
.Geistgeeinten weiß,
Die wir, ‒ um unseres Eigenlebens
.Preis, ‒
Mit Gott vereint in Gottes Leben stehen,
Soll euch und denen, die euch folgen,
.nicht verlorengehen.
Es wird in unberechenbaren Zeiten
.Keiner euch geboren,
Der sich in gleicher Einheit
.Gott vereinigt fände, ‒
Und darum wäre, was ich übermittle,
.euch verloren,
Wenn ich es nicht euch in Bericht
.und Gleichnis bände.
69 Mancherlei
GOTTES BEKUNDUNG
Gott ist nicht „unsichtbar”,
Wie wohl die Meisten meinen,
Doch muß er ganz und gar
Der Seele sich vereinen,
Eh' sie ihn sehen lernt
In allem Seinen!
Gott ist nicht „unsichtbar”
Und ist auch zu er-hören,
Nur darf, was Täuschung war,
Nicht mehr die Seele stören!
Gott ist nicht „unsichtbar”
Und ist auch zu er-fühlen,
Nur wird Gott nie gewahr
Gedanklichem Erwühlen!
Gott ist nicht „unsichtbar”
Wie all' die Toren träumen,
Die, ‒ aller Ahnung bar, ‒
Ihn, ‒ und sich selbst ‒ versäumen!
73 Mancherlei
GESPROCHENER REDE GEFAHR
Der Redner, ‒
Wenn auch nur der sichere und kühne, ‒
Steht er, benommen von sich selbst,
.auf der Tribüne,
Ist stets der Hörer Herr und ihr
.Verführer:
Nur seines eignen Schmiedefeuers Schürer.
Schon jeder Wendung werbende Betonung
Verschafft ihm auf der Stelle die Belohnung:
Den Beifall derer, die sein Drängen drängt,
Bis sie sein Reden ihm zu Füßen zwängt.
Dem Geistgeeinten, wäre auch zum
.Redner er „geboren”,
Wär' Wort und Sinn zugleich im Geist
.verloren,
Wollte er Hörer überreden und
.bezwingen,
Und all sein Streben müßte ihm mißlingen.
77 Mancherlei
Er darf nur künden, was er selbst in
.sich erkennt,
So, wie die Ewigkeit es ihm mit Namen
.nennt,
Und muß es jedem selber überlassen,
Was er vermag zu finden und zu fassen!
78 Mancherlei
MEIN VERMÄCHTNIS
Das, was ich niederschrieb,
Damit es hier verbleibe,
Auch wenn ich diesem mängelreichen Leibe
Mich ganz entziehen muß, ‒
Sobald er nicht mehr Hülle,
Und nicht mehr Werkzeug mir zu sein
.vermag, ‒
Das kam nur unter harten Widerständen,
Und meist auch unter weislicher Mißachtung
Aller Körperqual allhier zutag.
Mein Wort will nichts als Lehre,
Und der Lehre Weisung sein.
Es schließt in sich
Kein anderes Bestreben ein!
81 Mancherlei
Und wie man mich auch nannte
Um mich zu „benennen”: ‒
In keinem dieser Worte
Konnt' ich mich erkennen. ‒
Was ich zu sagen kam,
Ist nicht die Ernte mühereichen Denkens,
Und nicht die dargebrachte Gabe
Dichterischen Schenkens!
Ich künde nur aus dem, was „ist”, ‒
Da, wo ich selber „bin”, ‒
Und weder nach Gelehrsamkeit,
Noch dichterischem Schaffen,
Stand jemals mein Sinn!
82 Mancherlei
OKZIDENT UND ORIENT
Vor mir, auf der Akropolis, der Parthenon,
Die Propyläen und das kleine Nikeheiligtum,
Hoch über hohen Treppen, hohen Mauern, ‒
Die Erechteionsäulen
Leicht ins Lichte strebend, ‒
Und neben mir, auf freier Fläche Fluchten,
Links der Theseustempel, ‒
Vorn unter mir die winkelreiche Stadt:
Da saß ich Tag für Tag,
Gewärtig mancher noch verborgenen Lehre,
Daß sie an dieser Stätte mir nunmehr,
Wie vordem zugesagt,
Eröffnet werde und das Meine mehre.
Hier kamen zu mir ‒ ungerufen ‒
Die mir Geistgeeinten,
Deren Vorgeborene einst die Erwecker
.waren,
Der erhabenen Gestaltung Wunder
Die ich um mich sah, ‒
Bewußt in mir
Der Quelle aller lichten Ströme
Tief im Morgenlande,
85 Mancherlei
Die auch der Abendländer Sinn
Befruchten sollen und befruchten müssen,
Und nicht weniger bewußt im Wissen,
Daß ich auch selber dieser Quelle
Lichte Grundquellader war und bin...
Nur was die Quelle ursprunghaft
Umschließt, im Geist der Ewigkeit,
Kann wahre Weihewandlung
Hier im Irdischen erfahren. ‒
Nicht anders aber kann der Orient
Sein echtes Geisteslicht
Jemals dem Okzident in Wahrheit
.offenbaren!
86 Mancherlei
GEISTIGE TAUFE
Als mich die gleichen Ewigkeitsvereinten
Wiederfanden dann, ‒ jetzt Bringer
.höchster Gnade, ‒
Entboten sie mich an ein einsames Gestade,
Nur schwer erreichbar auf geheimem Pfade.
Hier ward mir erstmals aus vertrautem
.Mund
In Erdenlauten meine Wortform kund,
Auf daß der Laute Folge dem Gefüge,
Das mich im Geiste fügt, im Ton genüge. ‒
Und klar, wie Widerhall,
Kam bald der gleiche Klang,
Durch hoher Wogen Schall,
Zu brausendem Gesang . . .
Ein wenig Aberglaube hätte leicht vermeint,
Es habe sich „Natur” hier Ewigem vereint!
Doch tönt mir heute noch der Ton im Ohr,
Als hört' ich wahrlich kosmischer Gewalten
.Chor.
89 Mancherlei
GESEGNETE INSEL
Im Felsgestade einer Insel,
.das ich oftmals malte,
Wie es das blaue Sommerlicht umstrahlte
Bei dennoch wildbewegtem Meer,
.‒ und auch in Abendstunden,
Wenn sich die Ruhe mild
.zurückgefunden, ‒ *)
Dort ward, was ewig mir gehörte,
.meiner Zeit gewonnen,
Und das vordem Gestörte
.wieder neu begonnen . . .
Dort weihte alte, hehrumhegte Handlung
Mein Irdisches in schöpferischer Wandlung
Zu geistiger Gestaltung um,
.wie sie das Licht begehrte,
Das sich aufs neue dieser Welt bescherte!
‒ ‒
* Syra, eine der Kykladen.
93 Mancherlei
TRANSFORMATION
Wähnt nicht, daß Geisteswandlung
.Erdenkörperliches schone,
Und gar die Kräfte, die sie wandelt,
.noch dem Körper lohne!
Was hier „geopfert” werden muß, ‒
.muß seinem Erdenhaften „sterben”,
Und läßt vom Leibe niemals mehr
.sich neu erwerben!
Doch diese Wandlung wandelt
.aller Körperzelle
Ererbtes, Dunkles um ‒
.zu strahlend lichter Helle!
97 Mancherlei
DENNOCH EWIG FREMD
Das, was ich bin, und was ich war
.und ewig bleibe,
Ist zeitlich einverschmolzen
.nun dem Erdenleibe!
Doch ist der Leib, ‒ als ein vergängliches
.Gebild der Erde ‒ :
Mir nur vereint, daß er
.mir dienstbar werde.
Bin ich ihm auch verschmolzen,
Ist der Leib mir dennoch fremd und fern.
Wo er mir dienen muß,
Dient er gewiß nicht „gern”. ‒
Und wenn ich ihn auch hier
.in mir erklingen heiße,
So bleibt er doch mirfremd
.und ferne meinerWeise”! ‒
Nur ist sein Leben unerbittlich mir
.verpflichtet,
Bis es der letzte Atemzug vernichtet...
101 Mancherlei
NOTWENDIGE NÄHRUNG
Der Weinberg, der die Lese bringt,
Von der das Lied der Zecher singt,
Liegt hoch an Südbergsrande
In meines Vaters Lande.
Die Sonne brütet zwar den Wein,
Der Winzer aber weiß allein,
Was er mit hartem Plagen
An Dung hinaufgetragen . . .
Denn, wenn dem Weinstock wird verwehrt,
Was aus der Erde er begehrt,
Dann soll man keine Trauben
An ihm zu finden glauben!
105 Mancherlei
MEIN ACKER
Der Acker war mir anvertraut, ‒
Ich hab' ihn schlecht und recht bebaut
Und viel hat er getragen.
Da wurden in ihm Stimmen laut: ‒
„Er sei mir noch umsonst vertraut, ‒
Ich wüßt' ihn nicht zu fragen!”
Durch solche Mahnung bald belehrt,
Bin ich zum Hof zurückgekehrt
Und holte Hack' und Spaten.
109 Mancherlei
Und grub des Nachts, und grub bei Tag,
Bis mir das Gold zu Füßen lag,
Das nie ich hätt' erraten.
Doch, wo ich grub und wo ich fand,
Läßt gutes altes Ackerland
Sogleich die Spur verschwinden.
Und wühlen Diebe spät und früh,
Sie werden doch, trotz Last und Müh'
Das Meine niemals finden!
110 Mancherlei
URERINNERN
Mir ward so mancher Kieselstein
Mehr wert als Diamanten,
Mocht' er auch gänzlich wertlos sein
All' denen, die ihn kannten.
Das machte: ‒ daß ich wiederfand
In ihm ein Altbekanntes,
Und schon aus urgezeugtem Land
Mir ursprunghaft Verwandtes!
Das machte: ‒ daß ich wiederfand
In ihm ein erstes Leben,
Das über starre Scheidewand
Sich wußte zu erheben...
113 Mancherlei
WUNDERLICHE KÄUZE
Als ob ich ein Yogi wäre
Oder dunkler Künste Meister,
Suchten sie bei mir Rezepte
Um zu bannen jene „Geister”
Die sie selbst sich selber schufen,
Als verhängnisvolle Früchte,
Durch ihr lüsternes Berufen
Abergläubisch toller Süchte.
Als ob ich ein Fakir wäre,
Suchten sie von mir zu hören,
Wie sie leicht in ihrer Sphäre
Könnten Andere betören.
117 Mancherlei
Manche, ganz und gar von Sinnen,
Glaubten gar, daß ich vermöge
Ihnen Alles zu gewinnen,
Wenn ich in ihr Netz es zöge.
Ließ ich aber sie erfahren,
Daß sie mich vergeblich suchten,
Ward gar unwirsch ihr Gebaren,
Wenn sie mir nicht gar noch ‒ fluchten.
118 Mancherlei
BEDAUERNSWERTES IRREN
Glaubt mich nicht fühllos,
Weiß ich mich auch still zu fassen
Und mag ich manche Ahnungslosigkeit
Mir gegenüber
Auch gewähren lassen! ‒ ‒
Ich bin trotzdem kein totes Holzstück,
Bin kein Stein, der nicht erfühlt,
Wie euch die Selbstumschnürung bindet
Und die Herzenskälte matte Liebe
.kühlt! ‒
Ich weiß auch, wie ganz anders
Ihr euch darzubieten wüßtet,
Wenn ihr, des Erdenvorteils wegen,
Euch bequemen müßtet...
121 Mancherlei
Ihr, die das angeht, ahnt ja nicht,
Wie ihr euch irrt, ‒
Und wie so klügliches Berechnen
Nur die Rechnung euch ‒ verwirrt!
Ihr rechnet falsch
Mit jedem meiner Erdentage,
Und schafft euch Schulden,
Wenn auch vorerst ‒ ich
„Die Kosten trage”!
122 Mancherlei
LANGMÜTIGE SCHONUNG
Zwar hieß mir mancher langhin „Freund
.vor manchen Jahren,
Und dankbar ließ ich meine Freundschaft
.ihn erfahren,
Trotzdem ich wahrlich geistig wußte,
.was ihn zu mir trieb, ‒
Und keiner Illusion Betörung
.mir für ihn verblieb.
Ließ ich nun ‒ scheinbar ‒ mich auch
.gern betrügen
Durch solcher „Freundschaft”
.freundschaftliches Lügen,
Das nur den armen Täuscher selbst
.in sich beraubte,
So tat ich dennoch stets
.‒ aus milder Schonung ‒ so,
Als ob ich an sie glaubte...
125 Mancherlei
OHNE MEIN ZUTUN
Was mich auf Erden irdisch hier umgibt,
Wird geistig immer wieder
In sich selber neu erwogen und gesiebt.
Und habe es auch tausendmal
Mein Herz betrogen,
Und meine Liebe trügerisch gebunden,
So wird es doch zuletzt im Geist erwogen,
.und: ‒
Zu leicht” befunden. ‒
Wenn es nicht vollgewichtig ist
Nach geistigem Erwiegen,
Muß es dem geistgesetzten
Ausschied unterliegen!
129 Mancherlei
Von denen, die sich einst als „Freunde”
.gaben,
Dann aber, ‒ geistig ausgeschieden, ‒
Mir entfallen mußten
Oder mich verlassen haben,
War keinem zubestimmt,
Mir dauernd nahzustehen. ‒
So mußte jeder wieder
Seiner Wege gehen!
130 Mancherlei
AN DIE ECHTEN FREUNDE
Ihr, deren echte Freundschaft
Ich so lange schon gewahre,
Und immer neu in jedem Wort,
In jedem Blick und jedem Brief erfahre,
In jedem Tun und jedem Nichttun neu
.empfinde, ‒
Euch widme ich, in froher Dankbarkeit,
Dies' Angebinde!
Ihr wißt: ‒ ich muß euch nicht erst
.„Freunde” nennen,
Und daß ich Freunde in euch sehe,
Vor der Welt bekennen!
Ihr seid mir Freunde meiner Erdenzeit,
Und heut' schon Freunde in der Ewigkeit,
In der ich ewig wirkte und aus der ich lebe,
Wie ich zu ihr ‒
Euch, meine wahren Freunde! ‒
Heute schon erhebe.
133 Mancherlei
Ihr wißt: ‒ es kann da zwischen euch
Und mir sich keine Trennung mehr ergeben,
Und wo ich selber lebe, findet ihr
In mir, euch selbst in lichtem Leben!
Ihr seid: ‒ seit aller Ewigkeit
Mir zugeeint
Und mir vor jeder Erdenzeit
Im Geist vereint!
Wo ihr mich sucht,
Dort habt ihr mich bereits gefunden,
Denn wo wir ewig leben
Sind wir längst verbunden!
134 Mancherlei
FREUNDSCHAFTLICHES ERINNERN
Vergesst nicht, liebe Freunde,
Daß derGeistder Ewigkeit
Aus dem ich zu euch spreche
.wie ich sprechen muß,
Kein Denken ist,
Kein Schauen,
Keiner Vorstellung Gebilde,
Kein Erkennensvorgang,
.sondern:
Unsichtbaren Lebens
Aethergleicher Ursubstanz Bekundung!
Erkennen, denkend Fassen,
In der Vorstellung erschauen,
Kann zwar Folge
Des in seiner Ursubstanz
Gelebten Lebens sein,
Doch keine dieser Fähigkeiten
Dringt in ewiges, ‒
Aus Ewigem allein
Genährtes Leben ein!
137 Mancherlei
AUF DES MESSERS SCHNEIDE
Es ist kein „Spiel”, dem ich frivol hier
.fröne,
Wenn ich mit meinem Hinschied euch
.versöhne,
Auch wenn ich immer wieder noch ‒ ‒
Den Leib erfange, ‒ zu allerletzt! ‒ . . .
Und dann zurück gelange!
Mir ist der Tod zwar dieses Leibens Ende,
Doch keineswegs auch meines Lebens Wende.
Ich habe oft genug ihn klar erfahren und
.empfunden,
Und trotzdem immer wieder überwunden,
In starren, nächtlich dunklen Morgenstunden.
141 Mancherlei
So ward er mir vertraut, wie Weniges auf
.Erden,
Und könnte nie mir mehr zum „Schrecken”
.werden.
Nur allerletztes müdes Leibes-leben
Kann ‒ vor der Endigung ‒ vor ihr
.erbeben.
Der Tod an sich ist ohne Schmerz,
.und keine Pein!
Er kann nur Löser aus des Leibes
.Peinen sein. ‒
142 Mancherlei
LEIBESLÖSUNG
Wie auch mein Irdisches sich enden mag: ‒
Seid überzeugt, daß mir sein letzter Tag,
Ob ich vermag, den Leib vor Qualen zu
.bewahren,
Oder ihn enden lassen muß
In ärgstem Pein-Erfahren,
Nur Lösung bringt
Von lange schon Gelöstem
Aus irdisch Kleinem
Wie aus irdisch Größtem!
Mag sich durch innere Organzerstörung
Oder äußere Vernichtung
Letztlich meines Leibes Leben enden,
Es darf dann keine Gegenrichtung
Erdenhaften oder geistentstammten Willens
Schicksalhaftes wenden!
Was vordem oftmals wendbar war
Ist dann Bedingung
Zu bleibender Befreiung
Endlicher Erringung!
145 Mancherlei
KAUM ERFÜLLBAR
Am liebsten würde ich auf hohen Meeren,
An eines Schiffes Bord gebettet,
Mich vom Leibe kehren,
Den man alsdann versenken müßte in
.die tiefste Tiefe,
Aus der kein Ruf ihn mehr zum Ufer riefe.
So bliebe doch die Grabstatt ihm erspart,
Vor der auf Erden ihn kein Wunsch
.bewahrt,
Wenn ich zu Lande ihm verlorengehe
Und seine Erdenbindung schwinden sehe.
Bin ich jedoch der Körperhaft
.entwunden,
So bleibt an meinen Leichnam nichts
.gebunden,
Was irgendwie zu mir gehören würde!
Er ist dann nichts, als abgelegte fremde
.Bürde. ‒
149 Mancherlei
LETZTE BITTE
Euch, die ihr geistig,
Oder meiner Erdenbindung nach
Mir nahesteht und nahestandet,
Euch hier zu sehen nun, ‒
Schön schwarz gewandet, ‒
Um meinen Leichnam stehen
Und in Trauer sich ergehen,
Ist mir: ‒ muß ich das wirklich
Euch noch sagen?? ‒
Ein Bild, nicht ohne Lächeln
Zu ertragen.
Wie gerne möchte ich euch doch gewiß
.verschonen,
Davor, der nötigen Beseitigung
.der Schlacken beizuwohnen,
Die mir dann fremder sind,
.als je ich Fremdes fand,
Zur Zeit, als Leben ihnen vordem
.mich verband!
153 Mancherlei
Doch, wollt ihr unbedingt
.den Erdenbrauch begehen,
So fühlt zu gleicher Zeit mich ‒
.frei der Hülle ‒
In meines gottgeeinten Lebens Fülle,
Euch Allen heiter nah vereint
.in innerstem Verstehen,
Im „Unsichtbaren” seelisch sichtbar,
.froh inmitten stehen!
154 Mancherlei
NACH DEM ÄUSSEREN SCHEIDEN
Sucht mich auf keinem Friedhof
.und an keinem Grab!
Das, was ich euch und Kommenden
.einst gab,
Ist nicht an Stätten der Verwesung
.aufzufinden
Und keine Gruft vermag es,
.mich zu binden!
Ich kann euch jetzt nur
.in euch selbst begegnen
Und aus dem Vater in euch selber
.segnen,
Gewahrt nur selbst in euch,
.daß ich noch lebe
Und euch mein Ewiges
.zu eigen gebe!
157 Mancherlei
ENDE
MARGINALIEN
Verlagslogo
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASEL-LEIPZIG 1938
COPYRIGHT BY
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASLE 1938 BUCHDRUCKEREI KARL WERNER IN BASEL
INHALT Seite
Zur Verständigung 5
Aus Heften und Mappen 9
Gefahr der Nähe 11
Urgesetz 15
Austausch 19
Identität 23
Anderheit 27
Das Werk 31
Unmögliches 35
Stimme des Meeres 39
Letztes Gedenken 43
Geschiedenes Leben 47
Nicht zeitbedingt 51
Ernste Bitte 55
Fern allem Leidbegehren 59
Den Suchenden 63
Geistumschlossen 67
Rückkehr im Ring 71
Im Unerdenklichen 75
Unerwünschtes Wissen 79
Vorschnelles Richten 83
Vom Geiste her 87
Gefahr des Urteils 91
Warnung 95
Zweierlei 99
Schwerstes Erleben 103
Wahnwitziger Streit 107
Erläuternd 111
Conditio sine qua non 115
Selbstentsprechung 119
Noch nebenher 123
Zu unterscheiden 127
Altneue Irrung 131
„Mysterium Magnum” 135
Dreieinigkeit 139
Selbstgericht 143
Hellseherei 147
Beschluss 151
Nachwort 155
Zur Verständigung
.Daß der Abschluß des in meinem über‐
persönlichen Namen Bô Yin Râ gegebenen
metaphysischen Lehrwerkes keinesfalls
eine Verpflichtung für mich schaffe, den wei‐
teren Konnex mit den mich Liebenden, soweit
er durch meine eigenen Niederschriften noch
während meines äußeren Erdendaseins mög‐
lich werde, zu vermeiden, habe ich bereits
in dem Abschlußband „Hortus conclusus”
betont. Was ich dann noch als letztes Wort
zum Ganzen des Lehrwerkes erläuternd sagen
konnte, wurde in dem ihm zugegebenen „Ko‐
dizill” gesagt. Überdies umfaßt ja auch die
Schriftenreihe selbst schon das Buch „Der
Weg meiner Schüler”, dessen Inhalt wie ein
roter Faden dem ganzen Leitseil der Lehre
5 Marginalien
eingesponnen ist, und nicht aus ihm gelöst
werden kann, ohne die Fäden dieses Führer‐
seiles mutwillig oder achtlos zu lockern.
.Es ist also wahrhaftig nicht meine Absicht,
hier noch irgend etwas zu dem abgeschlos‐
senen Inhalt des Lehrwerkes als Einschub hin‐
zuzutun oder weitere Anweisungen zu geben,
wie dieser Inhalt zu gebrauchen sei. Was hier
vorliegt, sind wirklich „Marginalien”, ‒
Randnotizen und Lesemarken, wie sie bei
und nach der schriftlichen Formulierung des
Werkes, das ich formen mußte, oder auch
bei gelegentlichem Wiedererblicken entstan‐
den, und ihre rhythmisch skandierte Rede‐
form aus der Art ihres Entstehens allein
empfingen. Wenn dabei dann und wann auch
ein „Reim” sich ergab, so war er gewiß nicht
formhaft gesucht. Es sollten ja nicht Dich‐
tungen vorgelegt, sondern Wahrheiten aus‐
gesprochen werden. Ohne weitere Absicht
suchte ich daher jedesmal nur dem von mir
Empfundenen und mir für mich Erfahrungs‐
gewissen den behaltsamsten Ausdruck zu
6 Marginalien
schaffen, sobald ich im voraus Fragen in
ihrer Entstehung vernahm, als würden sie
mir schon in irdischer Rede vorgelegt. In‐
sofern ergibt sich allerdings eine Ähnlichkeit
mit dem aus ewigem Geiste gesprochenen
Lehrwerk, das ja auf weite Strecken hin tat‐
sächlich im äußeren Leben an mich ergan‐
gene Fragen zu Ausgangspunkten seiner Er‐
läuterungen machte. Besonders wird man sich
an die drei Stücke des Lehrwerkes „Über
dem Alltag” ‒ „Ewige Wirklichkeit” ‒ und
„Leben im Licht” ‒ mit Recht erinnert füh‐
len. Aber es liegt hier doch außer allem Ver‐
gleichbaren noch ein wesentlich Anderes
vor. Kaum „Lehre” ‒ selten Anleitung ‒,
sondern vor allem ein Teilnehmenlassen an
dem, was mir de facto wahrlich „wirklicher”
ist, als alles nur erden wirkliche Leben, dem
ich mich zeitlich fügen muß um in seine Be‐
reiche einfügen zu können, was mir an un‐
antastbarem Ewigen urhaft eingeboren un‐
verlierbar eignet. Das aber ist weit mehr als
mir jemals in meinem irdischen Dasein mög‐
7 Marginalien
lich wäre, zu bekunden, auch wenn dieses
Erdendasein tausend Jahre währen könnte! ‒
.Was ich jedoch in den mir irdisch zu‐
gemessenen Tagen aus meinem ewigen gei‐
stigen Sein heraus zu geben vermag, soll
wahrhaftig nicht zurückbehalten werden,
einerlei, ob man es jetzt schon in sich anzu‐
nehmen willens ist, oder erst in kommenden
Generationen so zu erkennen trachtet, wie
es von allen, die ehrlichen, reinen Willens
sind und von allen Vor-Urteilen frei, auch
heute schon erkannt werden kann, und
tatsächlich auch von vielen tausenden gleich‐
zeitig mit mir auf Erden Lebenden, als Hilfe,
Rettung und Befreiung aus aller seelischer
Lebensnot empfunden wird. Ihnen vor
allen, sei das Folgende anvertraut!
Joseph Schneiderfranken.     Signatur
8 Marginalien
AUS HEFTEN UND MAPPEN
GEFAHR DER NÄHE
Ihr, die ihr nahe mich meintet
Voreinst wohl eueren Zeichen,
Ihr bleibt mir unvergessen
Und lieb als die Gleichen,
Die ihr gewesen und heute
Noch sein mögt in euren Bereichen!
Müßten wir heute jedoch uns
Nochmals begegnen,
Wäre gewiß die Begegnung
Mitnichten zu segnen.
Wahrlich, uns trennt nicht
Die Weite der weitfernsten Sterne!
Nur, wo ihr nahe euch meinet,
Scheidet uns schaurige Ferne!
13 Marginalien
URGESETZ
Ich kann es nicht vermeiden,
Daß alles mir entschwindet,
Was nicht in Lieb und Leiden
Sich gänzlich mir verbindet.
Ich kann mir nicht vereinen,
Was mir nicht selbst sich gibt,
lm Willen eins dem meinen,
Und mich in Wahrheit liebt.
17 Marginalien
AUSTAUSCH
Ewigem Offenbarungswillen
Bin ich Offenbarungsform.
Nichts anderes bin ich mir,
Als was ich solcherart bin: ‒
„Wort” im Urschoß des „Wortes” ‒
Lichtlohe im Licht!
Nichts blieb mir
Um ein Anderes darin
Mir zu erhalten!
Ich lernte wahrlich
Vor mir selber mich verleugnen,
Und weiß kaum noch, daß „ich” es bin,
Wenn mich die Qualen dieser Erde quälen...
Der Irdische,
Der mir willkommene Verhüllung ist,
Hat längst verlernt,
Sich selbst zu dienen!
21 Marginalien
IDENTITÄT
Es spricht das „Wort”: ‒
„Ich bin Jeder und bin Keiner,
Ich bin Viele und bin Einer,
Ich bin Erster und bin Letzter:
Wundenschläger und Verletzter!”
Ich bin,
Was vor allem Werden ich war: ‒
Meiner Sendeschar „Herr”
Und zugleich meine Schar! ‒
Urewig ur-einsam,
In mir allein,
Schließt dennoch mein Sein
Alle „Leuchtenden” ein!”
25 Marginalien
ANDERHEIT
Wie ich gekommen bin,
So bin ich auch geblieben.
Ich bin nicht erst „geworden”,
Was ich war und bin!
Was mich aus Ewigem
Zeithaft hierhergetrieben
War wahrlich keine Sucht
Nach eigenem Gewinn!
Ich weiß nicht, wen du meinst,
Der du mich deinhaft nennst?
Ich weiß nur, daß du mich
In dir noch nicht erkennst!
29 Marginalien
DAS WERK
Nicht im Tode erst,
Hätte mein Werk ich vollbringen können,
Denn dieses Werk,
Das mir zu tun oblag,
Und nun getan ist,
Sollte Leben lösen
Aus dem Leben dieser Erde:
Gestaltung aus dem Überfluß
Urirdischen Lebenswillens! ‒
Nicht Lehre allein
Wollte Formung finden...
Höhere Formkraft galt einer Saat,
Die nur aus erdenhaften Kräften
Keimen kann
In geistigen Gefilden. ‒
Zu ihren Zeiten wird die Ernte
Neuen Menschen reifen!
33 Marginalien
UNMÖGLICHES
Noch anders, als das Erdenwort es wagte,
Das mir treulich Träger meiner Offenbarung
.wurde,
Hätte ich mich wahrlich offenbaren können,
Wäre unerschütterlich gewiß,
Daß ihr auch aufzunehmen wüßtet,
Was nicht blutgefesselt engen Denkens
Alter Angewohnheit angeglichen ist!
So aber mußte ich
Das euch Gewohnte achten,
Und anzuknüpfen suchen das euch Fremde
An das euch Vertraute.
Noch seid ihr ja Gefesselte
Euch fesselnder „Begriffe”, ‒
Noch jeder Glaubensmeinung Sklaven,
.der ihr flucht, ‒
So kann ich euch nur auf gewohntem
.Schiffe
Zum Hafen hingeleiten, den verstört ihr
.sucht?!
37 Marginalien
STIMME DES MEERES
Ich bin das Meer, ‒
Und tausendfach millionenmal
Bin ich die Welle, ‒
Ich bin bewegt in mir durch mich,
Und dennoch rühre ich mich nicht
Von meiner Stelle.
Ihr seht mich,
Doch ihr seht nur,
Was euch euer Horizont umzieht,
Der immer wieder ‒
Wollt ihr ihn erreichen ‒
Vor euch weiter flieht.
Wohin auch Ruderschlag und Segel
Eure Schiffe treiben:
Ihr werdet, wenn ich euch auch trage,
Doch ‒ in allen meinen Weiten
Stets in euren Horizonten bleiben!
41 Marginalien
LETZTES GEDENKEN
Wenn mich, ‒ wie oft jetzt schon! ‒
Der Tod berührte,
So galt mein letztes Denken
Immer nur der Gabe,
Die ich, ‒
Bestimmt, mich zeitlich zu verschenken, ‒
Der Erde, die mich trug,
Zurückgelassen habe.
In dieser Gabe nur
Bin ich gegeben!
In ihr nur bleibe ich
Euch zugeeint!
Verwahrt in unvergangbar
Lichtem Leben
Bleibt euch im Zeitlichen
Mein Ewiges vereint!
45 Marginalien
GESCHIEDENES LEBEN
Vielfache Lasten muß ich tragen!
Mancher Art Wagnisse muß ich wagen!
Wildfremde Lande muß ich durcheilen, ‒
Seltsame Leben mit anderen teilen!
Und keiner weiß, was mich tagtäglich
.bedrängt,
Dieweil es an meinerlei Leben sich hängt. ‒
Ich könnte es wahrlich auch keinem
.schildern,
Und keiner vermöchte hier zu verstehen,
Denn, spräche ich auch
In den deutlichsten Bildern,
So würde sie doch schon
Sein Atem verwehen! ‒
Es würde auch keinem gar Nutzen
.bringen,
Könnte er jetzt schon hier Einsicht erringen,
Weil keiner dann wüßte, den Weg zu er‐
.fragen,
Zurück zu ihm heute noch nötigen Tagen.
49 Marginalien
NICHT ZEITBEDINGT
Glaubt nicht, geliebte Freunde,
Nur auf euch allein bezogen,
Was ich heute Heutigen
Und Menschen ferner Zukunft sage!
So, wie das Meer
Den fernen Küsten seine Wogen,
So sende ich mein Lehrwort
Auch in fernste Tage!
Was ich hier und heute
Gab und gebe,
Gilt für alle Zeiten!
Was ich hier und heute
Heimlich lebe,
Lebt geoffenbart schon
Seelen fernster Weltenweiten!
53 Marginalien
ERNSTE BITTE
O seid gebeten, Beste:
Laßt mich ‒ ohne Mit-Leid ‒ leiden,
Und wollet jede Geste
Trösten wollenden Bedauerns meiden!
Viel eher dürfte jeder
Mich gewiß: ‒ beneiden,
Weiß er den Erdenleib
Der hier mir dient, ‒
In Leiden!
Die Kräfte dieser Erde
Die ich „lösen” muß in meinem „Tage”,
Sind lösbar dem nur,
Der als Dankender der Erde
Körperleid erträgt: ‒
Als Löser körperhafter Bindung ‒
Losgelöst von Angst und Klage!
57 Marginalien
FERN ALLEM LEIDBEGEHREN
Wähnt aber nicht, ihr Freunde,
Daß ich „gerne” leide,
Und leidesgierig Leidbefreiung meide!
Ich bin kein Tor, der hier nach Qualen
.sucht,
Damit sein arger „Gott”
Ihn nicht zuletzt „verflucht”!
Mir zeigt sich jedes Körperleid
Als Notruf eines „Lebens”,
Das um sein Schwinden weiß,
Verhallt sein Schrei vergebens. ‒ ‒
So ist es nötig, ihm Gehör zu schenken
Will man das körperhafte Leben lenken! ‒
Im Leid die „Lüge” sehen,
Heißt: sein Leid „verzehren”! ‒
Wer es vermag,
Der kennt kein Leid-Begehren!
61 Marginalien
DEN SUCHENDEN
Gewiß, ich weiß wohl:
Muß ich heute euch verlassen,
Und aus den Ätherwellen schwinden,
Die euch hier umfassen,
So seid ihr mitleidslos
In düstertrüben Gassen
Euch selbst
Und denen, die dort hausen
Überlassen...
Und weil ich weiß
Was jene schon erkennen,
Die allbereits aus meinem Geist
Entbrennen,
Darum erbitte ich mir Tag um Tage
Erneute Körperpein und Erdenplage,
Denn wollte ich kein Leid mehr
Hier ertragen,
So müßte heute noch
Ich eurer Welt ‒ entsagen!
65 Marginalien
GEISTUMSCHLOSSEN
Ihr sagt mir:
„Welches Glück magst du empfinden,
Und welche Würde weißt du Dir zu eigen!”
Doch, ‒ Ihr dürft sicher sein:
Weiß ich mich auch zu finden
Wo Ewige nur Ewigen sich zeigen,
So trage ich doch wahrlich kein Verlangen,
Mich selbst in Hochgefühlen zu umfangen...
Ich kann mich jederzeit
Aus weiter Ferne sehen,
Und weiß mich stets bereit,
Wie „fremd” vor mir zu stehen!
69 Marginalien
RÜCKKEHR IM RING
Und bist du nicht beglückt,
Hörst du sie alle danken,
Die du der Nacht entrückt
Und nächtigen Gedanken!?”
Ach nein, ihr Lieben: ‒ Nein!
Ich war ja nur in Pflichten,
Und wußte nur allein
Das Dunkel aufzulichten.
Was ich aus mir empfing,
Das gab ich mir zurück: ‒
Wie wäre doch gering
Dagegen alles Glück!
73 Marginalien
IM UNERDENKLICHEN
Nicht durch die Arbeit des Verstandes,
Den mein Hirn erzeugt und lenkt,
Wird mir die Geisteseinsicht
In mein Ewiges geschenkt.
Und wäre alle Kraft der tiefsten Denker
Aller Zeiten mir vereint zu eigen, ‒
Sie könnte dennoch mir mein Ewiges
Nicht „denkbar” zeigen!
Im Geiste geistig „wissen”,
Heißt: ‒ selbst das Gewußte „sein”! ‒
Nie dringt das hirngezeugte Denken
Ein in dieses geistgezeugte Sein!
Dort, wo ich „bete” in mir selbst ‒
Im allertiefsten Schweigen ‒
Dort ist mir dieses Sein
Und ich bin ihm zu eigen!
77 Marginalien
UNERWÜNSCHTES WISSEN

Du sprichst, als solltest heute gar
Du von der Erde scheiden,
Und dennoch bringst du weiter dar
Dich allen Körperleiden...
Wie ist dein Wissen
Um das geistige Geschehen,
Hast du kein Wissen
Um dein irdisches Ergehen?! ‒ ”
Ihr irret, liebe Freunde,
Glaubt ihr euch auch irrtumsferne,
Denn wüßte ich auch hier im Licht der Sterne
Jedwedes Schicksal jedem zeitlich zu
.erkunden,
So bliebe dennoch ich noch erdgebunden,
Und hätte keineswegs mich „heimgefunden”!
Mir ist das Wissenwollen
Künftigen Geschehens hier auf Erden:
Zeiterzeugter Wahn: ‒
Nur unerwünschte Störung
Meiner ewigkeitsbestimmten Bahn! ‒
81 Marginalien
VORSCHNELLES RICHTEN
Du lebst in Worten,
Doch du weißt nicht zu verhüten,
Die Höllenbrände
Die auf Erden wüten!”
Begreift: ‒ wer dieses Weltalls Weh
Unmöglich werden lassen wollte,
Würde alles mit dem Leid zugleich
.vernichten,
Und was Erscheinung ist aus Geistgewalten,
Wüßte nimmermehr sich selbst zu sichten!
Kein Gott vermöchte solche Torheit zu
.erhören: ‒
Er müßte alles Sein, so, wie allein es
.sein kann, ‒
Und sich selbst zerstören...
Wo Leben aus sich selbst Erscheinungsform
.will zeugen,
Muß das Erscheinende sich erst dem Leide
.beugen!
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
85 Marginalien
Wer aber sagt euch,
Daß ich Leid, das nicht mehr nötig ist,
Nicht wisse zu verhindern,
Und das noch nötige
Vom Geiste her zu lindern?!...
86 Marginalien
VOM GEISTE HER
Was ich vermag in geistigen Bezirken,
Vermag ich nur im Lichte zu erwirken ‒
Aus dem ich komme und aus dem ich lebe ‒
Indem mein Wollen ihm nur ich ergebe.
Und das allein nur ist dabei mein
.„Rituale”: ‒
Aus meiner Seele bilde ich die reine Schale
Und auch den „Weihrauch”, der sich selbst
.verzehrt,
Wo meine Liebe Heil für andere begehrt!
Was in der ewigen verborgen lichten Stille
Sich noch im Werden wandelbar erweist,
Das wandelt wahrlich nicht allein mein
.Wille,
Hier hilft ihm ewigkeitsgezeugter lichter
.Geist!
89 Marginalien
GEFAHR DES URTEILS
Es muß nicht schwarz sein,
Was nicht weiß ist, ‒
Es muß nicht Glut sein,
Was nicht Eis ist, ‒
Es muß nicht Herr sein,
Was nicht Knecht ist, ‒
Es muß nicht gut sein,
Was nicht schlecht ist!
Wo Torheit oder Dünkel
Euch getrost betrügen,
Dort ist viel schlimmer
Als ihr dreistes Lügen,
Wenn sie auch Wahres
Ihrem Wahn vermischen,
Weil sie durch Wahrheit
Ihren Trug verwischen!
93 Marginalien
WARNUNG
Laßt euch nicht zum besten halten ‒
Ihr, die Jungen, wie die Alten! ‒
Will man „Wunder” euch bescheren
Und Natur vor euch verkehren!
Wunder sind allein ‒ die Leben,
Die sich zu Bewußtsein heben:
Aus dem dunklen Trug der Träume
In die ewig lichten Räume!
Mächte die im Finstern thronen,
Finden sich zu Millionen,
Dort, wo Dunkelheit am Licht
Sich zu grauem Dämmer bricht.
Und die Fürsten der Dämonen,
Die in solchem Dämmer wohnen,
Wissen manches zu gewähren
Aus geheimnisvollen Sphären.
Wer nicht flieht vor ihren Garnen
Zwischen Nachtgeblüt und Farnen,
Sinkt hinab in ihre Reiche,
Daß er schaurig ihnen gleiche...
97 Marginalien
ZWEIERLEI
Die sich als Gottes „Diener” fühlen,
Meinen sich durch ihren „Herrn”
Allein schon über sich erhoben,
Und mancher ist hier gut und gern
In seinem Glauben, ‒ „glaubt” er ihn, ‒
Zu loben,
Der ihm den Auftrieb bringt,
Sich selbst zu übersteigen
Durch seinen „Herrn” erhöht im „Dienste”,
Doch sich selbst zu eigen...
Wer aber in Gott aufzugehen trachtet,
Will sich selbst entschwinden,
Weil er aus Innerstem verachtet,
Sich an sich zu binden. ‒
Weiß er dann endlich
Nur in Gott zu leben,
Wird er gewiß nicht
Nach „Erhöhung” streben...
101 Marginalien
SCHWERSTES ERLEBEN
Keiner hörte je mich klagen,
Trage ich auch reiche Leiden!
Mußt' ich dennoch davon sagen,
Ließ es nicht mehr sich vermeiden.
Ach, ich dächt' an Körperpeinen
Nicht, die mich am ärgsten quälen,
Hört' ich meiner Tage einen
Nicht von anderer Leid erzählen!
Selbst die allerderbsten Schmerzen,
Die der Körper hier erduldet,
Finden mich bereit zum Scherzen,
Und ich weiß sie nicht verschuldet.
Wo mich aber meine Tage
An der Erde Unrecht binden,
Da kann niemals feige Frage
Mich des Menschen Schuld entwinden.
Hier erst muß ich Leid durchroden,
Dem ich nie gewachsen wäre,
Wäre mir das Korn im Boden
Nicht schon Hoffnung neuer Ähre!
105 Marginalien
WAHNWITZIGER STREIT
Hätte mein Körper nicht früh schon
.erfahren
Harte Bedrohung dämonischer Scharen,
Die ihn als Reis schon zu fällen versuchten,
Da sie dem Baum vor dem Stamme schon
.fluchten, ‒
Wäre er längst in der Wurzel verdorben
Längst seinem Dasein auf Erden erstorben!
Kraftvoll als Kind diesem Leben erstiegen,
Sollte ich bald schon die Mächte besiegen,
Die in mir erdhaft im Dasein nun wußten,
Einen, den bald sie vernichten mußten,
Wenn sie ihn leicht noch vernichten sollten
Und sich ihm später nicht beugen wollten...
Als sie so erstmals geschlagen waren,
Suchten aufs neue in kommenden Jahren
Immer sie wieder den Sieg zu erringen,
Fehlte auch jederzeit jedes Gelingen.
Wenn sie auch heute zu Boden liegen,
Wollen sie immer noch „morgen” obsiegen!
109 Marginalien
ERLÄUTERND
Die feindlichen Dämonen, die ich meine,
Waren niemals Menschen dieser Erde, ‒
Und keiner ist, der danach strebte,
Daß er dereinst vielleicht zum Menschen
.werde.
Sie sind „Lemuren”, die der Mensch
Nach seinem Bilde umzuformen wußte ‒
So, wie die Gärtner Pflanzen züchten ‒
Und was wurde, muß dann fortan
Nur noch seines Formers „Werkzeug” sein:
Ihm hörig, ‒ dienend seinem Willen
.nur allein.
Doch, viele Willen waren immer hier
.verbunden,
Die sich, bestrebt, ihn zu verderben,
Noch bei jedem meiner Artung
.eingefunden, ‒
Hat sie auch jeder immer wieder über‐
.wunden.
113 Marginalien
CONDITIO SINE QUA NON
Wer noch nicht glüht
In Gottes Glut,
Der kennt noch nicht
Das höchste Gut! ‒
Will er es erkennen,
Muß er verbrennen
In diesem Glühen
All sein Bemühen
Um eigenes Glänzen
Und Selbst-sich-ergänzen:
Muß sich erheben
Zu ewigem Leben ‒
Aus tötender Dichte
Zu lebendem Lichte! ‒
Doch keine Berückung
Im Rausch der Verzückung
Gibt euch der Wahrheit
Klingende Klarheit,
Die nur in den Feuern,
Die selbst sich erneuern,
Geglüht und gereinigt,
Der Seele sich einigt!
117 Marginalien
SELBSTENTSPRECHUNG
Ich bin wirklich, was ich weiß,
Denn ich weiß nur, was ich bin,
Weiß mein ewiges Geheiß,
Und um meiner Sendung Sinn!
Und ich suche nicht hinieden
Ziele, die nur zeitlich gelten,
Denn ich bringe euch den Frieden,
Aus unwandelbaren Welten!
Was vergeht, hat andere Hüter,
Die in ihm allein erscheinen,
Und ich dürfte ihre Güter
Nie den meinigen vereinen! ‒
Ich bin wahrlich, was ich weiß,
Und ich weiß wohl, was ich bin,
Folgend ewigem Geheiß
Und gelenkter Sendung Sinn!
121 Marginalien
NOCH NEBENHER
Was ich hier niederschreibe, soll auch
.Fernste finden,
Die es erfragen werden, wenn ich nicht
.mehr schreibe,
Weil keine Bande mich mehr an den
.Körper binden,
Obgleich ich liebend hier im Leben bleibe.
Sie sollen diesen Worten noch begegnen,
Wenn auch kein Auge mehr mir hier
.begegnet,
Und was sie lesen werden, wird sie segnen,
So, wie mein Segen heute schon sie segnet!
125 Marginalien
ZU UNTERSCHEIDEN!
Was da erkennt, ‒
In Wahrheit wahr erkennt: ‒
„Es ist kein Ich!” ‒
Das einzig ist urewig selbst
Das wahre Ich
In jedem, der sich selbst
Benennt als „Ich”!
Nur das danach Benannte
Ist nicht Ich,
Denn Ich ist ewig: ‒
War stets, was es ist
Und bleibt im Sein, ‒
Doch die Benennung „Ich”
Beginnt zu ihrer Zeit
Und endet, wenn zu Ende ist,
Was sich als „Ich” benannte,
Für den Augenschein!
129 Marginalien
ALTNEUE IRRUNG
Um überkluge Gleichnisbilder nie verlegen,
Lehrt überzüchteter Gehirne alte Lehre,
Daß kein ewig Zeitverbindendes euch trage,
Weil nur einzig wechselweise Wandlung
Wirke eures Erdendaseins immer neue
.Tage.
Die sich in solcher Lehre
Aller Täuschung „überhoben” wähnen,
Wissen wahrlich nicht, daß sie versunken
.sind
Im Wahn, der Wechsel sei an sich die Zeit,
Und ahnen nicht, daß sie als „Zeit” erleben,
Im Vergänglichen: die Ewigkeit! ‒
133 Marginalien
„MYSTERIUM MAGNUM”
Das eine Leben
Aus dem alles lebt und ist,
Bleibt ewig ungestaltet,
Obwohl es ewig aus sich selbst
Gestaltung schafft
Und lebend in ihr waltet,
Als Ursein, Urlicht, Urwort,
Gott und göttliche Enthüllung: ‒
Sich selbst in Formgewalt
Lebendige Erfüllung!
Im Irdischen jedoch
In keine Form gebunden,
Wird es von Irdischen
Nur dann gefunden,
Wenn es sich selbst der Seele offenbart,
Die es gelöst von Erdenwahn gewahrt!
137 Marginalien
DREIEINIGKEIT
Gott kann als „Vater” sich empfinden: ‒
.nur als „Sohn”,
Und „Sohn” ist Gott sich einzig nur: ‒
.als „Vater”!
Und beide Selbstempfindungsformen
Sind rein geistgegeben: ‒
Sind nur erweckt
Aus ewig geistgezeugtem „Leben”! ‒
Wer hier „Dreieinigkeit” erahnt,
Darf nicht vermeinen,
Erst aus des „Vaters” und des „Sohnes”
.Leben
Lasse sich der „Geist” vereinen!
Hier ist im „Geist” der ewigliche
.„Raum” gemeint,
In dem der „Vater” und der „Sohn”
Sich selbst empfinden,
Und der im Geistigen sie beide eint,
Um beide in sich selber
Zu verbinden! ‒
141 Marginalien
SELBSTGERICHT
Ihr müßt nicht wähnen,
Daß ich nicht um eure Nöte wüßte,
Auch wenn ich wahrlich niemals mich
Mit solchem Wissen brüste!
Ich will nicht wissen,
Was euch vorzugeben glückt,
Wenn andere, euch ehrend, euch
.umgeben: ‒
Ich weiß nur, was euch ständig plagt
.und drückt,
In eurem nächtig tiefgeheimsten Leben!
Und dieses Wissen
Ist auch nicht vernichtet,
Wenn sich im Äußeren mein Erdenleben
.endet!
Ihr selber seid durch euch allein
.gerichtet,
Wenn sich nicht wahrhaft
Euer Streben wendet!
145 Marginalien
HELLSEHEREI
Glaubt nicht den wundrigen Phantasten,
Die sich „hellgesichtig” nennen,
Und die ihr eigenes Erträumen
Selber nicht erkennen,
Wenn sie euch sagen:
So und so sei, was die Zukunft künde,
Dieweil sie anders nicht
Sich eurem „Jetzt” verbünde!
Gar mancher Wahnsinn hat gewiß
.„Methode”, ‒
Und Glauben findet jeder finstre Wahn, ‒
Kräht nach der Wahrheit,
Die dem Wahn verwehrt bleibt,
Auch kein Hahn!
149 Marginalien
BESCHLUSS
Die Reihe schließt sich selbst
Indem ich wieder künde,
Daß ich nur denen mich
Im Geist verbünde,
Die mir sich selbst
In Liebe selber geben
Und starken Willens
Mich in sich erstreben.
Will ich auch Mensch allein
Im Menschen sein,
So schließt mein Menschsein
Doch noch anderes Menschtum,
Als das Menschsein dieser Erde ein. ‒
Und dieses Geistesmenschtum
.spricht allein,
Wo ich mich lieben lehre. ‒
Ich weiß in mir
Um keine andere Ehre!
153 Marginalien
Nachwort
Ich höre die Frage, wie sich nun das,
was ich als gesondert von dem Werk der
Lehre erkläre, bei seiner Einwirkung in
die Seele von dem Wort der Lehre unter
scheide? ‒ und ich antworte: „Nur durch
seine anderen Worte”, ‒ geliebte Freunde,
Schüler und Leser meiner Schriften! ‒
Denn was immer ich auch außer dem Lehr‐
werk geschrieben habe oder noch schreiben
könnte, so konnte und würde doch nichts
von mir ausgehen, was zu ihm in irgend
einem geistigen Gegensatz stünde.
.Das bei seinem Abschluß deutlich um‐
grenzte Lehrwerk ist jedoch die Erfüllung
der mir im Irdischen aus meinem Ewigen
155 Marginalien
auferlegten Pflicht, während alles andere,
was daneben von mir ausging oder noch
ausgehen wird, meiner freien Entscheidung
allein unterstellt war und ist, und nur mei‐
nem verpflichtungsfreien Ermessen seine Ge‐
staltung verdankt. Es ist freiwillige Zu
gabe zu dem, was ich geben mußte, ob ich
wollte oder nicht!
.Man mag diese Beigabe ruhig neben das
Lehrwerk stellen und sich durchaus nicht
scheuen, zu sagen, daß sie ihm aufs engste
verbunden ist. Wie könnte das auch anders
sein, da alles, was ich darzustellen habe, doch
Ergebnis gleicher Einsicht in die Struktur
unvergänglichen Geistes ist?! ‒
.Daß der aus geistig verpflichtendem Ge‐
bot von mir, dem „Gärtner”, angelegte
Hortus conclusus” ‒ als aller dreisten
Neugier verschlossener Garten der ewigen
Seele ‒ seine Sämlinge auch über die ihn um‐
schließenden Mauern hinausschickt, dürfte
nicht verwundern. Es kann manches zu
156 Marginalien
Wurzelfassen, Wachsen und Erblühen kom‐
men, was an seinem schon überreich be‐
wachsenen Ursprungsort dazu kaum noch
unbepflanzten Boden gefunden hätte! So
ist denn alles, was ich geflissentlich bisher
gesondert von dem mir rein geistig auf‐
erlegten Lehrwerk schrieb, jeweils geschrie‐
ben worden, weil ich wußte, daß es sicher‐
lich Menschen finden werde, die seiner be‐
dürften.
.Ich weiß auch, daß diese, hier von mir
nun ausgeschickte Sammlung rhythmisch ge‐
fügter Bekundungen von vielen Menschen
ersehnt wird, die kaum um mein Dasein, und
noch weniger um meine Schriften wissen.
Möge sie alle erreichen, die in diesen und
in kommenden Tagen ihrer bedürfen!
.Ich will helfen, wo ich helfen kann!
.Das kann ich aber nur dort, wo Liebe
zu den Worten in denen ich mich selbst ver‐
ströme um zu helfen, den Hilfesuchenden
erfüllt. Er darf auch nicht trennen wollen
was ich geschrieben habe, und was ich
157 Marginalien
bin, so wie man mit Recht gewohnt ist, die
zeitweiligen Meinungen eines Menschen, die
er in Schriftwerken niederlegt, von ihm selbst
zu trennen. Ich schreibe nicht um ein Schrift‐
werk zu formen, darin „Meinungen” zum
Ausdruck gelangen, die wandelbarer Einsicht
ihr Entstehen danken und morgen anders
sein können als heute. In meinen Worten
gebe ich auf wahrhaft magische Weise mich
selbst, aber man kann mich nur dann auf‐
nehmen, wenn man mich in meinen Worten
liebt! Nicht, wenn man das, was sie be‐
sagen, denkerisch zu analysieren sucht! ‒
.Alles hier Dargelegte aber wäre ganz
unwesentlich, wenn ich in meinen Worten
nicht vermöchte, eine Umwandlung in dem
sie Aufnehmenden herbeizuführen, durch
die er sich selbst, sein ganzes irdisches Leben
und seine gesamte Umwelt erst in der je‐
weiligen Relation zur unvergänglichen
Welt seiner geistig ewigen Seele zu er‐
kennen vermag, was dann sein ganzes Welt‐
bild klärt und eine beglückende Lebenser‐
158 Marginalien
neuerung für jeden herbeiführt, der nun
konsequent nach der ihm gewordenen Ein‐
sicht zu leben bereit ist.
.Diese Umwandlung in Mitmenschen einer
sich selbst zum Problem gewordenen Um‐
welt zu bewirken, wo immer meine Worte
hingelangen, ist Zweck und Sinn meines
geistig dirigierten, aus eigener ewiger Gei‐
stigkeit inspirierten irdischen Daseins. Es
mußte inmitten dieser europäischen Um‐
welt mit ihrem aufgequollenen Überfluß an
Lehren und Meinungen über die vermeint‐
liche oder geleugnete ewige ‒ aller Tier‐
seele überordnete ‒ Menschenseele, ein
geeigneter Mensch in dieses Erdenleben ge‐
langen, der aus vorgeburtlicher Erfah‐
rung im substantiellen ewigen Geiste heran‐
zuholen vermochte, was die hier bespro‐
chene Umwandlung vom Erdenmenschen als
Voraussetzung fordert. Um der wahrlich re‐
lativ vielen willen, die sich nach Lösung aus
ihrer Tiergebundenheit sehnen, und einer
aeonenlang währenden Nacht allertrübster
159 Marginalien
Nichterkenntnis nach dem erfolgten körper‐
lichen Absterben von der äußern Erde ent‐
rinnen wollen!
.Es kann aber nichts ewig-Wirkliches
jemals erden-wirklich werden, wenn es ihm
nicht möglich wird, sich in der ewigen
Seele eines vergänglich-erdenwirklichen
Menschen zeitliche Darstellung zu schaffen.
Die ewige Wirklichkeit des substantiellen
Geistes kann sich dem Menschen nur im
Menschen, ‒ dem Erdenmenschen nur im
Erdenmenschen offenbaren, und zwar nur
in des Menschen ewiger Seele! Keineswegs
in seiner Tierseele oder in irgend einem ihm
nahen oder fernen Bereich der unsichtbaren,
wie der sichtbaren Natur! Darum ist Ver‐
mittlung der Einsicht in die Struktur des
ewigen substantiellen Geistes jeweils nur
durch einen Erdenmenschen möglich,
dessen ewiger Seele sich der urgezeugte Geis‐
tesmensch, ‒ ewig leuchtend im Urlicht, ‒
unvorstellbare Zeiten vor der Offenbarung
im Irdischen, individuell vereinigt hat.
160 Marginalien
Daß solche Dinge nur erlesenen Seelen emp‐
findbar, ‒ nur erlesenen Gehirnen ertast‐
bar werden können, liegt auf der Hand.
.Gesegnet dürfen sich wahrhaftig alle
wissen, für die meine Worte allein geschrie‐
ben sind! Gesegnet seien sie auch mir
mit dem mir ewig-eigenen unerschöpf‐
baren Segen!
.Wie weit sich die allgemeine Vorstel‐
lungsfähigkeit der westlichen Erdenmen‐
schen von der unabänderlichen Wirklich‐
keit der „anderseitigen” göttlich-geistigen
ewigen Seinswelt entfernt hat, ist heute
selbst den vor jedem Zweifel sicheren Gott‐
gläubigen auch nicht ahnungsweise bewußt.
.Ich weiß daher sehr wohl die Schwierig‐
keiten zu würdigen, die der heutige Mensch
der europäischen und europäisierten Zivili‐
sationsbezirke in sich zu überwinden hat,
wenn er sich selbst wieder zum gesicherten
Empfinden dessen, was in ihm wahrhaftig
161 Marginalien
ewig ist, durchringen will. Aber es handelt
sich hier um eine unumgängliche Notwen‐
digkeit für jeden Erdenmenschen, der sich
seiner Scheinexistenz im vergänglichen Irdi‐
schen bewußt wird. Statt gegen eine Welt‐
ordnung, die er nicht kennt, zu protestieren,
weil sie ihn vermeintlich allein läßt in seiner
inneren Not, muß er sich selber wieder vor
stellungsfähig für das Ewig-Wirkliche
machen, wozu ich ihm alles an die Hand
gegeben habe, dessen er bedarf!
B. Y. R.
162 Marginalien
ENDE
NACHLESE I
Verlagslogo
Gesammelte Prosa und Gedichte aus
Zeitschriften
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASEL
Copyright by
Kober'sche Verlagsbuchhandlung Basel 1953 u. 1990
Druck: Conzett & Huber, Zürich
Anmerkung: Die 2. Auflage der „Nachlese“ (1990) ist in zwei OO
Bänden erschienen, wobei der 1.Band einer erweiterten, ge‐ OO
ringfügig an manchen Stellen veränderten Fassung der Nach‐ OO
lese von 1953 entspricht. Hier folgt die Seitennummerierung OO
des 1.Bandes noch der „alten” Nachlese, und die neu hinzu‐ OO
gekommenen Kapitel wurden hintangefügt.
Die geringfügigen Veränderungen:
nicht farblich unterlegter Text ist in beiden Auflagen gleich, OO
hell unterlegter Text entspricht der 2.Auflage, dunkel unter‐ OO
legter Text ist nur in der 1.Auflage zu finden und wurde in der OO
2.Auflage weggelassen. Diese Unterscheidung findet sich im OO
Kapitel „Jedem Antwort” und „Selbstverständliches”, sowie OO
dem „Inhaltsverzeichnis”, welches in seiner ANORDNUNG OO
bereits der zweiten Auflage entspricht (zwei Farben bei der OO
Kapitelanzeige im Inh.Vz. bedeutet eine Titelverschiedenheit OO
zwischen den beiden Auflagen bei gleichem Inhalt).
INHALT Seite
NACHLESE I
Vorwort zur 2.Auflage 4
Vorwort zur 1.Auflage 5
Über meine Schriften
    (Flugschrift d. Koberverlags, 1930)
Hauptverz.
Warum ich meinen Namen führe
    (Flugschrift d. Koberverlags, 1927)
Hauptverz.
Wer ist Bô Yin Râ? (Magische Blätter, 1924) 150
Das Haus der Seele (Magische Blätter, 1920) 6
Vorbemerkung zu den «Funken»
    Deutsche Mantra (Mag.Blätter, 1920)
7
Optimistisches Denken (Magische Blätter, 1922) 11
Politik als Kunst (Der Türmer, 1922) 17
Magie der Zeichen (Magische Blätter, 1924) 21
Feilspäne (Magische Blätter, 1925) 29
Pro Domo! (Magische Blätter, 1925) 30
Dank (Die Säule, 1927) 42
Zanoni (Magische Blätter, 1925) 154
«Wie sie ihn sahen» (Die Säule, 1930) 165
Optimismus (Die Säule, 1932) 46
Résumé Antwort auf eine Anfrage
    (Die Säule, 1932)
55
«Im Spiegel» Eine notwendige Aufklärung
    (Die Säule, 1933)
172
Der oppositionelle Mensch (Die Säule, 1933) 58
Jedem Antwort erw. Fassung (Die Säule, 1933) 68
Selbstverständliches erw. Fassung (Die Säule, 1933) 86
Buchstäbliches Denen, die es angeht
    (Die Säule, 1934)
88
Brief an meine geistigen Schüler (Die Säule, 1934) 90
Brief an meine geistigen Schüler (Die Säule, 1934) 102
Brief an meine geistigen Schüler (Die Säule, 1934) 113
Gefahr der Nacht (Die Säule, 1934) 122
Selbsterziehung (Die Säule, 1935) 125
IN GEBUNDENER REDE 127
Rat (Magische Blätter, 1921) 128
Heimkehr (Magische Blätter, 1922) 129
Unsterblichkeit (Magische Blätter, 1923) 130
Stimmen aus dem Geisterreich
„Die uns verlassen mußten(Der Türmer, 1924)
131
Wille zur Wahrheit (Die Säule, 1931) 132
Das Bleibende (Die Säule, 1933) 134
Ewigkeitsbestimmtes Finden (Die Säule, 1933) 135
Besorgter Freundesliebe zugeeignet
    (Die Säule, 1933)
136
Irdische Behinderung (Die Säule, 1933) 138
Geistige Verbundenheit (Die Säule, 1933) 139
Orient und Okzident (Die Säule, 1933) 140
Erkennungszeichen (Die Säule, 1933) 141
Steine (Die Säule, 1934) 142
Verborgener Quell (Die Säule, 1934) 143
Höchste Herkunft (Die Säule, 1935) 144
Notwendiges Irrenkönnen (Die Säule, 1935) 145
Trost ist nicht draußen (Die Säule, 1935) 146
Friede (Die Säule, 1935) 147
Augenwanderungen (Die Säule, 1936) 148
An die Säulen des Parthenon
    (Die Säule, 1936, neue Fassung)
149
Originalscan1  Originalscan2
NACHLESE I
VORWORT
zur 2.Auflage
.Der Verlag freut sich, den Lesern des Werkes
von Bô Yin Râ die Textsammlung der «Nachlese»
neu und stark erweitert in zwei Bänden vorzule‐
gen.
.Dem Wunsch von Bô Yin Râ entsprechend be‐
rücksichtigen beide Bücher nur Texte, die in ir‐
gendeiner Form schon einmal im Druck erschie‐
nen sind. Dieser erste neue Band unterscheidet
sich von der bisherigen Ausgabe vor allem durch
vier hinzugefügte Kapitel. Auch werden die Ab‐
handlungen «Jedem Antwort» und «Selbstver‐
ständliches» nun in erweiterten Fassungen publi‐
ziert, während der «Dank» zum 50. Geburtstag in
einer Sammlung von drei Dankesadressen im
zweiten Band seinen Platz gefunden hat. Im
selbstverfassten Text «Wer ist Bô Yin Râ?» stellt
der Autor Missverständnisse und Fehlbeurteilun‐
gen über seine Person richtig.
.Der zweite Band der somit neuen «Nachlese»
enthält neben einer Anzahl von Texten über
4 Nachlese
Kunst aus den Jahren 1913 bis 1920 zahlreiche
zeit- und situationsbedingte Aufsätze sowie einige
Buchbesprechungen und persönliche Erinne‐
rungen.
.Bern,.1990                                 Der.Verlag
4a
VORWORT
zur 1.Auflage
.In dieser «Nachlese» wurden neben den bei‐
den einleitenden Flugschriften* (Kober'sche Ver‐
lagsbuchhandlung Basel) Aufsätze und Gedichte
Bô Yin Râs vereinigt, die von 1920 bis 1936 in
den Zeitschriften «Der Türmer» (Verlag Greiner
& Pfeiffer, Stuttgart) und «Magische Blätter» (ab
1937 die «Säule», Richard Hummel Verlag, Leip‐
zig) erschienen sind. Bô Yin Râ hat alle diese
Arbeiten nicht in das geschlossene Werk seiner
Lehre, den «Hortus Conclusus», eingefügt, aber
in jedem Wort und in jedem Satz ist die innigste
Verbindung mit dem Lehrwerk fühlbar. In aller
Welt werden die alten Freunde und Schüler von
Bô Yin Râ, denen die wirren Zeitläufte die lang
bewahrten Hefte zerworfen haben, diese Sammlung
der Aufsätze und Gedichte als lang Erwünschtes
begrüßen, die Jungen und neu Herzutretenden
aber, denen ihr Geschick das Buch in die Hände
bringt, werden manchen heiligen Pfad darin ent‐
decken, der sie sicher nach Innen leitet.
.Basel.1953.                Der.Verlag
* Anmerkung: diese beiden Flugschriften, „Warum ich meinen OO
Namen führe” u. „Über meine Schriften”, sind im Haupt- OO
inhaltsverzeichnis (Nr.42/43) gelistet.
5 Nachlese
DAS HAUS DER SEELE
SIEHE, o Suchender, das Land der ewigen Ge‐
staltung steht Dir jederzeit offen!
.Du mußt nur wählen, wo Du in ihm Dein Haus
erbauen willst. ‒ Wohl Dir, wenn Du zu wählen
weißt mit weiser Wahl!
.In Deinem Hause wirst Du dann ruhig werden,
denn Du wohnst allda in guter Sicherheit. ‒
.In Deinem Hause, wenn Du recht zu wählen
wußtest, ist Gott kein Fremder mehr. ‒
.Wie einen machtvollen Freund wirst Du ihn
bei Dir haben. ‒ Viele haben Gott gesucht
und fanden Götzen, denn sie wußten nicht, daß
Gott nur dann erscheint, wenn ihm im Lande
der Seele ein Haus errichtet wurde. ‒
6 Nachlese
VORBEMERKUNG ZU DEN
«FUNKEN»
(Deutsche Mantra)
SEIT ältester Zeit im alten Indien bekannt,
dem modernen Europäer aber fremd gewor‐
den, obwohl auch hier einst Runen und
«Zaubersprüche» von solcher Weisheit wuß‐
ten, ist die magische Einwirkung gewisser
Laut- und Wortfolgen auf die Seele.
.In jeder, besonders in jeder vokalreichen
Sprache, lassen sich solche Mantra schaffen, und
wenn sie wirklich nach okkulten Lautgesetzen ge‐
formt wurden, sind sie unübersetzbar, da die
okkulte Wirkung lediglich der, wenn auch nur
innerlich «gehörten» Lautfolge entspringt,
während der Sinn der Worte, erst in sekun
därem Betracht, auch als Meditations-Stoff
in Wirkung treten kann, gleichsam als Stim
mungsmittel der Seele.
.Die altgermanische Literatur ist erfüllt mit an‐
gewandter Laut-Magie, und die Liturgie der
7 Nachlese
griechischen und römischen Kirche stellt zum
größten Teil nichts anderes als Mantra
Sammlungen dar, geschaffen von weisen Ken‐
nern der okkulten Lautgesetze. ‒
.Wenn heute die Kirche Roms sich weigert, ihre
liturgischen Formeln aus dem Lateinischen in
lebende Sprachen zu übersetzen, so motiviert sie
zwar diese Weigerung mit der durch Uebersetzun‐
gen gegebenen Gefahr einer zwiespältigen Aus‐
legung, allein in Wirklichkeit folgt man hier ‒
bewußt oder nur dunkel ahnend ‒ rein okkul
ten Gesetzen, weil alle okkulte Wirkung
der in lateinischer Sprache geformten Mantra bei
solcher Übersetzung verloren gehen müßte. ‒
.Es ist aber für die okkulte Wirkung solcher
Lautfolgen auf den geistigen Organismus des Men‐
schen völlig gleichgültig, ob er den Sinn der
gegebenen Worte «versteht», den «Sinn», der ja
auch, in gänzlich anderer Lautfolge ausgedrückt
werden könnte. ‒ Die okkulte Wirkung solcher
Lautfolgen tritt erst ein, bei kontinuierlich fort‐
gesetzter Wiederholung, was manchem ein
Fingerzeig sein mag, der das «tägliche Ableiern» (!)
gewisser liturgischer Formeln, wie er es vielleicht
beim Chorgebet der Mönche irgendwo zu beob‐
8 Nachlese
achten Gelegenheit fand, nur als «unsinnige» und
«geisttötende» Übung aufzufassen vermag....
.Hier ist mehr Weisheit in einer traditio‐
nell erhaltenen Gepflogenheit als die Anhänger
der hier in Rede stehenden Religionsform heute
selber noch ahnen. ‒ ‒ ‒
.Nach diesen kurzen Hinweisen wird man viel‐
leicht verstehen, was in den «Funken» gegeben
ist. ‒
.Möge sich jeder einzelne prüfen, welche der
hier gegebenen Lautfolgen in deutscher Sprache
‒ auch abgesehen von ihrem «Sinn» ‒ am stärk‐
sten zu seiner Seele spricht. Eine okkulte Ein
wirkung auf seinen geistigen Organismus darf
er allerdings erst dann erwarten, wenn er län‐
gere Zeit hindurch, Tag für Tag, sich unter
die innere Einwirkung der innerlich gefühl
ten Lautfolgen stellt. Die gleichzeitige Meditation
über den zu erfühlenden «Sinn» der Worte mag
ihm deren stete Wiederholung dabei erleich‐
tern.
.Es kann noch gesagt werden, daß bereits viele,
und darunter sehr urteilsfähige und in kritischer
9 Nachlese
Selbstbeobachtung geschulte Menschen durch
direkte handschriftliche Weitergabe des Autors
diese «deutsche Mantra» kennen und seit eini‐
gen Jahren hinlänglich ihre okkulten Wirkungen
zu erproben vermochten. (Auch von anderer Seite
erfolgte, mit ausdrücklicher Erlaubnis, handschrift‐
liche Weiterverbreitung, nur ist die hier gegebene
endgültige Form noch an manchen Stellen weiter
bearbeitet.)
10 Nachlese
OPTIMISTISCHES DENKEN
ES gibt heute besonders viel Menschen,  die ihre
geistige Überlegenheit nicht besser beweisen zu
können glauben, als dadurch, daß sie allen Scharf‐
sinn aufbieten, um nur ja in jeder Sache irgend
etwas «Bedenkliches» zu entdecken: Menschen,
die aus innerstem Bedürfen heraus jeden har‐
monischen Zusammenklang durch ihre Unkenrufe
stören.
.Was auch immer geschehen mag, ist ihnen An‐
laß, Unglück zu prophezeien; und ist wirklich
ein Unglück hereingebrochen, dann können sie
sich nicht genug tun, um ihren Nebenmenschen
auch «recht klar» zu machen, wie entsetzlich das
Unheil sei, das sie betroffen hat. Richtig wütend
aber werden solche Unglücksmenschen, wenn sie
einem begegnen, der gar im Unglück noch der
Hoffnung das Wort spricht, einem, der Gutes aus
Bösem keimen sieht, wie die Lotosblüte aus dem
11 Nachlese
Schlamme uralter Teiche; und wenn sie dem Spre‐
cher dann ihre volle Verachtung entgegenschleu‐
dern, lautet ihr letztes Wort unfehlbar dahin aus:
er sei ein «Optimist» und nicht «ernst» zu
nehmen.
.Ach, daß wir doch nur recht viel solcher «Opti‐
misten» hätten! Sie fehlen unter uns, gerade in
einer Zeit, in der wir sie so bitter nötig brauchen
könnten.
.Die traurigen «ernsten» Leute, die nicht trübe
genug in die Zukunft blicken können, ahnen ja
nicht im Traume, daß gerade sie es sind, die immer
aufs neue Sand in das Räderwerk der Maschine
streuen, dorthin, wo wir nichts anderes brauchen
können, als das wohltuend glättende Öl optimi
stischen Denkens.
.Es liegt eine seltsame Kraft in dem geheimnis‐
vollen Vorgang, den wir «Denken» nennen; und
nur die allerwenigsten Menschen sind geneigt, auch
nur das Vorhandensein dieser Kraft als möglich
anzunehmen. Die Natur läßt aber ihrer nicht spot‐
ten; und ihre Kräfte wissen zu wirken, einerlei,
ob der Mensch in stolzer Selbstgefälligkeit dieses
12 Nachlese
Wirken als «naturgesetzlich» begründet anerkennt,
oder ob er es mit gleicher Selbstgefälligkeit noch
leugnet, bis er einmal dran glauben muß. Schon
daß aller Tat das «Denken» als Vorspann dient,
sollte ‒ «zu denken» geben. Aber hier ist nicht
nur vom Denken als Voraussetzung für jedes Tun
die Rede, sondern ‒ ich möchte hier das Den
ken selbst als Tat gewertet sehen.
.Der Mensch ist mehr als er ahnt: ein Produkt
dieser Tat, ein Produkt seines eigenen Denkens.
Mehr als er ahnt, ist er aber auch im Banne der
Gedanken seiner Nebenmenschen, mag er nun
willig oder wider seinen Willen diesem unsicht‐
baren Antrieb folgen.
.Wer hat es noch nicht erlebt, daß er in nieder‐
gedrückter Stimmung plötzlich in die Gesellschaft
heiterer, hoffnungsfroher Menschen geriet und von
ihnen derart mitgerissen wurde, daß er schließlich
allen eigenen Kummer vergaß?
.Wer ist noch niemals in heiterster Stimmung in
einen Kreis Bedrückter und Hoffnungsloser ge‐
raten und ging von ihnen schließlich weg mit be‐
drücktem Mut, und aller seiner vorherigen Spann‐
kraft wenigstens für Stunden hin verlustig?
13 Nachlese
.Es ist aber gar nicht nötig, daß Menschen ihre
Gedanken aussprechen. Es genügt, besonders
für sensible Naturen, längere Zeit in der Gesell‐
schaft irgendwelcher Menschen zu sein, um von
ihren Gedanken beeinflußt zu werden. Unmerklich
stecken Gedanken an, und man bringt die «An‐
steckung» mit nach Hause wie einen Schnupfen
aus der Straßenbahn.
.In neuerer Zeit gibt es eine bereits gewaltig an‐
gewachsene Literatur amerikanischer «Erfolgs‐
Mystiker», die mit mehr oder weniger Moralität,
mit mehr oder weniger ethischem Pathos, ihre
Lehren vorträgt, deren oberstes Axiom heißt:
«Gedanken sind Dinge!» Nein, Gedanken sind un‐
endlich viel wichtiger als «Dinge», sind leben
dige Kräfte und wirken dem Impuls gemäß,
der sie formte; denn all unser Denken ist ja nichts
anderes als ein Formen. Wir schaffen keine Ge‐
danken aus dem Nichts, sondern wir formen
nur, mittels des Gehirns, gewisse fluidische und von
einem Menschen auf den andern übertragbare
Kräfte des spirituellen Ozeans, in dem wir leben
und eingeschlossen sind, wie die Fische im Meer.
.Aller geheimnisvolle «Einfluß», den gewisse
Menschen auf ihre Umgebung auszuüben fähig
14 Nachlese
sind, erklärt sich daraus, daß diese Menschen be‐
sonders begabte Former der Gedanken
kraft sind, daß sie ihre Gedankenformen mit
einem weit stärkeren Impuls zu laden vermögen,
als die übrigen Menschen um sie her. Gerate in
die Nähe eines solchen Gedanken-Formers: und
du wirst, wenn er ein Mensch des geruhigen Lebens
ist, unwillkürlich selbst ruhig werden, wie groß
auch die Unruhe war, die dich vorher bewegte.
Umgekehrt, wirst du, ohne es zu wollen, in eine
nervöse Hast und Unruhe geraten, wenn dieser
Former, dem du begegnest, ein Mensch der Hast
und steten Unrast ist. ‒
.Wie können wir nun diese Kräfte, die uns Ur‐
natur in unsere Hand gegeben hat, für uns und
unsere Umwelt nutzbar machen?
.Die Frage fand schon ihre Antwort in dem, was
ich vorher sagte.
.Indem wir mutig und vertrauensvoll zu ‒
denken suchen. Indem wir bestrebt sind, uns
zu hoffnungssicherer Heiterkeit in unserem Den‐
ken ‒ wenn es sein muß ‒ zu zwingen. In‐
dem wir jeden Gedanken von uns scheuchen, der
15 Nachlese
uns sagen will, unsere Hoffnung sei eitel Torheit,
sei durch reale Gegebenheiten schon als Hirn‐
gespinst gebrandmarkt und verdammt. «Es ist der
Geist, der sich den Körper baut» ‒ und es ist
der Gedanke, der unser Wollen und Vollbrin‐
gen schafft!
.Wollte ich dies «erklären», dann müßte ich
tiefste Weisheit der Veden sorgsam zu enthüllen
suchen, doch hier ist dazu nicht der Raum ge‐
geben. Es ist auch nicht nötig: denn die heiligen
Bücher der Christenheit wissen in anderer
Form auf jeder Seite von der gleichen Wahr‐
heit zu erzählen; und wer in ihnen suchen will,
der wird für meine Worte hundertfache Belege
finden.
.In einer Zeit, die alle Früchte irren Denkens
reifen läßt, mag man mir wohl verstatten, auch die
Heilungskraft des rechten Denkens aufzu‐
zeigen. Es wird nichts gewonnen mit Trübsalblasen
und öder Hoffnungslosigkeit! Wer nur die Nacht
betrachtet, die über uns hereingebrochen ist, ver‐
sinkt in Schlaf und Traum... Wir müssen alles tun,
uns wach und wacher zu erhalten, wenn wir
einen neuen Tag erleben wollen.
16 Nachlese
POLITIK ALS KUNST
WER den politischen Tageskampf betrachtet,
der vermißt am allermeisten die Rhythmik
dieses Kampfes. Statt dem Willen zur Einordnung
in das allgemeine Ganze, statt dem Willen zur
Selbstbehauptung innerhalb der gegebenen Gren‐
zen, findet er allenthalben nur den Willen, den
Gegner aus dem Wege zu räumen. Betrachtet man
aber Politik als die Kunst der Gestaltung eines
lebendigen Gesellschaftsorganismus, dann ist jeder
«Gegner» eigentlich nur ein Gegenspieler, der
ebenso wie sein Partner daran beteiligt ist, das
Kräftegewoge des Ganzen lebendig zu erhalten.
Ich glaube, von allen Parteien und in allen Staats‐
gebilden sind in dieser Hinsicht stets die folgen‐
schwersten Fehler begangen worden, am wenigsten
noch vielleicht in England, dessen parlamentari‐
sches Gefüge stets vor Katastrophen gesicherter
war, weil es ‒ weniger «Kitsch» ist als ander‐
wärts: weil es künstlerischer organisiert ist.
17 Nachlese
.Wenn «politisch Lied» wirklich so ein «garstig
Lied» geworden ist, dann dürfte das nicht zum
kleinsten Teil daran seine Ursache haben, daß man
in der Kunst der Politik unfruchtbare, mecha‐
nisch wirkende Gepflogenheiten an Stelle des
Gehorsams gegen die ewigen Gesetze alles harmo‐
nischen Gestaltens setzte.
.Ursprünglichkeit ist erstes Erfordernis in jeder
Kunst, und auch die Kunst, die aus der unge‐
ordneten «Masse» die «Gesellschaft» bilden will,
kann ihrer nicht entraten. Wo aber findet man im
Leben der Parteien noch Ursprünglichkeit?? All‐
überall trat an ihre Stelle das «Parteiprogramm»
als künstlich kombinierter Ersatz. Man weiß im
voraus, was man sagen wird, was man sagen darf
und was man sagen kann, bevor der Gegenspieler
noch das erste Wort gesprochen hat. Und regt sich
wirklich einmal, gegen alle harte Zucht parteiischer
Gebundenheit, in der Debatte doch der unter‐
drückte Trieb der Urnatur, dann darf der Mann
der Politik gewärtig sein, daß er aus eigener
Gefolgschaft ätzende Kritik erhält. Wie aber soll
bei einer solchen Mechanisierung der gestaltenden
Kräfte jemals Leben in die Gestaltung über‐
strömen?! Wie soll man jemals zum Gefüge kom‐
18 Nachlese
men, wenn sich die Teile stets in sich allein zu
runden streben und niemals willens sind, die Gren‐
zen flüssig zu erhalten, so daß sie bei gegebener
Gelegenheit sich ineinanderfügen könnten?! Wie
soll das Ganze in organischer Gestaltung keimen,
wachsen, blühen und zum Früchtetragen kommen,
wenn die Kanäle seiner Lebenskraft sich niemals
aneinanderschließen?!
.Die menschliche «Gesellschaft» ist nur möglich
als ein Organismus gleich dem Körper eines Men‐
schen. Gleich wie der Menschenkörper nur ge‐
deihen kann, wenn stetig Blut zum Herzen fließt
und sich von ihm entfernt, so kann auch der Gesell‐
schaftsorganismus nur gedeihen, wenn zentripetale
und zentrifugale Kräfte sich in einem Kreislauf
zu erneuern streben. Kein Punkt dieses Kreislaufs
ist zu missen. Sobald man einen Teil daraus ent‐
fernen will, muß das organische Leben des Ganzen
der Vernichtung entgegengehen. In diesem Sinne
betrachtet, sind alle politischen Parteien einer Zeit
stets aufeinander angewiesen. Wer sie immer wei‐
ter zu trennen sucht, weiter als es sein müßte, treibt
frevelhaftes Spiel.
.Wir sind zu sehr gewohnt, den analytischen Pro‐
zeß des Denkens auch im Leben anzuwenden, und
19 Nachlese
so zersplittern wir das Leben, statt es zu erweitern.
Ich bin aber der felsenfesten Überzeugung, daß
wir niemals zur «Gesundung» kommen können,
bevor nicht das Bestreben zur Synthese an die
Stelle analytischer Praxis tritt, im Leben der Par‐
teien. Es ist durchaus nicht nötig, daß deshalb die
einzelne Partei ihren klar umrissenen Charakter
etwa verliert!
.Nur so kann Politik zur Kunst der Gesellschafts
bildung werden; und nur als Kunst betrachtet, die
das edelste Gebilde zu gestalten hat, kann sie die
Menschen derart ineinanderfügen, daß alle sich
zu einem krafterfüllten Ganzen «formen».
20 Nachlese
MAGIE DER ZEICHEN
WIE ist doch der heutigen Welt so gar vieles
wieder dicht verschleiert worden, was einst
den Menschen früherer Tage offenbar war! ‒
.Wie vieles gilt heute nur noch als «leerer For
melkram», was ehedem hehres Mittel magischen
Wirkens bildete!
.Wahrlich, die wenigen sind zu zählen, die da
heute auch nur ahnen, welche magische Macht dem
Menschen gegeben ist! ‒ ‒ In mancherlei Weise
wußten die Alten solche Macht zu nützen.
.Wohl waren auch sie gewiß nicht von allem
Aberglauben frei, allein ihr Aberglaube rankte
sich nur um ein Wissen, das der Nachwelt wie‐
der verloren ging und das die Späteren nun allzu‐
klug als «Aberglaube» entwerten möchten.
.Hier gilt es sorglichst zu sondern, will man der
Wahrheit nahekommen!
21 Nachlese
ES sei hier die Rede von der Magie der Zei
chen, deren die Alten ebenso kundig waren, wie
die Menschen dieser Tage die Kraft des Blitzes zu
nützen wissen.
.So sehr ist jenes Wissen der Alten gelästert wor‐
den, daß man Gefahr läuft, in den Verdacht der
kritiklosen Schwärmerei zu geraten, redet man von
diesen Dingen, ohne sie dem Aberglauben zuzu‐
rechnen! ‒
.Und doch ist hier vieles verborgen, das einst wie‐
der offenbar werden wird, so sehr man auch heute
derlei mißachten mag! Vergessenes Wissen wurde
noch immer verlacht!...
.Wer aber ‒ außer den wenigen, die hier kaum
zählen ‒ weiß heute noch davon, daß gewisse
geschriebene, graphisch gestaltete oder auch pla‐
stische Zeichen magische Kräfte in Wirksam‐
keit setzen können, sobald sie «geladen» wurden
mit Impulsen, die solche Kräfte zu ent
fesseln vermögen!? ‒
.Doch nicht nur Zeichen, die aus irgend
einem Material der Kundige zu formen weiß,
üben solche Wirkung aus.
22 Nachlese
.Der eigene Körper des Menschen kann durch
bewußte, entsprechende Haltung zu einem magi‐
schen Zeichen werden: ‒ die Gebärde kann
solcher Zeichen Formung sein. ‒ ‒
.Während jedoch das aus fremdem Stoffe ge‐
formte magische Zeichen stets in seiner Starre bei
einmal gegebener Wirkung verharrt, verbindet sich
den Zeichen, die der menschliche Körper formt,
zugleich die Bewegung, ja es ist möglich, ein
Zeichen in ein anderes kontinuierlich überzuleiten
und so die Wirkungsweise mannigfach zu vari‐
ieren. ‒
.Zugleich aber wird alle Wirkung ganz erheblich
gesteigert durch des Wirkenden Konzen
tration auf die geforderte Haltung.
.Nicht unwillkürlich darf sich Bewegung
an Bewegung, Zeichen an Zeichen reihen!
.Nicht Neigung persönlicher Gefühle
darf die Gebärde bestimmen!
.In wohlgeordnetem Rhythmus, bedingt durch
eherne Gesetze jener Sphäre, von der aus die Wir‐
23 Nachlese
kung erfolgen soll, muß alle Darstellung magischer
Zeichen durch den Körper, wie ihre Überleitung
erfolgen, sollen die unsichtbaren Kräfte tatsäch‐
lichen Anstoß erhalten.
.So wie ein chemisches Präparat nur dann in ge‐
wünschter Weise herzustellen ist, wenn jede Be‐
dingung, die gefordert wird, durch physikalische
Gesetze peinlichste Erfüllung findet, so kommt
auch magische Wirkung nur zustande, wenn
der Wirkende sich streng an die Erfordernisse
seines Wirkens hält, möge er nun die magischen
Zeichen aus starren Stoffen, oder durch seines
eigenen Körpers Gebärde und Bewegung for‐
men. ‒
Die Weisen der alten Religionen kannten sehr
genau die Gesetze magischen Wirkens.
.Sie wußten, weshalb sie ihre Liturgien an be‐
stimmte Formen knüpften, die strenge eingehalten
werden mußten.
.Hier ist die Kraft verborgen, die selbst Reste
jener alten Kulte heute noch im Dasein hält. ‒
24 Nachlese
.Alle Kultgebärde, alle hieratische Haltung bei
der Ausübung der Riten ist nichts anderes als
Zeichenmagie! ‒
.Die Wirkung erfolgt auch dann noch, wenn
die Wirkenden längst nicht mehr wissen,
was sie tun, solange sie durch alte Vorschrift sich
davor bewahren lassen, die Gesetze zu mißachten,
die allhier in Frage kommen. ‒
.Die Deutung, die man solchem Tun zu geben
sucht, mag sich im Lauf der Zeiten oft genug ge‐
wandelt haben, allein die Wirkung bleibt und
ist von jeder Deutung unabhängig. ‒
.Gar manche kultische Gebärde, die man heute
nur symbolisch deuten möchte, stellt ein
magisches Zeichen dar von wohlerprobter
Wirksamkeit. ‒
.So ist es denn auch töricht, Liturgien neu zu
formen, die durch symbolische Geste die
Magie der Zeichen ersetzen möchten.
.Die alten Liturgien hatten sehr erheblich an
deres zu geben, und es wird noch jetzt ver‐
mittelt, soweit sie in Fragmenten noch erhalten
sind. ‒ ‒
25 Nachlese
Weit mehr, als alles ausmacht, was sich heute noch
erhalten hat an magischen Zeichen, die der Wir‐
kende durch die Gebärde formt, ist aus der Vor‐
zeit überkommen in Gestalt der starren Zeichen,
die man graphisch, in der Farbe oder
plastisch formte.
.Auch hier zeigt sich gar deutlich jenes Wissen,
das die Weisen alter Religionen einst ihr eigen
nannten.
.Die Deutung, die den Zeichen dieser Art je‐
weils aus Glaubenslehren wurde, führt hier
freilich in die Irre. ‒
.Nicht was sie «bedeuten» sollten, ist hier zu er‐
fragen, sondern was sie ‒ wirkten...
.Nur eigenes Erfühlen dieser Wirkung
kann hier zur Erkenntnis führen, denn noch ist
diese Wirkung nicht erloschen.
.Soweit die Darstellung der menschlichen
Gestalt im Kunstwerk hier beachtet werden
muß, kommt auch die Zeichenbildung durch
Gebärde sehr wichtig in Betracht.
26 Nachlese
.Die religiöse Kunst des Altertums
bleibt ohne diesen Schlüssel uner
schlossen.
.Was aber, außer solcher Darstellung des Men‐
schen, noch an Formen, die einst alten Liturgien
dienten, uns erhalten ist, wird wiederum so man‐
ches Werk sakraler Kunst entschleiern helfen, das
der Magie der Zeichen einst sein Dasein
dankte. ‒
Es sollen diese Darlegungen nur den Blick auf die
erwähnten Dinge lenken und Ehrfurcht lehren
vor der Weisheit jener Alten, die weit weniger
dem Aberglauben ausgeliefert waren, als das heu‐
tige Geschlecht vermuten möchte.
.Die Zeichen magischen Charakters, die sich heute
noch in alten Tempeln, Kirchen und Museen fin‐
den, sollen hier wahrlich nicht etwa «gedeutet»
werden!
.Wer sie gedeutet wissen möchte, zeigt da‐
mit, daß er sie für Symbole hält, und weiß noch
nicht, daß sie nur im Erleben sich enthüllen,
27 Nachlese
durch die Wirkung auf die Seele, die auch
heute noch von ihnen ausgeht, gibt man sich
dieser Wirkung willig hin und läßt die Glaubens‐
lehren ruhig unbeachtet, die sich seit alter
Zeit schon um ihr Dasein ranken.
.Wer nur ein weniges von dem erlebt, was
hier erlebbar ist, der wird durch die Erfahrung
in sich selbst verlernen, lächelnd nur und
überheblich auf das Wissen jener Alten tief herab‐
zusehen, das sie Magie benannten. ‒
28 Nachlese
FEILSPÄNE
IST dir eine Pforte verschlossen, so darfst du noch
lange nicht glauben, es sei niemand im Hause!
Durch Brillen muß man sehen, auf Stühle sich
setzen, wenn man ihre Güte prüfen will, ‒ aber
man darf es nicht umgekehrt machen wollen...
Wenn Rauch aus dem Schornstein steigt, so
schließe nicht immer daraus, daß man im Hause
Kuchen backe!
Aus mancher Tasche klingt es wie Klang harter
Taler; dreht man sie aber um, so fallen nur
Schlüssel heraus...
Bäume, die sich im Sturme biegen, können sehr
gerade gewachsen sein.
29 Nachlese
PRO DOMO!
DROHENDE Wetterwolken umragen hochauf‐
geschichtet allenthalben das Leben der Völker
in diesen Tagen.
.Erhebliche Fragen harren der Antwort, die be‐
stimmend sein wird, weit über unsere Zeit hinaus,
lebenformend für kommende Generationen.
.Wahrlich: das äußere Leben scheint nicht mehr
Zeit zu lassen zu stiller Einkehr und Versenkung!
.Allzusehr lasten die Nöte des Tages auf diesem
Geschlecht. Und dennoch reichen die Lasten des
materiellen Lebens keineswegs aus, die Seelen die
innere Not vergessen zu lassen, die weit herbere
Qual verursacht als alle irdische Daseinssorge. ‒
.Oft scheint man zu fühlen, daß hier Wechsel
wirkung besteht, so daß die äußere Not
30 Nachlese
längst behoben wäre, wüßte man sich der
inneren endlich zu erwehren... Wohl denen,
die noch in alten, engen Gehegen sich geborgen
fühlen, ausreichend getröstet durch ihrer Seelen‐
hirten tröstendes Wort!
.Unzählige aber sind Pferch und Hirtenhut ent‐
ronnen.
.Es trieb sie hinaus auf freie Weide und jeder
suchte eine Tränke die ihm kein anderer trüben
könne.
.Wie sehr sie alle noch der Hürde bedurften,
wußten sie nicht. ‒
.Man sucht in tollem Taumel zu vergessen, was
man nicht vergessen kann, um stets aufs neue,
wenn auch nur für Augenblicke aus dem Rausch
erwacht, zu fühlen, daß die Sehnsucht nach Er‐
lösung aus der Seele irrer Angst sich nicht ersticken
läßt.
.Daß man sich selber helfen könne, ahnt man
nicht. ‒
31 Nachlese
.So sucht man, einstmals seiner wilden Freiheit
allzufroh, nun allenthalben wieder nach einer
sicheren Hut, nach Führung und Geleit.
.Weit mächtiger, als sich so mancher Prediger
vor leeren Bänken träumen läßt, ist heute ein
heißes Verlangen nach dem Seel-Sorger in
den Seelen! ‒
.Wenn irgend einem Menschen unserer Tage sich
die Not der Seelen bis in ihre dichteste Verborgen‐
heit enthüllte, so wurde dies mir durch mein
Schicksal bestimmt, die Lehre verkünden zu müs‐
sen, die allein solche Not aus dieser Welt schaffen
kann!
.Unsagbares seelisches Elend wurde
mir vertraut und ich lernte wahrhaftig durch die
Erfahrung, daß es kein größeres Glück auf Erden
gibt, als anderen helfen zu können...
.Nichts anderes möchte ich lieber tun, als Tag
und Nacht allen denen persönlich Hilfe brin‐
gen, die ihrer bedürfen!
.Kein irdischer Lebensberuf erscheint mir be‐
neidenswerter, als der des Sorgers um das Heil der
Seelen; und wie der Seelensorger denen fehlt,
32 Nachlese
die ihn nicht mehr in einer Religions
gemeinde suchen können, da ihre Seele Zwang
und Nötigung in Glaubensdingen nicht erträgt, das
wurde mir in jahrelanger Hilfsbereitschaft Tag für
Tag bestätigt.
.Aber jeglichem menschlichen Wirken sind be
stimmte Grenzen gezogen, soll es sich nicht
im Uferlosen verlieren, und so sah auch ich mich
denn gezwungen, von aller persönlichen
Hilfeleistung abzustehen, um weiter auf jene
Weise helfen zu können, die mir allein obliegt.
.Mehr als alle, deren Briefe ich nicht mehr
beantworten, deren Besuche ich nicht mehr an‐
nehmen kann, leide ich selbst darunter, daß ich
durch Pflicht und selbstauferlegten Gehorsam gei‐
stig hoher Weisung gegenüber, in harter Zwangs
lage bin, mich auf Anderes konzentrieren zu
müssen und den Wünschen nicht willfahren
darf, die mein persönliches Eingehen auf die
Not des Einzelnen noch täglich von mir for‐
dern. ‒ ‒ ‒
.Was mir zu geben obliegt, ist freilich trotz
dem jedem Einzelnen gegeben, ‒ nur möge er
33 Nachlese
sich genügen lassen an der Form in der ich es
geben muß, ‒ durch den Buchdruck allen zu‐
gänglich, ‒ nicht anders als wenn es für einen
Einzelnen allein geschrieben wäre!
.Mit gutem Willen und einiger Selbstversenkung
ist es wahrlich jedem Einzelnen möglich, aus dem
was ich der Welt gegeben habe, die Folgerungen
zu ziehen, die seinen Einzelfall jeweils klären,
und ihn zur Selbsthilfe leiten.
.Und bleibt er nicht nur «Leser» dieser Bü‐
cher, sondern sucht sein ganzes Leben den in
ihnen aufgestellten Maximen anzupassen, dann
wird er erst recht persönlicher Nachhilfe nicht
mehr bedürfen. ‒ ‒
.Es wird in unseren Tagen viel zu viel Wert auf
«persönlichen Einfluß» gelegt und das
«gesprochene Wort» wird weit überwertet.
.Man übersieht geflissentlich, daß durch das Ohr
vernommene Rede und der persönliche Einfluß
zugleich Verführungsmittel sind, die ihrer‐
seits gar oft auch dann bestimmen können,
wenn das Mitgeteilte allein keineswegs genügt
haben würde, Zustimmung zu erwirken. ‒
34 Nachlese
.Weder meine eigene Neigung noch irgend eine
verstandesmäßige Erwägung haben mich veran‐
laßt, den Buchdruck als das Verbreitungs‐
mittel der Lehre zu wählen, die ich zu verkünden
habe.
.Ich gehorche auch hier nur einer geistigen Wei‐
sung die für mich verpflichtend ist und weiß
die hohe Weisheit voll Ehrfurcht zu würdigen,
die mir in dieser Weisung kund ward...
.Sollen wahre Seel-Sorger kommen um
das, was mir zu geben obliegt, persönlich und
durch das gesprochene Wort gleichsam in
kleiner Münze weiterzugeben, so werden sie er‐
stehen ohne mein Zutun.
.Noch aber sehe ich im Ratschluß der geistigen
Welt solchen Plan nicht erwogen, und warne
jeden, etwa einer Stimme zu vertrauen, die ihm
zuraunen möchte, er sei für solches Seelsorgeramt
berufen!
.Die wirklich Berufenen, wenn sie einst
gesandt werden sollten, werden weise, im
ganzen Ausmaß des Wissens ihrer Zeit
erfahrene Männer und Frauen sein, die selbst
35 Nachlese
das Leben in allen Verflechtungen
kennenlernten, und denen kein Irrweg un
bekannt sein wird, dem jemals die Seele bei
ihrem Suchen nach dem höchsten Lebensziele Ver‐
trauen schenkte um an seinem Ende sich enttäuscht
in einer Wüste zu finden. ‒
.Es werden Menschen sein, die selbst die
letzte Gewißheit erlangten, an Hand der
Lehre die ich zu verkünden habe, und ihre Wei‐
sung werden sie von gleicher Stelle empfangen,
von der die durch mich nur verkündete Lehre
ihren Ausgang nimmt! ‒ ‒
.Doch, wenn ich auch wahrlich mit aller Be‐
stimmtheit solcher «Seel-Sorger» Art bezeichnen
kann, so ist es mir dennoch versagt, zu bestimmen,
daß sie erscheinen möchten.
.Ich kann zur Zeit nur auf die Bücher verwei‐
sen, in denen ich alles niederlegte, was gegeben
werden soll, und deren Zahl ich noch vermehren
muß, ‒ nicht um etwas Unerwähntes noch
zu sagen, sondern um die Lehre so vollkommen
wie nur irgend möglich, von allen Seiten
her zu beleuchten.
36 Nachlese
.Es ist zwar gesagt worden: «Wer dem Altare
dient, soll auch vom Altare essen», aber
wer etwa wähnen sollte, ich hätte meinen Lebens‐
unterhalt aus diesen Büchern, der wäre wahrlich
übel beraten und meine Verleger könnten ihn eines
Besseren belehren!
.Nur zu gerne möchte ich es ermöglichen können,
daß jeder, dem es schwer fällt, auch nur das
Wenige aufzubringen, was zum Erwerb der Bücher
nötig ist, sie umsonst erhalten würde.
.Da ich aber selbst der Sorge um des Lebens Not‐
durft keineswegs enthoben bin, kann ich mir eben‐
sowenig diesen Wunsch erfüllen, wie den, alle an‐
deren Menschen solcher Sorge zu entheben.
.Man hat in früheren Zeiten wahrlich oft mehr
geopfert um seiner Seele willen! ‒
.Hier aber handelt es sich um eine Lehre, die
wahrhaft Erlösung bringt, und jedes dieser
Bücher wurde einzig und allein aus der Pflicht her‐
aus niedergeschrieben, die Lehre des Lich
tes, die Kunde von der geistigen Wirklich
keit, allen Suchenden nahezubringen.
37 Nachlese
.Darüber hinaus aber lasten wahrlich noch an
dere Pflichten auf mir, ‒ solche geistiger,
und solche irdischer Art, ‒ deren jede genü‐
gen könnte, die Kraft eines Menschen allein zu
absorbieren. ‒
.Die mir im äußeren Leben nahestehen, wissen
darum und sind bemüht, soweit es ihnen möglich
ist, mir meine Bürde zu erleichtern.
.Ich darf aber wohl auch erwarten, daß die Leser
meiner Schriften, denen ich nur geistig nahe‐
kommen kann, einiges Verständnis dafür haben
werden, daß alle Menschenkraft ihre Grenzen fin‐
det, und daß ein Mensch der ihnen alles was er zu
geben hat, durch das gedruckte Wort er
reichbar macht, nicht überdies noch jedem
Einzelnen persönlich zur Verfügung stehen
kann! ‒
.Daß ich aber Mensch bin, und in allen Din‐
gen irdischen Lebens anderen Menschen
gleich, könnte aus allen meinen Schriften wahr‐
haftig auch jenen klar geworden sein, die da,
verwirrt durch phantastische okkultistische Bücher,
nur allzu geneigt sind, in einem Menschen meiner
38 Nachlese
Art einen mysteriösen Zauberer zu sehen,
dem es ein Leichtes sein müsse, alles Geschehen
nach seinem Wohlgefallen zu lenken.
.Wer da von mir erwartet, daß ich, als ein rech‐
ter Wundermann, im Handumdrehen alle Folgen
seines törichten, verkehrten Strebens aus der Welt
zu schaffen wüßte, ‒ der erwartet zu viel von
mir und darf sich nicht wundern, wenn die Wirk‐
lichkeit ihn ernüchtern muß. ‒
.In etwas abgeschwächter Form hegen aber Alle
solche Erwartung, die sich in ihren besonderen
Seelennöten an mich wenden, oder gar erhoffen,
eine persönliche Begegnung mit mir müsse alle
Nebel ihres Inneren zerreißen und sie mit einem
Schlage zu «Wissenden» werden lassen. ‒
.Wer immer mir persönlich begegnet ist, der wird
bezeugen können, daß keiner derer, die geheimnis‐
volle Schauer um mich her erwarten, auf seine
Rechnung käme...
.Ich halte es vielmehr für meine Pflicht, auch
den leisesten Anschein zu vermeiden, der so
gedeutet werden könnte, als benötige wirkliche
geistige Würde irgend einer irdischen Drapierung.
39 Nachlese
.So mag sich denn mancher getrösten, der meine
persönliche Nähe nur suchte, weil er in mir einen
Menschen zu finden glaubte, der verlernt hätte:
Mensch zu sein!
.Ich würde unwahr, wollte ich nicht verstehen,
daß man die Menschen beneidet, die mir auch in
meinem äußeren Leben nahestehen, ‒ die mir
als persönliche Freunde teuer sind.
.Aber mag auch alles Schicksal das mein Erden‐
leben formt, die Elemente irdischen, alltäglichsten
Geschehens in sich bergen, so wird man doch dem,
was man «Zufall» nennt, in meinem ganzen
Dasein, von Geburt an bis zu meinem Tode hier
auf Erden nicht begegnen.
.Nichts war hier Willkür überlassen,
nichts wird jemals nur durch meine Wünsche
zu bestimmen sein. ‒
.So aber konnte ich auch nicht bestimmen, wer
mir Freund werden sollte und wer nicht, und wo
ich es in früheren Tagen, meiner Menschenliebe
nicht genugsam Herr, doch zu bestimmen suchte,
dort ward mir in der Folge nur zu klar gezeigt, daß
40 Nachlese
ich vermessentlich in den Bereich der Regionen
die mich geistig tragen, eingegriffen hatte...
.Wie weit aber auch der Kreis derer, die mir
persönlich nahestehen, sich erweitern las‐
sen möchte: ‒ niemals könnte er alle um‐
fassen, die meine Bücher lesen und durch
sie erfahren von der Lehre die ich zu künden kam.
.Sie alle aber ‒ soweit sie wirklich nach der
Lehre leben ‒ bilden eine geschlossene Kette,
deren sämtliche Glieder mir in gleicher Weise nahe‐
stehen, mögen sie mir nun persönlich bekannt
sein oder nicht. ‒ ‒
.Jeder, der neu hinzukommt, schmiedet sich
selbst dieser Kette ein und wird von dem
Kraftstrom durchdrungen, der durch die ge‐
schlossene Kette fließt...
.Diesen allen aber gehört das Werk meines
Erdenwirkens, und nicht nur ihnen allein, son‐
dern in gleicher Weise allen, die nach ihnen
kommen! ‒ ‒
41 Nachlese
DANK
ES sind mir zu meinem fünfzigsten Geburtstag
(25. Nov. 1926) fast unzählige Glück‐
wunschbriefe und Telegramme ins Haus geflogen,
so daß meine anfängliche Absicht, jedem einzelnen
Gratulanten persönlich zu danken, sich leider als
unausführbar erweist, und ich mich in der
Zwangslage sehe, wenigstens von den Lesern dieser
Zeitschrift («Die Säule») die Erleichterung erbit‐
ten zu müssen, daß sie mir gütig erlauben, ihnen
auf diese Weise von Herzen Dank zu sagen. ‒
.Wenn auch der so überreich gefeierte, mit Blu‐
mengrüßen und Geschenken bedachte Tag für mich
nur insofern von besonderer Bedeutung war, als
noch vor kurzer Zeit nicht allzu sicher stand, daß
ich ihn in dieser Sichtbarkeit erleben würde, so
waren mir doch diese unerwartet zahlreichen Zei‐
chen der Liebe und Verehrung, die mir aus aller
Welt zugesandt wurden, Anlaß gerührter Freude
42 Nachlese
und Dankbarkeit genug, um ihn in frohem Fest‐
empfinden und mit heißen Segenswünschen für
Alle, die mich liebend zu ehren suchten, als rech‐
ten «Feiertag» zu begehen. ‒ ‒
.Freilich nehme ich die mir entgegengebrachte
Liebe und Ehrung auch gewiß nicht für mich
persönlich in Anspruch, sondern sehe in dem
allen nur die freudige Dankbarkeit der Seelen, die
an Hand der durch meine Bücher der Welt wieder‐
geschenkten Lehren, beglückt zu sich selber fan‐
den, und in sich selbst zu ihrem lebendigen
Gott.
.Daß ich noch weiterhin allen zum Lichte Stre‐
benden auf den Weg helfen darf, ist für mich das
schönste Geschenk des Himmels, denn ich weiß
nur zu gut, welche Aufgaben noch darauf warten
von mir getan zu werden...
.In Zeiten hoher religiöser Kultur ist es verhält‐
nismäßig ein Leichtes, den Weg zum Lichte zu
zeigen, da im Vorstellungsleben Aller die grund‐
legenden Voraussetzungen gegeben sind, die zu‐
nächst einmal da sein müssen, soll einige Hoffnung
bestehen daß es gelinge, die Augen der ernstlich
Suchenden zu öffnen.
43 Nachlese
.Heute aber gilt es vor allem, erst einmal diese
Voraussetzungen wieder zu schaffen und
der Weg der gezeigt werden soll, ist überdies der‐
art von dürrem und grünem Gestrüpp überwuchert,
daß es vonnöten ist, ihn erst wieder zu bahnen
und allenthalben neue Wegmarken zu setzen, da‐
mit der Suchende vor den verderblichsten Irr‐
gängen bewahrt werde. ‒
.So sehe ich denn bis heute noch kaum das
Allernötigste getan, wenn meine Lebensauf‐
gabe wirklich erfüllt werden soll, und mehr denn
je bin ich mir heute der Tatsache bewußt, daß mein
Wirken durchaus nicht außerhalb der Gesetze
steht, die jegliches menschliche Schaffen bestim‐
men, so daß auch in meinem Verkündigungswerke
ohne Zweifel die Linie einer allmählichen Entfal‐
tung einst feststellbar sein wird, sei es auch nur im
Hinblick auf die Fähigkeit, das oft fast Unsagbare
in Worten menschlicher Sprache zum Ausdruck zu
bringen...
.Aus innerster Gewißheit kann ich sagen, daß
ich wohl auch nach weiteren fünfzig Jahren, wenn
solches im Bereich der mir bestimmten irdischen
Lebensbahn gegeben wäre, mich noch in gleicher
44 Nachlese
Weise erst am Beginn meines Wirkens fühlen
würde, denn keine Kunst der Sprache ist jemals
vollendet genug, um dessen wahrhaft würdig zu
werden, was ich meinen Mitmenschen hier auf
Erden zu Bewußtsein bringen soll! ‒ ‒
.In solcher Erkenntnis weiterwirkend, danke ich
allen die den «Weg» betreten haben, daß sie nicht
Anstoß nahmen an dem was etwa Mangel mensch‐
lichen Ausdrucksvermögens nicht zu faßlichster
Verständlichkeit kommen ließ, und sich an das
unmißdeutbar Gegebene hielten, das in
ihrem eigenen Herzen Widerhall fand, um so zur
Gewißheit auch dessen zu gelangen, was meine
Worte noch im Dunkel lassen mußten!
.Möge es mir beschieden sein, den Pfad immer
mehr erhellen zu dürfen, zum Besten derer, die ihn
bereits betreten haben, wie nicht minder aller
jener, die ihn, durch meine Worte bewegt, zu‐
künftig in sich suchen wollen! ‒
45 Nachlese
OPTIMISMUS
WER diese Überschrift liest, der wird kaum ver‐
muten, daß ich hier in allererster Linie vor
allzu überschwenglichem Optimismus warnen
will.
.Die Zeit scheint eher zu fordern, daß man un‐
bedingten Optimismus dringlichst anempfehle, da
die gegenteilige: also pessimistische Auf‐
fassung des Lebens beinahe zur Norm geworden
ist.
.Aber ich will ja auch ganz gewiß nicht als
Anwalt des Pessimismus sprechen, obwohl ich
gut begreife, daß er nicht nur den ängstlichen
Leuten, sondern sogar recht resoluten Naturen
heute beinahe als die einzige, durch den Gesamt‐
zustand einer ermüdeten und verquälten Welt auf‐
gedrungene, mögliche Gemütshaltung erscheint.
.Ich will vielmehr vor den vielen Äußerungsfor‐
men unberechtigten optimistischen Hoffens
warnen, die immer dann ihre weiteste Verbrei‐
46 Nachlese
tung erreichen, wenn sich die Bedingungen des
äußeren Lebens nicht mehr im Einklang finden
mit den persönlichen Anforderungen der Lebens‐
Erhaltung und der Freude am Dasein. ‒ ‒
.Die zuversichtliche Auffassung aller Ge‐
schehnisse, aus dem Vertrauen heraus, daß zu guter
Letzt alles Wirre sich entwirren, alles Unharmo‐
nische harmonisch ausklingen müsse, und alles
Ungute nur die Vorstufe für ein kommendes Gute
darstelle, ‒ ist gewiß von großer Bedeutung, und
ihre fördernde, steigernde Wirkung auf das Leben
läßt sich kaum hoch genug werten.
.Es darf aber nicht vergessen werden, daß ein
solcher Lebenswert nur dann vorliegt, wenn
die optimistische Auffassung des Geschehens in
sich begründet ist.
.Der Optimismus um jeden Preis, ‒ auch
wenn ein vernünftiges Abwägen der gegebenen
Umstände klar zeigt, daß die Vorbedingungen
zu einem guten Ausgang des Geschehens fehlen, ‒
ist entweder Folge bequemen Leichtsinns, oder
eines Denkfehlers.
.Manchen Menschen fehlt einfach «das Talent»
zum Optimismus, und wenn sie sich dann einmal
47 Nachlese
aufraffen, um es mit dem optimistischen Denken zu
versuchen, machen sie die Sache sicher so unge‐
schickt wie möglich und versuchen gerade dort
Zuversicht in sich zu erkrampfen, wo der geborene
Optimist ‒ recht pessimistisch urteilen würde.
.Es ist, ‒ nebenbei gesagt, ‒ ja auch zweifel‐
los viel leichter, eine pessimistische Lebens‐
auffassung zu pflegen, weil es eben leichter ist,
vorsichtig und ängstlich zu sein, als zuver
sichtlich, wagemutig und lebensver
trauend! ‒ ‒
.Richtiger Optimismus ist eine durchaus aktive
Haltung, und selbst der «geborene» Optimist (der
übrigens viel seltener ist, als gemeinhin angenom‐
men wird) kann seinen Optimismus nur erhalten
durch bestimmte, aktive Willensrichtung. Der in
sich gesunde, verantwortbare Optimismus
beruht nicht auf einer angeborenen Neigung,
oder erstrebten Hinwendung zum optimisti‐
schen Denken, sondern ruht zutiefst begründet in
erdenmenschlicher Lebenserfahrung, ‒ sei
es die eigene, die durch Andere vermittelte,
oder die an Anderen wahrnehmend erwor
bene Erfahrung.
48 Nachlese
.Es ist Erfahrungstatsache, daß die opti‐
mistische Einstellung dem uns angehenden Ge‐
schehen gegenüber, nicht nur das eigene Leben
froher und tatkräftiger erhält, sondern auch in
gutem Sinne «ansteckend» auf unsere Mit
menschen einwirkt, so daß durch vereinte, er‐
höhte Tatfreudigkeit Umwandlungen des Ge‐
schehens zu unseren Gunsten eintreten können,
die bei einer weniger vertrauenserfüllten Haltung
unmöglich gewesen wären.
.Es ist auch durchaus keine bloße Behauptung,
daß wir durch unser Denken, ‒ auch wenn es
niemals durch gesprochene oder geschriebene Mit‐
teilung weitergegeben wird, ‒ in einem verhält‐
nismäßig recht bedeutsamen Grade äußeres
Geschehen beeinflussen können, was sich
dann solcherart auswirkt, daß der pessimi
stisch Denkende ebenso das Eintreffen des von
ihm Erwarteten durch die Kraft seiner Gedanken
begünstigt, wie der Optimistische das Ein‐
treffen seiner Erwartungen.
.So gibt es zum Beispiel nur zu viele Menschen,
die sich «vom Unglück verfolgt» glauben, und
nicht ahnen, daß sie sich selbst mit Unglück
49 Nachlese
aller Art verfolgen, indem sie sich alles nur er‐
denkliche Unheil in einem fort zu-denken,
nur weil ihnen ehedem wirklich einmal ein Un‐
glück zugestoßen war, dem noch ein zweites und
drittes folgte.
.Man wird aber auch Menschen begegnen, die
durch ein paar Glücksfälle derartig glücks
gläubig wurden, daß sie sich fortan nur noch
Glückliches zu-zudenken wissen, und daher,
bestaunenswerterweise, einen «Glücksfall» nach
dem andern erleben. ‒ ‒
.Das ist alles durchaus nichts Mysteriöses, auch
wenn die Zusammenhänge solchen Geschehens
nicht für Jeden offen zu Tage liegen.
.Nur muß man sich, wenn man solche Dinge ver‐
stehen lernen will, von der landläufigen Betrach‐
tungsart freimachen, als sei dabei irgendwo Will
kür im Spiel!
.Wenn ein reifer Apfel vom Baum fällt, so sieht
das ja auch recht «willkürlich» aus, und doch hat
es seine genauen Gründe, warum sich der Stiel
gerade zu dieser Sekunde vom Zweig lösen mußte.
50 Nachlese
.Ebenso braucht das, was als Wirkung unserer
Gedanken sich ereignet, die vorherige Erfüllung
bestimmter Voraussetzungen.
.So ist denn auch optimistisches Denken
nur dann sinngerecht, wenn Vorausset
zungen gegeben sind, die zum guten Ausgang
eines Geschehens berechtigen.
.Vernünftiger Optimismus ist immer das Ergebnis
sachlich richtiger Beurteilung der je‐
weiligen Gegebenheiten und erwartet nur das
Beste, was sich auf Grund der wirklich efüll
ten Voraussetzungen ereignen kann.
.So ist der wahre Optimist zu Zeiten geradezu
gezwungen, die Dinge «pessimistisch»
beurteilen zu müssen, ‒ dann nämlich, wenn keine
erfüllten Voraussetzungen für das Zustandekom‐
men des Erfreulichen vorliegen. ‒ ‒
.Es ist eine ganz unverantwortliche Kräftever‐
geudung, seine Glaubenskräfte für die Erreichung
eines erwünschten Guten anzuschirren, zu dessen
Erlangung die Voraussetzungen fehlen.
51 Nachlese
.Optimismus, der nicht enttäuscht werden will,
muß nüchterner, unvoreingenommener Prüfung
standhalten!
.Die bloße Illusionsfähigkeit, sich jeden er‐
wünschten Zustand, jedes gute Ergebnis, jede Ziel‐
Erreichung lebhaft vorstellen zu können, be‐
rechtigt gewiß noch nicht zum Optimismus!
.Es genügt auch durchaus nicht, daß wir ein uns
wünschbares Geschehen für gut halten.
.Immer bleibt die Art der wirklich erfüll
ten Voraussetzungen dafür bestimmend, was in
gesunder optimistischer Denkweise «herangedacht»
werden darf.
.Alles Andere darf vorerst noch nicht er‐
wartet werden, und wäre es auch nicht nur ein
«wünschenswertes», sondern selbst ein
dringlich nötiges: ‒ ein heiß herbeigesehntes
notbehebendes Gutes.
.Hier muß sich aller Wille vielmehr darauf rich‐
ten, zuerst die Voraussetzungen zu schaffen,
die vernünftigem Optimismus Begründung bieten
52 Nachlese
können, das erwarten zu dürfen, was er als so
überaus not-wendig erkennt. ‒ ‒
.Man wird aber niemals erkennen lernen, wel
cher Art diese Voraussetzungen sind, solange
man immer wieder seine Kräfte an Illusionen ver‐
zettelt, die jedes, noch unermeßlich weit entfernte,
erwünschte Geschehen schon in nächster Erreich‐
barkeit zeigen.
.Ein solcher Fernrohroptimismus, wie
ich diese verfehlte optimistische Denkweise nennen
möchte, betört nur durch ein Erwarten, das sich
immer aufs neue enttäuscht finden muß, und bringt
das erwartete Gute um nichts näher. Das alles
gilt sowohl für den Einzelnen, wie auch für
Gruppen von Einzelnen, und für ganze
Völker.
.Es ist ‒ trotz allem bitterem Pessimismus ‒
keineswegs zu wenig Optimismus in der Welt, aber
leider viel zu viel falscher, weil unbe
rechtigter Optimismus, vor dem man gar nicht
eindringlich genug warnen kann!
.Dieses sehend-besorgte Warnen ist besonders am
Platz in einer Zeit, die ihre Kräfte selbst über
53 Nachlese
bürdet hat, so daß es wahrhaftig dringlichste
Pflicht ist, nicht an einer der lebensföder
lichsten Kräfte Raubbau zu treiben.
.Und eine solche Kraft ist der nüchtern-sachliche,
durch tatsächlich Gegebenes berechtigte
Optimismus!

54 Nachlese
RÉSUMÉ
(Antwort auf eine Anfrage)
ALLES, was ich je geschrieben habe, ist künst‐
lerisch getragene Gestaltung meiner lebendigen
Erfahrung. Zum größeren Teil verdanke ich
diese Erfahrung Lebensgebieten, die in Europa
keinem meiner Mitmenschen offenstehen. Aber das
ist nur als «Quellenangabe» in Betracht zu ziehen,
um den Impuls zu kennen, der mich antreibt, mich
in meinen Büchern mitzuteilen.
.«Résumé» meiner Erfahrung? ‒ Daß alles Er‐
kennen, Glauben und Hypothesensetzen wertlos
bleibt, solange es die Lebensführung nicht
bis ins kleinste bestimmt! Was nicht zur Tat,
zum Handeln und Gestalten führt, ist nur
fruchtloses Spiel mit Gedanken und Gemütsan‐
wandlungen. Alles Verschwommene, nur «Unge‐
fähre» muß man auf sich beruhen lassen, und darf
nichts mehr in sich dulden, was nicht lebens
bestimmend werden will.
55 Nachlese
.Nur in dem, was als Lebens-Äußerung von
uns Zeugnis gibt: ‒ nur in unserem Verhalten
uns selbst und der Mitwelt gegenüber ‒ können
wir uns selbst erkennen! Alles andere ist Selbst‐
betrug!
.So gewiß es in aller Ewigkeit keinen «Himmel
auf Erden» geben wird, so gewiß kann aber das
meiste Unheil, das heute noch die Menschen quält,
aus der Welt geschafft werden.
.Voraussetzung dafür ist: die immer mehr Men‐
schen erhellende Einsicht, daß nicht die zu
allem willige Vorstellungsfähigkeit die
Gemeinsamkeit, und damit uns selbst, bestimmt,
sondern nur die Tatwertigkeit eines jeden
einzelnen.
.Die Welt, die man sich selber schafft, fügt sich
nur zu gerne allen Launen ihres Schöpfers.
.Aber nur selten und nur in Seltenen entspricht
die selbstgeschaffene Welt auch wirklich
der Tatsachenwelt, die uns draußen umgibt
und unseren Wünschen ihren Willen ent‐
gegensetzt.
56 Nachlese
.Hier alle Ideologien durchschauen lernen ‒
hier seiner inneren Welt die äußere Aufgabe
setzen ‒ hier den Mitmenschen lieben lernen,
wie sich selbst: ‒ das allein führt zur Er
lösung!
57 Nachlese
DER OPPOSITIONELLE MENSCH
DIE Zeiten der Glaubenseinheit in Europa haben
den starrköpfig oppositionellen Menschen nur
als zeitweilige Ausnahme gekannt, die wohl da
und dort gelegentlich allerhand Unruhe verbrei‐
tete, aber dann immer nach kurz bemessener Aktion
wieder im Gleichklang allgemeiner Meinung ver‐
schwinden mußte.
Seit der im Herzen Europas die früheren Bin‐
dungen allgemach lockernden und lösenden Zeit
der konfessionalen Reformationen des Gemein‐
schaftsglaubens aber, ist der triebhaft in sich selbst
zu irgendwelcher Opposition gedrängte Störer sei‐
ner Zeitgemeinsamkeit zu einer sich dauernd und
zähe am Leben haltenden Spezies vervielfältigt
worden. Man kann ihr in allen Lebensgebieten be‐
gegnen. Durchaus nicht nur im religiösen, im poli‐
tischen, im wissenschaftlichen und künstlerischen,
sondern ebenso auch im rein privaten Leben.
58 Nachlese
.Und diese Spezies hat sich auch keineswegs auf
die Länder der Reformation beschränkt, sondern
sich allmählich geradezu über die ganze, in irgend
einem Grade zivilisierte Menschheit verbreitet.
.Die letzten Jahrhunderte boten solcher Ver‐
breitung allen Vorschub.
.An wie vielem Elend die Allgemeinverbreitung
dieser Spezies im Kampfe dieser Jahrhunderte
schuldig oder mitschuldig wurde, läßt sich kaum
beschreiben.
.Aber es ist charakteristisch für die der Spe‐
zies Zugehörigen, daß ihnen jegliches Schuld‐
Bewußtsein fehlt, und jede Erkenntnis
der Gefahr, sich mit Schuld zu behaften.
.Der oppositionelle Mensch glaubt durchaus nicht
verantwortungslos zu handeln. Er fühlt sich stets
nur in Ausübung seines «guten Rechtes».
.Dieser allzusicheren Haltung gegenüber ist aber
nur leider folgendes zu sagen: ‒
.Der Oppositionstrieb ist einer der gefäh
lichsten aller eigensüchtigen Triebe des
irdischen Menschen!
59 Nachlese
.Nichts unterhöhlt den Boden, auf dem die
Menschen sich selber zur Gemeinsamkeit aufer‐
bauen sollen, tiefer, weitverzweigter und verhäng‐
nisvoller, als diese Lust am steten «Nein»-sagen
um des Neinsagens willen!
.Man muß sich ganz klar darüber werden, daß
in diesem unter-tierischen, aber die höchsten
über-tierischen Kräfte lustgierig zerfressenden,
wuchersüchtigen Triebe, allem nicht selbstgesetz‐
ten Bestreben primär opponierend zu be‐
gegnen, das reale satanische Prinzip des Chaos:
‒ der Selbstzerstörungsdrang, das zu‐
Nichts-werden-wollen, sich auswirkt. ‒
.Der oppositionslüsterne Mensch wütet unbewußt
gegen sich selbst, indem er sich ins Äußere
projiziert ‒ in die Willensäußerung der Anderen,
gegen die er opponiert! Er würde sich selbst zu‐
grundeopponieren: ‒ seinem eigenen Dasein bis
zur Auflösung Widerpart halten, wenn ihm der
Selbsterhaltungstrieb seines irdischen Körpers
nicht doch noch gewachsen wäre.
.Jede andere Deutung ist Beschönigung und
bringt den Deutenden in Gefahr, sein eigenes, und
60 Nachlese
das Menschentum seines Mitmenschen unerahnt
schwer zu schädigen.
.Um diese, alles Erdenmenschliche aus dumpfen
Chaostiefen heraus bedrängende Bedrohung wuß‐
ten zu allen Zeiten die im ewigen Geiste Wissen‐
den, und darum suchten sie Schutz zu schaffen
durch priesterliche und despotische Satzung, so‐
lange ihnen äußerer Einfluß auf irdischmensch‐
liche Lebensordnung offengehalten war.
.Sehr vieles, was eine jüngere, vermeintlich
erreichbarer «grenzenloser» Freiheit süchtig ent‐
gegenfiebernde Menschheit für Ausgeburten will‐
kürlicher Herrscherlaunen hielt, war nur Schutz
verbauung gegen den Wühldrang menschheits‐
zerstörenden Verneinungstriebes, ‒ war geistig
geforderte Freiheits-Begrenzung, um dessen wil‐
len, was voreinst zur Entwicklung kommen sollte
und infolge solchen Schutzes dann auch zur Ent‐
wicklung kam.
.Auch Gegenwart und Zukunft werden auf
keinem Gebiet die geistige Gestaltung dessen,
was heutiger oder zukünftiger Zeit obliegt, er‐
stehen sehen, ohne wirklich sichernde Bändi
gung des zerstörungslüsternen Triebes zur Oppo‐
61 Nachlese
sition um des Opponierens willen, der alles Wer‐
dende unterwühlt und schon an den Wurzeln zer‐
nagt, um dem ihm hörigen Menschen die manisch
gesuchte, gehirnliche Wollust unbewußter, nach
außen gedrängter Selbstvernichtung zu verschaffen,
ohne ihn doch an Leib und Seele zu bedrohen.
.Dieser «Geist des Widerspruchs» darf aller‐
dings nicht in argwohngezüchteter Urteils-Leicht‐
fertigkeit gleich überall vermutet werden, wo viel‐
leicht nichts anderes vorliegt, als eine gewisse
Schwerblütigkeit, die nicht weiß, wie sie aus dem
Banne langgehegter Vorstellungen herauskommen
soll, und die um so heftiger sich im Widerspruch
austobt, je mehr sie sich ihrer Behinderung bewußt
ist.
.Fast jeder Mensch kennt diese Schwierigkeit des
Aufgebenmüssens liebgewordener Vorstellungen
von seiner eigenen Kinderzeit her. Es brauchte da
zuweilen unendliche Geduld von seiten der Er‐
zieher, bis der dann schon selbst fast Erwachsene
durch Selbsterziehung doch zum Herrn wurde
über die ihm angeborene scheinbare Unfähigkeit,
sich, wenn es sein müsse, einer liebgewordenen
Vorstellung entwinden zu können.
62 Nachlese
.In den jüngsten Lebensjahren tritt diese Unfähig‐
keit schon zutage im Kinde, dem die Mutter ein
gefährliches Spielzeug oder das unreife Obst fort‐
nehmen muß, wonach dann die bekannten Äuße‐
rungen kindlichen Unmuts einsetzen, die gar oft
auch die langmütigste Geduld der Erwachsenen auf
sehr harte Proben stellen.
.Später werden dann andere Bekundungen
des Unmuts laut, ‒ oft nur allzulaut in des
Wortes wörtlichster Bedeutung, ‒ wenn etwa ein
Ausflug auf den sich das Kind schon seit langem
freute, nicht ausgeführt werden kann, oder wenn
elterliches Verbot einer Freundschaft im Wege
steht, die dem Kinde glühend erwünscht erscheint,
weil es ja die ihm schädlichen daraus erwachsen‐
den Folgen noch nicht einsehen kann, ‒ und
schwerste seelische Konflikte entstehen endlich,
sobald Regungen der Liebe aufgegeben werden
sollen, weil ihr Erstarken zu nichts Gutem führen
würde.
.Alle diese Äußerungen innerer Schwierigkeit,
ein bereits die eigene Person bestimmendes Vor‐
stellungsbild plötzlich mit einem noch fremden
anderen zu vertauschen, haben nichts zu tun mit
63 Nachlese
jener Hypertrophie des Eigensinns, die den von
ihr Befallenen nicht mehr seiner selbst froh wer‐
den läßt, wenn er in der Außenwelt nichts findet,
dem er widersprechen könnte. Erst hier
haben wir den Typus des oppositionellen
Menschen vor uns: des Menschen, der sich gleich‐
sam automatisch dazu gedrängt fühlt, jeder Er‐
scheinung des Lebens, die seine Beharrungsliebe
und die Bequemlichkeit ausgeleierten Denkens
stört, ein «Nein» und seinen lauten Wider
spruch entgegenzusetzen.
.Wer kennt ihn nicht, oder wem wäre er noch
nicht begegnet?
.Wo immer individuelle Meinung anderer indi‐
viduellen Meinung sich verbinden will zu
wahrer Einung, dort tritt er bald schleichend,
bald polternd als Widersacher auf. Im Grunde
fehlt ihm jede eigene Überzeugung, auch wenn
er andere scheinbar zu überzeugen sucht. Nicht,
daß sie die von ihm jeweils verfochtene Darstel‐
lung der Dinge zu bejahen vermögen, ist ihm wich‐
tig, sondern daß sein Widerspruch Gefolg
schaft findet. Wahrheit und Trug sind ihm in
gleicher Weise willkommen, wenn sie ihm nur
64 Nachlese
Argumente gewähren für seine unermüdliche
Opposition gegen alles, was Andere schaffen.
.Er selbst aber ist der Unschöpferische:
der seelisch Sterile, mit der hämischen Freude
an Allem, was wahrhaftem Schöpferischen die Ge‐
staltung erschwert. In seiner reinsten, unbeherrsch‐
testen Darstellung ist er der Schrecken aller Pro‐
duktiven innerhalb jeglicher menschlichen Gemein‐
samkeit.
.Aber weiß sich nun jeder, dem diese ausge
prägteste Form des ewigen Krittlers und Nein‐
sagers «auf die Nerven» geht, ganz frei von eige
ner, gelegentlicher Neigung zu zersetzender Oppo‐
sition? Ist nicht gar oft vielmehr schon ein auf‐
reizendes Wort, ja ein bloßes Mißverstehen, ge‐
nügend, um aufzustacheln zu eigensinnigem Wider‐
spruch, obwohl besonnene Überlegung keineswegs
die Gründe gelten lassen könnte, auf die sich solche
versteifte Opposition zu stützen sucht?!
.Jeder Einzelne hat einige Ursache, sich zu fra‐
gen, ob er nicht seinen Oppositionstrieb zuweilen
aus der ihm angemessenen Beherrschung ent‐
läßt und dadurch Einigungen verhindert, deren das
65 Nachlese
irdische Leben auf allen Gebieten dringend
bedarf, soll das Wertvollste am Menschen in
Erscheinung treten.
.Selbst dort, wo Opposition gerechtfertigt
erscheinen könnte, wirkt sie sich nur schädi
gend aus und bringt das mögliche Gute zur
Verkümmerung, während positives, ehrliches
Mitwirken früher oder später ohne Störung
zu korrigieren vermag, was anfänglich wohl‐
berechtigten Grund zur Opposition zu bieten
schien.
.An Tausenden von Beispielen läßt sich das Un‐
heil aufzeigen, das der unbeherrschte Oppo‐
sitionstrieb in unser irdisches Dasein brachte. Laßt
uns endlich auch dafür sorgen, daß am Beispiel
zu sehen sein wird, was geeinigter menschlicher
Wille bei straffer Beherrschung dieses un‐
glückseligen Triebes vermag!
.Jeder einzelne Mensch wird diese Beherrschung
in sich «erlernen» müssen, denn viel zu sehr wurde
die vermeintliche Berechtigung, allem und
jedem eigene Opposition entgegensetzen zu
dürfen, im Lauf der letzten Jahrhunderte ver
66 Nachlese
herrlicht, als daß es äußerem Zwange noch
gelingen könnte, die zehrende Lust zu bändigen,
deren durch alle Sophismen der Beschönigung
gefesselter Sklave der oppositionelle Mensch dieser
Tage geworden ist.
67 Nachlese
JEDEM ANTWORT
Anm.: Unter Berücksichtigung der 2.Auflage von 1990. 00
Normaler Text ist in beiden Auflagen gleich, hell 00
unterlegter Text entspricht der erweiterten Fas‐ 00
sung der 2.Auflage, dunkel unterlegter Text wurde 00
in der 2.Auflage weggelassen.
NICHTS wäre mir erwünschter, als die Möglich‐
keit, jedem Einzelnen, ‒ auch jedem mir bis
dahin äußerlich noch «wildfremden» Menschen, ‒
briefliche Antwort zukommen lassen zu können
auf seinen ganz persönlichen Brief, den gerade
er mir zu schreiben hatte, angeregt durch das in
der vorigen Nummer der «Säule» erschienene
Gedicht: «Geistige Verbundenheit».
.Aber nichts ist auch ferner dem Möglichen!
.Ich gestehe jedoch, daß ich mich lieber heute als
morgen in Lebenszuständen finden möchte, die mir
ein solches persönliches Eingehen auf die inneren
Nöte des Einzelnen erlauben würden, wobei dann
allerdings ein auserwähltes und mit nichts anderem
beschäftigtes Kollegium vertrautester und erprob‐
tester Schüler mir zur Seite stehen müßte.
68 Nachlese
.Eines einzelnen Menschen irdische Kräfte kön‐
nen allenfalls dazu ausreichen, die Einzelberichte
mit allen Waagen und Gewichten abzuwägen,
um dann die rein geistige Verantwortung für
Antwort und Ratschlag zu übernehmen, ‒ unmög‐
lich aber könnte ich zugleich der Formulier
rung des zu Sagenden mich widmen, die ja doch
nicht zu umgehen ist, auch wenn selbst alle Hilfs‐
mittel zur Verfügung stehen würden, mit denen
heutigentags, beispielsweise, etwa die Direktoren
großer wirtschaftlicher Unternehmen zu arbeiten
gewohnt sind.
.So, wie die Dinge liegen, muß ich wohl oder übel
mit meiner eigenen Kraft allein auszukommen
suchen.
.In Anbetracht dessen, daß ich außer aller,
meinen Büchern anvertrauten Lehre, ganz un‐
umgänglichen, rein geistigen Verpflichtungen
nachzukommen habe, die alle psychophysischen
Kräfte bis zur Erschöpfung in Anspruch nehmen,
dürfte es leicht verständlich sein, daß mir weder
Kraft noch Zeit zu brieflicher Unterweisung
bleibt.
.Das sollte selbst denen klar werden, die immer
wieder meinen, bei ihnen handle es sich um einen
69 Nachlese
«Sonderfall» und die mitgeschickten Briefmarken
gäben ein Anrecht auf persönliche Antwort.
.(Vor zwölf Jahren schon habe ich an
gleicher Stelle bekanntgegeben, daß eingesandte
Briefmarken oder Anteilscheine von mir nur mehr
den Armen zugewandt werden... )
.Bedingungslos freuen könnte man sich an der
treuherzigen Hilfsbereitschaft, die aus allen den
Ratschlägen spricht, die irgendein Heilverfah
ren aus dem weiten, aber durchaus nicht gleich
wertigen Gebiet der «Lebensreformer»-Praxis an
preisen. Wenn man nur nicht in allen diesen Brie
fen der doch etwas gar zu naiven Ansicht begeg
nen müßte, mir seien diese Heilmethoden sicherlich
noch unbekannt.
.Ich weiß gewiß, daß die so rettungslos überzeugten
Berater und Beraterinnen, deren Briefe ich vor mir
habe, mir nur Hilfe bringen wollen, und mir das
Allerbeste, dessen sie habhaft wurden, darzubieten
glauben. Darum sei Allen von Herzen gedankt.
.Aber zeugt es nicht auch von einer doch gar zu
engen Begrenzung der Kenntnis irdisch-leiblichen
Lebens, wenn in sonst recht vernünftigen Briefen
anpreisen und in denen immer wieder als
ganz selbstverständlich vorausgesetzt wird, daß
es sich bei den mich so sehr in der Hilfelei‐
stung für Andere behindernden, und darum allein
erwähnten Leiden, doch wohl nur um Störungen
handeln könne, wie sie die täglichen Annoncen
irgendwelcher Heilmittel in das Blickfeld der Be‐
obachtung zu rücken suchen?! ‒ Weiß wirklich
die Mehrzahl der Menschen offenbar nichts von
körperlichen Qualen, die fernab von allen Funk‐
tionsstörungen ihre Ursache haben??! Hier darf
ich ruhig verraten, daß noch niemals ein Sterb‐
licher bei klarem Bewußtsein in das Erleben des
reinen, ewigen Geistes gelangte, ohne dem, was
am Erdenmenschen vergänglicher Tiernatur
70 Nachlese
ist, kaum ertragbares Leid zuzufügen... Die
Alten sagten sogar: «Wer Gott sieht, muß sterben!»
Darum ist es auch keineswegs eines jeden Men‐
schen Aufgabe, hier, während des erdentieri‐
schen Daseins, schon im ewigen Geiste be‐
wußt zu werden.
.Den Allermeisten wird es zum höchsten Segen
gereichen, wenn sie, auch nur ahnend, ihrer
Fähigkeit, dereinst in den ewigen Geist zu ge‐
langen, zuzeiten innewerden.
.Nun aber will ich hier auch antworten auf die
zahlreichen und zum Teil tief ergreifenden Briefe
aus denen mir die Sorge um das nachirdische
Schicksal der Seelen geliebter, oder doch ehedem
im Außenleben nahe verbundener, nun von der
Erde geschiedener Menschen entgegenhallt.
.Es ist für mich wahrhaftig befreiend und be‐
glückend, jedem Einzelnen, den es angeht, sagen
zu können, daß ihm jeglicher Grund fehlt, um das
Schicksal des von ihm bezeichneten, vor ihm
Heimgegangenen besorgt zu sein. Auch nicht aus
einem einzigen der hierher gehörigen Briefe blickte
mir ein nachirdisches Schicksal entgegen, das in
irgend einer Weise zu beklagen wäre!
71 Nachlese
.Das Leben im Zustande «jenseits» der erden‐
körperlichen Wahrnehmungsfähigkeit ist ja nun
freilich nicht so ganz dem übersichtlichen Bilde
des Hauptplatzes einer Kleinstadt am Markttage
zu vergleichen, allwo man dann nur ein paarmal
den Platz zu kreuzen braucht, um lieben alten
Bekannten, oder gesuchten Besuchern des Marktes
zu begegnen.
.Es ist vielmehr auch den überaus wenigen, der
«jenseitig» Wahrnehmbaren und dortselbst
klar Bewußten nur in den allerseltensten
Fällen möglich, eine von der Erde abgeschiedene
geistige Seele zu identifizieren, auch wenn auf
Erden der denkbar präziseste Konnex geschaffen
werden konnte, der ja zu solcher Identifikation
unerläßlich bleibt.
.Und selbst in solchen, überaus seltenen Fällen
fragt es sich sehr, ob der noch dem irdischen
Körper verhaftete Jenseitsbewußte von dem ge‐
suchten und endlich gesichert erkannten Erd‐
befreiten «gesehen» und erkannt zu werden ver‐
mag? ‒ Selbst dann, wenn das sehr nahe zu liegen
scheint, weil der Erdentrückte den ihn Aufsuchen‐
den auf Erden dem Aussehen nach genau kannte,
oder gar in engsten Herzensbeziehungen mit ihm
72 Nachlese
vereinigt war, bleibt solches Erkennen sehr er‐
schwert, weil es nicht nur davon abhängt, ob der
Gesuchte bereits in der Region «sehfähig» wurde,
in der sich der ihn Suchende geistig bewegt, son‐
dern auch davon, ob die «angesprochene» Seele
die rein geistige Gestaltung des sie Anspre
chenden zu identifizieren vermag, die kaum je‐
mals dem in der geistigen Seele verbliebenen, zu‐
erst noch sehr einseitig aufgefaßten Erinnerungs‐
bilde entspricht.
.Erst sehr viel später stellt sich die Fähigkeit
ein, von der ich in meinem «Buch vom Jenseits»
spreche, die dann jederzeit die erwünschte Identi‐
fikation mit aller Gewißheit gewährt. ‒
.Ich kann also den vielen ‒ mir nur allzuver‐
ständlichen ‒ Bitten, Beziehungen zwischen Ab‐
geschiedenen und ihren auf Erden in der äußeren
Sinnenwelt Zurückgebliebenen herzustellen, in
keinem Falle irgendwie nachkommen.
.Da überdies fast jeder, nicht bis zum Bersten
irdisch «verkrustete» Mensch in den Zeiten des
Schlafens für kürzere oder längere Spannen
jenseitsbewußt wird, kann jeder, noch im
Tierkörper Lebende durch seine liebende
73 Nachlese
Einstellung dem irdisch Entzogenen gegen‐
über, ohne jede menschlich-irdische Beihilfe in
solche Beziehung gelangen...
.Mir aber ist es nur ‒ bis auf verschwin
dende, und nicht von meinem Wollen
allein abhängige Ausnahmen ‒ möglich, nach
hergestelltem irdischen Konnex, den jede, nach
menschlich reiner Absicht wahrheitsgetreue brief‐
liche Schilderung des Heimgekehrten herbeizu‐
führen vermag, mit der Gewißheit der durch jen‐
seitiges Bewußtsein bedingten Intuition zu sagen,
ob ein jenseits angelangter Schicksalsablauf zu
Besorgnissen Anlaß geben kann oder nicht.
.In jeglichem Falle kann ich aber das wun‐
dervolle, aus tiefster Erkenntnis geborene Wort
der Bibel kaum eindringlich genug der Beachtung
empfehlen:
.«Es ist ein heiliger und heilsamer Gedanke,
für die Verstorbenen zu beten!» ‒ Das heißt
aber, ‒ richtig verstanden: ‒ an ihrer
Stelle zu beten, da sie es ja nicht mehr ver‐
mögen...
.Eindringlich warnen muß ich nun jedoch vor
der unsagbar törichten Annahme, als könne der
74 Nachlese
irdische Tod geliebter Menschen gleichsam wie
eine «Strafe» von Gott über die Zurückbleibenden
verhängt werden.
.Glücklicherweise ahnen die solches Vermuten‐
den nicht, welche Gotteslästerung sie aussprechen,
und wie sie sich selbst überheben, indem sie sich
für derart bedeutsame Faktoren im Bereich des
seelischen Schicksals eines ihrer Mitmenschen
halten! ‒
.Da ist nichts anderes zu raten, als daß jeder von
solchen Gedanken Bedrängte, noch irdisch
Lebenden die herzensreine Liebe zugutekommen
lasse, die er den ihm nun äußerlich Entrückten
nicht angedeihen ließ, solange sie für ihn noch
sichtbar waren!
.Es handelte sich wahrhaftig nicht nur um
Geldgier der Priester, wenn sie zu allen Zeiten
und in allen Religionen darauf hinzuwirken streb‐
ten, daß durch fromme Vergabungen zugunsten
noch irdisch Lebender ausgeglichen werde, was
bereits Heimgegangenen nicht gewährt worden
war. ‒
.«Machet euch Freunde mittels des
ungerechten Mammons, damit sie,
75 Nachlese
wenn es mit euch zu Ende geht, euch
in die ewigen Heimstätten aufzuneh
men vermögen
.Wenn irgend ein Wort des Evangelisten als
wahres Wort des hohen, liebenden Meisters von
Nazareth, aus sich selbst heraus ge
sichert ist, so dieses!
.Seit den ältesten Zeiten erscheint es dem Men‐
schen als ein Vorzug der Götter oder ihrer Gesalb‐
ten, über zukünftiges Geschehen zum voraus Be‐
scheid zu wissen, und unerhörtester Schwindel
fand in der Menschheit festen Glauben, weil es
als gesicherte Gegebenheit galt, daß die Unsterb‐
lichen alles irdische Schicksal sicher vorauswissen
müßten, ‒ wobei die naive Annahme miteinbe‐
schlossen war, daß sie ihr Wissen auch den von
ihnen Bevorzugten unter den Sterblichen groß‐
mütig mitzuteilen pflegten.
.Eine noch so fromme Gottesvorstellung, ohne
das Attribut der «Allwissenheit», ‒ also auch des
genauen Vorauswissens kommender irdischer Er‐
eignisse ‒ erscheint selbst heute noch auch «auf‐
geklärtester» Theologie, gleichviel welcher Reli‐
76 Nachlese
gion, als abgeschmackte Blasphemie, ja schlechthin
als Absurdität, und aller Diskussion unwürdig.
.Tausend Künste hat sich der Mensch ersonnen
um seine Götter ein wenig zu überlisten, und trotz
aller immer wiederholten Verbote solchen «gott‐
versucherischen» Tuns, blüht es heute wie ehedem
unter den gottgefälligen Gläubigen, ‒ ja leider
auch in manchen heimlichen Gärtlein ihrer wohl‐
meinenden Seelenhirten.
.Sie alle wollen, bald in ernster Seelennot, bald
in recht läppischer Neugier, «ein Zeichen» erhal‐
ten und versuchen nach ihrer Art es ihrem Gott
möglichst bequem zu machen, ein solches «Zei‐
chen» zu geben.
.Darf man es heute den Menschen nun übel‐
nehmen, wenn sie so scharf darauf aus sind, über
ihre und anderer Zukunft etwas vorauszuwissen?
‒ Auch Männer der Macht haben es ja nicht ver‐
schmäht, sich in Zeiten der Ungewißheit von recht
fragwürdigen Sibyllen die Zukunft verkünden zu
lassen. Warum sollten nicht «die Kleinen und Un‐
mündigen» gleichartige Regung verspüren, über
ihre Aussichten in der Zukunft ein Orakel zu ver‐
nehmen?! ‒
77 Nachlese
.So verstehe ich es denn auch nur zu gut, daß so
viele Leute glauben, wenn irgend einer, so
müsse doch ich haarklein wissen, wie sich die
Zukunft in engeren oder auch weiteren Bezirken
dieses kleinen Planeten gestalte.
.Ich muß aber diese armen Übergläubigen arg
enttäuschen, denn sie suchen nicht mich, son‐
dern irgend einen Scharlatan, der ihnen mit großer
Gebärde Dinge erzählt, von denen noch keiner
wirklich wußte oder wissen konnte, auch wenn er
der ihm vertrauenden Menge für einen todsicheren
Propheten galt.
.Himmelhoch über der hier angedeuteten Bauern‐
fängerei stehen natürlich die geschickten Arti
sten, die sich die Rolle des Hellsehers aus‐
erlesen haben, weil sie in ihr am wirkungsvollsten
die gewagtesten Stücklein ihrer Kunst zum besten
geben können.
.Als ich eines Abends mit einem der bewunde‐
rungswürdigsten und geschicktesten Künstler die‐
ser Art nach seiner von mir mit wahrhaft kind‐
licher Begeisterung und Freude genossenen Vor‐
stellung beisammen saß, wollte mir der Gute nun
alle seine «Tricks» aufs deutlichste erklären, und
78 Nachlese
war sehr verwundert, weil ich ihn schon zu Anfang
bat, mich in Unkenntnis zu lassen, da ich die
Freude am Unerklärlichen höher schätze, als das
Wissen darum, «wie es gemacht wird».
.Ich habe allerdings Produktionen indischer,
arabischer, kalmückischer, kirgisischer und india‐
nischer religiöser Zauberer gesehen, die sie
nur für mich allein, und unter allen, von mir ge‐
wünschten, strengen Kontrollen ausführten, wo‐
nach ich sehr ernst geworden war, so daß mir alle
Begeisterung, die ich für artistische Kunststücke
immer übrig habe, in der Kehle stecken blieb...
Alles das war mir zuzeiten unverlangt über den
Weg gelaufen. Ich weiß aber dadurch einiger‐
maßen zu unterscheiden!
.Was nun die Voraussicht zukünftigen Ge‐
schehens anlangt, so ist der Erdenmensch aus seiner
rein tierischen Organisation heraus derart ver‐
anlagt, daß wir allesamt ein sehr weitreichendes,
sicheres Vorgefühl der Zukunft haben könnten,
hätten unsere noch ganz aus der Tierheit leben‐
den, körperlichen Vorahnen vor Hunderttausen‐
den von Jahren, die nötige Übung ihrer Fähig‐
keiten nicht aufgegeben, als sie die ihnen um so
viel gesicherter erscheinende Möglichkeit an sich
79 Nachlese
entdeckten, das Zukünftige durch gedank
liche Folgerungen zu erschließen.
.Hierher gehört der Mythos vom «Paradiese», den
alle frühgeschichtliche Menschheit kennt!
.In einzelnen Menschennaturen, die noch bis zu
hohem Grade unter der Herrschaft der Tier
seele stehen, finden sich aber unter allen Rassen
zuweilen Rudimente ‒ Überbleibsel ‒ der
Organe erhalten, die vormals den Urzeitmenschen
«voraussichtig» gemacht hatten, und so kann es
wohl geschehen, daß irgendeine Großstadtpythia
ebenso gelegentlich Dinge vorausahnen kann, wie
ein weissagender Priester irgendeines exotischen
Kultes, oder auch nur ein gerissener Gaukler, der
seine ‒ keineswegs beherrschte! ‒ Fähigkeit da‐
zu nützt, das Geld Anderer in seine eigene Tasche
überzuleiten.
.Die Eitelkeit, die der Erdenmensch ja be‐
kanntlich mit seinen irdischen Mit-Tieren teilt,
sorgt dafür, daß jede solche Weissagung zu einer
mehr oder minder geschickten Kombination wird,
in der sich das bestenfalls dunkel Erahnte durch‐
flochten findet von allerlei Mutmaßungen, wie sie
das Gehirn des Wahrsagers im gegebenen Fall
80 Nachlese
spontan produziert, und von recht simplen ver‐
standesmäßigen Schlüssen, die ihm von den auf
ihre Zukunft Neugierigen geradezu aufgedrängt
werden.
.Wer sich zum Wahrsager begibt, begibt sich
immer in Gefahr!
.Ich muß raten, diese Gefahr zu meiden,
denn aus ihr geht weder eine Festigung des Cha‐
rakters hervor, noch ist sie Bedingnis menschen‐
fördernder Tat! Wer in jedem Augenblick so han‐
delt, wie es ihm sein von jeder Fremdsuggestion
sorglich gereinigtes Gewissen empfiehlt, der
kann wahrhaftig jeglicher Zukunft unbe
sorgt entgegensehen.
.Zum Schluß will ich aber denn doch auch noch
Denen danken, die weder zu fragen kamen, noch
ihren Sorgen Ausdruck schaffen wollten, sondern
sich nur veranlaßt sahen, mir ein paar herzliche,
liebeerfüllte Worte zu sagen, weil ihnen längst das
Leben in der ewigen geistigen Seele, wie es
meine Schriften lehren, zur klaren Bestätigung der
Lehre Jesu wurde: ‒ daß der Mensch nicht lebt
«vom Brot allein», sondern «von jedem Wort, das
aus dem Munde Gottes kommt».
81 Nachlese
.Der «Mund Gottes» auf dieser Erde aber war
noch immer eines Menschen Mund, so, wie
auch der «Satan», dem der tief symbolische Bericht
das hier herangezogene Weisheitswort durch den
jungen Meister zu hören gibt, zu Erdenmenschen
noch niemals anders zu sprechen wußte, als durch
Menschenmund, ‒ es sei denn, er habe den
Menschen, zu dem er sprechen wollte, bereits
«besessen»...
.Es ist mir natürlich beglückend zu wissen, daß
es in allen Teilen der Welt so viele Menschen gibt,
die meine, in andere Sprachen nur recht schwer
zu übersetzenden Bücher, in der deutschen Ur‐
sprache zu lesen vermögen, auch wenn diese, vielen
Lesern von Hause aus recht fernliegende Sprache
mitunter, ‒ und besonders in meiner Gestaltungs‐
form, ‒ respektable Schwierigkeiten macht.
.Es ist jedoch eine rein verlagstechnische Angele‐
genheit, und ganz von mir unabhängig, ob sich alle
die Wünsche der in fernen Erdteilen lebenden,
durch die gemeinsame Muttersprache mir ver‐
bundenen geistigen Schüler erfüllen lassen wer‐
den, daß ‒ wenigstens bestmögliche ‒ Übersetzun‐
gen meiner geistigen Lehrbücher in zum Teil sehr
entlegene Sprachen erfolgen möchten, weil die
erwähnten Schüler bei den der deutschen Spra‐
che nicht mächtigen Freunden in ihren Gastlän‐
dern Interesse für die von mir dargebotenen Leh‐
ren vermuten, oder bei gesprächsweiser Erörte‐
rung wahrgenommen haben.
.Ich muß der Lenkung ewigen Geistes, der alle
Auswirkung der durch mich geprägten Wortfor‐
mulierungen anvertraut ist, auch darin vertrauen,
daß sie jede nötige Übersetzung herbeiführen wird,
wenn sie den psychologischen Moment dafür ge‐
kommen weiß. Immer wieder aber muß ich dabei
in Erinnerung rufen, daß ein erschöpfendes
82 Nachlese
Eindringen in den Inhalt meiner, den Weg zum
ewigen Geiste weisenden Bücher nur dem möglich
wird, der sie in der Ursprache lesen kann,
auch wenn er das Deutsche dazu erst erlernen
müßte.
.Übersetzungen können nur Behelfe sein, um all‐
mählich auch aus dem Geist einer andern Sprache
heraus verstehen zu lernen, was ich in meiner
Muttersprache geformt habe!
.Allerletzt auch noch ein Wort über «geistige
Hilfe»! ‒
.Es scheinen mir da reichlich phantastische
Begriffe umzugehen, ‒ genährt durch allerlei vor
fünfzig und mehr Jahren in Amerika modern
gewesene okkultistische Vulgärliteratur, die nun
endlich auch im alten Europa (durchaus nicht nur
in Deutschland) sich eingenistet hat.
.Was da alles «geistige Hilfe» genannt wird, hat
allerdings mit der aus dem ewigen Geiste ge‐
sandten über-«irdischen» Stärkung und Be‐
freiung der geistewigen Seele nicht das
allergeringste zu tun, von der allein die
Rede ist, wo immer ich über geistiges Hilfeleisten
zu sprechen habe.
83 Nachlese
.Wirkliche «geistige» Hilfe ist keine zuge‐
sandte «Gedankenkraft», keine mysteriöse Wir‐
kung irgend eines Gebetsmechanismus, keine Fern‐
hypnose, und keine Teufelsvertreibung durch kräf‐
tiglichen Höllenzwang, sondern ein Geschehen in
den Welten der Ursachen: ‒ ein Vor‐
gang, der nur dem verständlich ist, der ihn selber
herbeizuführen vermag.
.Alles was da geschieht, erfolgt ohne jedes äußere
Zutun, ‒ ja selbst ohne jegliche Mithilfe des
Denkens, ‒ in den Regionen des reinen ewigen,
von jeder Gehirnbetätigung absolut unabhängigen
göttlichen Geistes, ‒ verlangt aber von jedem noch
irdisch-tiermenschlicher Erscheinung Eingebore‐
nen, der das hier Nötige zu bewirken vermag, in
jedem Einzelfall äußerst heftige Erschütterungen
der irdischen Lebenskräfte, die zuweilen nur sehr
schwer zu regenerieren sind.
.Das Wissen um die erdverhaftete, geistige
Seele, der solche Hilfe gerade besonders nötig
ist, übt nur die Aufgabe eines Richtungsweisers
aus. Mit einem Vergleichsbild aus einem heute fast
aller Welt vertrauten Spezialgebiet der Elektro‐
technik könnte man auch sagen: ‒ das Wissen
um die hilfsbedürfende Seele dient nur dazu, die
84 Nachlese
richtige, ‒ hier geistige, ‒ «Welle» einzu‐
schalten.
.Der tierhafte Erdenkörper des Helfenden hat
hingegen etwa die Aufgabe einer mit unvorstell‐
baren «Hochspannungen» arbeitenden «Sendesta‐
tion».
.Symbol eines solchen nie versagenden und sich
stets wieder regenerierenden «Senders» ist der
starkbeleibte Buddha Chinas und Japans,
während die indischen Buddha-Darstellungen
fast ausnahmslos nur den auf seine Selbsterlösung
und geistige Erfreuung bedachten Erleuchteten
zeigen. ‒ ‒
.Damit möge nun meine zusammenfassende Ant‐
wort auf die mir zugekommenen Briefe beendet
sein. Ich glaube, daß jede Urheberin und jeder
Urheber den eigenen Brief in der ihm zugedach‐
ten Antwort wiedererkennen dürfte, finde mich
aber daneben zu der Annahme veranlaßt, daß
das, was ich zu antworten habe, auch für manchen
Leser Bedeutung gewinnen kann, der nicht an
mich geschrieben hat.
85 Nachlese
SELBSTVERSTÄNDLICHES
Anm.: Entspricht der 2.Auflage. "+" kennzeichnet e. Link zum Originalscan
WAS ich hier sagen werde, will in gleichem
Sinne verstanden sein, wie der an dieser
Stelle durchgeführte Versuch «Allen Antwort» zu‐
kommen zu lassen, die auf Grund einer vorherge‐
henden Nummer dieser Zeitschrift an mich ge‐
schrieben haben.
.Selbstverständliches sollte man ja nicht erst sa‐
gen müssen, aber die Briefe auf die ich mich hier
beziehen muß, zeigen mir mit bemühender Deut‐
lichkeit, daß doch recht vielen Leuten das an sich
Selbstverständliche leider noch wenig zu Bewußt‐
sein kam, was mir allerdings schon die Erfahrung
von über zwei Jahrzehnten öffentlichen Wirkens
reichlich bestätigt hat.
.Da sind vielleicht in erster Linie jene Allzunai‐
ven zu nennen, die es ihrerseits ohneweiteres für
ganz selbstverständlich halten, daß mir eine Art
«biblischer» Anrede gebühre, wie sie z. B. die eng‐
lische Sprache nur Gott gegenüber kennt, wie sie
aber daneben auch im Deutschen nur unter näch- +
sten Verwandten und Freunden üblich ist, wenn wir
hier von ihrem Gebrauch in bäuerlichen Gegen‐
den oder in Kaserne und Schützengraben abse‐
hen wollen, weil dort örtliche Verbundenheit die
Anrede in der zweiten Person fast zwangsläufig
herbeiführt.
.Gewiß weiß ich, was bei manchen, die mich nicht
auf die bürgerlich allgemein gebräuchliche Weise
anreden zu können glauben, letzte Ursache ihrer
Unsicherheit ist.
.Aber ich sehe gar keinen Grund gegeben, Sitte
und allgemein überkommenen guten Verkehrs‐
ton beiseite zu lassen, nur, weil man mit einem
Menschen spricht, der seiner selbst im lebendigen
ewigen Geiste bewußt ist, und aus seinem ihm zu‐
teilgewordenen Ur-Teil heraus das seinen Mit‐
menschen Heilsame aufzuzeigen sucht. Zur Be‐
ruhigung mancher Überempfindsamen und
leicht Verletzlichen will ich hier die Tatsache er‐
wähnen, daß selbst zwischen den mir auf die gei‐
stig geheimnisvollste Weise vereinten Männern
gleichen geistigen Lebens und mir, niemals eine
Anredeform, die unserem deutschen «Du» ent‐
spräche, angängig wäre. Auch habe ich diese An‐
redeform gerade den mir am allernächsten ste‐
henden Freunden gegenüber ‒ von wenigen frü‐
heren Ausnahmen abgesehen ‒ bis auf den heuti‐
gen Tag vermieden, obwohl es sich da zum Teil
um Jugendfreunde handelt.
.Jenen merkwürdigen Zeitgenossen aber, die
sichtlich ihr «gutes Recht» darin sehen, jede weise
Konvention beiseite zu schieben, wenn sie nicht in
ihre überspannten Vorstellungsreihen paßt, muß
ich zu bedenken geben, daß ich unmöglich im ewi
gen Geiste zu leben vermöchte, wenn mir sein ge‐
setzgebundener Ausdruck in irdischer Form je‐
mals gleichgültig sein könnte.
.Wer die Form geringschätzen zu dürfen glaubt,
ist noch himmelweit von dem Wege entfernt, auf
dem er dereinst ‒ sei es im nachirdischen oder gar
schon im gegenwärtigen Leben ‒ in den Geist ge‐
langen könnte! Auch wenn der vermeintlich über
die Form Erhabene alle meine Schriften Satz für
Satz auswendig weiß und sich gerne meiner
Sprachweise zu bedienen pflegt.
Eine andere Selbstverständlichkeit, die ich nun
nachdrücklichst betonen muß, betrifft mein Ver‐
hältnis zu der hier vorliegenden Zeitschrift.
.Obwohl Herausgeber und Schriftleiter in jeder
Nummer genannt sind, scheint es doch nicht gar
wenige Leser zu geben, die mir eine Verantwor- +
tung für den Inhalt der Hefte aufbürden möch‐
ten.
.Hier habe ich ein für allemal zu sagen, daß mir
nicht der geringste Einfluß auf den Inhalt der
«Säule» zusteht und daß ich weit davon entfernt
bin, solchen Einfluß zu erstreben!
.Was in dieser Zeitschrift je zu lesen war, gegen‐
wärtig zu lesen ist, oder in Zukunft zu lesen sein
wird, ist strengstens abgegrenzt, nur insoweit meine
Meinung, als es sich um von mir mit Namen gezeich
nete Erörterungen handelt. Alles Übrige ‒ auch
wenn mein Name darin genannt werden mag,
auch wenn man sich ausdrücklich auf mich beru‐
fen zu dürfen glaubt oder Stellen aus meinen Bü‐
chern zitiert und sonstwie mitverwendet ‒ er‐
scheint lediglich unter persönlicher Verantwort‐
lichkeit der Verfasser und stellt deren eigene per‐
sönliche Meinung oder Auffassung dar.
.Ich kann da unmöglich das Amt eines Zensors
übernehmen, das mir von manchen Seiten so
dringlich nahegelegt wird, die sich besser und
richtiger an Verlag und Schriftleitung wenden soll‐
ten, wenn sie da und dort mit Beiträgen, die mei‐
ner Berichtigung keinesfalls unterliegen, nicht
einverstanden sind. Weder ist es meine Aufgabe,
noch meine Absicht, die mir zugemutete öffent‐
liche Kritik an den Ausführungen der einzelnen
Verfasser aufzunehmen. Ich bitte vielmehr die
Leser der «Säule», überzeugt zu sein, daß jeder
Mitarbeiter, der hier zu Worte kommt, nur aus
lauterster Gesinnung und ehrlichem Helferwillen
86 Nachlese
spricht, auch wenn zuweilen einer selbst nicht be‐
merken mag, daß seine Auffassung Folgerungen
zuläßt, die den von mir vertretenen Lehren fremd
sind und fremd bleiben müssen. Man sollte in
solchen Fällen zum mindesten doch die Ehrlich‐
keit in der Meinungsäußerung achten, auch wenn
man glaubt, daß ich nicht alles zu billigen ver‐
möge!
.Es wäre aber auch durchaus irrig, ein etwaiges
längeres Ausbleiben von Beiträgen aus meiner Fe‐
der im Sinne einer abfälligen Kritik auszudeuten.
.Was ich in diesen Heften darlege, ist immer
durch besondere, mir in direkter Linie berüh‐
rungsnahe gekommene Anlässe bedingt, und ge‐
langt hier zur Aussprache, weil das, was ich auf
solche Art jeweils zu sagen habe, von vielen hier
gesucht wird. Spreche ich mich über irgendwelche
Dinge, über die man vielleicht gerne meine Mei‐
nung hören möchte, aber nicht aus, so darf man
überzeugt sein, daß ich meine guten Gründe da‐
für habe. Es gibt Dinge über die so viel gespro‐
chen wird, daß es diesen Dingen wohltut, wenn+
auch einmal, von längst genau präzisierter Stelle
her, darüber geschwiegen wird. Es gibt weiterhin
Dinge für die mir heute noch lange nicht die Zeit
gekommen ist, darüber zu reden. Und schließlich
gibt es auch Dinge über die zu sprechen ich mich
in keiner Weise berechtigt sehe, da sie weit außer‐
halb meiner, mir Gewißheit bietenden Erlebnis‐
bezirke liegen und mit dem, was ich dem Erden‐
menschen als ewiges Erleben vorbehalten weiß,
nicht in der mindesten Beziehung stehen.
.Ebenso kann ich aber auch nicht jede Mißdeu
tung meiner Lehrworte aufklären, sondern muß
es denen, die ihre eigene Meinung in meine Texte
hineininterpretieren, in aller Geduld überlassen,
selbst ihrer Irrtümer gewahr zu werden.
.Jeder muß für sich selber einstehen!
.Ich kann keinem seine eigene Verantwortung
abnehmen, und diese Verantwortung wächst ins
Unermeßliche durch jedes Wort, was vor der Öf
fentlichkeit ausgesprochen wird, ‒ mag diese Öf‐
fentlichkeit auch engste Grenzen aufweisen.
.Jedes öffentlich ausgesprochene Wort ist ein
Saatkorn aus dem eine mehr oder minder reiche
Ernte gleicher Art heranreift, und für diese Ernte
hat allein der Mensch vor der Ewigkeit einzuste‐
hen, der das Saatkorn ausgeworfen hatte.
Nachdem ich nunmehr über volle zwanzig Jahre
durch das geschriebene Wort Seelen zum Lichte
der Ewigkeit zu leiten trachte, weiß ich leider
auch aus vieler Erfahrung, wie wenig selbstver‐
ständlich es den meisten Menschen ist, das an sich
Selbstverständliche zu erfassen und danach zu
handeln.
.Was den Einzelnen in meinen Büchern wirklich
angeht, nimmt sich nur recht selten einer zu Her‐
zen. Wohl aber bezieht dieser und jener nur allzu‐
gerne auf sich, was ihm gänzlich unzugänglich ist
und bleiben wird, und was nur durch mich be‐
schrieben werden wollte, damit auch der Außen‐
stehende, dem die Voraussetzungen zu solchem
Erleben fehlen, dennoch begreifen lerne, wie das
ihn selbst zu Tat und Wirken Aufrufende, im ewigen
Geiste verankert ist.
.Und selbst in dem, sie wirklich aufs dringlichste
und nächste Angehenden suchen sich die Wenigen,
die danach fragen, noch immer lieber nur das ih‐
nen besonders Zusagende und Genehme aus,
während sie alles, was ihrer lieben Eitelkeit kleine
Beschwerden macht, nur für «Andere» niederge‐
schrieben glauben.
.Es gibt auch zu denken, daß ich auf meine Auf‐
forderung hin, außer den mir wirklich erwünsch- +
ten Briefen geliebter, mir bekannter Schüler, fast
nur von einer Anzahl schlichter Leute aus dem
Handwerk und der Landwirtschaft verbundenen
Berufen Briefe erhielt, an denen ich mich wirk‐
lich freuen konnte. ‒ Auch fand ich bei einigen die‐
ser sich mir Anvertrauenden bereits ein echtes
geistiges Erleben, wie man es vergeblich bei jenen
suchen würde, die sich möglichst deutlich als gei‐
stig besonders Begnadete einzuführen trachten
und nicht ahnen, daß sie sich mit jeder Silbe selbst
richten, da ihnen jegliches Zeichen des ewigen Gei‐
stes fehlt, der die Seinen allerdings wesentlich an
ders bestätigt, als jene phantastischen, von geist‐
licher Großmannssucht Überwältigten meinen. ‒
.Als durchaus nicht selbstverständlich empfinde
ich jedoch eine gewisse Wehleidigkeit und Selbst
bemitleidung, die manchen der an mich gelangten
Zuschriften ein kurioses Gespräge gibt. Men‐
schen, die meine Lehren kennen, sollten denn
doch wahrhaftig wissen, daß eine wirkliche geistige
Erneuerung ‒ wo immer in der Welt sie erstrebt
werden mag ‒ nur dann erreichbar ist, wenn
vordem das, was im Menschen rein tierisch bedingt
ist, sich selber beherrschen lernte! Das ist Vorausset
zung!
.Ohne diese Selbstverständlichkeit erfüllt zu ha‐
ben, ist noch kein einziger Erdenmensch in Wahr‐
heit seiner ewigen Geistesnatur bewußt geworden,
auch wenn er um alles wußte, was wirklich im ewi‐
gen Gottesgeist Lebendige aus dem geistigen Sein
zu künden hatten!
87 Nachlese
BUCHSTÄBLICHES
(Denen, die es angeht!)
ES kann einem, der etwas von den geheimnis‐
vollen Schwingungen der Lautzeichen im Welt‐
äther weiß, nicht gleichgültig sein, ob in seinem
Namen ein «F» oder ein «Ph» vorkommt, auch
wenn das Doppelzeichen nicht anders ausgespro‐
chen wird, wie das einfache.
.Einiges von diesen Dingen wußte der in den
fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ver‐
storbene Stuttgarter Opernregisseur Krebs, weshalb
er sich denn auch «Kerning» nannte. Allerdings
tritt hier schon zutage, wie verschleiert sein dies‐
bezügliches Wissen war. Andernfalls hätte er nicht,
der Neigung seiner Zeit erliegend, sich den «spre‐
chenden» Namen «Kerning» gegeben, der zwar
eine Lautzeichenverbesserung gegenüber «KR»
und «BS» darstellt, aber zugleich doch besagen
wollte, daß der mystische Autor nicht den «Krebs‐
88 Nachlese
gang» gehe, sondern zum Kern der Dinge vor‐
dringe.
.Kernings leidige Neigung zu einer schrulligen
mystischen Romantik hat schon ihn selbst dazu
verleitet, seine wenigen Ahnungen in bezug auf
den Schwingungswert der Buchstaben zu wirren
Scheinerkenntnissen aufzubauschen.
.Seine freimaurerischen Schüler aber haben aus
dem, was er ihnen hinterlassen hatte, vollends eine
rein phantastische, jeder Wirklichkeitsbegründung
bare Lehre gemacht, deren Behauptungen und
gegebenenfalls zu erzielenden Folgen schon in das
Gebiet der Psychiatrie gehören, weshalb man nicht
genug vor der Lektüre solchen Schrifttums warnen
kann.
89 Nachlese
BRIEF
AN MEINE GEISTIGEN SCHÜLER
IHR hegt, wie aus so mancher, mir teuren Äuße‐
rung hervorgeht, voll Vertrauen den Wunsch,
daß ich noch möglichst lange bei Euch bleiben
möge ‒ hier in dieser uns alle umschließenden
Sichtbarkeit?
.Es ist Euch nicht einerlei, ob ich vollbringe, was
mir nur zu dieser Zeit meines erdenkörper
lichen Lebens geistig zu vollbringen möglich
wird, und Ihr wollt auch noch vernehmen, was ich
Euch in Zukunft noch zu sagen habe?
.Wenn dem so ist, dann muß ich Euch aber auch
darum bitten, mir die Vorbedingung schaffen zu
helfen, die zu alledem für mich unumgänglich
nötig ist.
Wären wir noch Urasiaten, und nicht die von
unserem Ursprungslande weit abgewanderten Be‐
wohner der kleinen, dem Kontinent Asien vor‐
90 Nachlese
geschobenen Halbinsel Europa, dann würde eine
jahrtausendealte und stets heiliggehaltene Tradi‐
tion Euch sagen, wie ein dem ewigen, substantiellen
Geistigen (nicht etwa dem bloß Gedank
lichen!) zugewandter Mann, ‒ als was immer
er örtlich bezeichnet werden mag, ‒ vor äußeren
Störungen geschützt werden muß, um seinen,
allem Irdischen übergeordneten Verpflich‐
tungen leidlich nachkommen zu können.
.Und dabei handelt es sich innerhalb solcher Tra‐
dition nur um quasi «subalterne» Zugelassene
in geistige Lebensbereiche, wenn nicht gar um
bloße Okkultisten, da die wirklich im ewigen
Geiste souveränen Menschen, soweit sie auch
gegenwärtig noch in asiatischen Bezirken leben,
weder persönlich, oder dem Namen nach,
noch indirekt durch ihre Lehre an die Öffent‐
lichkeit treten, weil sie das als abgrundtief
unter ihrer Würde liegend empfinden. Der
europäische Mensch ist ‒ in dieser Hin‐
sicht wenigstens ‒ weitaus bescheidener.
.Ich mache trotzdem keinen Hehl daraus, wie
meine Situation innerhalb des substan
tiellen, ewigkeitsbewußten Geistes
Gottes gelagert ist, aber meiner europäischen
91 Nachlese
menschlichen Erdenhaftigkeit entsprechend wider‐
strebt es mir, eine Rangstufe, wie sie mir zukommt,
zu betonen, weil mir jeder «Anspruch», der
erst «angemeldet» werden muß, von vornherein
lächerlich erscheint.
.Es ist auch nicht zu leugnen, daß in heutigen
Tagen innerhalb Europas weder Gefühl noch In‐
stinkt für die Distanz vorhanden sind, die einem,
dem Geistigen zugeteilten Menschen gegen‐
über in Betracht kommt.
.Der Europäer unserer Zeit ist allzusehr auf
geist-ferne Gesichtspunkte eingestellt, und sein
Suchen vermittelt ihm bestenfalls nur solche
Einsichten, wie sie der Spannweite seines allzu‐
sicheren Blickes gerade noch zur Not sich er‐
öffnen können. Wie dürfte man von ihm mehr
erwarten, als er selbst von sich zu erwarten
vermag!
.Und dennoch weiß ich, daß auch der Europäer
zu der selbstverständlichen Höhe und Weit
räumigkeit asiatischer geistiger Einsicht ‒ wie
sie dort ist, wo sie wirklich besteht ‒ empor‐
wachsen kann, wenn er sich selbst nicht
versäumt, was allerdings die meisten Europäer
92 Nachlese
leider tun, und für die höchste Aufgabe ihres
Lebens zu halten scheinen.
.Man braucht aber niemals sich selbst zu
versäumen, ‒ nicht im denkbar aktivsten Leben,
noch im Ringen zwischen Leben und Tod, noch
im rauschendsten Lebensgenuß!
Es handelt sich also bei mir nicht um das Fern‐
halten äußerer Störungen, wie sie gewiß jeder
Gehirnarbeiter gerne von seiner Arbeitsstätte fern‐
gehalten sieht, damit er unbehindert in seinen
Gedankengängen sich ergehen kann.
.Solche Befreiung von äußerer Störung habe
ich noch niemals gebraucht!
.Auch inmitten einer tumultuösen Menschen‐
menge bin ich bei mir in der vollkommensten Ein‐
samkeit, und ich würde nichts verbessern, wollte
ich mich in eine weltabgeschiedene Einsiedelei
zurückziehen.
.Unerläßliche Vorbedingung für das wirksame
Einsetzen substantiell-geistiger Hilfe zugunsten
seiner Mitmenschen ist für den im ewigen Geiste
93 Nachlese
Lebendigen vielmehr, daß er unbedingt befreit
bleibt von Ansprüchen der äußeren
Konvention seiner Umwelt und seiner
Zeit, soweit diese Ansprüche das gleichzeitige
Verharren in der ununterbrochenen Bewegtheit
innerhalb des substantiellen ewigen Geistes un‐
möglich machen.
.Hierher gehört aller Äußerungszwang, dem nicht
anders entsprochen werden kann als durch zeit‐
weiliges Unterbrechen des dem Geistgeeinten
im ewigen substantiellen Geiste zugeteilten tätigen
Verhaltens.
.Religiöse Bildersprache weiß zu sagen, daß be‐
wußt im Geiste Lebendige ‒ mit welchen Namen
sie auch benannt, und wie immer sie vorgestellt
werden mögen ‒ unablässig «vor Gottes Thron»
ihr «Heilig, Heilig, Heilig» ertönen lassen, was
einigermaßen ästhetisch gerichteten Skeptikern
eher als Höllenstrafe erscheinen wollte, statt als
Bekundung ewiger Seligkeit. Aber in solcher bild‐
haften Lehre steckt nur die Wahrheit, daß das
bewußte Leben im ewigen Geiste ein unablässiges,
rhythmisch akzentuiertes Tun ist, und daß dieses
Tun die höchste Verherrlichung des ewigen Seins
darstellt, aber mit Hilfe irdischer Vergleiche nicht
94 Nachlese
zu umschreiben ist. Daß man dieses Tun als ein
Singen darzustellen suchte, ‒ wohl auch zu‐
weilen als Musizieren, ‒ zeigt immerhin deut‐
lich, daß solche gleichnishafte Rede von Menschen
stammt, die wahrhaftig aus dem ewigen Geiste
sprachen...
.Nun darf man nicht außeracht lassen, daß bei
einem im ewigen, substantiellen Geiste bewußt
Lebendigen der gleichzeitig noch als Mensch der
Erde lebt, eine den Marconi-Wellen vergleichbare
Verbindung beider Lebensbezirke besteht, deren
Aufnahmeapparatur im irdischen Körper der ge
samte Nervenkomplex dieses Körpers ist.
.Infolgedessen ist eine Störung dieser Verbin‐
dung auch dem ganzen irdischen Körper auf das
empfindlichste fühlbar, ja ein unvermute
tes plötzliches Losreißen kann auf der Stelle den
Tod des Körpers bewirken.
Während nun aber selbst der intensivste Gebrauch
aller körperlichen Sinnesorgane keinerlei Stö‐
rung der aufgezeigten schwingungsartigen Verbin‐
dung zu bewirken braucht (unter gewissen Um‐
95 Nachlese
ständen kann er sie jedoch bewirken ‒) wird
diese Verbindung sofort auf das empfindlichste
gestört, wenn sich das Gehirn gezwungen findet,
sprachliche Formulierungen für Ge‐
danken zu gestalten, die nur dem irdischen
Dasein zugehören. Das tritt im stärksten
Maße ein, wenn der im substantiellen Geiste voll‐
bewußt Lebende die irdische Aufgabe übernommen
hat, seinen Mitmenschen Lehre aus dem Leben
des ewigen Geistes zu vermitteln, wozu er sein
Gehirn in strenger Zügelung erziehen mußte, auf
direkte Ansprache aus dem ewigen Geiste sofort
und präzis zu reagieren. ‒ Meine Schüler werden
verstehen, daß ein solcherart auf eine ganz einzig‐
artige Reaktionsweise hin geschultes und abge‐
stimmtes Gehirn anderen Gefahren ausgesetzt ist,
als das Gehirn des Normalmenschen, der nichts
von den Möglichkeiten auch nur ahnt, die hier
in Betracht kommen und stets aktuell sind.
.Wenn in orientalischen Religionen der wirklich
oder auch nur vermeintlich aus dem Geiste Leh‐
rende stets von einem hierarchisch abgestuften
Hofstaat, wie von einem System hintereinander
aufgestellter Palisadenzäune umgeben war, damit
ihm nur ja nichts nahen konnte, was für seine
96 Nachlese
Verbindung mit seinem gleichzeitig bestehenden
wirklichen, ‒ oder auch nur gläubig zugeschrie‐
benen ‒ Leben im ewigen Geiste Störung
hätte bedeuten müssen, so war das nur folgerich‐
tige Auswirkung des allgemeinen Wissens um die
oben geschilderten Zusammenhänge des Geistigen
und Irdischen innerhalb einer entsprechend ge‐
arteten menschlichen Individualität. Was heute
noch an Spuren solcher Umzäunungen eines mit
mystischem Nimbus umglaubten Menschen da und
dort übrigblieb und weiter erhalten wird, ist es
nicht minder.
Nach alledem wird man nun vielleicht doch zu
einigem Verständnis dafür kommen, daß mir, der
ich niemals «ein fauler Briefschreiber» war, heute
jede Nötigung, einen Brief zu schreiben, zur Qual
geworden ist. Mag auch der Adressat mir überaus
nahestehen! Mag auch das, was brieflich zu be‐
handeln ist, mich im Tiefsten ergreifen!
.Das ist für einen verbundenheitsfreudigen Men‐
schen, dem jeder, der ihm jemals seelisch wirklich
nahe kam, nun auch immerdar gegenwärtig bleibt,
recht schwer erträglich, und es fehlt ja auch wahr‐
haftig nicht an immer aufs neue wiederholten Ver‐
97 Nachlese
suchen meinerseits, «wider den Stachel zu löcken»,
und trotz aller geistnaturgegebenen Verbote, oft
lang schon versäumte Korrespondenz wieder auf‐
zunehmen. Zum Teil auch aus ganz egoistischen
Gründen, denn es gibt recht viele, mir geistig
nahestehende Menschen, nach deren Briefen ich
mich geradezu «sehne», so daß mir im irdischen
Leben vieles fehlt, wenn Nachricht von ihnen zu
lange ausbleibt. Ich kann aber niemand zumuten,
mir in kontinuierlicher Aufeinanderfolge zu
schreiben, wenn meine Antwortbriefe, die viel‐
leicht nicht minder erwartet werden, immerfort
ausbleiben, ‒ mögen die Gründe dafür auch gegen
jede Verdächtigung in Hinsicht auf «Schreibfaul‐
heit» vor allen Einsichtigen geschützt sein.
.Ernsthaft beunruhigend aber kann mich das
Ausbleiben von brieflicher Nachricht berühren,
wenn ich aus irgend einem Grunde zu der An‐
nahme berechtigt bin, daß ich vielleicht geistig zu
helfen vermöchte, wäre mir nur die derzeitige
Situation des Freundes offenbar.
.Aus solchen Empfindungen heraus spricht mein
im Heft 4, 1933 der «Säule» dargebrachtes Ge‐
dicht: «Geistige Verbundenheit». Es war an die
Allernächsten, der mir persönlich oder auf eine
98 Nachlese
außergewöhnliche Weise auch nur brieflich be‐
kannten Freunde und geistigen Schüler gerichtet,
weil mir nur deren persönliche seelische und
äußere Verhältnisse vorläufig hinreichend vertraut
sind, daß ich sie, um des Einsatzes geistiger Hilfe
willen, genügend zu beurteilen vermag. Fataler‐
weise hat mir zwar dieses Gedicht eine Flut von
Zuschriften gebracht, die nur in Bewegung gesetzt
wurde durch die irrige Meinung, es mangele mir
an Gelegenheit zur Korrespondenz. ‒ Aber von
diesen wenig erfreulichen Bekundungen anmaß‐
licher, zum Teil schon kaum noch erträglicher, für
alles mögliche, Zauberhilfe heischenden Überheb‐
lichkeit weit abgesehen, haben auch andere bis da‐
hin mir noch nicht bekannte Menschen sich auf‐
gefordert gefühlt, mir zu schreiben, deren brief‐
liche Bekanntschaft gemacht zu haben, ich gewiß
niemals unterschätzen werde. Hochgebildete, gei‐
stig Schaffende, aber auch ganz einfache Leute
sind dabei, und manche wissen mir Wundersames
aus ihrem inneren Leben zu berichten, ohne viel
daraus zu machen, obwohl sie nicht verbergen
können, daß der Atem ewigen Geistes sie berührte,
ohne daß sie es, im kirchlich anerzogenen «Bewußt‐
sein» ihrer vermeintlichen Sündhaftigkeit, für
wahr halten wollten.
99 Nachlese
.Jedem einzelnen, dieser mir mit dem Siegel des
Geistes neu Nahegetretenen möchte ich eine recht
persönliche Antwort schreiben, und sie wurde in
Gedanken schon geschrieben, als ich seinen Brief
las.
.Wenn aber die hier gemeinten ‒ Frauen wie
Männer ‒ mit der ihnen sichtlich gegebenen Ein‐
fühlungsfähigkeit nun die mir wirklich nicht leicht
gefallenen Darstellungen der mein Erdenleben um‐
fangenden Sonderbedingnisse empfindend sich klar
gemacht haben werden, dürften sie gewiß auch ver‐
stehen, daß ihre vertrauend gegebenen Worte gut
bei mir verwahrt bleiben, auch wenn ich nicht
darauf brieflich zu antworten vermag.
.Ich werde auch weiterhin versuchen, auf die mir
zukommenden Briefe auf ähnliche Weise wie hier,
in der «Säule» zu antworten, bedacht darauf,
daß möglichst vielen Lesern, mit solcher Ge‐
meinsamkeitsantwort Aufschluß und Klärung zu‐
kommt.
.In dieser Weise vermag ich zu antworten,
ohne mein Wirken im ewigen Geiste unterbrechen
zu müssen, was bei persönlichen Briefen an
Einzelne ganz unvermeidlich wäre, und zu‐
100 Nachlese
letzt fraglos zur Zerstörung meines irdisch gege‐
benen Daseins führen müßte, das Ihr alle, geliebte
Freunde, noch so lange als erdbedingt möglich, er‐
halten sehen wollt, ‒ zugleich aber dem Wider‐
sprechendes von mir erwartend...
.Mir selbst, der ich mich niemals in meinem
Erdenleben zu «schonen» suchte, vielmehr von
den Tagen meiner Kindheit an die Gefahr verwege‐
nerweise aufsuchte, wo sie am größten war, ist
irgendwelche Besorgnis in bezug auf Erhaltung
meines irdischen Lebens wirklich von Hause aus
fremd, und mein bewußtes, taterfülltes Leben im
ewigen substantiellen Geiste rückte jeden derarti‐
gen Gedanken womöglich noch ferner. Wenn ich
dennoch Euren mir zugedachten Wünschen meine
Mitwirkung zusagen muß, so geschieht dies, weil
ich vom Geiste her weiß, was noch auf Erden für
mich zu tun ist, da es nach meinem Tode in vielen
Jahrhunderten keinen Menschen innerhalb der
Westwelt geben wird, der Eignung in sich zu tragen
vermöchte, es vollbringen zu können, aus den
Kulturkreisen des Morgenlandes aber niemals
mehr einer dem Abendlande erfahrbar werden
wird.
101 Nachlese
BRIEF
AN MEINE GEISTIGEN SCHÜLER
WENN ich die beiden Jahrzehnte meines Leh‐
rens aus der Wirklichkeit ewigen göttlichen
Geistes überblicke, sehe ich eine Auswirkung der
durch mich verkündeten Lehren vor mir, die vom
Blickpunkt des lichten heiligen Geistes Gottes her
als ein leuchtendes Feuer unvergänglicher Freude
erscheint, ‒ in erdenmenschlichem Erfühlen er‐
lebt aber zur umfassendsten Dankbarkeit gegenüber
Denen nötigt, die mir echte geistige Schüler ge‐
worden sind.
.Niemals hätte ich vordem erwartet, daß mein
helfendes Lehren so viel Entgegenstreben aus dem
Innersten, so viel warme, fühlende, wollende Auf‐
nahme bei meinen Mitmenschen vorfinden: ‒ daß
es so vielem lebendig durchglühten seelischen
Suchen begegnen würde.
.Ich kann nur immer wieder danken für die
Bereitwilligkeit, den durch mich empfangenen
102 Nachlese
Anweisungen nachzuleben, und wollend dem ge‐
zeigten Ziele zuzustreben!
.Dennoch aber begegne ich neben allem seelisch
wurzelstarken Wollen immer wieder auch einer
Art Sehnsucht nach zauberhaftem Ge
schehen, die durch mich endlich ihrer Erfül‐
lung gewiß zu werden vermeint, ‒ die ich aber
nur herbster Ent-Täuschung zuführen muß.
Wer dieses Herausreißen aus einer wohligen Täu‐
schung nicht verträgt, der hat in meiner geistigen
Nähe nichts zu suchen!
.Was ich im Nachfolgenden sage, setzt daher eine
wesentlich andere Seelenhaltung voraus. Ich
rede hier nur zu Menschen, die ein inneres Recht
haben, sich als meine geistigen Schüler zu fühlen,
auch wenn sie noch zuweilen erdmenschlichen Nei‐
gungen zu weit nachgeben, oder in Gefahr geraten
können, Irrtümern nachzuhängen, die ganz gewiß
nicht durch mich genährt werden, aber seit alter
Zeit durch törichten Aberglauben heftig in Kraft
sind.
.Allem anderen voraus denke ich hier an die bei‐
nahe nicht auszurottende Sucht, die ewige Wirk‐
lichkeit, wie sie im göttlichen substantiel
103 Nachlese
len Geiste allein durch Vermittlung der
Seele zu empfinden ist, auf irdisch-physische ‒ ja
physikalische ‒ Weise erleben zu wollen.
.Selbst dort, wo man einiger Einsicht wahrlich
gewiß sein sollte, spukt der Wahn, es müsse mög‐
lich sein, das polar Entgegengesetzte in gleichem
Polstand erfahren zu können: ‒ also das absolut
Positive als ein ausgeprägt Negatives wahrzu‐
nehmen.
.Ursache dieser Ahnungslosigkeit gegenüber dem
allein Möglichen ist die Überwucherung des
Vorstellungsbereiches durch Vorstellungen die
lediglich Produkte der physischen Sinne darstellen,
‒ und die solcherweise verlorene Fähigkeit, sub‐
stantiell Göttlich-Geistiges ‒ das niemals phy‐
sisch-sinnlich zu erreichen ist, wenn es auch im
Physisch-Sinnlichen sich darzustellen vermag ‒
als Vorstellung dem bewußten Erleben nahezu‐
bringen.
.Wir können aber weder in der physisch-sinn‐
lichen noch in der substantiellen göttlich geistigen
Welt irgend eine Erfahrung richtig deuten, wenn
wir nicht fähig sind, dem zu Erfahrenden das ihm
gemäße Bild vor-zustellen. ‒
104 Nachlese
.All unser Erkennen ist ein Vergleichen des
schon Erfahrenen, oder noch als Erfahrung
Gesuchten, mit dem von uns vor der Erfah‐
rung vorgestellten Bilde. Nur in diesem Ver
gleich erfahren wir, was an unserer Vorstellung
der Wirklichkeit entsprach und was nicht. Nur
durch solches Erfahren werden wir der Wirk‐
lichkeit endlich gewiß!
.Ist aber unser Vermögen, auch substantielles
Göttlich-Geistiges vorstellen zu können, durch die
Gewohnheit, nur physisch-sinnlich Erweisbares
vorzustellen, allmählich kraftlos geworden, so
werden wir des substantiellen Göttlich-Geistigen,
das uns erlebensnahe kommt, nicht einmal ge
wahr, und unmöglich wird uns seine Erfahrung
und Deutung werden.
.Es handelt sich also darum, die Fähigkeit: das
ewige substantielle Göttlich-Geistige vorstellen zu
können, aus aller Ueberwucherung herauszuholen
und zu neuem Leben zu erwecken. Fast in jedem
meiner Verkündungsbücher nimmt diese Befreiung
und Erweckung darum beinahe mehr Wortgestal‐
tung für sich in Anspruch als die Verkündung der
Wirklichkeit substantiellen ewigen Lebens selbst,
und ich hätte mir mein Werk wesentlich verein‐
105 Nachlese
fachen können, wenn der ewige göttliche Geist
auch ohne vorgängige Vorstellung: ‒ etwa durch
bloße Selbstversenkung oder durch Anbetung des
Unerkennbaren, ‒ der Erfahrung zugänglich wer‐
den könnte. ‒
.Nicht von ungefähr findet der Schüler in meinen
Büchern jede nur mögliche Sonderart der Vor‐
stellungsfähigkeit aufgerufen, denn diese Fähigkeit
gelangt nur dann erneut zum Leben, wenn das ihr
am ehesten Vernehmbare sie erweckt.
.Dieses am ehesten Vernehmbare wird aber für
jede einzelne Seele ein Anderes sein, und man
darf das Erwecken der Fähigkeit, ewiges Göttlich‐
Geistiges wieder vorstellen zu können, wahr‐
haftig nicht mit dem Gebaren sogenannter «Geistes‐
lehrer» verwechseln, die ihre Schüler mit allen
okkultistischen Zwangseinflüssen dahin bringen
wollen, Gesichte zu «schauen», die lediglich das
Produkt verstandesmäßiger Spekulationen des
durch Geltungsbedürfnis und persönliche Selbst‐
übersteigerung vom ewigen Geiste Gottes herme‐
tisch isolierten, ahnungslosen «Geheimlehrers»
sind.
106 Nachlese
.Anderseits aber ist die Erklärung dafür, warum
in den Völkern der Länder des Sonnenaufgangs weit
mehr echte Erfahrungsfähigkeit für das ewige Gei‐
stige gefunden wird als innerhalb der westlichen
Welt, durchaus nur in der traditionsmäßig lebendig
erhaltenen Fähigkeit, Geistig-Göttliches vorstel
len zu können gegeben, und keineswegs etwa in
einer, für das Erfahren des Geistigen besser ge‐
eigneten Veranlagung oder gar in einer besonderen
Eignung der von diesen Völkern bewohnten Land‐
striche zu suchen.
.Man scheut sich zuerst, eine solche Binsenwahr‐
heit niederzuschreiben, ‒ aber leider ist es bitter
notwendig, will man die phantastischen Meinungen
aus der Welt geschafft sehen, die immer noch durch
allzu romantisch-schwärmerische Menschen des
Westens in den ihnen zugänglichen Kreisen ver‐
breitet werden.
.Für die christlichen Mystiker des Mit‐
telalters ‒ und zwar für alle, ohne jede Aus‐
nahme! ‒ trifft die oben auf die Völker des Ostens
bezogene Erklärung jedoch nur zum Teil zu,
denn die noch vorhanden gewesene Fähigkeit, sub‐
stantielles Göttlich-Geistiges vorstellen zu kön‐
107 Nachlese
neu, erfährt in der Mystik (einerlei welcher reli‐
giösen Färbung!) einen ahnungslos getriebenen
Mißbrauch, ‒ und außerdem wurde gerade
in der mittelalterlichen christlichen Mystik
nur zu oft das urwesentlich im ewigen substantiel‐
len Geiste Erfahrene bloß Ausgangspunkt rein ge‐
danklicher «Spekulation», so daß man in vielen
Fällen ‒ besonders bei Meister Eckehard
eher von christlich mystischer Philosophie zu
reden hätte.
.Wer nun aber nach den von mir so reichlich ge‐
gebenen Anweisungen handelt, um auf die für ihn
mögliche Art, die Fähigkeit zum Vorstellen des
ewigen, substantiellen Göttlich-Geistigen wiederzu‐
erlangen, der darf gewiß nicht erwarten, daß sein
erster Erfolg ihm sofort die Bildung von Vorstel‐
lungen ermöglichen würde, wie sie für das Erfah‐
ren höchster, substantiell-geistig gezeugter le‐
bendiger Wirklichkeit unerläßlich sind.
.Ich spreche von dem «Wiedererlangen» der hier
erwähnten Fähigkeit, weil jeder mit gesundem irdi‐
schem Organismus geborene Erdenmensch sie in
den Zeiten seiner frühen, zum Bewußtsein erwach‐
ten Kindheit in mehr oder weniger ausgebildetem
Maße besaß, bis sie ihm dann infolge des immer
108 Nachlese
stärker auf ihn einstürmenden Zwanges, sich durch
die physisch-sinnlich wahrgenommene Außen
welt bedingte Vorstellungen zu bilden, allmählich
abhanden kam.
.Hier ist der tiefste Sinn des geheimnisvollen
Wortes gegeben:
.«So ihr nicht werdet wie die Kinder,
könnt ihr nicht in das Reich Gottes
eingehen
.Den Kindern ist noch das Himmelreich of
fen, und sie erfassen davon, was ihrer Fassungs‐
kraft erlangbar ist, weil sie noch die Fähigkeit be‐
sitzen, von der Außenwelt unbehelligte Vorstel‐
lungen des substantiellen ewigen Geistigen bilden
zu können, frei nach ihrer Art!
.Wer diese Fähigkeit aber wiedererlangen will
und darum die ihm von mir erteilten Anweisungen
nach seiner Eigenart zu befolgen sucht, der wird
sich darüber klar werden müssen, daß dem freien
und dem Willen unterstellten Bilden von Vor‐
stellungen ewiger göttlich-geistiger substantieller
Wirklichkeit, das nicht willkürliche Erwachen
der benötigten Kräfte vorausgeht.
109 Nachlese
.Er wird sich also auf dem besten Wege zu seinem
Ziele sehen dürfen, wenn sich ihm, ‒ sei es etwa
morgens vor dem ersten Augenaufschlag, oder im
Halbschlaf, oder auch in offener Tageswachheit, ‒
Vorstellungen ohne sein bewußtes Zutun bilden,
die von einem Gefühlsinhalt erfüllt sind, wie ihn
keine der bewußt selbstgewollten physisch
sinnlich bedingten Vorstellungen aufweist.
.Jeder, der es erfährt, weiß sofort, daß es sich
um etwas dem irdischen gewohnten Vorstellungs‐
bereich hoch Entrücktes handelt, ‒ auch
wenn er sich selbst, aus Angst vor Selbsttäuschung,
nicht glauben mag.
.Diese Angst, am Ende sehen zu müssen, daß man
einer Selbsttäuschung erlegen sei, wird in vielen
Fällen auch noch genährt durch ein Verstandes‐
bewußtsein, das immer erneut Anstoß nimmt an der
formalen Simplizität der bewußt gewor‐
denen Vorstellung.
.Aber gerade diese Naivität der Form
bildung weist aufs deutlichste der plötzlich und
vom Willen unabhängig entstandenen Vorstellung
ihren hohen Rang zu!
110 Nachlese
.Die ersten, solcherart spontan gebildeten Vor‐
stellungen substantieller geistiger Wirklichkeit kön‐
nen der Form nach unmöglich bedeutsamer und
vielfältiger sein, als es die letzten, längst ver‐
gessenen aus früher Kinderzeit waren!
.So unbedeutend aber auch die formale Ge‐
staltung der Vorstellung sein mag, so reich erfüllt
kann sie sein mit Beziehungen zur ewigen geistigen
Wirklichkeit, und so bedeutungsvoll kann für den
Wahrnehmenden die göttlich-geistige Bekundung
werden, die er vorerst auf so seltsam primitive Art
erhält...
.Aus solcher ersten Vorstellungsform, die unse‐
rem überreizten und an die Kompliziertheit irdisch‐
sinnlicher Vorstellungen gewöhnten Gehirn gar
leicht als allzu simpel erscheinen will, werden dann
später freilich auch überaus reiche Vorstellungs‐
bilder erstehen. Niemals aber werden die Elemente,
aus denen sie sich in all ihrem Formenreichtum
organisch entfalten, gehirnlich-verstandes
mäßig deutbar sein, denn sie entstammen dem
ewigen «Reiche der einfachsten Zeichen»:
‒ dem «Lande der Wirklichkeit».
111 Nachlese
.Ewig unerfüllbar muß aber auch das törichte
Verlangen bleiben, Göttlich-Geistiges gar
in der gleichen, physikalisch bestimmten Art
erfahren zu wollen, in der wir die Dinge der uns
von Geburt an zur verstandesmäßigen Deu‐
tung gegebenen, physischen Sinnen zugänglichen
und physikalisch zerlegbaren, körperlichen Au
ßenwelt erfahren!
112 Nachlese
BRIEF
AN MEINE GEISTIGEN SCHÜLER
IN den letzten Monaten mehren sich wieder recht
auffällig allerlei aus meinem Schülerkreis stam‐
mende Vorschläge: «was zu tun wäre, was man
selbst tun möchte, falls ich die Zustimmung gäbe,
und was von mir getan werden «könnte», um
meine Schriften auch Menschen nahezuhringen, die
sie noch nicht kennen, oder von denen man wenig‐
stens annimmt, daß ihnen diese Lehrbücher gei‐
stigen Lebens noch nicht nahe gekommen seien.
.Daß alle diese Anregungen vom denkbar besten
Wollen getragen werden, bedarf kaum noch der Er‐
wähnung.
.Man weiß, welchen segensreichen Einfluß man
selbst der Begegnung mit den durch mich verkün‐
deten Lehren dankt, und möchte sie darum auch
anderen Menschen zugänglich sehen, von denen
man annimmt, sie müßten diesen Lehren ‒ wenn
113 Nachlese
sie nur Kenntnis davon erhalten würden ‒ mit
glühender Bereitschaft entgegenkommen.
.Es scheint da gegenwärtig ein von vielen meiner
Schüler heiß gefühlter Wunsch sich zu einem al‐
lenthalben durch die Gehirne schweifenden Vor‐
stellungsbild verdichtet zu haben, von dem nun die
schon geradezu beängstigend zahlreichen Impulse
ausgehen, die jeder Einzelne als nur in sich al
lein entstanden empfindet, wodurch er sich als‐
dann verpflichtet fühlt, mich auf die ihm so be‐
deutungsvoll erscheinenden Möglichkeiten drin‐
gend aufmerksam zu machen.
.Mich aber stimmt diese lebhafte und geradezu
freudige Unruhe meiner Schüler recht traurig,
denn ich muß aus ihr ersehen, in wie geringem
Grade so manches haften bleibt, was ich längst ein
für allemal in allen verankert glaubte, die meine
Bücher kennen.
.Nicht nur die zahlreichen Hinweise darauf, daß
ich im Ewigen lebe, und dem Zeitatom, das die
Dauer meines leiblichen Daseins ausmacht, nur die
Beachtung schenken kann, die seiner Einzelbedeu‐
tung in dem mir geistig offenbaren Ganzen zu‐
kommt, scheinen den freudig, aber inkonsequent
114 Nachlese
auf «Unverhofftes» Hoffenden nicht mehr recht
gegenwärtig zu sein, ‒ sondern auch die ausdrück‐
lich ihren Fehlhoffnungen wehrenden Sätze,
die in dem Buche «Der Weg meiner Schü
ler», Seite 19 bis 25, zu finden sind, allwo doch
unter anderem deutlich gesagt ist: «Wer also in
diesen Dingen richtig handeln will,
der überlasse es den geistigen Mäch
ten, in deren Obhut meine Bücher ste
hen, wem sie zugeleitet werden sollen
.Es ist, als hätte ich alles dort Erörterte niemals
niedergeschrieben!
.Aber wenn ich nicht das bereits so ausführlich
Gesagte hier Wort für Wort wiederholen will, so
bleibt mir nichts anderes übrig, als alle so wohl‐
meinenden Schüler und Freunde zu bitten, doch
die eben bezeichnete Stelle des Buches noch ein‐
mal anzusehen.
.Dort steht deutlich zu lesen, warum ich von
ihren, in jeder Hinsicht doch Gutes bezweckenden
Anregungen keinen Gebrauch machen darf,
wenn ich nicht das von mir in der Arbeit eines
Lebensalters Geförderte selbst aus törichter Eil‐
115 Nachlese
sucht unnötig hemmen will, was mir doch niemand
zumuten wollen wird.
.Zu Eile oder Beschleunigung ist aber auch nicht
der mindeste Grund gegeben.
.Was ich in meinen Schriften niedergeschrieben
habe, kann zwar gewiß auch heute von dafür
geeigneten Menschen aufgenommen werden, ‒
wird aber von diesen keinesfalls so erfaßt, wie
von der Menschheit einer zukünftigen Zeit, die
den psychologischen Moment zeitigen
wird, der das Verlangen nach den verkündeten
Lehren allenthalben dann in jedes Bewußtsein
bringt, das sie braucht.
.Was ich bereits geschrieben habe, und noch ge‐
schrieben haben werde, oder hinterlasse, wenn es
mit meinem leiblichen Erdensein zur Rüste geht,
ist ja nicht «für den Tag» sondern für alle
kommenden Zeiten geschrieben.
.Es kann ganz unmöglich seinen, ihm gemäßen
psychologischen Moment mit Dingen zugleich
haben, für die dieser bereits in der Gegenwart
gekommen ist, ‒ und was jetzt von Menschen
der Zeit durchlebt wird, muß ebenso wie alles an‐
116 Nachlese
dere bereits Vergangene, Vergangenheit geworden
sein, bevor das Kommende zu seiner Zeit er‐
scheint.
.Hier ist jede Besorgnis, daß etwas versäumt wer‐
den, oder gar verlorengehen könnte, ganz über‐
flüssig!
.Aber auch jeder Versuch, das Kommende eher
herbeizuziehen, ist überflüssig und wird das geist‐
gesetzte Geschehen um keinen Augenblick zu be‐
schleunigen vermögen.
.Wer heute bereits erfassen kann, was in den von
mir dargebotenen Lehren gegeben ist, den werden
sie mit aller Bestimmtheit an dem für ihn bestimm‐
ten Tage erreichen, ‒ ohne jede absichtliche
Nachhilfe.
.Die Bücher dieser Lehren sind öffentlich erschie‐
nen, allgemein zugänglich, und daher auf die gleiche
Weise erreichbar wie irgend ein Handwerkszeug
des alltäglichen Lebens. Wer sie bereits brauchen
kann, der findet sie. Man braucht wirklich keine
Angst zu haben, daß sie heute noch irgend einem
Menschen, der die Sprache spricht, in der sie ge‐
schrieben sind, entgehen könnten!
117 Nachlese
.Es sind ja daneben auch bereits zahlreiche geistig
Suchende anderer Muttersprache in allen Welt‐
teilen beim Studium meiner Schriften und der Be‐
folgung ihrer Lehren anzutreffen. Einzelne dieser
räumlich so fernen Schüler wußten mir von wahr‐
haft seltsamen «Zu-fällen» zu berichten, denen sie
es zu verdanken hatten, daß die Bücher ihnen zu‐
gefallen waren, ‒ zum Teil in der deutschen Ori‐
ginalausgabe, zum Teil in den bis heute vorliegen‐
den Uebersetzungen.
.Wer reif ist gefunden zu werden, der wird
gefunden, wo immer er zu finden ist.
.Darum bitte ich meine Schüler und Freunde in‐
ständigst, ganz ohne Sorge sein zu wollen hinsicht‐
lich jener Menschen, denen sie das eine oder andere
meiner Bücher, oder gar gleich alle, lieber heute
als morgen nahegebracht sehen möchten! Und ich
bitte in gleicher Weise darum, alle etwa in der Seele
auftauchenden, mir zugedachten Vorschläge zu ir‐
gend einer über die normale, verlagsmäßig usuelle
Ankündigung hinausgehenden Propagierung mei‐
ner Schriften, ‒ wieder ins Unbewußte sinken zu
lassen! Dort sind sie zweifellos am besten aufge‐
hoben.
118 Nachlese
.Es hat mich überdies auch noch kein einzi
ger Vorschlag erreicht, der nicht lange vorher
schon befolgt gewesen wäre, hätte ich ihn befol‐
gen können. Alles was mir da ziemlich spät «nahe‐
gelegt» werden soll, ist ja wahrhaftig ohnehin schon
‒ recht naheliegend...
.Darum ist es aber noch durchaus nicht auch den
geistigen Gesetzen entsprechend, aus denen ich
lebe, und die allein für alle Auswirkung der in
meinen Schriften durch mich formulierten welt‐
zeitalten Lehren das Maß geben.
.Einen anderen Maßstab zur Beurteilung des‐
sen, was mit dem Meinen geschehen darf oder nicht,
kann ich aber unter keinen Umständen gelten las‐
sen, und noch viel weniger gar selbst gebrauchen!
.Ich bin nicht in der bequemen Lage, alles gut‐
heißen zu können, was von Anderen für gut gehal‐
ten wird, weil es ihnen, von ihrem Einsichts‐
punkte her, als «gut» erscheint.
.Es gibt gar manches, was ich gerne gutheißen
würde, wenn mir das aus geistiger Einsicht her nicht
versagt wäre.
119 Nachlese
.Ich bin und bleibe bestimmt durch meine eigene
geistgegebene Einsicht, und darf nichts «gel‐
ten» lassen, was im Reiche des ewigen Geistes die
Gültigkeit, die es sich selber zumißt, ‒ leider ent‐
behrt.
.Man wird also, wenn man Menschen oder Men‐
schengruppen innerhalb des mir geistig zugehören‐
den Bereiches finden möchte, zuerst sich fragen
müssen, ob ich ihnen den Zugang zu diesen Berei‐
chen offen halten kann?
.Man wird sich klar darüber werden müssen, daß
hier nichts von einer erdbedingten Sympathie oder
Antipathie abhängig ist, sondern nur von der ver‐
pflichtenden Gewalt geistiger Gesetze.
.Hat man aber einmal die hier in Betracht kom‐
menden Faktoren von einem, auch nur einiger‐
maßen unverzerrte Perspektive gewährenden Ein‐
sichtspunkte her erfaßt, dann wird man kaum mehr
Unmögliches von dem Einsatz meiner Kräfte er‐
warten.
.Dann wird man aber auch die Hoffnung zu Grabe
getragen haben, als könne sich jemals das von Natur
aus Inkommensurable zusammenfinden, so sehr
120 Nachlese
man auch solches Begegnen als wünschbar betrach‐
ten und herbeisehnen mag.
.Die Menschen eines jeden Zeitalters sind in
ihrem Wollen, Denken, Fühlen und Empfinden zu‐
gleich Erfüller und Vorbereiter.
.Beide Funktionen sind gesetzmäßig naturbe‐
dingt, und es wäre keine geringe Torheit, von einer
Generation die Erfüllung dessen zu erwarten,
was sie vorzubereiten berufen ist, während
sie das erfüllen muß, wozu frühere Zeitphasen die
Vorbereitung hinterlassen hatten!
121 Nachlese
GEFAHR DER NACHT
ALLES irdisch Erlebbare erreicht dort seinen
höchsten Wert, wo es Symbol wird: Formbild
innerer Lebenszustände.
.Nicht nur außen erlebbar gibt es somit Nacht
und Tag!
.«Nacht» und «Tag» sind in jedem Erdenmen‐
schen, und jeder trägt in sich Entscheidungsgewalt
über die Verteilung ihrer Macht.
.Weh' ihm, wenn er dieser Gewalt entsagt, und
es kommen läßt, wie es kommen mag: ‒ wie Nacht
und Tag sich in ihm bekämpfen wollen, ohne sei
nem Willen sich zu fügen!
.«Fügen» meint hier: ‒ der durch den Willen
des Menschen gewählten Ordnung sich einbeziehen
und die Form erfüllen, die durch solche innere
Ordnung dargeboten ist.
122 Nachlese
.Die Nacht muß im Menschen ihren Gebieter
erkennen, wenn sie ihn nicht verwüsten, und zum
Kampfplatz ihrer eigenen, dem Tage entgegen‐
strebenden Willensauswirkungen werden lassen
soll.
.Die Nacht vernichtet Jeden, der sie nicht be
zwingt.
.Des Menschen geistbestimmter, tages‐
wacher Wille aber wirkt in ihm das Wunder der
Wandlung des nächtigen Tieres zum lichtklaren
Gottesgleichnisbild.
.Wen darf es wundern, daß sich das Tier, das den
Menschen dieser Erde ohnehin als Fronvogt emp‐
findet, gegen solche Wandlung wehrt!?
.Wen darf es wundern, wenn die Nacht, als des
Tieres Genossin, erst alle ihre Schrecken zeigt, be‐
vor sie dem Tage sich endlich ergeben muß!
.Wem das Licht zum Formbild ewiger eigener
Seins-Sicherheit geworden ist, der kann die Nacht
nur noch als dienende Macht in sich dulden.
.Ich kenne die Nacht, wie sie wenige kennen! ‒
Wie nur sehr wenige sie kennen lernen, ward sie
mir lebendige Erfahrung.
123 Nachlese
.Ich weiß alle ihre jemals von Menschen erlebten
heiligen Schauder und überwältigenden Beglük‐
kungen, ihre weltenweite Größe und Höhe, ihre
fromm verzehrende Inbrunst und göttlich bacchan‐
tische Brunst, ‒ ich weiß aber auch um ihre Tük‐
ken und Fallen, um ihre gierende Gemeinheit und
niedrige Geducktheit, ihre Besudelungssucht ge‐
genüber allem, was hell und heiter ist, um ihre gif‐
tigen Dünste und ihre schwirrenden schwarzen
Strahlungen, die allem Verderben wollen, was nur
in lichter Klarheit zu sich selber kommen kann.
.Es muß vieles in harter Selbstzucht aus der un‐
geordneten, triebhaften Sehnsucht des irdisch füh‐
lenden, leicht zu verführenden Herzens für die
Dauer ausgerottet werden, wenn das Böse, das Be‐
lügende, das Zersetzende und Zerfressende, ‒
kurz: das Lebensfeindliche der Nacht, bezwungen
werden soll.
.Aber die Nacht bleibt dennoch Bedingnis des
Tages, wie der Tag Bedingnis der Nacht, und das
darf Vielen zu wahrem Troste gereichen, die sich
bedrückt fühlen durch noch währende Nacht...
.Auch die längste Nacht muß dem Tage wei‐
chen, der aus ihr hervorgeht um sie einst zu über‐
lichten!
124 Nachlese
SELBSTERZIEHUNG
GUTE Erziehung» ist in vielen Fällen nichts
anderes als eine eingelernte Technik des Ver‐
haltens zu seinen Nebenmenschen.
.Man sollte Kinder nicht «erziehen» wollen, son‐
dern sie anleiten, sich selbst zu erziehen.
.Erziehung faßt die Aufgabe der Menschenfor‐
mung von außen an. Selbsterziehung formt von
innen heraus.
.Erziehung erreicht nur dann ihr Ziel, wenn sie
zu Selbsterziehung führt.
.Das ganze irdische Menschenleben ist ein un‐
unterbrochener Aufruf zur Selbsterziehung. Wer
diesem Appell nicht entspricht, dem muß der Sinn
seines Lebens notwendigerweise zum Unsinn wer‐
den.
125 Nachlese
.Aeußerungen mangelnder Selbsterziehung sind
ebenso wenig zu «verzeihen», wie Mücken- und
Wespenstiche, die man zwar gewiß als Belästigung
empfindet, aber nicht als Objekte einer möglichen
Verzeihung.
126 Nachlese
IN GEBUNDENER REDE
Anm.: Zwischen den beiden Auflagen gibt es hinsichtlich Her‐ 00
vorhebung und Zeilenende manchmal geringe Unterschiede. 00
Durch Anmerkungen wird darauf hingewiesen.
Rat
Laß eitle Toren sich um Götter zanken
Und um die Wahrheit, die sie ihnen geben! ‒
Wenn aller Götterlehren Götter längst versanken,
Wirst Du in Dir noch aus der Gottheit leben!
128 Nachlese
Heimkehr
Einst war auch ich vom Dunkel noch
                  umgeben,
Da kam zu mir das Licht,
Und ‒ ich ward Licht...
So fand ich in mir selbst der Gottheit Leben.
Vorher ‒ erkannte ich mich selbst
                  noch nicht. ‒ ‒ ‒
129 Nachlese
Unsterblichkeit
Anm.: Entsprechend der 2.Auflage
Im Sternenlicht
Und im Staube der Erde
Regt sich die gleiche
Lebendige Kraft,
Die auch in Dir
Und mir
Und allen,
Sich selber sich
Zum Bilde schafft. ‒
Du bist in Dir
Aus ihr geboren;
Du lebst,
Weil Du sie selber bist!
Dir ist das Leben
Nie verloren,
Weil sie in Dir
Das Leben ist. ‒ ‒
130 Nachlese
Stimmen
aus dem Geisterreich
Anm.: Entsprechend der 2.Auflage
Die uns verlassen mußten
        Sind uns nicht verloren:
Sie wurden nur zu einem neuen Leben
        Neu geboren.
Wir finden sie dereinst,
        So wie wir hier sie fanden;
Ihr «Tod» war nur die Lösung
        Aus des Leibes Banden.
Das enge Haus der Sinne
        Faßt «den Menschen» nicht:
Er ist ein König
        Und sein Reich ist Licht!
131 Nachlese
Wille zur Wahrheit
«Begreifen»
Heißt: mit jenen unsichtbaren
Urorganen
Die sich
Amoebengleich
Das Menschenhirn
Zu schaffen weiß
Bisher noch Unfaßliches
Nunmehr erfassen:
Greifen
Wie man mit Fingern greift, ‒
Umschließend fühlen, ‒
Durch Betasten
Kennenlernen!
Es ist «begreiflich»,
Daß ihr ungern nur
Begreifen werdet,
Was euch,
Wenn es begriffen wäre,
Eure Tagesträume
Stören müßte...
Und dennoch
Werdet ihr begreifen lernen
132 Nachlese
Müssen,
Wollt ihr nicht immerfort
Zu dem, was ist,
Im Zwiespalt stehen, ‒
Immerfort
Nur Traumgespenstern glauben,
Die euch den Blick verstellen
Auf die Wirklichkeit!
Es liegt an euch allein
Ob ihr begreifen könnt,
Denn jene unsichtbaren
Greiforgane der Gehirne
Bilden sich nur dann
Dem zu Begreifenden entgegen
Um es zu erfassen,
Wenn euer Wille Wahrheit wissen
Will!
133 Nachlese
Das Bleibende
Was du warst,
Bist du ‒ gewesen;
Was du bist,
Das bleibst du nicht...
Erst, wenn du von dir genesen,
Blickst du dir ins Angesicht!
134 Nachlese
Ewigkeitsbestimmtes
Finden
Glaubt nicht, geliebte Freunde,
Daß mein Wort die Vielen meine,
Von denen zwölf ein Dutzend sind
Und tausend eine Schar!
Auch wenn ich Euch
Aus allen Völkern eine,
So kommt doch keiner zu mir,
Der nicht ewig bei mir war!
135 Nachlese
Besorgter
Freundesliebe zugeeignet
Anm.: Entsprechend der 2.Auflage
Schwer wird es Euch, geliebte Freunde,
Zu ertragen, was ich leiden muß!
Schwer wird es Euch auch, zu verstehen,
Daß mir hohe Geisteshilfe,
Ohne die mein Erdenkörper,
Längst nicht mehr im Leben wäre,
Doch nicht dienen kann zur Leidbefreiung,
Weil solche Hilfe Hemmung meiner
                  Selbstkraft würde.
Ihr wißt jedoch, daß ich zu sagen kam:
«Alles Leid ist Lüge
Darum, geliebte Freunde,
Muß das Leid von mir «entwertet» werden!
Wohl kenne ich Wege, um geistgesichert
Allem Leide «aus dem Wege» zu gehen, ‒
Aber diese Wege sind die meinen nicht!
Ich muß erfahren,
Was an körperlichem Leid
Für mich erfahrbar ist,
Sonst könnte ich niemals
Im Leid die Lüge bannen,
Die ich niederringen muß,
136 Nachlese
Will ich für Euch und Andere
Das Leid «entwerten»...
Freut Euch, geliebte Freunde!
Freut Euch mit jedem Tage,
Den ich in körperlichen Leiden
Euch gegenwärtig bleibe: ‒
Erdgebunden im Erdenleibe
Wie Ihr!
137 Nachlese
Irdische Behinderung
Aerger als alle leibliche Plage
Ist mir die Häufung hellklarer Tage,
Die meinem Leben verlorengehen,
Weil sie mich ohne die Kräfte sehen,
Das, was der Geist mir gibt, zu gestalten,
Und das Verschwebende festzuhalten,
Das alle geistigen Räume erfüllt
Und sich nur blitzhellem Schauen enthüllt...
Strahlender Wanderer, walle ich weiter, ‒
Ewige sind meine steten Begleiter, ‒
Ewiges ist meines Alltags Erleben, ‒
Doch es läßt sich nicht weitergeben!
Schmerzmüde wehrt sich irdisches Denken,
Mir die Gedankenformen zu schenken,
Denen ich anvertrauen müßte,
Was ich dem Denken zu geben wüßte.
138 Nachlese
Geistige Verbundenheit
Gönnt mir Ruhe der Gedanken,
Liebe Freunde,
Aber ‒ laßt mich nicht zu selten
Von Euch hören!
Ruhe, wie ich sie vonnöten habe,
Gibt mir nur die Nachricht,
Die mich stetig unterrichtet,
Wie es Euch ergeht! ‒
Im Seelischen und Leiblichen! ‒
Was mir mein eigenes Erschauen sagt,
Bleibt streng in jenen Grenzen,
Die der ewigkeitsgezeugte Geist sich zog.
Wenn Ihr mir nichts von Euch berichtet,
Weiß ich Anderes nicht von Euch!
Ich aber möchte alles von Euch wissen,
Was Ihr um Euch selber wißt!
Wahrhaftig nicht aus Gier nach Neuigkeiten,
Sondern nur allein, damit ich weiß,
Wo jeweils Geisteshilfe nötig ist!
Die aber werdet Ihr empfangen,
Auch wenn Ihr ‒ notgedrungen ‒
Keine Zeile meiner Hand,
Und nichts, was ich in Worte formte,
Von mir empfangen werdet!
139 Nachlese
Orient und Okzident
Wenn ich im Morgenlande leben würde,
Wüsste man,
Daß ich zwar alles aufzunehmen willig bin,
Was meine Freunde mir zu senden trachten,
Daß ich jedoch bei aller Anteilnahme
Bleiben muß in dem, was «meines Vaters» ist...
Abendländische Lebensweise
Weiß solches «Bleiben» sehr zu behindern.
Der Mensch des Abendlandes ahnt nicht,
Wo die Grenzen liegen,
Die Irdisches von Ewiglichem scheiden...
Doch auch im Abendlande
Läßt sich nicht umgehen,
Was ewiges Gesetz gebietet,
Wo immer einer derer lebt,
Die Ewiges dem Irdischen vereinen!
140 Nachlese
Erkennungszeichen
Der Mann, der von «Wundern»
.wirklich was weiß,
Geht nur über's Wasser ‒
.auf Brücken und Eis.
Auch auf Schiffsplanken
.mag er sich heiter ergehn,
Doch nie wird er sich
.ein Mirakel erflehn!
141 Nachlese
Steine
Nicht um einen Schatz zu heben,
Den man könnte kunstvoll schleifen,
Wagt' ich oft genug das Leben
Irgend einen Stein zu greifen,
Wenn in südlichem Gefilde
An der Wege Felsenrinnen
Mir sich zeigte Steingebilde,
Nur beschwerlich zu gewinnen.
Liebe ich auch Edelsteine,
Goldgefaßt und wohlgeschliffen,
Hat mich doch auch oft die Reine
Eines Kieselsteins ergriffen.
Gingen Tausende die Straße,
Die den armen Stein verlachten,
Hob ich doch ihn aus dem Grase
Ihn voll Ehrfurcht zu betrachten.
Steine soll man nie verachten!
Liegen sie auch jetzt im Kote
Bleibt doch jeder Gottes Bote:
Hingestreut auf allen Wegen
Bergen sie noch Kraft und Segen.
142 Nachlese
Verborgener Quell
Lasse, o Sucher,
Dem Hindu All-Brahma, ‒
Buddha und Padmasambhâva
dem Lama, ‒
Glaube dem Moslim:
«Allah il Allah», ‒
Ehre das Kreuz
Und das heilige Buch!
Achte bei Allen
Das gläubige Suchen!
Was aber alle
Nicht finden, ‒
Das such'!
143 Nachlese
Höchste Herkunft
Anm.: Entsprechend der 2.Auflage
Du, Mensch der Erde,
Bist nicht «Gott»!
Doch, magst du auch
Der ärgste Frevler sein,
So bist du doch aus Gottes Art: ‒
Aus Gottes Mutterschoß und Samen, ‒
Und birgst in dir verborgen
Gottes Namen.
Wirst du einst dieses Namens wahrhaft inne,
So öffnen sich dir ungeahnte Sinne: ‒
Du lernst dich selbst in Gottes «Namen» nennen.
Und in dir selber deinen Gott erkennen. ‒
Dann bist du allem Nichtigen entwunden,
Und deine Seele hat sich heimgefunden. ‒
144 Nachlese
Notwendiges Irrenkönnen
Anm.: Entsprechend der 2.Auflage
Verachtet euer Irren nicht,
Ihr Wanderer zum Licht!
Ihr würdet niemals euer irdisches Erkennen
In der Wahrheit wissen,
Wäre vordem nicht durch euer Irren
Euch das Maß gewiß geworden,
An dem Wahrheit zu ermessen ist!
Vornehmlich aber darf euch allen
Euer Irrenkönnen gut gegründet gelten,
Weil es aus Gott: ‒
Der un-bedingten Wahrheit ‒ stammt,
Die sich in ihren zeit-bedingten Welten
Selbst die Möglichkeit des Irrens schuf,
Um Irrendes auf wunderbaren Wegen
Immer wieder in sich zu erreichen, ‒
Folgend eigenem myriadenfachen Ruf. ‒ ‒
145 Nachlese
Trost
ist nicht draußen!
Suche der Seele Tröstung
.nicht bei Andern, ‒
Im Wahn befangen:
.Trost sei zu «erwandern»!
Trost ist nicht nahe,
.Trost nicht fern zu finden,
Solang noch Grimm und Groll
.die Seele binden!
Will sie nicht aus sich selbst
.getröstet werden,
Wird ihr gewiß kein Trost
.zuteil auf Erden! ‒ ‒
146 Nachlese
Friede
Das, was die Dichter ‒ müde matter Streite....
.unter sich wohl «Friede» nennen,
Das ist der Friede,
.so wie ich ihn bringe,
.wahrlich nicht!
Wollt ihr auf Erden schon
.zu meinem Frieden kommen,
So suchet in euch selber
.mich ‒ in lauterklarstem Licht ‒ !
Selbst dort, wo wahntoll
.blutbefleckte Leiber
.und verstörte Erdenseelen kämpfen,
Spricht noch mein Friede frei
.vor ewigem Gericht!
147 Nachlese
Augenwanderungen
Ihr heiterfrohen Berge
Wein- und Baum-begrünt,
Die ihr in herben Bogen bald,
Und bald wie Felsenburgen
Meinen See umsiedelt, ‒
Ihr kennt ihn lange schon,
Den Wanderer, der schauend
Euch umschreitet,
Und seines Auges lichte Blicke
Weit im Schauen weitet,
Wenn er euch wiederum und wieder
Ueberwandert,
Damit er eure Gipfel, eure Schrunden
Zärtlich zart betaste,
Nachdem er ‒ fern auf seiner Lagerstatt
Mit seinem Auge euch berührend ‒
Sehnend euch umfaßte!
148 Nachlese
An die Säulen des Parthenon
Anm.: Entsprechend der 2.Auflage
Lange sah ich euch nicht mehr:
Lichte aus Lichtem gewonnen!
Reine aus Reinstem geronnen!
Ihr Säulen des Parthenon! ‒
Lichthelle bergend im Innern,
Von außen her honig-gelb
Patina übersponnen.
Lange schon sah ich nicht nächtlich
Das Mondlicht euch übergießen,
Und euer eigenes Leuchten
In seine Helle zerfließen! ‒
Wann aber wollte wohl einer
Euch, Lichte, jemals vergessen,
Der, euren Klängen ergeben,
Zu euren Füßen gesessen?!
149 Nachlese
WER IST BÔ YIN RÂ?
OBWOHL alles, was nötig sein kann, um ei‐
nen Menschen zu rubrizieren, längst dort
verzeichnet steht, wo man nach derlei Dingen, so‐
weit sie Bücherautoren betreffen, zu suchen
pflegt, dürfte ich doch selbst am besten über mich
Bescheid wissen. Das wäre mir aber noch lange
kein Grund dafür, von mir selbst hier zu reden,
wenn nicht Schweigen zu allem, was als Legende
umläuft, als Billigung ausgelegt werden könnte.
.Daß ich nicht ein «chinesischer Dichter» bin, als
den man mich allen Ernstes in einer Wiener Zei‐
tung feierte ‒ und Gustav Meyrink, der einst ein
Vorwort zu meinem «Buch vom lebendigen Gott»
geschrieben hat, daneben als «Entdecker» dieses
Zeitgenossen aus dem Reiche der Mitte ‒, hätte
dem freundlichen Rezensenten ein Blick in den
«Kürschner»* allerdings sagen können.
* Kürschners Deutscher Literatur-Kalender, Berlin und Leipzig
150 Nachlese
.Bedenklicher wird schon die Lesart, ich sei von
«buddhistischen Mönchen» erzogen und «von Fa‐
kiren ausgebildet» worden.
.Dagegen läßt es sich immerhin verstehen, wenn
Buchrezensenten mit wichtiger Betonung ver‐
künden, daß ihr Wissen um meinen deutschen
Familiennamen: Schneiderfranken ihr günstiges
Urteil weiter nicht behindern könne.
.Dem allem gegenüber glaube ich doch die
Pflicht zu haben, einmal auszusprechen, daß ich
meinen Namen Bô Yin Râ mit mindestens der
gleichen Berechtigung trage, wie ein anderer
etwa sein Adelsprädikat. Es handelt sich hier nicht
um ein frei gewähltes «Pseudonym», sondern um
den Namen, der mir einst von Menschen gegeben
wurde, denen ich enger als allen anderen ‒ ja en‐
ger selbst als meiner Familie ‒ verbunden bin, so
daß er denn auch ohne jeden weiteren Zusatz in
meinen wichtigsten behördlichen Papieren ganz
in gleicher Weise wie der Familienname er‐
scheint.
.Wie jene Menschen in mein Leben traten, habe
ich selbst in meinem Buch der Gespräche mit aller
hier erlaubten Deutlichkeit erzählt. Ich spreche
dort gewiss von asiatischen Ariern und Mongolen,
151 Nachlese
aber weder von «Fakiren» noch von «buddhisti‐
schen Mönchen»!
.Ich sprach in meinen Büchern so oft von der
Art dieser geistigen Vereinigung, daß ich hier
wohl mich damit begnügen darf, zu sagen: ‒ es
handelt sich keineswegs um die Vertreter irgend‐
einer östlichen Religion, Theo- oder Philosophie,
sondern um nichts Geringeres als den seit der Ur‐
zeit stets verborgenen und streng gehüteten gei‐
stigen Tempel, der, von Weisen aller Zeiten stets
vermutet, aber nur von Seltenen gekannt, in Ver‐
bindung mit allen geistigen Strömungen in der
Menschheitsgeschichte stand, soweit sie, über die‐
ses Erdenleben hinaus, die Rätsel der Ewigkeit zu
erforschen suchten.
.Daß ich ein Glied dieses geistigen Kreises
wurde, ist wahrlich nicht mein Verdienst. Ich
hatte nie den sonderbaren Ehrgeiz, ein «Heiliger»
zu sein und wäre auch als ein solcher keinesfalls
diesem Kreise nahegekommen. Mit ihm verbun‐
den aber ward mir die Pflicht, in diesen Tagen al‐
len Suchenden zu künden von dem, was sich mir
auf eine Art enthüllte, die jenseits von allem intel‐
lektuellen Erschließen ist. So entstanden die Bü‐
cher, die meinen Namen tragen und die ich nur
unter diesem Namen geben durfte, da wahrlich
meine bürgerliche Herkunft nichts damit zu tun
152 Nachlese
hat, daß ich sichere Kunde von den Dingen brin‐
gen kann, die in diesen Schriften behandelt wer‐
den.
.Literarischer Ehrgeiz lag mir von Anfang an
fern, und Broterwerb brachte mir seit Jahrzehn‐
ten eine andere Tätigkeit, die sich genugsam auch
heute warmer Anteilnahme erfreut.
.Wenn ich auch dort, wo es nicht unerläßlich ge‐
boten ist, mit dem mir gewordenen Namen
zeichne, so drückt dies nichts anderes aus, als daß
ich mich ihm weit enger als meinem Familienna‐
men verbunden weiß, was wieder Folge innerer
Einheit ist, die in dem nur eigene Geistesart nach
uralten Lautwertgesetzen bezeichnenden Namen
allein sich selbst erkennt.
.Denen, die auch um meine äußere Herkunft
wissen wollen, aber sei gesagt, daß ich vom Vater
wie von der Mutter her aus alter, christlicher Bau‐
ernfamilie Mitteldeutschlands stamme.
.Ich wünschte aber, daß die Tausende, die
meine Bücher lesen, mehr nach dem Inhalt als
nach dem Autor fragten.
153 Nachlese
ZANONI
IM «Talisverlag» (Verlag Magische Blätter) ist
jetzt ein sehr schöner Neudruck des Bulwer‐
schen Romans «Zanoni» herausgekommen, einge‐
leitet und mit einem aufschlußreichen Nachwort
versehen durch den Münchner Dichter Hans
Christoph Ade*, den man wohl heute als besten
Kenner und Deuter des seltsamen Bulwerschen
Romans ansprechen muß.
.Man erwarte nun hier keine Buchrezension!
.Ich wiederhole, was ich vielen Einzelnen, ‒ Ver‐
legern und Autoren, ‒ stets wieder sagen mußte:
daß es im Rahmen der mir gebotenen Zeit völlig
unmöglich ist, Bücher zu lesen und noch weniger,
sie zu rezensieren, daß ich aber auch keineswegs
meine Aufgabe darin sehe, dies zu tun.
So muß ich auch hier nun die Rezension einer an
deren Feder überlassen, so sehr es mich reizen
* szt. Redaktor der «Magischen Blätter», Leipzig.
154 Nachlese
könnte, sie zu schreiben, denn es ist durchaus nur
sehr Erfreuliches über diese Neuausgabe und ihre
Bearbeitung zu sagen; besonders aber muß ich
der Deutung, am Schluß meine freudigste Aner‐
kennung zollen.
.Das Buch war eine äußerst angenehme Überra‐
schung für mich, obwohl ich aus Ankündungen
von seiner Vorbereitung wußte, und wenn ich
nun sein Erscheinen zum Anlaß nehme, einiges
zu sagen, so handelt es sich mir darum, unzählige
Briefe, die ich sicher jetzt wieder erhalten würde,
aber dem Einzelnen nicht beantworten könnte, im
voraus von mir abzuhalten, wobei mich hoffentlich
die Post der verschiedensten Länder nun nicht für
den so entstehenden Ausfall haftbar machen
wird.
Ich gestehe also gleich zum Anfang, daß ich dem
«Schlüssel» den Hans Christoph Ade dem «Za‐
noni» mitgibt, an keiner Stelle etwas zuzufügen
hätte.
.Ich kann auch nur dem Bearbeiter Zustim‐
mung geben, wenn er deutlich darauf hinweist,
daß dieser Roman kein Lehrbuch der Magie und
noch viel weniger etwa die ‒ wenn auch verhüllte
Darstellung einer außerhalb der Phantasie des
155 Nachlese
Dichters von ihm erlebten Wirklichkeit ist, ganz ge‐
wiß auch keine Lehre darbieten will, die zur Erlan
gung geistiger Erkenntnis führen könnte.
Es ist nötig, das ausdrücklich zu betonen, wie es
auch immer wieder nötig ist, daraufhinzuweisen,
daß Bulwer selbst weder ein «Rosenkreuzer» war,
noch zu solchen in Beziehung stand, wie es denn
überhaupt keinen mißbrauchteren Namen gibt
als den der «Rosenkreuzer», die einstmals eine
sehr harmlose Aufklärergesellschaft waren, durch die
Zeitverhältnisse gezwungen, sich im Geheimen nur
zu etablieren, und die da doch gar sehr bedenk‐
lich ihre Häupter schütteln würden, könnten sie
heute hören, was Phantastik und Wundersucht, mit
kategorischer Bestimmtheit, ihnen alles nachzu‐
sagen weiß. ‒ ‒
.So wie aber heute nun sich alle möglichen Ver‐
einigungen «Rosenkreuzer» nennen, oder gar be‐
haupten, deren «Schriften» zu besitzen, wenn sie
im Antiquariatsbuchhandel ein paar wunderlich
okkulte Schmöker, angefüllt mit krausen Wortge‐
bilden und absonderlich gebildeten Emblemen
aufgestöbert haben, ‒ so war es auch ganz im Stile
der Zeit, wenn sich Lord Lytton Bulwer eine Fiction
für seinen Roman erfand, in der die armen «Ro‐
156 Nachlese
senkreuzer» etwas etikettieren mußten, was ohne
solches Namensschild Erklärungen erfordert
hätte, die der Autor niemals geben konnte.
Wie Ade, in klarer Erkenntnis der Zusammen‐
hänge, es sehr deutlich darlegt, war Bulwer zwar
in vielen Dingen gut unterrichtet, von denen freilich
die «Rosenkreuzer» wenig wußten, und die auch
gar zu weit von ihren, heute längst in allgemeiner
Übung stehenden Methoden, die Natur in ihre
Elemente aufzulösen, abgelegen waren, ‒ aber
Bulwers Wissen war ihm erst aus dritter Hand ge‐
worden, und Allzuvieles blieb ihm noch ver‐
schleiert, so daß ihm schließlich all sein Wissen
und Erleben nur noch abrundbar erschien in
künstlerischer Darstellung.
Es verbirgt sich hinter dem so wenig romanhaf‐
ten Roman «Zanoni», wie hinter der «seltsamen Ge
schichte» des «schwarzen Magiers» Margrave, weit
mehr an wahrlich überaus bitterer Resignation, als
der nichtunterrichtete Leser dieser Werke ahnen
mag! ‒ ‒
.Auch Lord Lytton Bulwer hatte, wie so mancher
andere, gesucht, und das Gesuchte nicht gefunden,
157 Nachlese
da er sich nicht genügen hatte lassen an dem, was
ihm gegeben worden war, und so auf falsche Fährte
geriet, auf der ihn seine erste Führung dann verlas
sen mußte...
.Die Tragik eines Menschenlebens erhebt sich ‒ nur
leicht verhüllt ‒ hinter Bulwers zwei so sehr ge
heimnisvollen Dichterwerken, die aus der überrei
chen Produktion dieses genialen Schriftstellers
und Staatsmannes, der übrigens auch des Deut
schen vollendet mächtig war und nie seine Sympa‐
thie für Deutschland verleugnet hat, recht son‐
derbar herausragen. ‒
.Die Originalausgabe seines «Zanoni» zitiert auf
dem Blatt vor der Einleitung ein heute unbe‐
kanntes Wort: «Kurz, ich konnte weder Kopf noch
Schwanz daran anbringen». (Der Graf von Gabalis)
als Motto.
.Dieses Wort aber ist hier mehr als seine scherz‐
haft klingende Form vermuten läßt! ‒
.Hier ist ein Selbstbekenntnis Bulwers ausgespro‐
chen, ‒ das Selbstbekenntnis eines Menschen, der
berechtigt war, die ersten Weihen zu empfangen
und sich dann selbst um dieses Recht betrogen
hatte, so daß ihm von allem, was man ihm bereits
gegeben haben mochte, nur ein Torso übrig blieb,
aus dessen Anblick immer neue Qual erwuchs,
weil er nicht zu vollenden war! ‒ ‒ ‒
158 Nachlese
In kurzen, dürren Worten gesagt: ‒ Bulwer war
indirekt einst, und durch einen Mittelsmann, in den
Führungsbereich der «Leuchtenden des Urlichtes»
gelangt, hatte sich aber später durch andere Ein‐
flüsse irreführen und von Menschen, denen seine
erste Führung fremd war, zur Ausübung experimen
teller, niederer Magie verleiten lassen, so daß seine
erste Führung ihn fallen lassen mußte. ‒
.Wahrlich, kein Einzelfall, ‒ aber dennoch hier be
sonders bedeutungsvoll, da der künstlerische Nieder
schlag dieses Erlebens vorliegt!
.Bedeutungsvoll vor allem, weil hier ein Dichter
nicht nur einen Stoff behandelt, den er von Ande
ren hat, sondern seinem eigenen Erleben künstleri‐
sche Form zu geben sucht, und weil unendlich viel
aus seiner Darstellung zu lernen ist, wenn man sie
recht verstehen will! ‒ ‒
.Und darum ist die durch Ade besorgte und von
manchem allzubehindernden, zeitbedingten Bal‐
last in kluger Weise befreite, leicht lesbare Neu‐
ausgabe des «Zanoni» so sehr zu begrüßen, ganz
abgesehen von der durchaus auf sicherer Fährte
schreitenden Deutung, die Bulwers Werk zum er‐
stenmale so sehen lehrt wie es gesehen werden
muß, soll es nicht zum «Steinbruch» für die wil‐
159 Nachlese
den Groteskbauten irrer Phantasterei erniedrigt wer‐
den! ‒ ‒ ‒
.Allen aber, die nach der Lektüre dieses immer
wieder neuen Buches, das man des öfteren lesen
muß, um seine Winke zu verstehen, nun an mich
schreiben möchten, um Gewißheit zu erhalten, ob
sie auch «die Symbolik recht verstanden» hätten, muß
ich hier sagen, daß mir Anderes zu tun obliegt, als
ihnen einen Kommentar zu geben, so daß sie Ant‐
wort nicht erwarten dürfen.
.Wie Ades Nachwort sie so richtig belehrt,
kommt es bei diesem Buche keineswegs auf die Ent
hüllung der Symbole an!
.Bulwer gebrauchte die Symbolwelt die er sich
geschaffen hatte, viel zu souverain, als daß es nicht
sofort den ärgsten Irrtum fördern würde, wollte
man sie einheitlich zu «deuten» suchen. ‒
.Sie ist ihm auch nicht dazu da, «Bedeutungen»
zu schaffen!
.Als wahrhaft großer Mensch bewahrte er auch
nach der Abirrung von seinem Wege, dem, was er
einst erlebend zu empfinden sich gewürdigt sah, die
höchste Ehrfurcht, so daß es seine stete Sorge blieb,
Erlebtes zu gestalten und dennoch zu verhüten, daß
etwa ein Symbol in klarer Weise deutbar werden
160 Nachlese
könnte, da er aus eigener Erfahrung wußte, daß
nicht jeder für den Weg zur Wahrheit schon berei
tet ist, und außerdem die Grenzen respektierte, die
ihm von früherher gezogen waren. ‒
.So schafft er sich Symbole, die das Sensations
bedürfnis derer zu befriedigen vermögen, die
doch nicht fähig wären, jenen Weg zu gehen, den er
selbst im Irrtumswahn dereinst verlassen hatte...
.Und in der Einleitung läßt er den seltsamen Ge‐
währsmann, den er sich erfand um die Fiktion zu
stützen, daß er nur fremde Handschrift übersetze,
von dem Werke sagen:
«Es ist eine Wahrheit für die, welche es verstehen
können, und ein Unsinn für solche, die es nicht kön‐
nen.» ‒ ‒ ‒
Also hat es auch gar keinen Zweck, bei mir anzufra‐
gen, ob man sich in der «Deutung» der Symbolik
Bulwers irre, oder nicht!
.Entweder, man gehört zu jenen, die aus diesem
Buche Wahrheit schöpfen, oder man wird nur Un
sinn fördern, indem man durch versuchte «Deu
tung» der Symbolik das zu finden hofft, was nur
durch Verstehen der Gestaltung des Erlebens fühl‐
bar werden kann. ‒ ‒ ‒
161 Nachlese
Sehr oft ist überdies im Buche reichlich von Din‐
gen die Rede, die sehr geheimnisvoll erscheinen,
und doch nur um des künstlerischen Spieles willen
eingeflochten wurden, während an anderen Stel‐
len scheinbar völlig unbedeutendes Geschehen tiefe
Weisheit in sich birgt. ‒
.Wer hier belehrt sein will, der lasse sich nicht
von der Neugier plagen, ob dies und jenes sich auf
wirkliches Geschehen gründe, oder was es als Symbol
bedeute!
Er halte fest, daß ‒ wie auch Ade klar erkannte
und in seinem Nachwort darlegt ‒ «Zanoni» und
«Mejnour» zwei Typen, ‒ oder wenn man will, zwei
Auswirkungsformen, ‒ im Symbol, als Handelnde zu
zeigen suchen, die jederzeit und stetig eng verbun
den, in der Vereinung aller «Leuchtenden des Ur
lichts» wirken.
.«Zanoni» repräsentiert den mehr zur Milde nei‐
genden, alles miterfühlenden Pol, «Mejnour» dage‐
gen den Pol des strengen Gesetzes, der sich vom
Erdenmenschlichen isolieren muß, und nur durch
den anderen wirkenden Pol der Milde und des Er
barmens noch mit der Menschheit in Verbindung
bleibt.
162 Nachlese
.Gewiss sind beide Pole im Buche nicht immer ganz
richtig gezeichnet, aber im Wesentlichen bleiben sie
stets gut bestimmt und erkennbar.
.In Glyndon aber ist der Suchende dargestellt, der
sich zuviel vertraut und sich aus eigenem Willen
aus der schützenden Nähe des Poles der Milde in
den überstrengen Bereich des Poles harter Gesetz
lichkeit begibt, allwo er die Probe nicht besteht,
sich vom niederen Magischen anlocken läßt und
schließlich dadurch alle weitere Führung verliert.
Da Bulwer über die wahre Natur Zanonis und
Mejnours, ‒ auch als Einzelgestalten ihrer Art be‐
trachtet, ‒ nicht sprechen durfte, ohne Eidbruch zu
begehen, so sucht er ihre Sonderstellung auf eine
phantastische Weise darzustellen um sie dem Leser
empfindbar zu machen.
.Sehr vieles bleibt daher reine Allegorie, oder
deckt sich nur dann noch, wenn man es quasi «rück
übersetzt», in gewisser veränderter Form mit der
Wirklichkeit.
.Wirklich wichtig aber bleibt dem Autor stets nur
das Erleben, zu dem er seinen Leser durch Er‐
weckung des Mitempfindens zwingt! ‒
163 Nachlese
.Er will nur als Gestalter wirken, nicht als Lehren
der.
.Alles, was er etwa lehrend sagen zu müssen
glaubt, faßt er in kurze Zitate, die er jeweils den
Kapiteln mit auf den Weg zum Leser gibt.
Ich wünschte, daß recht viele dieser Leser nicht eher
ruhen möchten, als bis sie das Buch sich restlos zu
eigen machen konnten!
.Es glaube aber keiner, daß ich die Verpflich‐
tung hätte, oder auch nur gesonnen sei, ihn, über
das hier Gesagte hinaus, noch in Einzelheiten zu
belehren!
.Der Roman «Zanoni» ist ein Buch, das aufrütteln
und erwecken kann, und, wenn es recht verstanden
wird, auch die Gefahren meiden lehrt.
.An Hand des Buches aber letzte Wahrheit aufzu‐
zeigen, hieße die Wahrheit wie das Buch mißbrauchen,
und wäre ein Versuch am untauglichen Objekt! ‒
.Und nun: ‒
.Nimm und lies!
164 Nachlese
«WIE SIE IHN SAHEN»
EIN FUNDBERICHT
(«Jesus, wie sie ihn sahen» von C. A. Bernoulli)
ES geht hier um ein Buch, aber nicht in der Ab‐
sicht, dieses Buch zu rezensieren, denn dazu
müßte ich selbst Religionshistoriker sein, wie sein
Verfasser.
.Es geht um ein Buch, das ich allen Lesern mei‐
ner eigenen Bücher in die Hände wünsche!
.Besonders aber denen, die am «Schriftwort» lei
den, seitdem sie nicht mehr jene Form der «Wahr‐
heit» in den Evangelien gesichert finden, die ih‐
nen heute stenographisch aufgenommene Parla‐
mentsberichte und Gerichtsverhandlungsakten
etwa darzubieten haben...
.Das Buch, dem ich hier Zeugnis geben muß,
weil ich als Schuld empfinden würde, nicht von sei‐
ner Existenz zu sprechen, ist mir selbst vor wenig
Wochen erst bekannt geworden.
.«Jesus, wie sie ihn sahen» nennt Carl Albrecht Ber
noulli, als Autor, dieses lebendige lebenwirkende
Werk!
165 Nachlese
.Als ich zum erstenmal den Titel las, war mir
zwar wohlbewußt, daß eine religionshistorische
Forscherarbeit vorliegen müsse, deren Daten
man vertrauen könne, wie man nur dort vertraut,
wo man bereits Bestätigung empfing.
.Vor vielen Jahren hatte ich solche Bestätigung
bereits erhalten, als eben Bernoullis Darstellung
der Freundschaft zwischen dem ihm selbst nah
befreundeten Franz Overbeck und Friedrich Nietz
sche erschienen war, und mein Vertrauen konnte
sich nur vertiefen durch den Einblick in das drei‐
bändige Werk über J.J. Bachofen, dem vor einigen
Jahren Bernoulli, als genialer Plastiker des Wor‐
tes, ein Denkmal schuf unter dem Titel «Urreligion
und antike Symbole».
.Wer diese Dinge dergestalt zu deuten wußte,
wie Carl Albrecht Bernoulli, der hatte auch gewiß
außerordentliches zu sagen, wenn er über die
drei ersten Evangelien und den Jesus ihrer Schil‐
derung schrieb.
.Jedwede Erwartung aber wurde weit übertrof‐
fen, als mir das neue Werk dann endlich vor Augen
kam...
.Ich wiederhole, daß ich mich nicht berufen
fühle, dieses Buch über «Jesus, wie sie ihn sahen»
vom religionshistorischen Standpunkt aus zu würdi‐
166 Nachlese
gen, auch wenn ich nicht leugnen darf, doch im‐
merhin ziemlich ausreichend beraten zu sein
über den Stand der Textklarstellung des «Neuen
Testamentes» durch unvoreingenommene For‐
scherarbeit.
.Mir ist das Buch des großen Basler Gelehrten
als Werk der Darstellung so überaus bedeutungs‐
voll, daß ich Verpflichtung fühle, eindringlichst
darauf hinzuweisen.
.Ich kenne kein literarisches Bildnis des «größ‐
ten Liebenden», das ihm auch nur entfernt so «ähn
lich» wäre wie die plastische Gestaltung, die Ber‐
noulli aus dem sorglichst gereinigten Bildhauer‐
ton der Synoptikertexte erwachsen ließ!
.Da ich ja hier zu Menschen rede, die bereits aus
meinen Schriften wissen können, welche Weise
des Vergleichens mir eröffnet ist, so brauche ich
wohl nicht aufs neue darzulegen, was mein Urteil
sichert, gilt es ein Bild des Meisters von Nazareth
an der Wirklichkeit zu messen...
.Wohl aber muß ich vor dem Irrtum warnen, als
könne Forscherarbeit und geniale Intuition aus
dem in Evangelientexten eingestreuten, leidlich
sicher auf Bericht Mitlebender hinweisenden Le‐
gendenschatz jemals ein Jesusbild gestalten, das
in allen seinen Zügen sich mit der Gestalt des Man‐
167 Nachlese
nes decken würde, der vormaleinst im alten Palä‐
stina lehrte, litt und als Gemarterter am Kreuze
starb, wonach man ihm dann selber seine Tempel
baute.
.Es ist schon Unschätzbares aufgestellt, vermag
hier Forschung und Gestaltungskraft ein Bild zu
schaffen, das in gewissen psychologisch wichtigen
Zügen Ähnlichkeit erreicht!
.«In die Sphäre des Geheimnisses kann die Forschung
nicht vordringen...» sind Bernoullis eigene, Gren‐
zenklarheit schaffende Worte.
.Es liegen uns nur alte «Lehr»-Kunden, aber kei‐
neswegs wirkliche «Ur»-Kunden vor, so daß es zu‐
erst unsäglicher, mühereicher Kleinarbeit vieler
Forschender bedurfte, um nur das Wenige zu si‐
chern, was vielleicht Anspruch erheben kann, als
Nachhall ursprünglicher Kunde zu gelten.
.Bernoulli prüft nun mit äußerster Vorsicht das
schon von Anderen gesichtete Wortmaterial aufs
neue, immer sorgsam untersuchend, ob nicht da
oder dort ein Satz die ‒ wenn auch reichlich aus‐
gebleichte ‒ Ursprungsfarbe trage.
.So sichert er nicht nur seinem Bildnerstoff die
Dauer, sondern gibt auch dem Leser, der stets sol‐
168 Nachlese
cher Nachprüfung beiwohnt, selbst gewisse Ur‐
teilsmöglichkeiten an die Hand.
.Zudem sind die Stellen der alten Texte stets in
der gesichertsten Übersetzung deutlich im Druck
hervorgehoben und immer zugleich auch die
minder wichtigen Verse vermerkt, für den, der
sie selbst vergleichen will.
.«Jesus, wie sie ihn sahen», ist durchaus das Buch
eines an strengste Wissenschaftlichkeit gewöhnten
Geistes, obwohl es etwas völlig anderes ist als
«trockene Wissenschaft».
.Auch der keineswegs «wissenschaftlich» Gebil‐
dete wird von den Seiten dieses Buches kaum los‐
kommen können, so krafterfüllt und lebenerre‐
gend wird auf ihn eingesprochen, und wenn ihm
schon wirklich da und dort ein Fachwort der Ge‐
lehrsamkeit noch unbekannt ist, dann braucht er
nur weiterzulesen, um es durch den gegebenen
Zusammenhang verstehen zu lernen.
.Aber kein Leser darf vergessen, daß sich der
Forscher nur an das im Schriftwort Gegebene zu hal‐
ten hat, so daß denn auch hier nur gezeigt werden
kann, was der Wissenschaft zugänglich ist und je‐
derzeit nachprüfbar.
169 Nachlese
.Aus diesem Material allein darf der Künstler im
Gelehrten dann das Bild vergangenen Lebens ge‐
stalten, so wie es sich seiner Gestaltungskraft er‐
gibt.
.Carl Albrecht Bernoulli ist nicht nur Historiker
und souveräner Wortgestalter, sondern auch siche‐
rer Psychologe, der in allen Sondergebieten dieser
Spezialwissenschaft die benötigten Schächte und
Stollen genauestens kennt, und so begibt es sich
denn hier, daß der Historiker gleichsam mit der
Wünschelrute sucht, bis er die Goldverstecke auf‐
gefunden hat, die dann der Psychologe sorgsam
auszuwerten weiß, um endlich dem Künstler, der
er gleicherweise ist, vorzulegen, was Material zu
plastischer, rekonstruierender Gestaltung wer‐
den kann.
.Es ist allen notwendig, dieses überaus bedeut‐
same Buch zu lesen, denen bisher noch die
Brücke fehlen mag zwischen dem in der Kindheit
schon vernommenen «Wort der Schrift» und den
Mitteilungen über Jesu Leben, Wirken und Tod,
die ich in meiner Aufhellung des vierten Evange‐
liums («Die Weisheit des Johannes») seinerzeit ge‐
geben habe.
.Carl Albrecht Bernoulli hält sich allein an die
drei ersten Evangelien und an das, was er in den
170 Nachlese
dort als möglichst gesichert geltenden Textworten
intuitiv erkennt.
.Bei mir ist vom vierten Evangelium die Rede,
und ich gebe Mitteilung von dem, was die Schau
ungskraft der Seele mir enthüllt, ohne dafür nach ir‐
gendeinem wissenschaftlich überprüfbaren Beleg
zu suchen, da solcher Nachweis hier naturbedingt
unmöglich ist.
.Dennoch wird der Leser beider Bücher leicht
entdecken, wie nahe das aus der Gelehrten For
scherarbeit genial gestaltete, urtümlich lebensvolle
Jesusbild Bernoullis, dem aller Menschenmeinung
überhobenen Bestand der Wirklichkeit sich an‐
gleicht, der nun einmal der Wissenschaft leider
entzogen bleibt und nur dem schauenden Erle‐
ben Weniger sich offenbart.
.Ich weiß gewiß, daß man mir allerorten danken
wird für diesen Hinweis auf ein Buch, das keiner
wieder missen möchte, dem es Besitz und inneres
Erleben wurde.
Zum empfohlenen Buch (nicht i.d. Nachlese enthalten), mp3
171 Nachlese
«IM SPIEGEL»
EINE NOTWENDIGE AUFKLÄRUNG
ALS Ende 1917 Gustav Meyrinks phantasti‐
scher Roman «Walpurgisnacht» erschienen
war, wurde ich von allen Seiten mit Briefen be‐
stürmt, in denen man großer Befremdung dar‐
über Ausdruck gab, daß in einem Kapitel des Ro‐
mans, in stark betonter Weise, Äußerungen zu fin‐
den seien, die doch, trotz dem phantastischen
Rahmen, allzudeutlich ihr Herkommen aus mei‐
nen, einige Jahre vorher veröffentlichten Einzel‐
bändchen: «Das Licht vom Himavat» und «Der Wille
zur Freude» verrieten.
.Ähnlicher Unmut scheint sich auch jetzt wieder
einzustellen, nachdem in einem Nachruf für Gu‐
stav Meyrink, im letzten Heft der «Säule», gerade
die hier in Betracht kommenden Textstellen des
erwähnten Romans besonders hervorgehoben
worden waren.
.Da ich aber unmöglich zulassen kann, daß üble
Mutmaßungen, die ich zu entkräften vermag,
dem Namen Gustav Meyrinks zu nahe treten,
172 Nachlese
während ich andererseits mich nicht in der Lage
sehe, in privater Korrespondenz die unberechtigten
Meinungen zu berichtigen, so bleibt mir nichts
anderes übrig, als hier vor den gleichen Lesern,
die durch die Zitate des Nachrufs zu irrtümlichen
Annahmen gelangten, die Zusammenhänge auf‐
zuklären.
Veranlaßt durch die Lektüre meiner oben ge‐
nannten Schriften hatte mich Meyrink im Früh‐
jahr 1917 an meinem damaligen Wohnort, der
etwa zehn Stunden Schnellzugsfahrt von dem sei‐
nen entfernt lag, aufgesucht, und wir waren uns
in mehrtägigen intensiven Gesprächen über den
Inhalt meiner Schriften menschlich freundschaft‐
lich nahegekommen.
.Die Folge war, daß ich ihm, auf seinen Wunsch
hin, gerne das Recht einräumte, alles, was ihm aus
diesen Gesprächen in der Erinnerung haften
bleibe, sowie auch alles, was in meinen Schriften
niedergelegt sei, unbedenklich als literarisches
«Material» zu verwerten, wenn es ihm in seinen da‐
mals beabsichtigten und nur zum Teil später aus‐
geführten neuen Romangestaltungen, von denen
er mir viel erzählte, gerade besonders gelegen
käme.
173 Nachlese
.Sein erster, seit unserem Bekanntwerden, noch
zu Ende des gleichen Jahres, erschienener Ro‐
man war «Walpurgisnacht».
.In dem Kapitel «Im Spiegel» läßt er den unheim‐
lichen Somnambulen «Zrcadlo» auftreten, aus
dem zuerst «das innerste Ich» des Kaiserlichen Leib‐
arztes Flugbeil, diesem, während der Befragung
des in Trance Befangenen, entgegenspricht, und
die in dem kürzlich erschienenen Nachruf zitier‐
ten Gedanken über die Freude äußert, die ja deut‐
lich genug meine Abhandlung «Der Wille zur
Freude» als Anregungsquelle verraten.
.Später spricht dann aus dem Somnambulen
eine andere Stimme, die sich als die eines gleich‐
zeitig lebenden Weisen, eines «Mandschu» zu er‐
kennen gibt, und allerlei Dinge über das «Ich»
sagt, die ebenso deutlich auf meine Schrift: «Das
Licht vom Himavat» bezogen sind, weit mehr noch
aber Reminiszenzen an das im damaligen Früh‐
jahr zwischen Meyrink und mir Gesprochene dar‐
stellen.
.Meyrink war durchaus zur Verwendung des
«Stoffes», um den es sich künstlerisch für ihn han‐
delte, berechtigt, aber die Art der künstlerischen
Verwendung gerade des von mir zu ihm Gespro
chenen erschien mir nachgerade etwas zu sehr «freie
174 Nachlese
Interpretation», so daß ich ihn alsbald bat, doch
lieber zukünftig auf mich als «literarische Stoff‐
quelle» verzichten zu wollen.
.Meines Wissens ist dann auch keine Zeile mehr
in Meyrinks weiterem Schaffen entstanden, deren
Anregung irgendwie auf mich zurückgeführt
werden dürfte, wie ja auch andererseits die Ro‐
mane «Der Golem» und «Das grüne Gesicht» längst
erschienen waren, bevor ich Meyrink zum ersten‐
mal sah.
In späteren Jahren hat sich übrigens Meyrink
mir gegenüber mehrfach sehr entschieden dahin
ausgesprochen, daß er «nicht im Traum» daran
denke, die in seinen okkulten Romanen behan‐
delten Lehren und Erlebnisse selbst als richtig
oder als erlebensmöglich anzusehen, obwohl er
für alles in seiner Bibliothek literarische Belege,
zum Teil sehr seltener Art, besitze. «Als Roman‐
schriftsteller» behalte er sich jedoch vor, das Mate‐
rial zu verarbeiten, das ihn «besonders reize», wo‐
bei er jede eigene Verantwortung für die aus litera‐
rischen Quellen entnommenen und von ihm
künstlerisch dargestellten Lehren ablehne. Seiner
Auffassung nach sei es jedoch «einfach künstlerische
Forderung», daß der Autor eines Romans oder
einer Erzählung den Eindruck erwecken müsse,
175 Nachlese
als sei er selber überzeugt von den Dingen, die
sein Stoffgebiet ausmachen. Ihm falle es leicht,
diese Forderung zu erfüllen, da er ja tatsächlich
von der Existenz einer, dem Menschen normaler‐
weise unzugänglichen, okkulten Welt überzeugt
sei, deren Einflüsse er oft sogar beim Schreiben
seiner Sätze spüre.
.Man wird dem Gesamtwerk des dahingegange‐
nen Dichters nur dann gerecht, wenn man die in
seinen Romanen und Erzählungen stofflich mit‐
verwendeten Lehren nur auf die Gestalten bezieht,
denen er diese Lehren in den Mund legt. Er selbst
aber wollte sich niemals etwa als Lehrer okkulter
oder mystischer Anschauungen, sondern als
freier Künstler beurteilt sehen, dem jede Stoff‐
benützung erlaubt ist, durch die er in künstleri‐
scher Gestaltung sein Werk bereichern kann.
.Die in seinem künstlerischen Schaffen deutlich
erkennbare Tendenz ist bei Meyrink in seinem gan
zen dichterischen Werk die gleiche: ‒ Aufstochern
der Gedankenwelt des «Spießers» aller Schichten,
Klassen und Kasten, den er in den früheren Er‐
zählungen ingrimmig verhöhnt, während in den
okkult-phantastischen Romanen der ganze frag‐
würdige Unterbau einer allzuselbstgewissen dün‐
kelbeladenen Weltanschauung in grellen Blink‐
lichtern bespiegelt wird.
176 Nachlese
.Allen, die Meyrinks dichterische Stärke so we‐
nig erfaßt haben, daß sie ihm, ‒ dem phantasie‐
reichsten Menschen der mir je begegnet ist, ‒ zu‐
trauen können, er sei zu heimlichen Anleihen bei
Anderen genötigt gewesen, kann ich mit jeder
Gewißheit sagen, daß seine stets übererregte
Phantasie wahrlich um Erfindungen niemals ver‐
legen war. Wenn er dennoch immer Ausschau
hielt nach ungewöhnlichem Tatsachenmaterial
und nach Bestätigung seiner Ahnungen im Zeug‐
nis solcher Menschen, bei denen er ein unge‐
wöhnliches Erleben vermuten durfte, so waren es
rein künstlerische Gründe, die ihn dazu bestimm‐
ten, und nur künstlerische Empfindung konnte für
ihn maßgebend sein, wenn er Berichte über nicht
alltägliches Erleben auf seine Art in sein Schaffen
verwob.
.Daß die Beziehungen zwischen Meyrink und
mir, wie bekannt, allmählich in eine gewisse Ent‐
fremdung übergingen, war gleichsam automa‐
tisch eintretende Folge der übergroßen Verschie‐
denheit in der beiderseitigen Auffassung geistiger
Dinge, die ihm nur Gegenstand künstlerischer
Bearbeitung blieben, während ich ihnen nie an‐
ders als unter höchster Ehrfurcht nahen kann, da
sie mir ja erfahrungsgewiß sind.
177 Nachlese
Auszüge aus dem Briefverkehr um 1920 ->hier OO
(nicht i.d. Nachlese enthalten - nicht verifizierbar!) OO
ENDE
NACHLESE II
Gesammelte Texte
aus Zeitungen und Zeitschriften
Verlagslogo
KOBERSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG AG
BERN
BÔ YIN RÂ
ist der geistliche Name von
Joseph Anton Schneiderfranken
1.Auflage 1990
© by Kobersche Verlagsbuchhandlung AG
Bern
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Übersetzung
in fremde Sprachen und der Verbreitung in Rundfunk, Fernsehen
und auf Tonträgern jeder Art, auch auszugsweise
ISBN 3-85767-101-7
INHALT Seite
NACHLESE II
Vorwort 5
AUFSÄTZE UND GESCHRIEBENE ANSPRACHEN ÜBER KUNST
(1913 − 1920)
Die Technik der Wandgemälde von Tiryns
.Athen, Februar 1913 (Sonderdruck aus Athen. Mitteilungen)
9
Was gibt uns die Kunst? 15
Das Oberlausitzer Heimatmuseum 21
Ansprache zur Eröffnung der
.Kunstausstellung Neumann-Hegenberg
31
Eröffnungsansprache anläßlich der Kunst‐
.ausstellung von Otto Wilhelm Merseburg
37
Hans Thoma. Zu seinem 80.Geburtstag 41
Die bösen Modernen 48
«Kino», Kultur und Kunst 53
Max Klinger 63
ABHANDLUNGEN
Edison und der Spiritismus
.(Magische Blätter, 1921)
71
Die «Meister» der «Weißen Loge»
.(Magische Blätter, 1921)
80
Die Grundlagen wahrer Theosophie
.(Theosophie, 1921)
94
Das «Wunder» der tanzenden Tische
.(Magische Blätter, 1921)
106
Stimmen aus dem «Geisterreiche»
.(Der Türmer, 1922)
115
BESPRECHUNGEN
Dr.Carl Vogl und sein Buch «Unsterblichkeit»
.(Magische Blätter, 1921)
131
«Meister in Indien» Von F.R.Scatcherd
.(Besprechung der deutschen Ausgabe, Mag.Blätter 1921)
138
«Nachklang» Von Erika Watzdorf-Bachoff
.(Magische Blätter, 1922)
142
Rezension, vielleicht auch Selbstanzeige
.(Die Säule, 1927)
146
Das Bô Yin Râ-Brevier. Von Rudolf Schott
.(Die Säule, 1935)
149
ZUR MITARBEIT AN DEN «MAGISCHEN BLÄTTERN»
UND AN DER «SÄULE»
Zuschriften an Bô Yin Râ
.(Magische Blätter, 1921)
157
Mitteilung an den Leserkreis
.(Die Säule, 1928)
160
Mein «Glückwunsch»
.(an den Herausgeber der «Säule», Die Säule, 1929)
165
DANKESADRESSEN ZUM 50. UND 60. GEBURTSTAG
Dank. Im Dezember 1926
.(Die Säule, 1927)
173
Dank. Im Januar 1927
.(Magnum Opus, 1927)
177
Den Gratulanten zu meinem 60.Geburtstag.
.Im November 1936 (Die Säule, 1936)
181
PERSÖNLICHE ERINNERUNGEN
Ein Leben
.(Theosophie, 1915)
187
Alpenluft
.(Der Türmer, 1922)
196
Herbst im Tessin
.(Der Türmer, 1923)
209
Wie wünscht sich der
.Schweizer Schriftsteller seine Leser?

.(Der Schweizer Bücherbote, Osterheft 1937)
216
Originalscan1  Originalscan2
NACHLESE II
VORWORT
.Bereits im Vorwort des ersten Bandes der neu
aufgelegten «Nachlese» konnten wir der Freude
Ausdruck geben, dass es möglich war, die Samm‐
lung von Texten von Bô Yin Râ stark erweitert in
zwei Bänden herauszugeben. Entspricht der erste
Band mit Ausnahme von einigen Erweiterungen
mehr oder weniger dem 1953 erschienenen
Buch, so enthält dieser zweite Band bisher nicht
oder kaum bekannte Artikel von Bô Yin Râ aus
den 20er und 30er Jahren, darunter einige Be‐
trachtungen über Kunst, die zwischen 1913 und
1920 in verschiedenen Tageszeitungen erschie‐
nen und von der Familie des Autors freundlicher‐
weise zur Verfügung gestellt wurden.
.Bô Yin Râ hat sich aber nicht nur über das ihm
eigene Gebiet der Kunst geäussert; er hat ‒ wie er
in einem seiner Aufsätze selbst schreibt ‒ auch
Themen aufgegriffen, «die der Tag nahegelegt
hatte», wenn er sich dadurch für den Leser in be‐
stimmten Fragen mehr Klarheit versprach. Dazu
gehören mehrere Abhandlungen sowie einige
5 NachleseII
Buchbesprechungen, die Bô Yin Râ für den ihm
freundschaftlich verbundenen Inhaber des Ri‐
chard Hummel Verlags, Leipzig, verfasst hat. Für
den heutigen Leser, der sich die damalige Zeit
vergegenwärtigt, kann es wertvoll sein, sich ein
Bild davon zu machen, wie Bô Yin Râ stets leh‐
rend und hilfreich bestrebt war, einerseits das Po‐
sitive hervorzuheben, anderseits aber auch gele‐
gentliche Fehlinterpretationen mit Nachdruck
richtigzustellen.
.Die Anordnung der Texte ergab sich von selbst;
nach Möglichkeit wurde die chronologische Rei‐
henfolge bevorzugt.
.Leider sind die besprochenen Bücher im Buch‐
handel nicht mehr erhältlich. Der Verlag ist somit
nicht in der Lage, Bezugsquellen zu nennen.
.Bern.1990      Der.Verlag
6 NachleseII
AUFSÄTZE UND ANSPRACHEN
ÜBER KUNST (1913-1920)
Außer «Die Technik der Wandgemälde von Tiryns» sind 00
alle Artikel in den Jahren 1919 und 1920 in verschiedenen 00
Görlitzer Zeitungen, besonders in den «Görlitzer Nach‐ 00
richten», erschienen.
DIE TECHNIK DER WANDGEMÄLDE
VON TIRYNS
DIE Malereien, deren Fragmente in Tiryns
gefunden wurden, betrachtet man kurzweg
als Fresken; aus maltechnischen Gründen dürfte
aber eine Modifizierung dieser Ansicht geboten
sein. Durch die Freundlichkeit Prof. Karos wurde
mir eine Untersuchung der Maltechnik dieser
Funde nahegelegt, und ich gebe nun hier die
Resultate.
.Man muß vor allem unterscheiden zwischen
der Technik der Gemälde des älteren und jener
des jüngeren Palastes.
.Die Fragmente vom älteren Palast zeigen einen
Farben-Auftrag, dessen Konsistenz unbedingt für
ein Bindemittel spricht, das der Farbe selbst beige‐
mengt war, während bekanntlich beim Fresko der
Kalk des Wandbewurfs die Farbe bindet, die, ohne
mit einem Bindemittel versehen zu sein, auf die feuchte
Wand aufgetragen wird.
9 NachleseII
.Die Farbe liegt beim echten Fresko in der kla‐
ren Schicht kohlensauren Kalks, die sich an der
Luft bildet, wie in einen spröden, glasigen, dün‐
nen Firnis eingebettet und zeigt selbst nach star‐
ker Verwitterung noch etwas von der ursprüngli‐
chen Transparenz.
.Die Farbe der Gemälde des älteren Palastes da‐
gegen ist in pastoser Schichtung aufgetragen. Oft lie‐
gen mehrere Schichten übereinander, wie bei
dem Fragment eines Mannes mit Speer (Tiryns II
Taf.14) sehr schön zu sehen ist. Auf dem blauen
Grund, der hier die ganze Kalkfläche bedeckt,
sitzt das Rot der Hand und des Gesichtes, und auf
letzterem sitzt, sehr pastos, das Gelb des Bartes.
.Um solche dicke Schichten sicher zu binden,
reicht die Bindekraft des an der Oberfläche er‐
scheinenden wässerigen Kalks nicht aus. Die
ganze Konsistenz der Farbe ist die einer dicken
Leim- oder Temperafarbschicht, doch können
diese organischen Bindemittel nach der chemi‐
schen Untersuchung Mr. Heatons keinesfalls vor‐
liegen. Mir ist nur ein Bindemittel bekannt, das
hier enthalten sein könnte, und dessen Konsi‐
stenz die Farbe zeigt. Es ist die sogenannte Kalk‐
milch, d.i. gelöschter Kalk, der in einer größeren
Wassermenge verrührt wird.
10 NachleseII
.Mit dieser Flüssigkeit wird die Malfarbe ver‐
setzt. Man kann dann auf feuchten oder trockenen
Grund malen und die Farbe wird hart an der
Luft. Mitunter wird sie heute noch im Handwerk
verwendet, oft auch mit Zusätzen von Käse‐
Quark, als Kasein-Kalkfarbe. Ob sich ein solcher
Zusatz hier annehmen läßt, weiß ich nicht. Ich
möchte für reine Kalkfarbe eintreten. Eine Bestäti‐
gung sehe ich in Mr. Heatons mikroskopischer
Untersuchung (Tiryns II 211 ff.). Mr. Heaton er‐
kannte dabei kleine Kalkteile zwischen den Farb‐
körperchen, für die man, bei der bisherigen Vor‐
aussetzung reiner Fresko Technik, nur die im‐
merhin unbefriedigende Erklärung finden
konnte, sie seien durch den Pinsel zufällig vom
feuchten Grunde gelöst.
.Ganz anders liegt die Sache bei den Stücken des
jüngeren Palastes. Hier wurde zuerst die ganze
Fläche «al fresco» dünn bemalt, und auf dieser,
die alle Charakteristiken der Freskomalerei auf‐
weist, in der alten Kalkfarben Technik pastos wei‐
ter gearbeitet. Sehr schön sieht man an dem gro‐
ßen Fragment mit dem Kopf einer Frau (Tiryns II
Taf. IX) den Gegensatz der dünnen, mit dem gla‐
sig spröden Kalkgrund sozusagen verwachsenen
Unterlage, die zweifellos in Fresko gemalt ist, zu
der nach dem Trocknen des Grundes aufgesetz‐
11 NachleseII
ten, pastosen und stumpfen Kalkfarbe. Es scheint
fast, als stünde man an der Wiege der Fresko‐
Malerei. Gefärbte Kalktünche war bekannt. Es lag
dann nahe, mit verschieden gefärbten Tünchen
(Kalkfarben) auf die Wände zu malen. Das Ergeb‐
nis hätten wir beim älteren Palast. Ein Zufall
mochte den Malern gezeigt haben, daß die Farbe
auch ohne Kalkmilchzusatz hält, wenn sie auf den
noch feuchten Kalkputz aufgetragen wird. Bald
mußten sie sehen, daß man auf diese Art flüssiger,
flotter und leichter arbeiten kann, ja daß die
Technik dies geradezu verlangt. So bemalten sie
wohl die frisch beworfene ganze Wand ziemlich
flüchtig und leicht, solange es die Feuchtigkeit des
Kalkes zuließ, ohne vorerst daran zu denken, daß
man den Kalkgrund stückweise aneinandersetzen
könnte, um das Gemälde «al fresco» fertig zu ma‐
len, wie das in der Renaissance geschah. Dies
würde auch das Fehlen der für Fresko charakteri‐
stischen Fugen erklären.
.Al fresco malten sie wohl alles, was sich mög‐
lichst schnell auf der ganzen Malfläche machen
ließ. Die großen Farbmassen füllten sie dann mit
Kalkfarbe, mit der sie auch das Ganze vollende‐
ten, ähnlich wie man heute noch ein trockenes
Fresko mit Temperafarbe retouchiert. Die Maler
von Tiryns dürften jedoch das Fertigstellen in
12 NachleseII
Kalkfarben keineswegs als Retouche betrachtet
haben, denn beide Techniken haben an der ferti‐
gen Malerei gleichen Anteil.
.Den Vertiefungen im Malgrund darf man, mei‐
ner Meinung nach, keine zu große Wichtigkeit bei‐
messen. Ich halte die Vertiefungen der Gewand‐
teile für Schabungen, die durch Korrekturen nötig
wurden. Auf solchen ausgeschabten Stellen moch‐
ten die Farben nachher sehr roh wirken, weshalb
man sie nach dem Trocknen zu glätten versuchte.
Die Schnüre, bei den Netzen der Jagd, werden
wohl in den noch weichen Grund eingedrückt sein,
und zwar bei der summarischen Aufzeichnung des
Ganzen. Die geraden Linien des Architektur-Frag‐
ments scheinen mir dagegen in den trockenen
Grund geritzt. Ich schließe das aus der Beschaffen‐
heit der Ränder. In beiden Fällen liegt die Farbe
flüssig eingelaufen in den kleinen Kanälen. Wäre
sie mit eingedrückt worden, nachdem die Malerei
beendigt war, so müßte dies unbedingt an der
Oberfläche des Farbflusses zu erkennen sein.
.Sowohl beim älteren wie beim jüngeren Palast
ging die Arbeit sichtlich schnell von statten, und
wenn die Maler des alten Palastes den frischen
Kalkgrund auch noch nicht zur Bindung der
Farbe auszunützen verstanden, so mußten sie
doch keineswegs warten, bis er trocken war.
13 NachleseII
.Ob die Verschiedenheit der Stücke des älteren
und jüngeren Palastes, infolge der durch die
Fundumstände sicheren Datierung, ein geeigne‐
tes Datierungsmerkmal auch für andere Funde
abgeben kann, entzieht sich meiner Beurteilung.
.Athen, Februar 1913
14 NachleseII
WAS GIBT UNS DIE KUNST?
ES ist eine höchst erfreuliche Tatsache, und
mir persönlich in Wien zum ersten Male auf‐
gefallen, daß immer weitere Kreise der Arbeiter‐
schaft für die bildenden Künste, also Malerei und
Plastik, ein immer regeres Interesse zeigen.
.Der Ruf: «Die Kunst dem Volke!» ist zwar schon
längst gehört worden, aber man packte die Sache
am verkehrten Ende an. Man verlangte von den
Künstlern, sie sollten Werke schaffen, denen ähn‐
lich, die das Volk bereits gewohnt sei, weil man es
für selbstverständlich hielt, daß «das Volk» ‒ wo‐
mit man zumeist nur einen Teil des Volkes, näm‐
lich die Arbeiterkreise meinte, ‒ gar kein Inter‐
esse für jene Werke der Kunst haben könne, die
geistige Mitarbeit voraussetzen, will man ihre höch‐
sten Werte erfassen und sie als eine Lebensberei‐
cherung genießen. Man hat sich, wie ich kaum
einem intelligenten Arbeiter zu sagen brauche,
mächtig getäuscht, denn wo man auch bis jetzt den
Versuch machte, der Arbeiterschaft einen Ein‐
15 NachleseII
blick in die Probleme der bildenden Kunst zu ver‐
mitteln, fand sich regstes Interesse, verstehendes
Mitgehen auf den Pfaden, die zur sogenannten
«Hohen Kunst» führen, die nichts anderes ist, als
ein Gestalten aus Werten, die tief in jedem mensch‐
lichen Geiste verborgen ruhen, und die zu heben
und sichtbar zu machen eben des wahren Künst‐
lers Beruf ist. ‒ Es gibt daneben allerdings auch
eine Art Darstellerei, die wohl «gekonnt» sein will,
aber trotzdem nichts mit wahrer Kunst zu tun hat.
Sie serviert der Menschheit immer wieder die
schon tausend- und abertausendmal abgewandel‐
ten Motive, bald ist es ein «schöner» Frauenkopf,
bald irgend eine Anekdotenmalerei, bald eine
süßliche Landschaft, und erfordert vom Be‐
schauer rein gar nichts an geistiger Mitarbeit. Es ist
begreiflich, daß der Mann der Arbeit an solchen
Werken, wie an besseren Spielereien, achtlos und
achtungslos vorübergeht, aber sein Interesse wird
sofort geweckt, wenn er sieht, daß auch das Schaf‐
fen des Künstlers sehr ernste Lebenswerte fördert,
die ihm Freude und Beglückung geben können,
auf die er verzichten müßte, wollte er am Kunst‐
schaffen seiner Zeit teilnahmslos vorübergehen.
.Warum sollte es auch verwunderlich sein, daß
der Arbeiter, und nicht etwa nur der selbst mit
Pinsel und Farbe Bescheid Wissende, sondern
16 NachleseII
auch der Mann am Schraubstock, an der Dreh‐
bank und an der Maschine, sich für die Probleme
wahrer Kunst lebhaft interessieren kann? Sein
Geistesleben braucht Nahrung und Arbeitsmate‐
rial für die verschiedensten Gehirnzentren. Zu‐
meist wird es ausgefüllt mit den Gedanken, die
seine Alltagsarbeit begleiten, mit Politik im Inter‐
esse seiner Lebensbedingungen, und vielleicht
noch mit populärwissenschaftlicher Lektüre. Das
reiche Gebiet der bildenden Kunst wurde nur sel
ten betreten und jene Gehirnpartien, die es sich
erobern könnten, lagen still, sind fast unbenutzt
und warten darauf, daß ihr Eigner sie in Ge‐
brauch nehme und sie ebenso entwickle, wie er
andere Gehirnzentren entwickelt hat. Der aller‐
erste Anfang mag eine gewisse Anstrengung ko‐
sten, aber bald treten bestimmte Beobachtungen
auf, die dem erstaunten Auge zeigen, daß die
Werke bildender Kunst keineswegs nur dem
Schmuckbedürfnis dienen, keineswegs überflüssige
Dinge für reiche Liebhaber sind, sondern: Spiegel
des menschlichen Empfindens einer Zeit, Bekenntnisse
der Seele einer Zeit, Dokumente des Fortschritts,
Predigten einer Religion, die zutiefst in einem je
den Menschenherzen lebt, und nicht zum wenig‐
sten in der Brust unter dem blauen Kittel, im Ge‐
dröhne und Gestampfe der Fabriken...
17 NachleseII
.Man suchte Kunst «ins Volk» zu bringen, indem
man billige Reproduktionen guter Kunstwerke,
billige Künstlergraphik herstellte, damit so der
unwürdige fade «Öldruck» ohne jeglichen Wert,
aus der guten Stube des Arbeiters verschwinde.
Das ist gut und löblich und bereits ein großer
Schritt nach vorwärts, aber man war noch viel zu
ängstlich und ist es noch, so daß man nur solche
Kunstwerke wählte, die zwar alle Ansprüche er‐
füllen, die an einen wertvollen Schmuck der
Wände zu stellen sind, aber dennoch herzlich we‐
nig von jener tieferen Kunstauffassung verraten,
die den Künstler zum Schaffen zwingt, als einen
Künder menschlicher Seelentiefen, einen Gestal‐
ter der Symbole reiner Menschlichkeit. ‒ ‒ Auch
darin wird die Zeit Wandel schaffen, wenn das Be‐
dürfnis sich zeigt. ‒ Aber wer, selbst wenn er Milli‐
ardär wäre, könnte sich jemals alle Kunstwerke
kaufen, die seine Seele befruchten können? Wer
könnte sie ständig auch nur alle um sich sehen,
und sei es auch nur in guten Reproduktionen?
Gewohnheit macht stumpf, verdirbt und ermü‐
det. ‒ Dagegen wird der Eindruck, den ein inten‐
siv sich einbohrender Beschauer vor vielen Jah‐
ren von einem Kunstwerk in irgend einer guten
Ausstellung erhielt, auch nach weiteren vielen
Jahren niemals schwinden. ‒
18 NachleseII
.Dieser Beschauer ist dann der wahre Besitzer
des Werkes, während es noch sehr fraglich sein
kann, ob es dem Künstler, der mit großen Auf‐
wendungen und seltenen Verkäufen zu rechnen
hat und darum gezwungen ist, scheinbar hohe
Preise anzusetzen, (von denen meist noch vieles
«abgehandelt» wird!) wirklich gelang, einen Käu‐
fer zu finden, der auch das Werk geistig zu «besit‐
zen» fähig ist. ‒ Man braucht keinen großen Geld‐
beutel zu haben, um ein Freund und empfinden‐
der Versteher der bildenden Kunst zu werden. Es
ist noch weniger nötig, dicke Bücher über Kunst
zu lesen, oder gar die Jahreszahlen der Kunstge‐
schichte auswendig zu wissen. Wer so anfängt,
zäumt den Gaul am Schwanze auf und hat nur alle
Aussicht, einer der vielen Halbwisser, der vielen
Schwätzer zu werden, die wirklichem Kunster‐
fühlen im Wege stehen, soviel sie auch mit ihren
zusammengelesenen Floskeln zu imponieren ver‐
suchen. Um sich das Lebensgebiet der Kunst zu
erobern, dazu bedarf es lediglich gesunder, se‐
hender Augen, eines tiefen und echten Lebensge
fühls, und des ehrlichen Willens, den Schöpfungs‐
prozeß eines Kunstwerkes in eigener Seele nach
erleben zu wollen, des Willens, die Sprache der
Formen und Farben verstehen zu lernen, die der
Künstler spricht, so wie man sich auch im ge‐
19 NachleseII
wöhnlichen Leben an die Ausdrucksweise eines
Menschen erst gewöhnen muß, wenn man ihn
nicht ständig mißverstehen will. ‒ ‒
20 NachleseII
DAS OBERLAUSITZER
HEIMATMUSEUM
DIE «Ruhmeshalle» kennt in Görlitz jedes
Kind, auch wenn sie offiziell «Gedenkhalle»
heißt, aber daß die eigentliche «Ruhmeshalle»
nur der räumliche Mittelpunkt eines zwar nicht
sehr großen, aber reichen und hochinteressanten
Museums ist, dessen scheint man sich in Görlitz
und Umgebung immer noch nicht genügend zu
erinnern, soll es doch vorgekommen sein, daß ein
Fremder nach dem «Kaiser-Friedrich-Museum»
fragte und von einem Einheimischen die Antwort
bekam, ein solches gäbe es hier nicht. ‒
.Gewiß, die Besucherzahl ist in letzter Zeit im
Steigen begriffen und die reichen, besonders auf
die Geschichte der Oberlausitz bezüglichen
Schätze beginnen allmählich auch Fremde anzu‐
ziehen, die speziell zur Besichtigung des Muse‐
ums nach Görlitz kommen, oder deshalb hier ihre
Reise unterbrechen.
.Es hat aber trotzdem den Anschein, als ob man
sich in Görlitz selbst noch recht wenig darüber
21 NachleseII
klar wäre, welche Bedeutung das kleine Museum
für die Stadt hat.
.Vielleicht werden die fremden Besucher mit ih‐
rer wachsenden Anzahl darin eine Änderung be‐
wirken und den Einheimischen mit der Zeit zei‐
gen, daß der eigentliche Wert ihrer «Ruhmes‐
halle» denn doch weniger in der dekorativen Wir‐
kung des Gebäudes von außen, als in den Samm
lungen zu suchen ist, die dieser Kunsttempel über
dem anmutigen Neißeufer beherbergt. ‒
.Eine schier übermenschliche Arbeit hat der Di‐
rektor des Museums, Prof. Feyerabend, geleistet,
um diese Sammlungen aufzubringen und in wür‐
diger Weise aufzustellen. Das Museum ist eigent‐
lich sein eigenstes Werk, ein Lebenswerk von
nicht unbeträchtlicher Bedeutung.
.Freilich, ohne die Hilfe zahlreicher Gönner des
Museums wäre es ihm nicht möglich gewesen, die
von ihm kahl und leer übernommenen Museums‐
räume zu füllen, aber wer einigermaßen weiß, was
es heißt, ohne irgendeine museumstechnisch ge‐
schulte Hilfskraft, wie er sie längst hätte haben
müssen, ein solches Museum zusammenzubrin‐
gen, zu ordnen und zu leiten, und, was nicht zu‐
letzt genannt werden sollte, in lebendigem Kon‐
nex mit dem übrigen deutschen Museumswesen
22 NachleseII
zu erhalten, der kam nicht umhin, die Lebensar‐
beit Prof. Feyerabends im allerhöchsten Maße zu
bewundern.
.Er hat sich damit den wärmsten Dank der heu‐
tigen und kommender Generationen in Görlitz
verdient.
.Es wäre leicht, an einer ganzen Reihe von Bei‐
spielen zu zeigen, wie auch ein kleines, gutgeleite‐
tes Museum in einer kleinen oder mittleren Stadt,
den Ruf dieser Stadt in kultureller Hinsicht zu
verbreiten geeignet ist, wie es ihre Fremdenziffer
und damit ihren Wohlstand hebt und ihren Gel‐
tungsbereich erweitert. Daß auch das Görlitzer
Museum den Grundstock besitzt, um sich zu sol‐
cher Bedeutung für seine Heimatstadt und weit
darüber hinaus emporzuarbeiten, lehrt ein auf‐
merksamer Rundgang in seinen Räumen.
.Der Qualität nach am mäßigsten bedacht ist noch
seine kleine Gemäldegalerie, sehr zum Leidwesen
des Direktors, der auch hier mit Freuden nur das
Beste zeigen möchte. Die dem Laien so imponie‐
renden Riesenleinwanden mit den Ausklängen
der theatralischen und im eigentlich künstleri‐
schen Sinn so wenig ausgiebigen Piloty- und
Kaulbach-Zeit bedecken da nebst andern künst‐
lerisch belanglosen Repräsentationsbildern gan‐
23 NachleseII
ze Wände und hindern die so sehr wünschens‐
werte, neuzeitlich mustergültige Verteilung der
zwar noch recht wenigen, aber immerhin vorhan
denen Werke von wirklichem Kunstwert.
.Besitzt doch die kleine Galerie neben einigen
andern nicht unbedeutenden Stücken tatsächlich
einen echten, wenn auch für das Gesamtschaffen
nicht so ganz instruktiven Böcklin, zwei Werke des
hochbedeutenden, in seiner Eigenart so beschei‐
denen Hans von Volkmann, eine zweite Fassung des
«Gestades der Vergessenheit» von Bracht, einen
sehr guten Schramm-Zittau, ein bedeutendes mo‐
numentales Werk von Lesset Ury, ein gutes Porträt
seines Töchterchens von Franz Stuck und eine An‐
zahl nicht unbedeutender Gemälde aus dem älte
ren Münchener Künstlerkreis. Immerhin genug,
um neben den hier nicht genannten bedeutende‐
ren Werken den Ausgangspunkt einer kleinen
guten Gemäldesammlung darzustellen.
.Wichtiger aber, und naturgemäß besser be‐
dacht, ist zurzeit noch die reichhaltige Sammlung
von Stichen, Zeichnungen und andern Kunstblät‐
tern, die sich auf die Geschichte von Görlitz, die
Geschichte der Oberlausitz beziehen.
.Vielleicht am vollständigsten ist dann die eben‐
falls nach den Interessen der Heimatgeschichte
24 NachleseII
orientierte kunstgewerbliche und kunsthistori‐
sche Sammlung in den beiden Flügeln des Erd‐
geschosses, während die Oberlausitzer Zimmer in
den Souterrain-Räumen nebst vielem andern,
das dort seinen Platz fand, diese Sammlungen le‐
bendig ergänzen.
.Ein kleines Museum für sich ist der Urge‐
schichte gewidmet und ebenfalls in den Keller‐
räumen untergebracht. Der Archäologe, der die
Oberlausitzer Keramik studiert, kann auf die
Kenntnis dieser zum Teil sehr hervorragenden
Funde nicht verzichten, während sie dem Laien
ein Bild fernster Vorzeit geben.
.Erstaunlich viel Belehrendes bieten diese un‐
tersten Räume, in denen zu allem Überfluß noch
zwei recht eigenartige und des Ansehens werte
Kleinwerke der Volkskunst, zwei sogenannte
«Krippen»-Darstellungen Platz fanden, um die das
Museum wohl von der berühmten Münchner
Krippensammlung im bayrischen Nationalmu‐
seum nicht wenig beneidet werden dürfte.
.Der Fleiß einfacher Handwerker hat diese Dar‐
stellungen in jahrelanger mühevoller Arbeit ge‐
schaffen. Die eine schildert nur die Geburt Christi
mit den üblichen anachronistischen, volkstümli‐
chen Beigaben, so daß der ganze Hergang in die
25 NachleseII
engere Heimat versetzt erscheint, die andere
«Krippe» ist eigentlich ein vollständiges Passions
spiel, beginnend mit der Geburtsgeschichte und
endigend mit der Auferstehung. Und das alles ist
durch eine Anzahl sinnreicher Anordnungen in
geradezu verblüffend natürlicher Weise beweg‐
lich.
.Bei der Kreuzabnahme wird selbst der Leich‐
nam Christi frei vom Kreuze heruntergeholt! Al‐
les ist so naiv aus dem Geiste echter Volkskunst
entstanden, daß die Beweglichkeit der Figuren
nur den künstlerischen Eindruck verstärkt, statt
ihn etwa zu stören. Wer bei dem dreimaligen Ge‐
bet Jesu im Garten am Ölberg nicht durch die Be‐
wegung des bis in den Tod Betrübten ergriffen
wird, der muß jedes Gefühl für volkstümliche
Einfühlung in die Begebnisse christlicher Heils‐
geschichte verloren haben. ‒
.Und das alles hat man hier unten mustergültig
aufgestellt. Ein Beamter des Museums, auch ein
einfacher, tüchtiger Handwerker besten alten
Schlages, obwohl ein noch jüngerer Mann, der
auch die Vorführungen unternimmt, hat all diese
Einzelteile mit feinstem Verständnis wieder zu‐
sammengesetzt, die «mechanische Kunst» daran
in sinngemäßer Weise wiederhergestellt und in
liebevoller Hingabe beide «Krippen» in den zur
26 NachleseII
Verfügung stehenden Räumen aufgebaut, was
gewiß keine leichte Arbeit war und einen beson‐
ders feinen seelischen Takt erforderte, um das
Unberührte, das Wesentliche der alten Origi‐
nalarbeit zu erhalten.
.Das wäre so in aller Kürze, jedem Besucher des
Museums nicht fremd, der wesentlichste Inhalt
der Räume.
.Eine bedeutende Münzensammlung sowie
noch manches andere harrt des Tages, an dem
ein schon längst geplanter, aber jetzt auf unbe‐
stimmte Zeit hinaus verschobener Erweiterungs‐
bau doch einst seine Vollendung finden wird.
.Es wäre zu wünschen, daß das Museum immer
mehr Gönner finden möge, die es durch Legate
und sonstige Schenkungen, seien es nun kunst‐
und kulturhistorisch wichtige und wertvolle
Werke, seien es die so dringend nötigen größeren
Barmittel, in den Stand setzen würden, seiner ho‐
hen Aufgabe für das kulturelle Leben der Stadt
Görlitz und im weiteren Sinne der gesamten
Oberlausitz in mustergültiger Weise zu genügen.
.Aber schließlich ist auch ein «Heimatmuseum»
keine isolierte, nur auf den Bannkreis seiner Stadt
oder ihrer nächsten Umgebung beschränkte Ein‐
27 NachleseII
richtung, wenn auch die Vorteile, die es durch
seinen Ruf einer Stadt bringen kann, dieser allein
zugute kommen.
.In diesem Sinne ist jeder Einwohner von Gör‐
litz zwar praktisch an dem Gedeihen und Be‐
kanntwerden des heimischen Museums inter‐
essiert, aber dieser Ruf, dieses Bekanntwerden ist
nur zu erreichen dadurch, daß sich die Museums‐
leitung in den Dienst der gesamten Kunstwissen‐
schaft stellt und die Verbindung mit allen Museen
in deutschem Sprachgebiet stets aufrecht erhält.
Die hierzu nötige Arbeit übersteigt aber die Kraft
eines einzelnen Mannes, sei er auch wie der der‐
zeitige Leiter und Schöpfer des Museums ein
Hüne an Arbeitskraft. Mit ungeschulten und billi‐
gen Hilfskräften ist hier gar nichts geholfen. Nö‐
tig wäre die Assistenz einer wissenschaftlich gebil‐
deten und in den Aufgaben eines Museumsbeam‐
ten nicht ganz unerfahrenen Persönlichkeit.
.Da die Stadt Görlitz zurzeit mit Aufgaben über‐
lastet ist, die es ihr wohl unmöglich machen dürf‐
ten, eine solche Hilfskraft zu besolden (obwohl
der wissenschaftliche Arbeiter auch heute noch aus
Liebe zur Sache zu arbeiten pflegt und daher in sei‐
nen Ansprüchen weitaus bescheidener ist als
mancher Fabrikarbeiter), so könnte man es nur
als eine hochherzige Tat bezeichnen, wenn von
28 NachleseII
privater Seite die Kosten einer solchen Hilfe für
die Museumsleitung übernommen würden.
.Es wäre die denkbar übelste Verkennung des
Nötigen, wenn man den fruchtbringenden Be‐
stand eines Museums in heutiger Zeit als überflüs‐
sigen Luxus ansehen wollte. ‒ «Nicht vom Brote
allein lebt der Mensch, sondern von jedem Worte,
das aus dem Munde Gottes kommt.» ‒
.Ein jedes Werk bedeutender Vorzeit, alles, was
die Gegenwart an wirklich Gehaltvollem schafft,
ist solch ein «Wort Gottes», das zu empfänglichen
Herzen, insonderheit zu den Gemütern der Ju‐
gend, oft wuchtiger sprechen kann als Schule und
Kirche es vermögen, gerade weil all diese sicht‐
baren, greifbaren Dinge so ganz auf das praktische,
tagtägliche Leben hinweisen. Alles, was heute den
allenthalben im praktischen Leben grassierenden
Materialismus zurückdämmen kann, dient dem
Wiederaufbau, ist eine nicht zu missende und ihre
Unterschätzung bitter rächende Kraft, die zur
Gesundung unsres Lebens führt. ‒ ‒
Was das Buch für das Denken bedeutet, das ist der
sichtbare Gegenstand, wenn er von Kunst, Ge‐
schmack und handwerklicher Tüchtigkeit zeugt,
für das Gemüt. ‒ Aus dem Gefühl heraus aber muß
die Kraft zur Wiederaufrichtung unsres Volkes
29 NachleseII
kommen. Das Denken geht irre Wege, wenn es
nicht durch das Gefühl in gesunde Bahnen gelei‐
tet wird. ‒ Was wir heute alle beklagen, ist nicht
zum wenigsten die Frucht irregeleiteten Denkens,
die Folge davon, daß man das Volk systematisch
daran gewöhnte zu glauben, alles Gute müsse sich
erdenken lassen, daß man Kopfmenschen, Gehirn
menschen erzog, aber keine Menschen, die sehen
können und durch Sehen zu lernen wissen. ‒ Dies
aber lehrt in erster Linie ein Museum.
30 NachleseII
ERÖFFNUNG DER
KUNSTAUSSTELLUNG
NEUMANN-HEGENBERG
Im Bankettsaal der Stadthalle wurde gestern gegen 11,30 00
Uhr vom neuen Vorsitzenden des Kunstvereins, Herrn Jo00
seph Schneider–Franken*, die Ausstellung Neumann–Hegen00
berg und Paul Polte eröffnet. Ein guter Anfang unter der 00
neuen Leitung, die, wie wir hoffen, noch recht ersprieß‐ 00
liche Arbeit auf diesem Gebiete des Kunstlebens leisten 00
wird, um dadurch der Stadt Görlitz auch nach außenhin 00
in dieser Beziehung einen Namen zu machen. Wir wün‐ 00
schen dem neuen Vorsitzenden den besten Erfolg.
Zur Eröffnung der Ausstellung führte er aus:
Meine Damen und Herren!
.Der Kunstverein hat vor kurzem seinen lang‐
jährigen und verdienstvollen Vorsitzenden durch
den Tod verloren, und mir wird nun die Aufgabe,
die für das kulturelle Leben dieser Stadt so wich‐
tige Vereinigung zu leiten.
* Da die beglaubigte Namensänderung in «Schneider‐ 00
franken» erst Ende August 1920 erfolgte, sind sämtliche 00
Artikel über Kunst mit Joseph oder J. A. Schneider-Fran‐ 00
ken gezeichnet.
31 NachleseII
.Daß am Beginn meiner Tätigkeit gleich eine so
hervorragende Ausstellung steht, wie die ist, die
ich hier nun eröffnen soll, ist nicht mein Ver‐
dienst.
.Ich danke aber den Herren des Vorstandes,
daß sie den beiden Künstlern, die hier ausstellen,
Gelegenheit gaben, ihre Werke zu zeigen.
.Ich kann mit voller Überzeugung und warmen
Herzens für diese Ausstellung eintreten.
.An anderer Stelle zeigte ich vor kurzem, daß die
Richtung, der ein Künstler zugezählt wird, eigent‐
lich Nebensache ist, daß es einzig darauf ankommt,
ob ein Künstler zu den Echten und Wahrhaftigen,
oder aber nur zu denen zu zählen ist, die irgend‐
einer Richtung nachlaufen, weil sie selbst nichts Ei
genes zu sagen haben.
.Die Ausstellung, die Sie jetzt sehen werden,
zeigt in lebendiger Gestaltung, wie wenig es auf
die Richtung ankommt, wie die Persönlichkeit eines
Künstlers ganz allein für die Wertung seines Schaf‐
fens maßgebend ist.
.Man kann sich kaum verschiedenere Richtungen
vorstellen als die sind, die durch die beiden aus‐
stellenden Künstler vertreten werden.
32 NachleseII
.Der Maler, dem ja der größte Anteil an der Aus‐
stellung zufällt, geht von der Darstellung der äus‐
seren Umwelt aus und sucht und findet schließ‐
lich die Ausdrucksmittel, um die reiche Bewe‐
gung seiner inneren Welt zu gestalten.
.Er sucht seine großen Vorbilder in der Gotik,
vor allem in Mathias Grünewald, dem Meister des
Isenheimer Altars, und man könnte ihn äußerlich
zu den «Expressionisten» rechnen, doch ist er eine
ganz auf sich gestellte Persönlichkeit, der es gar
nicht einfällt, eines Programmes wegen zu malen. ‒
.Er malt so, wie er malt, weil er so malen muß,
wenn er sich selbst treu bleiben will.
.Das Gleiche ist von dem Bildhauer zu sagen.
.Auch er gibt, als Plastiker, was er seiner Natur
nach geben muß, aber in ihm ist nur statuarische
Ruhe und verhaltenes Leben, kein Drang zu dramati
scher Bewegung der Formen, wie in dem Maler.
.Seine Richtung, wenn man ihn unbedingt einer
zuzählen will, ist die Richtung der großen deut‐
schen Monumentalplastiker, der Wrba, Beermann,
Hahn und anderer, die alle mehr oder weniger
von Hildebrandt und seiner Auffassung des «Pro
blems der Form» ausgehen.
33 NachleseII
.Der Plastiker, Paul Polte, dürfte Ihnen ohne
weiteres verständlich sein.
.Sie sehen die große Ruhe und Geschlossenheit sei‐
ner Figuren und die vollendet schöne Modellierung,
den feinen seelischen Ausdruck in allen seinen Wer‐
ken ohne Mühe.
.Der Maler, Neumann-Hegenberg, verlangt mehr
willige Einstellung von Ihnen.
.Er will Ihnen seine Entwicklung zeigen, will zei‐
gen, wieso er dazu kommen mußte, seine letzten
Werke zu schaffen.
.Die Bilder sind deshalb auch in chronologi‐
scher Reihenfolge aufgehängt, von den starken
und räumlich tiefen Schilderungen der Umwelt
angefangen, bis zu den Werken, in denen er rein
seelisch Geschautes zeigt, dem oft ein Naturein
druck, oft ein musikalisches Erleben oder aber nur
innerlich Empfundenes zu Grunde liegt.
.Neumann-Hegenberg will immer noch weiter,
sucht stets noch neue Ausdrucksmöglichkeiten und
betrachtet auch seine letzten Bilder noch nicht als
sein «letztes Wort».
.Aber vieles von dem, was er zeigt, stellt auch, ho
hen kritischen Ansprüchen gegenüber, eine restlos
vollkommene Lösung dar.
34 NachleseII
.Sie haben es mit einem tiefernsten, ehrlich mit
seiner Kunst ringenden Manne zu tun, der alles
Halbe und nur beiläufig Gute weit hinter sich läßt.
.Er dichtet mit dem Pinsel in der Hand farbige
Werke voller Glut des Erlebens, voller Intensität
der inneren Bewegtheit.
.Sie wissen alle, was der Rhythmus in der Musik
bedeutet.
.Diesen Rhythmus finden Sie wieder, wenn Sie
die Gemälde dieses Malers betrachten, und Sie
müssen nach dem Rhythmus suchen, wenn Sie
den inneren Wert dieser Bilder erkennen und ih‐
nen gerecht werden wollen.
.Folgerichtig sieht man auch seine Auffassungsart
und seine Technik sich entwickeln.
.Nichts ist «gesucht», alles Spätere entwickelt sich
mit Notwendigkeit aus dem Früheren. Er malt, was
ihm sein Innerstes befiehlt.
.Daß außer aller malerischen Qualität auch viel
Poesie in den meisten Werken steckt, wird ihm si‐
cher auch manche Verehrer gewinnen, die für das
eminent Malerische der Bilder noch nicht das
rechte Auge haben.
35 NachleseII
.Ich hoffe, daß niemand diese Ausstellung ver‐
läßt, ohne einen reichen und nachhaltigen Ein‐
druck mitzunehmen.
.Ich möchte hier nur noch sagen, daß ich den
Wunsch hege, den Kunstverein in dieser Stadt zu
einer Instanz zu machen, der das Laienpublikum
bei seinen Ankäufen und Kunstbesichtigungen
absolut vertrauen kann.
.Man soll wissen, daß in seinen Ausstellungen
nur echte und reife Kunst geboten wird.
.Ich danke den beiden Ausstellern, daß sie mir
diesen verheißungsvollen Anfang ermöglicht ha‐
ben!
36 NachleseII
ERÖFFNUNG DER
KUNSTAUSSTELLUNG
VON OTTO WILHELM MERSEBURG
Die neue, überaus reichhaltige Kunstausstellung des 00
Kunstvereins für die Lausitz fand gestern vor geladenen Gä‐ 00
sten im Bankettsaal der Stadthalle ihre Eröffnung. Der 00
Vorsitzende des Kunstvereins, Herr Schneider-Franken, 00
führte in seiner Eröffnungsansprache etwa folgendes aus: 00

.„Der Kunstverein hat sich unter meiner Lei‐
tung die Aufgabe gestellt, an möglichst markan‐
ten Beispielen zu zeigen, wie das wirklich Wertvolle
in der Kunst ganz unabhängig ist von der jeweili‐
gen Richtung, zu der man den oder jenen Künstler
zählen mag. Es ist nicht gerade überflüssig, dies
immer wieder zu betonen, denn in manchen
Kreisen herrscht immer noch die Auffassung,
eine Ausstellungsleitung müsse sich zu dieser
oder jener «Richtung» bekennen und könne darum
den anderen Richtungen «nicht gerecht» werden.
.Wir sind weit von dieser Auffassung entfernt!
.Wir wollen allein der Kunst eine Gasse bereiten,
wo wir sie auch finden, und wir finden in jeder
37 NachleseII
Richtung echte und wahrhafte Kunst, wie wir in jeder
Richtung auch allerlei Scheinkunst abzulehnen ha‐
ben.
.Der Künstler, dem die heute zu eröffnende
Ausstellung gilt, wird Ihnen in schönster Weise
wieder zeigen, was wir unter Kunst verstehen, und
daß wir durchaus nicht nur etwa dem «Expressio‐
nismus» das Wort reden wollen, auch wenn wir in
dieser Kunstrichtung besonders hohe und zukunfts
reiche Werte im Entstehen sehen, Werte, die wir
auf jede Weise ans Licht zu ziehen suchen.
.Otto Wilhelm Merseburg*, dessen Werke Sie nun
in einer reichen Auswahl sehen werden, ist ein
Künstler, der sich längst schon seinen Namen zu
schaffen wußte, auch wenn ihn vielleicht hier erst
noch wenige kennen werden.
.Seine Bilder wurden von großen Staatsgalerien
angekauft und hängen längst in bedeutenden Pri‐
vatsammlungen.
.Sie werden das verstehen, wenn Sie nun Gele‐
genheit finden, sein Schaffen kennen zu lernen.
.Hervorgegangen ist er seinerzeit aus der Schule
Eugen Brachts, wenn auch Bautzer und andere
* Deutscher Maler und Radierer (1874-1947)
38 NachleseII
Meister Einwirkungen auf seinen Werdegang
hinterließen.
.Heute steht er lange schon als ein durchaus im ei
genen Erdreich Wurzelnder vor Ihnen, als ein Ma
ler von hohem Rang, der seine eigene Richtung sich
selber schuf, und den man vielleicht mit Boehle,
Thoma und Steinhausen in manche Parallele setzen
kann. Seine ganze Kunst ist erfüllt von einer star‐
ken und hingebenden Liebe zur Natur, ‒ insbeson‐
dere zur Natur und zu den Menschen seiner en‐
geren Thüringer Heimat, ‒ und in jedem seiner
Werke spricht sich eine ungemein reiche, tief emp
findende Seele aus.
.Sie werden diesem Künstler ohne weiteres zu
folgen vermögen, auch ohne jede weitere «Erklä‐
rung» seiner Werke. Ich bitte Sie aber, besonders
auf die großen Bilder an der Stirnwand des Saales
achten zu wollen. Diese Bilder tragen Ewigkeits‐
charakter und bilden gleichsam die Stimmgabel
zur ganzen Ausstellung, in der dieser «Ewigkeits‐
charakter» oft auch noch im kleinsten Blättchen
vielfach wiederkehrt.
.Daß Merseburg auch als Portraitist eine nicht
unbedeutende Stellung einnimmt, möchte ich
nur noch nebenbei erwähnen, und Sie werden ja
selbst Gelegenheit finden, sich jetzt auch in dieser
Hinsicht ein Urteil zu bilden.
39 NachleseII
.Ich danke auch an dieser Stelle dem Künstler,
daß er keine Mühe, keine Kosten und keine son‐
stigen Schwierigkeiten scheute, um uns diese
reichhaltige Kunstschau zu ermöglichen, und ich
hoffe, daß seine Kunst hier in Görlitz viele neue
Freunde und Verehrer finden wird.”
40 NachleseII
HANS THOMA
Zu seinem achtzigsten Geburtstag
WENN ich mir die Frage vorlege, wie dieser
große Altmeister deutscher Kunst an sei‐
nem Ehrentage am besten zu erfreuen wäre, dann
glaube ich, es könnte ihm nichts lieber sein, als
wenn ihm eine Schar Kinder, ungeputzt, wie sie
gerade vom Spielen kommen, Buben und Mädel,
schlicht und recht, wie es Kinder eben können,
vor seinem Fenster einfache deutsche Volkslieder
singen würde.
.Wie deutsche Volkslieder, sind ja auch alle
seine Bilder nur entstanden aus der naiven
Freude an der lieben, schönen Gotteswelt, an
Busch, Bach und Baum, an Wiese und Wald, und
an den guten, einfachen Menschen, die das
Volkslied kennt.
.Auch wenn er seine Gestalten aus Mythe und
Sage nimmt, oder wenn sie seiner schauenden
Phantasie entstammen, gibt er sie so, wie nur un‐
verdorbenes, reines und einfachstes Empfinden
sie sich vorzustellen vermag.
41 NachleseII
.Ein unübersehbarer Schatz ist es, den er in den
achtzig Jahren seines Lebens ‒ oder doch min‐
destens sechzig davon ‒ seinem Volke geschenkt
hat.
.Wohl sah er in dieser so langen Zeit gar manche
bedeutende künstlerische Erscheinung in deut‐
schen Landen neben sich wirken, allein, wenn es
gelten soll, den Künstler unseres Zeitalters zu nen‐
nen, der am reinsten deutsches Empfinden, deut‐
sche Poesie im besten Sinne, als Maler zum Aus‐
druck brachte, der alle Naturempfindung, die in
unseren Sagen, Märchen und Liedern beschlos‐
sen ruht, seiner Zeit wieder lebendig vor Augen
führte, dann wird sich kein Zweifel erheben, daß
nur sein Name allein zu nennen ist.
.Auch er ist einst in die Fremde gezogen, um
dort, wo noch lebendige Tradition das Handwerk
des Malers lehren konnte, sich sein Rüstzeug zu
holen, aber als er zurück in die Heimat kam,
wußte er bald, was er mit seinem draußen erwor‐
benen Können beginnen müsse, und streifte alles
ab, was nur Können um seiner selbst willen war,
um seinem schlichten Naturempfinden die ihm
allein gemäße Ausdrucksweise zu schaffen.
.Jahrzehntelang mußte er bitter um Anerken‐
nung ringen, und als sie ihm endlich allgemein
42 NachleseII
zuteil wurde, hatte er bereits ein halbes Jahrhun‐
dert an Lebensjahren erreicht.
.Spott und Hohn, Geringschätzung und Un‐
verstand hatte er in reichlichem Maße zu erdul‐
den, obwohl das uns heute kaum glaublich er‐
scheint, und nur eine kleine Schar begeisterter
Verehrer seiner frommen und innigen Kunst
wußte ihm zu zeigen, daß seine Bilder Seelen fan‐
den, die sie empfinden konnten, Menschen, die
seine damals schon in reicher Fülle vorhandenen
Meisterwerke würdig schätzten.
.Seit dieser trüben und schweren Zeit des Rin‐
gens, die eines jeden echten Künstlers Schicksal
ist, der sich von der Mode entfernt und mehr als
bloße «gefragte Marktware» zu geben unter‐
nimmt, hat ihm dann die Welt alle Ehren ge‐
bracht, die sie an einen Künstler und bedeuten‐
den Menschen nur vergeben konnte, und so
wurde in späten Jahren doch manches gesühnt,
manches ersetzt, was die Zeit seines jüngeren
Mannesalters ihm schuldig geblieben war.
.Selten hat sich deutlicher, als gerade an Hans
Thoma, gezeigt, daß das erste Bedingnis eines
großen Künstlers die eigene bedeutende Persön
lichkeit ist und daß alle manuelle Virtuosität nichts
bedeutet gegenüber dieser Grundvoraussetzung,
43 NachleseII
die schließlich auch nach dem härtesten Ringen
den Sieg verleiht.
.Man hat Thoma oft genug mangelndes maleri‐
sches Können, «Verzeichnungen» und ähnliches
vorgeworfen, aber man sehe sich nur einmal die
Jugendwerke an, die noch unter dem Einfluß der
französischen Künstler, besonders dem Courbets,
stehen, und urteile dann, ob der Maler dieser Bil‐
der nicht mit spielender Leichtigkeit imstande ge‐
wesen wäre, durch alle nur denkbare malerische
Bravour zu glänzen.
.Daß er es vorzog, sich eine einfache, schlichte
Weise zu schaffen, bewußten Willens auf alles, was
nur entfernt nach «genialer Mache» aussah, zu
verzichten, war ein befolgtes Gebot seiner von in‐
nen heraus gefestigten, reifen und im Tiefsten
wahren Persönlichkeit.
.Wer einmal in dieses gütige, klare und so le‐
bensvolle Auge blicken durfte, wer öfters diesen
stillen Weisen aus dem Schwarzwald in den
schmiegsamen warmen Tönen seiner Heimat aus
seinem so reichen Leben erzählen hörte, wer zu
stiller Stunde in seiner Werkstatt den Reichtum all
dieser Mappen aus der Jugendzeit von seinen lie‐
ben Händen ausgebreitet sah, der kann diese
Weihestunden nie vergessen, und wüßte, auch
44 NachleseII
wenn er niemals die an schöner Menschlichkeit,
Tiefe und Herzenswärme so reichen Schriften des
Meisters gelesen hätte, wie ernst dieser Schwarz‐
wälder Bauernsohn das Wort des Meisters von
Nazareth nahm: «So ihr nicht werdet wie eines
aus diesen Kleinen, werdet ihr nicht in das Reich
der Himmel finden.» ‒
.Wer ihm, wie ich, zu danken hat, daß er die er‐
sten, tastenden Schritte in das Labyrinth der
Kunst gütig und liebevoll auf rechte Wege wies,
der weiß auch, wie dieser so unendlich schaffens‐
reiche Künstler nicht nur zu schaffen, sondern
auch recht zu beraten versteht.
.Und dieses Wissen darum, daß er andere auf
rechte Wege zu führen vermag, hat ihn wohl auch
bewogen, seine Gedanken über Zeit und Ewigkeit
den Seelen der Menschen darzulegen.
.Alle weltläufige Phrase und nichtssagende
Wortemacherei muß vor dieser ruhigen, mensch‐
lichen Größe verstummen, die das Bedeutendste
und Erhabenste in so kindlich reiner und einfa‐
cher Weise zu sagen unternimmt, daß oberflächli‐
ches Urteil nur zu leicht den köstlichen Kern in so
bescheidener Schale übersieht.
.In diesem großen Meister der Kunst steckt
gleichzeitig ein weiser Seher voll tiefer seelischer
45 NachleseII
Erlebnisse, und wenn er nicht all seinem Schauen
Ausdruck zu geben trachtet, so hält ihn sicher nur
die Ehrfurcht vor dem Unbegreifbaren, die Sor‐
ge, Heiligstes zu profanieren, davon ab.
.Was Hans Thoma über das Leben der Seele ge‐
schrieben hat, gehört in all seiner unbekümmer‐
ten, schlichten Erzählerweise zu dem Schönsten,
Feinsten und Tiefsten, das in unserer Zeit zu
Worte ward, obwohl er selbst nicht im mindesten
den Anspruch macht, unter die «Denker» und
«Philosophen» oder die «Dichter» gezählt zu wer‐
den.
.Er liebt ‒ um seine eigenen Worte zu gebrau‐
chen ‒ sein «schönes Handwerk der Malerei» über
alles.
.Er sehnt sich nicht nach dem Ruhm eines
Schriftstellers.
.Aber alle, die das, was er geschrieben hat, gele‐
sen haben, werden ihm dankbar sein, daß er in
hohem Alter sich endlich entschließen konnte,
das niederzulegen, was er uns zu sagen hat.
.Und jetzt, an seinem achtzigsten Geburtstag,
gibt er noch gleichsam als Dank an alle, die sich
freuen, daß er dieses schöne Alter erleben durfte,
seine eigene Lebensgeschichte in Umrissen, vom
46 NachleseII
Schwarzwälder Bauernbuben und Uhrenmaler
angefangen, bis zu der Höhe, auf der er heute
weithin sichtbar für alle steht.
.An ihm können wir sehen, was unser Bestes ist. Er
zeigt uns, daß all unsere Kraft nur dann zu wirk‐
lich Bedeutendem führt, wenn sie von allem
Phrasenhaften sich frei erhält, und fest verankert
ist in einer reinen und im besten Sinne gläubigen,
auf sich selbst und den Weltgrund, der sie trägt,
fest vertrauenden Seele. ‒ ‒
.Möge der Achtzigjährige, der noch heute eine
prachtvoll kernige Handschrift schreibt, die wie
ein Bild seiner eigenen Geradheit und Festigkeit
ist, und aus der keiner sein hohes Alter er‐
schließen würde, uns noch manches erhebende
Wort, noch manches seiner seelisch so tief emp‐
fundenen Bilder schenken.
Görlitz, 2.Oktober 1919.
47 NachleseII
DIE BÖSEN MODERNEN!

WO immer eine moderne Ausstellungslei‐
tung, einer ernsteren und heiligeren Auf‐
fassung des Kunstschaffens folgend, mit dem al‐
ten Schlendrian aufräumte und frische, bele‐
bende Luft in ihre Säle einließ, dort erhob sich
noch stets das Zetergeschrei aller derer, die vorher
an gleicher Stelle reichlich Gelegenheit gefunden
hatten, mit den Erzeugnissen ihrer braven
Scheinkunst an erster Stelle zu prangen. Sie kön‐
nen es nicht begreifen, daß das nun anders werden
soll, und fühlen sich gekränkt in ihren ‒ wie sie
meinen ‒ wohlerworbenen Rechten. Nach Grün‐
den suchend für die Unbill, die nach ihrer Ansicht
ihnen widerfährt, gelangen sie niemals dazu, diese
Gründe bei sich selbst zu finden, und stets sind es
natürlich nur «Intrigen», «Ungerechtigkeiten»,
«Unterdrückungssucht» und Schlimmeres, wenn
diese bösen «Modernen» ihnen die Plätze wei‐
gern, die sie früher innehatten.
.Es wird als ganz selbstverständlich betrachtet,
daß man wirklich gute, echte Kunst, zu der jeder
48 NachleseII
wahre Kunstfreund «Wallfahrten» unternimmt,
wenn er sie irgendwo wittert, ‒ die selten ist, wie
die Perle in der Muschel, ‒ nur deshalb ablehnen
könnte, weil sie nun einmal der gerade «moder‐
nen» Strömung nicht in den Ausdrucksformen
gleicht. ‒ Man ahnt nicht einmal, welche Ungeheu
erlichkeit in einer derart stupiden Unterstellung
liegt! ‒ ‒
.Aber ein altes Sprichwort sagt: «Es sucht keiner
den andern hinterm Ofen, der nicht selbst einmal
dahinter war!» ‒ Die Herrschaften belieben ihre
eigene Haltung einer Kunstart gegenüber, zu der
sie keinen Zugang haben, weil sie wirklich aus den
Tiefen aller Kunstgestaltung schöpft, die ihnen
nie erreichbar waren, auch auf andere Menschen zu
übertragen, denn es ist ihnen schier unfaßbar,
daß diese «Modernen» nicht in gleicher Weise wie
sie selbst das ihnen Fernere verdächtigen sollten...
.Man kann oder will es nicht begreifen, daß einer
guten und ihres Urteils sicheren Ausstellungslei‐
tung ganz und gar nichts daran liegt, aus welcher
«Schule» die Künstler kommen, die sie werten
soll, oder welcher «Richtung» sie vielleicht zuge‐
zählt werden könnten. ‒ Man ist des felsenfesten
Glaubens, daß die Parteilichkeit, die man in sich
selber fühlt, auch anderen befehlen müsse, und hat
keine Vorstellung davon, wie absolut sicher reagie‐
49 NachleseII
rend sich der Blick für Echtheit, Wert und wirkliche
Ursprünglichkeit entwickeln läßt, und wie er jede
leise Spur davon entdeckt, wenn sie sich unter ir‐
gendeiner noch so sonderlichen oder alten Hülle
‒ wirklich findet. ‒
.Bringt doch einmal Werke zu so einer Ausstel‐
lung, die durch die Auswahl eines dieser bösen
«Modernen» ihre Gestalt gewinnt, ‒ Werke, die
auch nur in noch so bescheidener Weise irgend
etwas von jenen Werten zeigen, die noch im letz‐
ten und unbekanntesten Bildchen schlummern,
das irgendein unbedeutender Schüler eines der
alten holländischen Kleinmaler schuf! ‒ ‒
.Bringt einmal Stilleben und Landschaften, die
auch nur ein Weniges von jener tiefen Liebe, von
jenem echten Kunstgefühl in sich tragen, die
auch noch den geringsten Enkelschüler der
alten Großmeister dieser Kunstgebiete auszeich‐
nen! ‒
.Ihr würdet eure blauen Wunder erleben und
euch vielleicht doch beschämt bekennen müssen,
daß der Maßstab, nach dem die «Modernen» mes‐
sen, euch offenbar allzufremd ist, als daß ihr ihn
verstehen könntet! ‒ ‒ ‒ Freilich, für das, was in
euren Werken euch so wertvoll scheint, hat seine
Skala keine Eintragung. ‒ Aber deshalb soll man
50 NachleseII
nicht etwa glauben, daß er nur nach «Geschmack»
und «Mode» messe. ‒ ‒ ‒
.Sobald ein Künstler Ausdrucksformen findet,
die nur ihm und seiner Zeit gehören, sollte er nach
der Ansicht dieser armen «Unterdrückten» sofort
unterdrückt werden, damit nur ja sie selbst ihre
Plätze nicht verlieren...
.Es ist aber ein Gebot der Pflicht und der Billig
keit, gerade solchen Künstlern, die nicht auf den er‐
sten Blick dem großen Publikum verständlich
sind, die Schwierigkeiten aus dem Weg zu räu‐
men, ganz abgesehen davon, daß eine neue For
mensprache doch nicht die Begründung zur Ableh
nung geben darf, sobald es sich um wirklich erlebte,
aus ernstem Müssen geborene Kunst handelt. ‒
Was man in jenen Kreisen, die noch immer glau‐
ben, die seichte und innerlich hohle Kunstauffas‐
sung am Leben erhalten zu können, in der sie nun
einmal aufgewachsen sind, der neueren Kunst‐
beurteilung zum Vorwurf macht, das ist gerade
das Gegenteil von «Ungerechtigkeit». ‒
.Es ist die durch keine Vettermichelei zu beir‐
rende, unerbittliche Auswahl des Echten, Ur
sprünglichen aus der Menge des Nachempfundenen
und gemächlich aus zweiter Hand Bezogenen, ganz
einerlei, ob älteste oder allerneueste Formen und
51 NachleseII
Farbensprache dem innersten Müssen Ausdruck
gibt, oder nur äußerlich eitles Machwerk, mag es
auch dem ungeübten Laienauge noch so «schön»
erscheinen, zutage fördert.
.Die Zeiten sind viel zu ernst geworden, als daß
sie jener innerlich leeren Samtjackenkunst noch
Raum bieten könnten, die früher ihre Triumphe
feierte. Nur was uns wirkliche, dauernde Lebenswerte
aus der Seele Tiefen schürft, hat heute noch seine
Berechtigung und wird sie behalten, solange es
Kunst und Künstler gibt. ‒ ‒ ‒
52 NachleseII
«KINO», KULTUR UND KUNST

SEIT Jahren bringt das Kino seine Schauer‐
dramen, seine verlogenen Detektivgeschich‐
ten und unmöglichen Sensationsfilme, ohne daß
irgendein Mensch Einspruch erhoben hätte, bis
in die jüngste Zeit. Nun allerdings dämmert es all‐
mählich, und es finden sich, ganz abgesehen von
den verschiedentlichen Demonstrationen der Ju‐
gend, die wohl nicht gerade zweckmäßig sein
dürften, immer mehr gewichtige Stimmen im
Kampf gegen den «Kinoschund».
.Einsichtige sahen zwar längst, welche Seuche
sich da in unsern Volkskörper fraß, aber ihr Un‐
wille gedieh nicht zu lautem Einspruch, und
wenn je einer es wagte, das Kind beim Namen zu
nennen, fanden seine Worte wenig Widerhall.
.Auch heute darf man sich nicht dem frommen
Glauben hingeben, man hätte die Mehrzahl der
ernst zu nehmenden Menschen hinter sich, wenn
man auf die Schädlichkeit der Kinodarbietungen
hinweist. In weiten Kreisen, von denen man an‐
53 NachleseII
nehmen sollte, daß die psychologische Bedenk‐
lichkeit der Kinodramen für sie durchschaubar
sei, begegnet man einer unbegreiflichen Laxheit
des Urteils. Man glaubt, weil man selbst imstande
ist, ohne seelischen Schaden die albernsten Ab‐
surditäten des Flimmerbildes an sich vorüberzie‐
hen zu sehen, es handle sich im Grunde doch nur
um eine «recht harmlose Sache», denn man kann,
oder mag sich nicht in den Seelenzustand der Ju‐
gendlichen oder des nur bedingt urteilsfähigen
Volkes versetzen, um so die vergiftende Wirkung
der allermeisten Filmspiele zu erkennen. Ich
denke dabei durchaus nicht etwa nur an Darstel‐
lungen, deren ganze Absicht es ist, die Sinne auf
zureizen, auch wenn keinerlei Nacktheit, keinerlei
im Sinne der Zensur «unsittliche» Situationen ge‐
zeigt werden, obwohl ich auch wieder in keiner
Weise denen beipflichten kann, die das gröbste
Erregen der Sinnlichkeit beinahe als Kulturzweck
feiern, denn ich bin der Ansicht, daß die sinnli‐
chen Triebe im Menschen von Natur aus stark ge
nug wirksam sind, und bei gesunden Menschen,
am wenigsten bei Jugendlichen, der besonderen
Aufpeitschung gewiß nicht bedürfen. ‒ ‒
.Jedenfalls nimmt das Kino in dieser Beziehung
keine Ausnahmestellung ein, denn was die
plumpe Absicht, sinnlichen Kitzel zu erregen be‐
54 NachleseII
trifft, so leistet da so manche «Industrie» minde‐
stens Ebenbürtiges, von der Postkarte angefan‐
gen bis zum literarisch tuenden Roman und dem
auf die Börse der Theaterbesucher wie ein
Strauchdieb spekulierenden Schauspielkitsch.
.Viel schlimmer erscheint mir die verheerende
Wirkung der Kinodramen zu sein, durch die Ver
logenheit der Darstellungen und ihres Milieus. ‒
.Die Filmindustrie, die letzten Endes für alle
Schäden allein verantwortlich ist, denn der Kino‐
besitzer nimmt, was sie ihm bietet, weil er ja nichts
anderes bekommen kann, tut sich nicht wenig
darauf zugute, so realistisch wie möglich zu arbei‐
ten. Aber man sehe sich diesen «Realismus» ein‐
mal etwas genauer an!
.Wo in aller Welt gibt es soviel Tagediebe wie im
Kinodrama? Wo in aller Welt leben Menschen der
Arbeit, Gelehrte, Erfinder, Kaufleute, Künstler, in
der Art und Weise, wie das Kino ihr Leben zu zei‐
gen vorgibt? ‒ Wo in aller Welt können sich nor‐
mal begüterte Menschen den Luxus des Milieus
leisten, der in diesen Kinodramen immer wieder‐
kehrt? ‒
.Die protzig überladene Wohnung eines Schie‐
bers in Berlin WW, mag er nun seinen Reichtum
55 NachleseII
vor, im, oder nach dem Krieg «gemacht» haben,
ist doch gewiß nicht der Typus der Wohnung ei‐
nes jeden Begüterten! ‒ Und ebensowenig pfle‐
gen sich Männer und Frauen anständiger, besit‐
zender Kreise in der Art zu kleiden, wie es die
männliche und weibliche Lebewelt der großstäd‐
tischen Nachtlokale liebt, die sich das auf anderer
Leute Kosten leisten kann.
.Was soll der einfache Mann aus dem Volke, der
ohnehin schon mit bitteren Gefühlen von einem
Leben der «Reichen» träumt, wie es höchstens in
seltenen Auswüchsen einmal bei einem Geldprot‐
zen, der aus der Hefe einer Großstadt aufstieg,
zur Wirklichkeit wird, ‒ was soll der Jugendliche,
der aus ärmlichen Verhältnissen kommt, bei sol‐
chen Schilderungen aufnehmen, wenn nicht Haß
und Wut auf alle diese reichen Müßiggänger,
oder, im besten Fall, eine völlig überspannte Vor‐
stellung von dem Leben begüterter Kreise und
angesehener Berufe, und eine ebenso über‐
spannte Sucht, es ihnen nach Möglichkeit bald
gleichtun zu können ?! ‒ ‒ ‒
.Hier steckt meines Erachtens die allerübelste
Wirkung der Kinodramen, übler noch als die Ge‐
schmacksverbildung in literarischem Sinn, und
übler als alle kitschige Erotik. ‒
56 NachleseII
.Die Wirkung ist um so verderblicher, weil ja das
Kino wirkliches Leben vortäuschen will und von
dem naiven Beschauer auch ohne weiteres als ge
naue Darstellung des Lebens, wie es wirklich seiner
Meinung nach ist, genommen wird. Alles spielt ja
in natürlicher Umgebung. Das Leben der Straße
spielt mit, wie es sich gerade trifft, wirkliche Gär‐
ten und Parks, wirkliche Häuser und wirkliche
freie Luft bilden den Hintergrund der Szenen.
Unwillkürlich wird auch die «Wirklichkeit» der
Innenräume, die nicht wie beim Theater, Kulisse
sind, den Eindruck verstärken, man habe es mit
wirklichen Begebnissen zu tun. ‒
.Dazu kommt noch, daß doch die meisten Kino‐
schauspieler und Schauspielerinnen als solche
mehr oder weniger «Talmi» sind, von Ausnahmen
abgesehen, wo sich eine wirkliche Bühnengröße
des Geldverdienstes wegen für das Kino hergibt.
Die allermeisten dieser Akteure stammen gewiß
nicht aus vornehmen Häusern, kennen das Le‐
ben des wirklichen Aristokraten gewiß nicht aus ei‐
gener Anschauung, und so geben sie in ihrer
Rolle eben, was sie geben können: ‒ Talmi und
Kitsch. ‒
.Von der Verlogenheit historischer Milieus oder
ethnographischer Schauplätze und ihrer agieren‐
den Charaktere sei hier nur nebenbei noch die
57 NachleseII
Rede. Auch hier wird alles, was wirklich beleh‐
rend und wertvoll sein könnte, durch eine unsäg‐
lich alberne Aufmachung verdorben, und der oh‐
nehin schon allem Kitsch wohlgeneigte Ge‐
schmack der Menge in geradezu raffinierter
Weise noch unter sein ursprüngliches Niveau her‐
abgedrückt. Das gleiche gilt von den, aller Le‐
benswirklichkeit hohnsprechenden, so sehr be‐
liebten Detektivgeschichten, die noch außerdem
oft geradezu wie «Lehrkurse für Verbrecher und
solche, die es werden wollen», wirken. Es wäre
eine interessante Aufgabe für Kriminalisten, bei
den Verbrechen Jugendlicher, oder sonst Unbe‐
scholtener, einmal nachzuforschen, welcher Pro‐
zentsatz da auf eine «erste Anregung» aus dem
Kino entfällt. ‒ ‒
.Man sieht, es hat gute Gründe, wenn ernste
Männer und Frauen heute mit Sorge das «Kino‐
problem» betrachten, wenn man endlich anfängt
zu sehen, welche verheerende Seuche da mitten
unter uns wütet, und nach Mitteln sucht, sie ein‐
zudämmen. ‒ ‒
.Wie ich schon bemerkte, ist es gänzlich ver‐
kehrt, den Kinobesitzer als den Schädling anzuse‐
hen. Ein solcher Unternehmer würde mit Freu‐
den auch die kulturell wertvollste Einrichtung mit
gleicher Liebe ausgestalten, wenn sie ihm mehr,
58 NachleseII
oder auch nur gleichen Gewinn bringen könnte.
.Und wenn heute wirklich gute, wirklich belehrende
Filme überhaupt in so reicher Menge zu haben wä‐
ren wie der überreich angebotene glänzende
Schund, dann würden sich schon heute auch Licht‐
spieltheater finden, deren Programm auch einen
leidlich geschmackvollen, und vor allem verant
wortungsbewußten Menschen den Besuch nahele‐
gen könnte.
.Der Kardinalpunkt der ganzen Frage ist die
Filmbeschaffung, und da wieder nur läßt sich etwas
erreichen, wenn ein genügend starker Druck auf
die bestehenden Filmgesellschaften ausgeübt wer‐
den kann, der ihnen die Frage überhaupt erwä
genswert erscheinen läßt.
.Bis jetzt «geht» das Geschäft ja auch so. ‒ Wes‐
halb also etwas ändern, wenn der übergroße Teil
des Publikums doch äußerst zufrieden mit dem
Gebotenen ist? ‒ Ohne eine große, über ganz
Deutschland verbreitete Organisation wird sich nie
mals die Stimmstärke entwickeln, die kraftvoll ge‐
nug ist, das Ohr dieser Finanzmagnaten aufhor‐
chen zu lassen. Konkurrenzgesellschaften zu
gründen, die «nur Gutes» bringen sollen, halte
ich für völlig verfehlt. Die bestehenden Gesell‐
schaften arbeiten mit einem eingespielten Riesen
apparat und mit Riesenkapital. Sie allein werden
59 NachleseII
auch weiterhin diktieren, und ihr Joch ist der
Menge süß. ‒
.Wenn schon die Jugend, hier und an andern Or‐
ten, sich der Kinofrage annahm, so meine ich,
wäre es gar nicht so übel, wenn auch von der Ju
gend die Bildung einer machtvollen deutschen Or
ganisation zur Umwandlung des Kinos ausginge. ‒
Hier wäre jedenfalls ein ausgiebigerer Erfolg zu
erwarten, als er jemals von den doch recht dane‐
ben hauenden Demonstrationen in Lichtspiel‐
theatern zu erhoffen ist. ‒ An Unterstützung
würde es wahrhaftig nicht fehlen. Ist erst ein An
fang gemacht, dann zweifle ich nicht mehr, daß in
ein paar Jahren auch gute Filme in genügender
Menge hergestellt werden, «der Not gehorchend,
nicht dem eignen Trieb», was die Filmgesellschaf‐
ten anlangt.
.Mittlerweile haben hier in Görlitz zwei Männer,
deren Beruf sie in nächsten Konnex mit der Ju‐
gend führt, sehr anerkennenswerte Versuche un‐
ternommen, die Kunst und die Heimatliebe ins
Kino einzuführen. Als Bereicherung der Möglich
keiten, die ein Lichtspieltheater bieten kann, sind
diese Versuche sehr begrüßenswert, wenn sie auch
zur eigentlichen Lösung der Kinofrage, die eine
Filmfrage ist, nur mittelbar beitragen. Die durch
seine Bemühungen gebotene Gelegenheit, hier
60 NachleseII
schwer zugängliche Klingersche Radierungen im
Lichtbild sehen zu können, sichert Hrn. Oberlehrer
Schulze, neben den hochinteressanten Ausführun‐
gen seines Vortrages, stets gut besuchte Häuser,
zumal er sich an Erwachsene wendet, unter denen
hier immerhin eine ziemliche Anzahl Kunstinter‐
essenten zu finden ist. Weniger Verständnis zeigt
sich, wenigstens vorläufig, für die schönen Nach‐
mittagsvorträge, in denen Hr. Zeichenlehrer Haupt
der Jugend seinen reichen Schatz an eigenen Auf‐
nahmen aus der Heimat darbietet, und ihr,
gleichsam nebenbei, eine Fülle des Interessanten
und Belehrenden aus der Heimatgeschichte, die
er so genau kennt, übermittelt. Es wäre außeror‐
dentlich zu bedauern, wenn diese vom Geist ech‐
ter Heimatliebe und freudigen Gebenwollens ge‐
tragene Veranstaltung aus «Mangel an Interesse»
aufgegeben werden müßte. Wenn Eltern sich
selbst und ihren Kindern eine Stunde gediegenen
Genusses bereiten wollen, so können sie nichts
Besseres tun, als diese Vorträge des Hrn. Haupt
zu besuchen.
.Immerhin, so anziehend und belehrend die
Vorträge beider Herren auch sind, so sehe ich in
ihnen, obwohl zwar Hr. Haupt, der Jugend Rech‐
nung tragend, auch das Kino mit humorvollen,
einwandfreien oder auch belehrenden Filmnum
61 NachleseII
mern heranzieht, nur eine Bereicherung des im
Lichtspieltheater möglichen Programms, denn wie
die Dinge heute liegen, hat das Stehbild im «Kino»,
wie schon der Name sagt, doch nur sekundäre Be‐
deutung. Man kommt in erster Linie, um bewegtes
Leben auf der Leinwand zu sehen. Daß dieses be‐
wegte Leben eminent bedeutend, belehrend, er‐
heiternd, und in höchstem Grade interessant sein
kann, ohne verderblich zu wirken, steht außer
Frage. Aber die prächtigen Möglichkeiten des
Filmbildes, das uns alle Wunder der Märchenwelt
als Wirklichkeit schauen lassen, und die tiefste ur‐
sprüngliche Poesie vermitteln kann, werden nie‐
mals in einer andern, als der dem Berliner Nacht‐
kaffeehaus angepaßten Weise ausgenützt werden,
wenn sich nicht in ganz Deutschland eine achtung‐
gebietende Anzahl von Männern und Frauen fin‐
det (die männliche und weibliche Jugend rechne
ich hier in erster Linie dazu), die wenigstens un‐
sern deutschen Filmgesellschaften einmal mit aller
Deutlichkeit sagen, wie das deutsche Volk die an
sich so wunderbare Erfindung des beweglichen
Lichtbildes verwertet wissen will...
62 NachleseII
MAX KLINGER
ES sind jetzt etwa fünfzehn Jahre her, seit ich
zum erstenmal die Hand des nun Verbliche‐
nen in der meinen halten durfte. Damals, in sei‐
ner Leipziger Villa, kam er mir, von dem er durch
Freunde gehört hatte, zuerst recht feierlich ent‐
gegen, aber das legte sich bei späteren Begegnun‐
gen, als wir uns genügend kennengelernt hatten,
ganz von selbst, so daß, wenn ich heute an Klinger
denke, nur immer das Bild eines Mannes vor mir
steht, mächtig und bedeutend schon in seiner
äußeren Erscheinung, aber nur mit Hose und Fi‐
letnetzjacke bekleidet, und darüber dieser un‐
glaublich kluge Kopf mit dem rotblonden Haar‐
schopf und dem gleichgefärbten Knebelbart. Die
Art, in der er einen so über die Brillengläser weg
anschauen konnte, war ganz unbeschreiblich fas‐
zinierend, und ich glaube gerne, daß diesem Blick
nicht jeder standzuhalten vermochte. Wie er mir
zwischen den Modellen und Vorarbeiten im Ate‐
lier und abends beim Wein erzählte, war er auch
von Natur aus sehr unzugänglich und konnte
63 NachleseII
eine gewisse «Schüchternheit», wie er es selbst
nannte, nur sehr schwer überwinden.
.So viel auch über seine Kunst geschrieben wor‐
den ist, ‒ den Menschen Klinger fand ich bis jetzt
noch niemals gehörig gewürdigt. Man konnte
glauben, er lebe in unserer Zeit, und entdeckte
dann plötzlich, daß man einen vornehmen Rö‐
mer, vielleicht auch einen Griechen der hellenisti‐
schen Zeit vor sich hatte, ‒ ‒ man war versucht,
ihn als einen Spätgeborenen, oder als eine Rein‐
karnation der Antike zu nehmen, und sah ebenso
überraschend stark ausgeprägt einen Menschen
vor sich, der gesättigt war mit allen Werten mo‐
derner Kultur... Musikalisch bis in die Finger‐
spitzen, belesen wie ein moderner Literatur- und
Theaterkritiker, völlig vertraut mit dem Leben
der großen Welt, und dabei so unendlich kindlich
einfach in mancher Urteilsbildung, daß man sich
hätte verwirren lassen können, wenn man auch
nur einen Moment vergessen hätte, was alles die‐
ser mächtige und doch so kompliziert gebildete
Schädel barg. Man hat Klinger oft genug ein
Übermaß an Intelligenz vorgeworfen, einer Intel‐
ligenz, die angeblich seiner Kunst im Wege stehen
sollte, aber wer ihn jemals so kennen lernen
durfte, wie es mir vergönnt war, der wird mir
gerne bestätigen, daß in diesem modernen Pan
64 NachleseII
auch eine Gefühlstiefe wurzelte, wie sie, selbst un‐
ter den hervorragendsten Meistern der Kunst ‒
sehr selten ist. Ich glaube, daß man wirklich bis
zu den Gestalten der Antike, bis zu griechischen
Vasenmalern, oder mindestens zu den hervor‐
ragendsten Persönlichkeiten der italienischen
Renaissance zurückgreifen muß, wenn man
irgendwo in einem Menschen diese kraftstrot‐
zende und doch so hochkultivierte Sinnlichkeit
wiederfinden will, die eigentlich Klingers künst‐
lerisches Fundament war. Ihm war das ganze Er‐
dendasein Ausdruck göttlicher Sinnenfreude, und er
glaubte an seine sinnlich-frohen «Heidengötter»,
wie Schwind an seine Gnomen und Elfen glaubte,
mit der ganzen Inbrunst eines Herzens, dem es
Selbstverständlichkeit ist, daß «die Sonne Homers»
auch unserem Geschlechte scheint, wenn es ‒ ihrer
würdig ist, wie er es war. ‒ ‒ ‒
.Die neuere Kunstentwicklung hat anscheinend
Klinger überholt, aber niemand begrüßte das so,
wie Klinger selbst. ‒ Er wollte keine «Schule ma‐
chen». Er wußte viel zu genau, daß er ein Einzigar
tiger war, dem keiner ohne Gefahr nachfolgen
durfte. Nichts brachte ihn, nach eigenem Geständ‐
nis, mehr zur Verstimmung, als wenn er sah, daß
irgendein junger Künstler auf seinen Fuß-Spu‐
ren zur Kunst zu gelangen suchte. Wie groß aber
65 NachleseII
war seine Freude, wenn er irgendwo einen fand,
der neue Wege suchte. Nur seine übergroße
Ängstlichkeit vor jeder Zeitungsnotiz konnte ihn
dann davon abhalten, für einen Neuerer öffent‐
lich einzutreten. Ich selbst hatte ihm seinerzeit
Arbeiten gezeigt, zum Teil symbolischen und spä‐
ter rein farbensymbolischen* Inhaltes, die man
heute wohl zum «Expressionismus» rechnen
würde, und ich werde niemals vergessen, wie er
mir mal bis zum Gartentor nachlief, um mir noch‐
mals einzuschärfen, ich möchte mich doch ja
durch Ablehnung nicht «decouragieren» lassen.
Daß ich dennoch nur mit zwei Mappenwerken
rein symbolistischen Inhalts damals in die Öffent‐
lichkeit zu treten wagte und mit meinen farben‐
symbolischen Werken mich nicht bemerkbar
machte, hat er mir, wie ich bei meinem letzten Be‐
such sah, beinahe als Charakterfehler angerech‐
net, obwohl ich ihm damals wenigstens die Photo
graphien meiner griechischen Bilder zeigen
konnte, die ihn, den begeisterten Freund Grie‐
chenlands und seiner antiken Überreste, gerade
deshalb am meisten erfreuten, weil er auf keinem
der Bilder Anklänge an die heutige Zeit entdeckte. ‒
* Die «farbensymbolischen Werke» bzw. «farbig-abstrak‐ 00
ten Gebilde» wurden später von Bô Yin Râ als «geistliche 00
Bilder» bezeichnet.
66 NachleseII
.Immer und immer wieder aber kam er auf die
früheren farbensymbolischen Arbeiten zurück
und bedauerte, daß ich den Mut nicht fand, sie
der Öffentlichkeit zu zeigen. Ich war mir jedoch
nur viel zu klar darüber, daß eben nur Klinger, mit
seinem unglaublich ausgebildeten Musikempfin‐
den, dazu imstande war, das zu erfühlen, was ich
da in Farben-Rhythmen für mich selbst auszuspre‐
chen unternommen hatte, aber ich bedauere tief,
daß ich ihm die letzte Freude nicht mehr bereiten
konnte, ihm zu sagen und zu zeigen, wie der
Drang zu farbig-abstrakten Gebilden mich wieder
erfaßte, und wie er schließlich, nachdem das Er‐
lebnis «Griechenland» Gestalt gewonnen hatte, zu
neuen Resultaten führte. ‒ Immer wieder klagte
er mir, daß man ihn nicht in Ruhe ließe, und wie
Unzählige, meist seiner Ansicht nach völlig Un‐
berufene, von ihm «ein Urteil» haben wollten, be‐
sonders Graphiker. Hier war es nun seine Schwä‐
che, daß er es niemals fertig brachte, rücksichtslos
seine Meinung zu sagen... Für jeden, mochte er
auch noch so unbedeutend sein, hatte er ein lie‐
benswürdiges Wort, auch wenn er nachher dort,
wo er sich geben durfte, wie er war, kopfschüt‐
telnd seine sarkastischen Bemerkungen machte
über die «unglaubliche Borniertheit» der Kerle,
die da «die schönen Kupferplatten zuschanden»
arbeiteten. ‒
67 NachleseII
.Über sein eigenes Werk, seine Radierungs‐
Zyklen, seine Plastik und seine Malerei auch nur
ein Wort zu verlieren, hieße «Eulen nach Athen
tragen». (Obwohl ich in dem heutigen Athen
recht wenig Eulenrufe hörte!) Er war ein durch‐
aus Einziger und Unnachahmlicher, eine der ganz
großen Persönlichkeiten, die man nur würdigen
kann, wenn man das Glück hatte, ihnen persön‐
lich nahekommen zu dürfen, die aber erst von der
Nachwelt ihre feste und unverrückbare Stellung
im Pantheon der Großen eines Volkes erhalten. ‒
.Erschütternd wirkt sein Scheiden doppelt in
diesen schicksalsschweren Tagen, und dennoch
hatte ich niemals bei ihm das Gefühl, daß dieses
starke Leben einst zu einem Patriarchenalter füh‐
ren könne. Der ganze Mensch wirkte wie ein
Fragment einer überweltlichen Architektur, und
als ein solcher sollte er wohl auch seiner Nachwelt
erkennbar werden. ‒ ‒ Was Rodin für Frankreich
war, und dennoch zugleich für die ganze Welt, ‒ das
war Max Klinger für uns, und vielleicht ‒ ‒ auch für
einen gar nicht so unbeträchtlichen Teil der außer
deutschen Welt. ‒
68 NachleseII
ABHANDLUNGEN
EDISON UND DER SPIRITISMUS
KÜRZLICH war in einer Zeitungsnotiz zu le‐
sen, daß Edison sich mit der Konstruktion ei‐
nes hochsensiblen Apparats befasse, der es den
Seelen Abgeschiedener, falls sie die von überzeu‐
gungstreuen Spiritisten angenommene Sehn‐
sucht verspürten, mit den auf Erden Zurückge‐
bliebenen zu verkehren, sehr wesentlich erleich‐
tern solle, sich bemerkbar zu machen.
.Gleichzeitig hofft Edison, wie er angeblich ei‐
nen amerikanischen Reporter wissen ließ, durch
seinen Apparat endgültig festzustellen, ob der Zu‐
stand der Menschengeister nach dem Tode des
Körpers überhaupt zu einer solchen Kommuni‐
kation fähig, oder ob alle mit Hilfe von Medien er‐
haltenen Botschaften nur eitle Flunkerei seien.
Jedenfalls traut er, nach dem Bericht, den Medien
nicht viel Gutes zu.
.Es ist ebensowohl denkbar, daß diese Notiz als
fette Ente über den Ozean geflogen kam, wie es
71 NachleseII
auch durchaus zu verstehen wäre, daß ein bedeu‐
tender Erfinder das Problem des Verkehrs mit
den Jenseitigen auf seine Weise zu lösen versu‐
chen würde. Eine andere Frage aber ist es, ob je‐
mals durch Apparate die Existenz jenseitiger Intel‐
ligenzen (die trotz ihrer eigenen Behauptungen
durchaus keine verstorbenen Menschen zu sein
brauchen) überhaupt nachgewiesen werden
kann.
.An Apparaten, die den Jenseitigen die Arbeit
erleichtern sollten, hat es bis jetzt durchaus nicht
gefehlt, und es gibt sogar einen Apparat, der an‐
geblich die Medien überflüssig macht (das Arnold
sche Skriptoskop) und mit den minimalen Kräften
medialer Art rechnet, die in jedem Menschen
schlummern. Aber alle diese Apparate brauchen
dennoch die Mitwirkung der im sichtbaren Kör‐
per lebenden Menschen. Immer ist die Berührung
des Apparates gebotene Bedingung, soll er über‐
haupt in Bewegung geraten. Ich nehme an, daß
Edison, falls die Notiz auf Wahrheit beruht, an der
Konstruktion eines Apparats arbeitet, der diese
Fehlerquelle ausscheiden will, und ohne jegliche
Berührung von seiten der Experimentatoren, le‐
diglich durch Kraftanwendung, die von unsicht
baren Agenten ausgeht, deren Dasein erweisen
soll.
72 NachleseII
.Der Nachricht zufolge erwartet Edison eine
«furchtbare Sensation», falls sein Apparat Erfolg
haben sollte. ‒ ‒
.Nun mag ja gewiß zugegeben werden, daß es
völligen Außenseitern vielleicht sehr imponieren
würde, wenn sie unter dem neuen Apparat plötz‐
lich in sauberer Schreibmaschinenschrift eine
Mitteilung aus dem Jenseits vorfänden, ohne daß
eine Möglichkeit der Mitwirkung sichtbarer Men‐
schen dabei in Betracht kommen könnte. Neu
wäre aber dabei allein die Form des Experiments,
denn die Geschichte des Spiritismus kennt längst
weit eindrucksvollere Geschehnisse, die sich nicht
nur ohne Berührung irgendeines Apparats, son‐
dern völlig ohne besonderen Apparat ereigneten
und mehr als hinlänglich beglaubigt sind. Immer
aber ist die Nähe eines seiner medianimen Bega‐
bung bewußten oder nicht bewußten «Mediums»,
also eines Menschen von abnormer psycho-physi‐
scher Beschaffenheit, Vorausbedingung solcher
Geschehnisse. Was dagegen bei der Beschäfti‐
gung mit Apparaten, die angeblich keines Medi‐
ums bedürfen, herauskommt, ist so wenig über‐
zeugend, läßt sich so leicht auf unbewußte Bewe‐
gung kleinster Muskeln der den Apparat Bedie‐
nenden zurückführen, daß nur völlige Kritiklo‐
sigkeit hier den Beweis für ein jenseitiges Eingrei‐
73 NachleseII
fen erblicken kann, selbst wenn der Inhalt der auf
solche Weise erhaltenen Mitteilungen scheinbar
zwingend auf jenseitige Urheber schließen lassen
mag.
.Wird nun Edisons Apparat die Mitwirkung ei‐
nes menschlichen Mediums tatsächlich völlig ent‐
behrlich machen? Wird man, von einem Ausflug
zurückkehrend, plötzlich vor der Tatsache ste‐
hen, daß im sicher verschlossenen Zimmer, in
dem der Apparat stand, eine «Mitteilung aus dem
Jenseits» zustande kam? ‒ Ich glaube kaum, und
mein Zweifel gründet sich dabei denn doch auf ei‐
nigermaßen erprobte Untersuchung der in Be‐
tracht kommenden Faktoren.
.Aber nehmen wir ruhig einmal an, es gelänge
Edison, das «Medium» völlig zu eliminieren und
auf diese Weise völlig einwandfreie Botschaften
aus dem Unsichtbaren zu erhalten. Was wäre da‐
bei gewonnen? ‒ ‒
.Erhalten nicht unsere Telefunkenstationen tag‐
täglich unzählige solcher Botschaften? Allerdings
kennt man da den Absender und weiß, daß es ein
in der Sichtbarkeit lebender Mensch ist. Bei dem
Edisonschen Apparat würde man nun bestenfalls
vielleicht Botschaften erhalten, wie sie der Spiri‐
tismus allerdings längst schon kennt, Botschaften,
74 NachleseII
deren Urheber sich als der Geist Goethes, Napo‐
leons, als «Erzengel Gabriel» oder gar als «Gott‐
Vater» ausgeben würde. Man wäre nach wie vor
auf die Glaubwürdigkeit der sich manifestierenden
Intelligenz angewiesen, und daß es mit dieser
Glaubwürdigkeit dann doch eine recht eigenar‐
tige Bewandtnis hat, das werden selbst unter den
Spiritisten nur jene nicht zugeben wollen, die in
der Offenbarung ihrer «Geister» ein unantast‐
bares Evangelium sehen. Wir würden also nur
zum tausendstenmal die längst erwiesene Tatsa‐
che feststellen können, die auch der Physiker
Crookes nach unzähligen Experimenten (zum Teil
ausgeführt unter Zuhilfenahme der empfindlich‐
sten elektrischen Kontrollapparate) feststellte,
daß es unzweifelhaft unsichtbare Intelligenzen gibt,
die sich physikalisch manifestieren können, daß sie
sich selbst alle möglichen Namen beilegen, daß
aber jeder zwingende Beweis fehlt, der sie als
überlebende geistige Individualitäten «gestorbe‐
ner» Erdenmenschen dartun würde. ‒ Es ist und
bleibt reine Glaubenssache, ob man sie als solche
ansehen mag oder nicht. ‒ ‒
.Wie aber wäre es, wenn man die Hypothese,
daß man es, ihren eigenen Angaben nach, hier
mit «Geistern Verstorbener» zu tun habe, einmal
gänzlich fallen lassen wollte, besonders, da die post‐
75 NachleseII
humen Äußerungen dieser vermeintlichen Gei‐
ster doch in den weitaus meisten Fällen sehr
merkwürdige Kontraste mit ihrer Geistigkeit bil‐
den, die sie im Körper der Erde dokumentierten
und die nur durch einen schreckenerregenden
Rückschritt zu erklären wären? ‒ (Selbst «Gott‐
Vater» und der «Erzengel Gabriel» bringen es
über triviale Salbadereien nicht hinaus!)
.Wie wäre es, wenn wir es hier mit einer Wesens‐
reihe zu tun hätten, die zwar unseren Sinnen
nicht faßbar ist, aber dennoch einen Bestandteil
dieser physischen Welt bildet? ‒ Haben wir wirklich
schon alles entdeckt, was auf dieser Erde an Irdi‐
schem und dennoch Unsichtbarem zu entdecken
ist? ‒ Ich spreche diese Frage gewiß nicht leicht‐
fertig aus und glaube meine Gründe zu haben, sie
aufzuwerfen.
.Die Frage, ob es überhaupt absolut einwandfreie
Manifestationen «spiritistischer» Art gibt, bejahe
ich auf Grund unanfechtbarer eigener Erfahrung
durchaus, und diese Frage kann auch heute nur
noch von Menschen gestellt werden, denen ent‐
weder das ganze in Rede stehende Gebiet durch‐
aus fremd ist, oder von solchen, die niemals Gele‐
genheit fanden, jeder nur möglichen Kontrolle
zugängliche, keinerlei Täuschungsmöglichkeit
mehr unterworfene Manifestationen aus unsicht‐
76 NachleseII
barer Quelle zu erleben. Auch denen könnten die
Erfahrungen von Männern wie Crookes, Lombroso,
Schiaparelli, Zöllner, Richet, Rochas, Baraduc und
von vielen anderen doch zu denken geben... Mit
Schopenhauer möchte ich sagen: «Wer diese Tatsa‐
che leugnet, ist nicht ungläubig, sondern unwissend
zu nennen.» ‒
.Ich will auch durchaus nicht in Abrede stellen,
daß diese Manifestationen sehr oft den Glauben
nahelegen können, man habe es mit Äußerungen
Abgeschiedener zu tun, ja daß es selbst möglich
sein könne, daß gelegentlich eine menschliche En‐
telechie, sei sie nun noch an irdische Körperlich‐
keit gebunden oder nicht, als «spiritus rector» sich
solcher Manifestationen bediene. Trotz alledem
aber glaube ich allen Grund zu haben, die eigent‐
lichen Urheber aller spiritistischen Manifestationen,
also aller Vorkommnisse, zu deren Erklärung die
animistische Erklärungsweise nicht ausreicht (die
also nicht durch eigene Seelenkräfte erklärbar
sind), als Wesen einer uns unbekannten, in der
physischen Welt lebenden, unsichtbaren Wesensreihe
ansprechen zu dürfen, und meine, allerdings aus
gewissen Gründen nur mir persönlich zugängli‐
chen Beweise würden auch selbst durch die stau‐
nenerregendsten Erfolge des Edisonschen Appa‐
rates nicht im mindesten zu erschüttern sein.
77 NachleseII
.Der Beweis vom Fortleben des Menschengeistes
nach dem Tode ist hier nie und nimmer zu finden
trotz der enormen Ausbreitung der spiritistischen
Glaubenssätze, trotz der über 30000 Bände um‐
fassenden spiritistischen Literatur. Wer diesen Be‐
weis nicht in einer für ihn selbst zwingenden Art in
sich selbst zu finden vermag, der wird ihn in der Welt
der äußeren Sinne vergeblich suchen und im be‐
sten Falle nur der Täuschungslust tief unter ihm
stehender Wesen erliegen, die ihn nur gläubig
finden, weil er nicht imstande ist, sie zu sehen. ‒
Was er gelegentlich, bei den doch immerhin rela‐
tiv seltenen echten «Materialisationen» angeblich
Gestorbener zu sehen bekommt, sind, trotz aller
Ähnlichkeit niemals jene Gestorbenen, sondern
gleichsam galvanisierte astrale Larven, wie sie
jede irdische Erscheinung in der Aura dieses
Weltkörpers zurückläßt, erborgte Masken, deren
sich jene, mir mehr als wünschenswert bekannten
unsichtbaren Wesen bedienen, um ihre Rufer er‐
folgreich zu äffen. ‒ («Materialisationsphäno‐
mene», wie sie Schrenk-Notzing zu untersuchen
Gelegenheit fand, tragen ihren Namen zu Un‐
recht und sind durchaus auf animistischer Basis, als
abnorme psycho-physische Erscheinungen, aber
niemals als echte Materialisationen, wie sie z.B.
Crookes erlebte, anzusprechen.) Es wäre sehr zu
bedauern, wenn etwa durch Edisons Erfindung
78 NachleseII
eine neue Verwirrung der Geister ‒ aber der in
Gehirnen tätigen ‒ Platz greifen würde; denn die
Enttäuschung wäre zum Schlusse unvermeidbar,
und für viele würde sie nur ein Zurücksinken in
flachste materialistische Denkungsart, ein Verfal‐
len in trostlosen Zynismus bedeuten. Wen Natur
nicht selbst dazu befähigt hat, dem sinnlich Uner‐
forschlichen auf übersinnliche Art zu nahen, der
bleibe ferne einer Region, die zu seinem eigenen
Besten vor seinen Augen verborgen bleibt, und er
«begehre nimmer zu schauen», was die Götter
«gnädig verhüllten mit Nacht und Grauen!» ‒ ‒
79 NachleseII
DIE «MEISTER»
DER «WEISSEN LOGE»
FRAU Helena Petrowna Blavatski gründete im
Jahre 1875 zu New York die «Theosophical
Society». Die Beziehung auf das Wort «Theoso‐
phie» erschien in diesem Titel, nachdem eine vor‐
angegangene Gründung, der «Miracle Club»,
nicht den erhofften Anklang gefunden hatte, und
stammt von dem, später durch seinen «buddhisti‐
schen Katechismus» bekannt gewordenen Ameri‐
kaner Olcott, der auch der erste Präsident der Ge‐
sellschaft wurde.
.Seit ihrem zwölften Jahre hatte sich Frau Bla
vatski, geb. von Hahn-Hahn, als spiritistisches Me‐
dium betätigt. Im Jahre 1871 noch gründete sie in
Kairo die «Société spirite», und noch kurz vor der
Umwandlung des «Miracle Club» in eine «Theoso‐
phische» Gesellschaft, wußte sie durchaus nichts
von indischen oder tibetanischen «Mahâtmas»,
sondern kannte nur ihren «Kontrollgeist» John
King. ‒
.Eine Änderung trat erst ein, als sie mit einem
Privatgelehrten Felt in Verbindung kam, der auf
80 NachleseII
seine Weise das Studium antiker Kulte betrieb
und eine reichhaltige Bibliothek seltener okkulti‐
stischer Werke besaß.
.Hier lernte Frau Blavatski plötzlich so manches
kennen, das bis dahin nicht in ihren Gesichtskreis
getreten war, und ihr Ehrgeiz, ihre ausgeprägte
Eitelkeit, fanden sich sehr wenig schmeichelhaft
berührt durch die Auffassung Felts in bezug auf
den Spiritismus.
.Die Folge davon war, daß durch eine energisch
erzwungene Transfiguration aus ihrem «Kon‐
trollgeist» John King ein «Mahâtma», ein im fer‐
nen Tibet verborgen lebender «Wissender» und
Beherrscher der okkulten Kräfte der Natur, ‒ ihr
erster «Meister der Weisheit» wurde. ‒ ‒
.Alle okkulten, spiritistischen Phänomene, die
sie seit früher Jugend begleitet hatten, wurden
von ihr nun diesem «Meister» zugeschrieben.
.Aus den Aufschlüssen, die ihr bei Felt und in
dessen Bibliothek seltener okkultistischer und
mystischer Schriften geworden waren, hatte sie
bereits die Überzeugung geschöpft, daß es ir‐
gendwie und irgendwo auf der Welt eine verbor‐
gene, keinem, außer ihren Angehörigen und de‐
ren erwählten Nachfolgern, zugängliche geistige
Gemeinschaft geben müsse, und selbstverständ‐
81 NachleseII
lich war nun ihr «Meister», alias John King, ein
Zugehöriger dieser geistigen Gemeinschaft. ‒
.Einmal nach dieser Richtung hin auf der Suche,
gelang es ihr auch, auf Grund ihrer abnorm star‐
ken medialen Veranlagung, sowie im somnam‐
bulen Zustand, zwingende Beweise von dem Da‐
sein einer solchen geistigen Gemeinschaft zu er‐
halten, manches sorglichst Geheimgehaltene, das
von dieser Gemeinschaft ausging, gleichsam mit
anzuhören, wie etwa ein unberufener Dritter das
Gespräch zweier Telephonteilnehmer «abhören»
kann. ‒
.Nun kam die Zeit, in der sie jedem mehr oder
weniger bedenklichen Einfluß okkulter Art hem‐
mungslos unterlag, wie ich das an anderer Stelle
bereits beschrieben habe.
.Jeder solcher Einfluß wurde von ihr einem An‐
gehörigen jener geistigen Gemeinschaft zuge‐
schrieben, die sie in ihrer Wundersucht so völlig
verkannte und zu der sie niemals in Beziehung tre‐
ten konnte, da ihr dazu alle Vorbedingungen völ‐
lig fehlten. ‒ Es entstand bald der zweite «Mei‐
ster», dann wurden ihrer noch mehrere aktiv,
und hiermit war die «Weiße Loge» ‒ ein Wort aus
dem Sprachschatz Felts ‒ nach Frau Blavatskis Mei‐
nung, hinter der ihre glühendsten Wünsche stan‐
82 NachleseII
den, zu ihr in handgreifliche Beziehung getreten.
‒ Sie wurde die «Dienerin der Meister» ‒ und
ahnte wohl bis zu ihrem Tode nicht, daß ihre un‐
gestümen Wünsche sie erst zum Selbstbetrug ver‐
leitet hatten, um sie dann zu einer willigen Sklavin
bedenklicher okkultischer Praktiker zu machen. ‒
.Sie ahnte wohl nicht, daß sie auch in den relativ
harmlosesten Fällen nur das Opfer mystisch gerich‐
teter Schwärmer war. ‒ ‒
.Bis zu ihrem Tode spiritistisches Medium, von
seltenen und abnorm starken Phänomenen be‐
gleitet, glaubte sie sich hoch erhaben über jeden
Zusammenhang mit spiritistischen Manifestatio‐
nen und sprach sich späterhin stets in der abfällig‐
sten Weise über den «Spiritismus» aus, immer in
der nach und nach bei ihr stets fester wurzelnden
Meinung, ihr «Kontrollgeist» John King sei von
ihr nur früher verkannt worden, und sie stehe
also schon von Kindheit an unter der Leitung der
«Meister». ‒
.Diese außerordentlich merkwürdige und hoch‐
begabte Frau diente aber dennoch indirekt der Ge‐
meinschaft des Geistes, mit der sie sich seit dem
Jahre 1875 in Verbindung glaubte...
.Durch ihr eigenes impulsives Werben, und
durch das Tam-Tam ihrer Anhänger wurde die
83 NachleseII
Aufmerksamkeit weiter Kreise erregt, und eine
dunkle Kunde aus ferner Vorzeit, nur da und
dort in orakelhaften Andeutungen noch erhalten,
erhielt wieder Sinn und Leben.
.Man erwog zum wenigsten wieder die Möglich
keit, daß eine verborgene geistige Gemeinschaft
auf dieser Erde bestehen könne, wenn auch kritik‐
fähigeren Köpfen jene spiritistischen Phäno‐
mene, durch die das Dasein einer solchen Ge‐
meinschaft «bewiesen» werden sollte, jene allzu
albernen okkulten Kunststücke: ‒ herbeigezau‐
berte Tassen und Broschen, Briefe, die in ver‐
nähte Kissen hineineskamotiert wurden, verzau‐
berte und an anderen Stellen wieder zum Vor‐
schein gebrachte Zigaretten, auf mysteriöse Weise
erhaltene Antworten auf Briefe an die «Mahât‐
mas», bei denen die Antwort im uneröffneten Ku‐
vert des Briefes zu finden war, und ähnliches
mehr ‒ ‒ recht wenig mit der doch immerhin anzu‐
nehmenden Selbstachtung einer solchen hohen
geistigen Gemeinschaft in Einklang zu stehen
schienen. ‒ ‒
.In den mächtigen Folianten, die von Frau Bla
vatski medianim niedergeschrieben wurden, fand
sich, neben einem Wust absurder Annahmen,
doch auch manches, das sich mehr oder weniger
unter oder auch über der «Schwelle ihres Bewußt‐
84 NachleseII
seins», aus der Feltschen Bibliothek hierher geret‐
tet hatte und immerhin zu denken gab.
.Eine gigantische, aber mehr noch gigantisch‐
phantastische Kosmogonie bewirkte, neben der
Verwirrung, die sie in glaubensfreudigen Gehir‐
nen anrichtete, immerhin eine ins kosmische ver‐
breiterte Ausdehnung des Gesichtskreises bei gar
vielen, die vorher nicht die Anregung gefunden
hatten, über einen allzuengen dogmenumhegten
Umkreis hinauszublicken.
.Gewisse alte Weisheitslehren standen wieder
auf, allerdings umgeben von Gespenstern aus den
Gräbern modernden Aberglaubens aller Art, und
behängt mit den seltsamsten Draperien aus zu‐
sammengeflickten Fetzen der ausgetragenen
Priestergewänder aller Zeiten und Völker.
.Trotz allem Tiefbeklagenswerten, das aus dem
ungestümen Wirken dieser rastlos tätigen Frau
resultierte, entstand auf solche Weise doch auch
ein erneutes Interesse in einer nahezu den Denk‐
schablonen des Materialismus verfallenen Welt,
das die Geister wieder dazu bewog, sich auf ihren
Ursprung zu besinnen.
.Es wurden Vorbedingungen geschaffen, die zu
einem Verstehen der übersinnlichen Dinge hinlei
ten können, auch wenn das, was gegeben ward, so
85 NachleseII
wie es vorliegt, eher geeignet erscheint, von ihnen
abzuleiten. ‒
.So mannigfach auch die Irrtümer sein mögen,
die gutgläubig, auf die mysteriöse Autorität der
Frau Blavatski hin, in der Welt verbreitet wurden,
so übergab sie doch auch der heutigen Zeit eine
Fülle okkulter Begriffe, die schwerlich ohne das
Wirken dieser Frau gangbare Münze geworden
wären.
.Ich neige auch sehr zu der Ansicht, daß ein
Mensch, der bereits geschult wurde durch die
Lehren, denen er in der «Theosophischen Gesell‐
schaft» wie überhaupt im Bannkreis der «theoso‐
phischen» Geistesrichtung begegnen kann, ‒ vor‐
ausgesetzt, daß er sein gesundes Urteil nicht
durch den massenweise mit unterlaufenden
Aberglauben umnebeln ließ ‒ ‒ gar manches vor‐
aus hat, wenn er den Weg zum Geiste beschreiten
will, ‒ gegenüber jenen, die niemals von über‐
sinnlichen Dingen hörten, und denen alle Be‐
griffe fehlen, um sich Übersinnliches auch nur
verstandesmäßig faßbar zu machen.
.Wenn die von Frau Blavatski ins Leben gerufene
Gesellschaft wirklich «Theosophia», Gottesweisheit,
vermitteln will, wenn sie mehr als bisher zu einem
segenbringenden Faktor innerhalb der menschli‐
86 NachleseII
chen Geistesentfaltung werden soll, dann dürften
ihre Führer gut daran tun, völlig von der Entste
hungsgeschichte der Gesellschaft abzusehen, ‒ die
monströsen Folianten der Frau Blavatski als «Ku‐
riosa» zu betrachten und nicht mehr als die «Bi‐
bel» der alleinseligmachenden Theosophie, ‒ alle
allzu phantastischen Auswüchse der Glaubens‐
meinungen ihrer Mitglieder zu beschneiden, ‒
und, als reinlich denkende Lichtsucher, einem
Ziele erst vorurteilsfrei zuzustreben, das die impul‐
sive Gründerin der «Theosophischen Gesell‐
schaft» bereits erreicht glaubte. ‒ ‒ Noch ist es dazu
nicht zu spät.
.Es würde aber eines Tages, und zwar in recht
wohl absehbarer Zeit, «zu spät» sein, trotz der
hochtrabenden Redensarten nicht allzuseltener
Skribenten aus den Reihen der Gesellschaft, und
das voraussehbare Ende würde bedauerlich ge‐
nug sein für alle ernsthaft und ehrlich Suchen‐
den, die innerhalb der theosophischen Geistes‐
richtung die letzten Antworten auf die Fragen ih‐
rer Seele zu finden hofften. ‒
.Bramarbasierende, hochtönende Redensarten
täuschen nur über die Gefahr hinweg. ‒ ‒
.Ebensowenig hilft das Allheilmittel eines kritik‐
losen Eklektizismus, eine geisteslahme «Tole‐
87 NachleseII
ranz», die jede leidlich erträgliche, aber auch jede
noch so absurde Eigenbrötelei sonderbarer Heili‐
ger nicht nur gelten läßt, sondern in ihrer inne‐
ren, schlecht verhüllten Unsicherheit, um keinen
Preis zu kritisieren wagt, weil die Furcht im Hin‐
tergrunde steht, just dort, wo es am tollsten ge‐
trieben wird, oder wo gar irgend ein Orientale in
das Getriebe eingreift, müsse wohl doch «etwas
Wahres» zu finden sein, und man könne sich
durch Kritik eine Blöße geben. ‒
.Das alles muß nicht notwendigerweise so blei‐
ben.
.Vor allem aber ist eine rigoros-peinliche Sonde‐
rung des Weizens vom Unkraut vonnöten, hin‐
sichtlich der landläufigen Lehrmeinungen inner‐
halb der «Theosophischen Gesellschaft» und ihrer
Tochtergesellschaften.
Es ist nicht nötig, daß uralte, tiefe Weisheit, daß
ewig gültige kosmische Wahrheiten in «theoso‐
phischer» Darbietung als verzerrte, ‒ oft bis zur
Karikatur verzerrte ‒ Bilder erscheinen! ‒ ‒
.Eine «Textkritik» theosophischer Lehren, aus‐
geübt von Berufenen, ebenso ferne von verant‐
wortungsloser Zerstörungssucht, wie von ängst‐
licher Furcht, durch Streichung liebgewordener,
alter Meinungen Mitglieder zu verlieren, würde
88 NachleseII
gar bald das wahrhaft Echte finden, und es aus
dem Wust des Unechten, des Abstrusen, und der
mancherlei sonstigen Anhängsel zu retten wis‐
sen. ‒
.Es ist mir nicht unbekannt, daß man schon des
öfteren innerhalb der «Theosophischen Gesell‐
schaft» Stimmen vernehmen konnte, die eine völ‐
lige Preisgabe der Lehre von den «Meistern», den
«älteren Brüdern der Menschheit», forderten.
.Sofern man damit die angeblichen «Meister»:
Koot Hoomi, Morya und andere, kurzum, die
«Meister», die «Mahâtmas» der Frau Blavatski
meint, die Personen, deren rationalistisch dürren
und großsprecherischen Briefe u.a. in A.P. Sin
netts «Okkulter Welt» zu finden sind, ‒ dann hat
man wahrlich allen Grund, sich endlich loszu‐
sagen. ‒ ‒
.Man würde aber einen sehr verhängnisvollen
Fehlschritt tun, wollte man zu gleicher Zeit das
wenige in Bausch und Bogen mit verloren geben,
was man immerhin durch Frau Blavatski, wenn
auch also aus einer arg getrübten Quelle, über das
Bestehen einer rein geistlichen Gemeinschaft in‐
nerhalb des Menschentums auf dieser Erde erfah‐
ren hat...
89 NachleseII
.Zwar steht diese Gemeinschaft des reinen Gei‐
stes auf diesem Planeten nicht am Ausgangspunkt
der «Theosophischen Gesellschaft», aber ‒ sie und
ihre geistige Führung zu erreichen, muß das Ziel ei‐
nes jeden, wahrhaft im Sinne des Wortes «theoso‐
phisch» Strebenden sein, will er wirklich den Weg
zum Geiste, den Weg zum Urlicht finden, den ein
zigen Weg, den das geistige Urlicht dem Menschen
dieser Erde selbst bereitet hat. ‒ ‒ ‒
.Jeder Wanderer, der sich etwa berufen glauben
sollte, einen Weg zu finden, der an diesem einzi‐
gen Wege vorbei führt, ihn umgehen will, und den‐
noch das Leben im reinen Geiste, im Urlicht, zu
erreichen hofft, wird ein Opfer seines Wähnens,
gerät unvermeidlich auf Irrwege und wird nie‐
mals wahrhaft in des Geistes lebenspendendes
Licht gelangen. ‒
.Es ist gewiß nicht nötig, von jener geistigen Ge‐
meinschaft zu wissen, die das Urlicht selbst sich auf
Erden zum «Wege» bereitet hat, aber wer einmal
von ihr weiß, oder annimmt, daß sie bestehe, und
dann eine Willensrichtung einschlägt, die ihm die
Hilfe vermeiden läßt, die ihm werden könnte, der
darf sich nicht wundern, wenn er in all seiner trü‐
gerischen Selbstsicherheit niemals finden wird,
was er sucht, mag er auch die scheinbar besten
90 NachleseII
Gründe für sein törichtes Tun in Anschlag brin‐
gen. ‒
.Es wäre gewiß ein seltsamer Glaube, wollte etwa
ein Mensch, der von jener Gemeinschaft des Gei‐
stes hörte, in aller Einfalt annehmen, diese
«Weiße Loge» sei eine Korporation mit menschli‐
cher Satzung, benannt mit irgend einem Namen,
‒ und ihre Glieder führten den Titel «Meister». ‒
.Meister nennt man auf dieser Erde einen jeden,
der in irgend einem Können Vollendung er‐
reichte. Das Wort schließt nach altem Hand‐
werksbrauch in sich, daß der also Bezeichnete die
Prüfung seiner Kräfte bestanden hat, und in sol‐
chem Sinne mag es auch berechtigt erscheinen,
die Glieder jener geistigen Gemeinschaft «Mei‐
ster» zu nennen, obwohl sich keines ihrer Glieder
selbst so nennen wird.
.Aber zu gleicher Zeit drückt das Wort «Meister»
eine Art Anerkennung pesönlicher Verdienste
aus, und von diesem Gesichtspunkt her betrachtet,
ist es geboten, stets dessen eingedenk zu sein, daß
dieses Wort nur als Notbehelf erscheint, denn
jeder, den man so in Kürze als «Meister» be‐
zeichnen mag, ist das, was er ist, ohne eigenes Ver‐
dienst. ‒
91 NachleseII
.Man kann nicht ein Glied der Gemeinschaft im
Geiste auf dieser Erde werden, indem man gewisse
Stufen ersteigt, um schließlich zur «Meisterschaft»
zu gelangen.
.Der «Meister», sofern mit diesem Worte einer
dieser Gemeinschaft, einer der «Leuchtenden des
Urlichts», bezeichnet werden soll, wird als solcher
geboren, und alle okkulte Schulung, die er unter
der Leitung Vollendeter zu durchleben hat, alle
Prüfung seiner Kräfte, dient lediglich nur dazu,
ihn fähig zu machen, sein eingeborenes Erbe ge‐
brauchen zu lernen. ‒
.Er hat niemals erstrebt, zu werden, was man mit
dem Worte «Meister» bezeichnet, wenn man da‐
mit ein Glied der Gemeinschaft des Geistes be‐
nennen will.
.Als er bewußt zur Fähigkeit gereift war, das, was
der Geist von ihm verlangte, tun zu können, gab es
für ihn keine Wahl. ‒ Er mußte die Bürde überneh‐
men, die ihm zu tragen gegeben war. ‒ ‒ ‒
.Man möge nicht zu sehr an Worten kleben blei‐
ben und nicht willkürlich gewählten Benennun‐
gen einen ungebührlich großen Wert verleihen!
.Es kommt auf eine Erfassung der realen Gegeben
heit an und nicht auf die Namen, mit denen die
92 NachleseII
Sprache, mehr oder minder dürftig, das Gege‐
bene benennt. ‒
.Man mag immerhin die eingebürgerten Worte
gebrauchen und von einer «Weißen Loge» und
ihren Meistern reden, wie ich ja auch in meine
Schriften unbedenklich diese Worte übernom‐
men habe, aber man sei dabei stets bewußt, daß es
sich hier nur um frei gewählte Benennungen handelt,
und daß die hohe Gemeinschaft und Alleinheit im
Geiste, die sich hier auf dieser Erde in wenigen
Menschen eines jeden Zeitalters darstellt, keinerlei
Namen und keinerlei Titel gebraucht, um ihrer
Lenkung gemäß die Brücke zu bilden, über die
für den Menschen dieser Erde der Weg zu den
ewigen Hierarchien des Geistes und durch sie
hindurch, zum wesenhaften Urlicht führt. ‒ ‒ ‒
93 NachleseII
DIE GRUNDLAGEN
WAHRER THEOSOPHIE
WENN ich hier von neuem wieder zu den Le‐
sern dieser von mir stets hochgeschätzten,
vornehmen theosophischen Zeitschrift spreche,
so geschieht dies auf den Wunsch sehr vieler dieser
Leser hin, den mir der verdienstvolle Heraus‐
geber zu übermitteln die Güte hatte.
.Ich komme heute gerne diesem Wunsche nach,
schon um gewisse Legendenbildungen aus der
Welt zu schaffen, die in mehr oder weniger gehäs‐
siger Weise einen Gegensatz zwischen mir und
dem Herausgeber der «Theosophie» zu konstru‐
ieren unternahmen, besonders da meine letzten
Veröffentlichungen ausschließlich in den «Magi‐
schen Blättern» erschienen.
.Wie falsch diese Annahme einer Gegnerschaft
ist, dürfte schon daraus erhellen, daß das «Theoso
phische Verlagshaus»* die alleinige Auslieferungs‐
stelle der «Magischen Blätter» ist, und daß die
Herausgeber beider Zeitschriften, Herr Dr. Hugo
Vollrath und Herr Dr. Richard Hummel, im denkbar
 OO
* Anmerkung: dieser Verlag druckte 1916 'WORTE DER MEISTER'- OO
eine Textzusammenstellung von Bô Yin Râ speziell für diesen Leser- OO
kreis (nicht i.d. Nachlese enthalten):->hier
94 NachleseII
besten, freundlichen Einvernehmen stehen, ein jeder
auf seine Weise durchdrungen von den hohen
geistigen Zielen, denen er in mühevoller Geistes‐
arbeit dient. ‒
.Nach anderer Seite hin glaube ich aber auch jetzt
deutlich genug ausgesprochen zu haben, daß ich
zwar keineswegs von der «Theosophischen Gesell‐
schaft» herkomme, daß ich gegen manche unter ih‐
ren Mitgliedern verbreitete Lehre sehr begrün‐
dete Einwände erheben muß, daß ich aber gewiß
nicht hier als feindlicher Eindringling zu betrach‐
ten bin, sondern warmen Herzens das meinige
dazu beitragen möchte, damit jedes einzelne Mit‐
glied dieser Gesellschaft das hohe Ziel erreiche, das
es letzten Endes doch durch den Anschluß an die
«Theosophische Gesellschaft» zu erreichen hofft.
.So möchte ich denn als freundschaftlicher Be‐
rater vor den Leserkreis dieser weitverbreiteten
Zeitschrift treten, nicht um Meinungsverschie‐
denheiten und Dispute zu veranlassen, sondern
um die großgedachten Einigungsbestrebungen des
Herausgebers auch meinerseits zu stützen, um
aus den Möglichkeiten meiner geistigen Einschau
her, auf jene Dinge hinzuweisen, die mir für ein
gedeihliches und fruchtbringendes Leben der
«Theosophischen Gesellschaft» wichtig erschei‐
nen.
95 NachleseII
.Ich habe hier lediglich die «Theosophische Ge‐
sellschaft» im Auge, wie sie heute besteht, als eine
Tempelvereinigung großen Stiles, eine Sammel‐
stätte zum Geiste strebender Menschen unserer
Tage, ganz so, wie sie vom «Theosophischen Haupt
quartier» in Leipzig, dem Ausgangspunkt dieser
Zeitschrift, aufgefaßt und vertreten wird.
.Aller Personenkultus scheidet bei den Aufga‐
ben dieser, wie ich annehmen darf in bester Reor‐
ganisation begriffenen Gesellschaft ebenso aus,
wie jede enge Dogmenbindung, und ihr Streben
ist einzig darauf gerichtet, jedem ihrer Mitglieder
alle Wege zu zeigen, die der Seele als Wege zum Gei
ste erschienen und noch erscheinen, und wenn ich
die Leitung dieser Zeitschrift richtig verstehe,
dann erwartet sie von ihren Lesern ausreichende
Fähigkeit zu eigener Urteilsbildung und schließt
jede Bevormundung ihrer Leser grundsätzlich
aus.
.Wer wollte bezweifeln, daß auf diese Weise un‐
endlich viel Gutes gewirkt werden kann?!
Nur auf solche Art ist es nach meinem Dafür‐
halten möglich, allmählich die mir innerhalb der
«Theosophischen Gesellschaft» als bedenklich er‐
scheinenden Lehren prüfend in ihrer Unwesen‐
96 NachleseII
haftigkeit zu erkennen und ohne Schaden abzu‐
stoßen.
.Nur auf solche Art wird die verjüngte «Theoso‐
phische Gesellschaft» die ewigen Grundlagen einer
wahren Theo-Sophia in ihrem Tempelkreise wie‐
der finden, einer «Theosophie» im tiefsten Sinne des
Wortes, wie sie seit den Tagen des Lao Tse und des
Apostels Paulus bestand, bis hinauf zu Eckehard,
Tauler und Jakob Böhme, wie sie in der alten mysti
schen Maurerei gepflegt wurde, und wie sie in In‐
dien zu finden war von Patânjali bis zu Râma
krishna. ‒
.Tiefste, wenn auch geheimgehaltene Erkennt‐
nis aller echten «Theosophen» aller Zeiten war stets
vertraut mit diesen Grundlagen, und deren we
sentlichste ist das hohe «Wissen» um die einzige Art
und Weise, in der sich die Gottheit den aus ihr ge‐
zeugten Geisteswesenheiten offenbaren kann. ‒ ‒
.Zwecklos würde die Seele suchen, wollte sie je
in unermeßlichen Räumen, wollte sie je in höch‐
sten geistigen Sphären ihrem Gotte begegnen. ‒ ‒
.Sinnlos wären die erhabenen Lehren hoher
Menschheitslehrer, würden die Bilder Gottes, die
sie gestalten, nur einem «Gotte» gelten, der da als
97 NachleseII
«höchstes Wesen» über anderen Geisteswesenheiten
thront. ‒ ‒
.So wie man an keiner Stelle der Erde der reinen
Elektrizität begegnen kann, und doch alles auf die‐
ser Erde durchströmt wird von dieser Kraft, so auch
ist es in allen Geistes-Sphären ewig unmöglich,
Gott zu begegnen, obwohl alles, was da lebt, nur im
Dasein ist, als Ausdruck von Gottes ewig zeugender
Darstellungs-Gewalt. ‒
.Wie aber Elektrizität gewisse Apparate braucht,
um durch diese Apparate sichtbar und erkennbar
zu werden, so auch ist Gott in Zeit und Ewigkeit
nur in jenen Geisteswesenheiten sichtbar und er‐
kennbar, die mit der Kraft Gottes völlig vereint,
zum lautersten Ausdruck von Gottes Wesen wur‐
den. ‒
.Wer zur Theo-Sophia, zum «Wissen» um Gott ge‐
langen will, der muß vor allem diese Grundtatsache
begriffen haben. ‒ ‒
.Aus ihr aber ergibt sich folgerichtig das Wissen
um die Notwendigkeit solcher Menschengeister auf
dieser Erde, in denen die Gottheit sich selbst leben
digen Ausdruck schuf, damit sie allen Menschengei‐
stern erkennbar werde, auf daß alle jene Vereinung
erstreben, durch die der Menschengeist aus Gott
verherrlicht wird...
98 NachleseII
.Nichts anderes als diese völlig der Gottheit
geeinten Menschengeister dieser Erde sind aber
die eigentlichen «Meister» der «Weißen Loge», von
denen leider ein Zerrbild existiert, das ihr wah‐
res, kosmisch bedingtes Wesen gröblich ver‐
fälscht. ‒ ‒ ‒
.Wie jeder Menschengeist, der je auf der Erde er‐
schien oder noch erscheinen wird, so sind auch sie
vor Äonen, als diese Erde noch nicht eimal «Wel‐
tenstaub» war, dem «Falle» der Geister, gleich al‐
len anderen erlegen. Gleich allen andern erwar‐
teten sie ihre Zeit, um sich mit dem Menschen‐
tiere der Erde zu irdischem Leben zu verbinden,
mit der Aufgabe, dieses Menschentieres höhere
Kräfte zu erlösen, und durch diese Erlösertat
selbst Erlösung zu finden...
.Doch, höhere Geisteswesenheiten wußten aus
geistigem, gottgeeinten «Wissen», daß keiner der
diesem Erdentiere Verbundenen jemals zur Erlö‐
sung kommen könne ohne ihre Hilfe, und geistiges
«Wissen» läßt keine Wahl, wird Verpflichtung, ver‐
langt gesetzliche Tat, sobald eine Möglichkeit zur
Hilfe gegeben ist. ‒
.So suchten sich jene höheren Geisteswesenhei‐
ten aus der Fülle harrender Geister, die sich auf
Erden dem Menschentiere verbinden mußten,
99 NachleseII
jene aus, die sich aus freiem Willen bereit finden
ließen, das Hilfswerk dieser höheren Geisteswesen‐
heiten zu fördern, da diese selbst, ihrer Artung nach,
mit dem im Tiere gebundenen Menschengeiste
keine direkte Berührung schaffen konnten. ‒
.Die Bereitschaft, diesen höheren Geisteswesen‐
heiten als Vermittlungswerkzeug zu dienen,
schloß die Bereitschaft in sich, eine Jahrtausende
dauernde geistige Vorbereitung durchzuleben und
so erst Jahrtausende später zur Inkarnation zu ge‐
langen. ‒ ‒ ‒
.Darum läßt sich mit Fug und Recht von den
wirklichen «Meistern» der «Weißen Loge» als von
den älteren Brüdern der heute lebenden Mensch‐
heit reden. ‒ ‒ ‒
.Es ist aber ebenso irrig, sie für eine Art über‐
menschlicher Wesen zu halten, wie es irrig ist, sie
mit Fakiren und Dschungelheiligen zu verwech‐
seln. ‒
.Sie betreiben auch keinerlei Mantik und entsa‐
gen allen okkulten Künsten. ‒
.Sie wissen auf weitaus bedeutendere Art in der
Menschheit zum Guten zu wirken, ohne jemals als
Urheber dieses Wirkens offenbar zu werden. ‒
100 NachleseII
.Ihr Wirken ist lediglich geistiger Art, und Irdi‐
sches wird von ihnen nur bewegt, von jenen gött
lich-geistigen Welten her, in denen ihr Wirken aus
Gott allein erfolgt. ‒ ‒ ‒
.Eine Theo-Sophia außerhalb der Einflußwir‐
kungen dieser gottgeeinten Menschengeister, die
hier im Erdenkörper die Last des Erdenlebens
tragen wie jeder andere Menschengeist, ist ein Un
ding! ‒
.Absurd und jeder Logik bar ist jedes «theoso‐
phische» Streben, das jene Wenigen auf dieser
Erde zu umgehen sucht, die allein ihm helfen kön
nen.
.Kindlich ist aber hinwieder auch die Annahme,
man könne jemals zu einem «Meister» der «Wei‐
ßen Loge» werden. ‒
.Man kann wohl die gleiche, göttlich-geistige Ei
nigung erlangen, aber niemals wird man jene Kräfte
zu eigen erhalten, die erst den «Meister» der
«Weißen Loge» zu dem machen, was er potentiell vor
seiner Inkarnation schon war. ‒ ‒ ‒
.Man darf freilich auch nicht glauben, daß jene
Gestalten, die um die Wiege der «Theosophischen
Gesellschaft» herum gespensterten, etwa wirkliche
«Meister» der «Weißen Loge» gewesen wären ‒ ‒
101 NachleseII
aber an dieser Stelle meiner Rede fürchte ich
doch noch, daß so mancher Leser dieser Zeit‐
schrift es nur schwer ertragen könnte, wollte ich
so, wie es berechtigt wäre, unsanft das Spinnen‐
netz seines Glaubenswahns zerstören, und darum
möge hier nur auf gewisse Kapitel eines dem‐
nächst erscheinenden Buches* verwiesen werden,
die im Vorabdruck bereits in den «Magischen
Blättern», von denen ich oben sprach, zu lesen
waren...
.Auf dieser Erde kann jegliches Geschehen sich
oft Jahrzehnte lang in Verdunkelung verbergen,
aber die Wahrheit kommt dennoch eines Tages
schrill und klirrend an unser Ohr, und was sich
noch so lange im Dämmerdunkel verbarg, muß
eines Tages helles Sonnenlicht ertragen, mag
auch so manches Wundermärchen auf solche
Weise seinen Untergang finden. ‒ ‒ ‒
.Es wäre mir Anlaß zu tiefem, schmerzlichem
Bedauern, sollte einst solche Klärung der Ge‐
schehnisse, die sich in den Säuglingszeiten der
«Theosophischen Gesellschaft» abspielten, dieser
Gesellschaft, so wie sie heute ist, und wie sie speziell
vom «Hauptquartier» in Leipzig aufgefaßt und ver‐
* Mehr Licht (1921; erweiterte endgültige Ausgabe 1936, 1968 und 1989)
102 NachleseII
treten wird, Schaden zufügen, und darum halte
ich es für meine Pflicht, darauf hinzuweisen, daß
die Dinge damals nicht ganz so lagen, wie sie die
Gründerin der Gesellschaft zu sehen und darzu‐
stellen beliebte. ‒ ‒ ‒
.Töricht und ungerecht wäre es aber, der «theo‐
sophischen Gesellschaft» unserer Tage daraus ir‐
gendeinen Vorwurf konstruieren zu wollen, oder
die heutigen Mitglieder verantwortlich zu ma‐
chen für Irrtümer und Fehler der einstigen
Gründerin.
.Es unterliegt bei mir keinem Zweifel, daß eine
wahrhaft «theosophische» Gesellschaft heute tiefste
Lebensberechtigung hat und es ist heute völlig
gleichgültig, welche Anlässe vor Jahrzehnten zur
Gründung einer solchen Gesellschaft führten,
wenn nur das heutige Wirken der Gesellschaft
als einwandfrei und vorbildlich betrachtet werden
darf. ‒
.Die Grundlagen wahrer Theo-Sophia bleiben für
alle Zeiten die gleichen.
.Auch die heutige «Theosophische Gesellschaft»
vermag es, auf ihnen das innerste Sanktuarium ihres
weiträumigen Tempels zu errichten.
103 NachleseII
.Die Erkenntnis der Auswirkung Gottes, das
«Wissen» daß Gott nur in den ihm völlig geeinten,
geistesmenschlichen Wesenheiten offenbarend
wirkt, das «Wissen», daß ein jeglicher Mensch die‐
ser Erde imstande ist, sich seinem ewigen Urbild,
seinem «Vater im Himmel», seinem «lebendigen
Gotte» anzugleichen und sich ihm mit seinem Be‐
wußtsein zu vereinen, das «Wissen», daß ohne die
stetige geistige Hilfe höherer geistiger Wesenhei‐
ten, vermittelt durch die «Meister» der «Weißen
Loge», diese Vereinigung des menschlichen mit
dem göttlichen Bewußtsein unmöglich wäre ‒ dies
sind die hauptsächlichsten Fundamentsteine, auf
denen sich das unantastbare Tempelkultbild erhe‐
ben muß, um das sich die Mitglieder der «Theosophi
schen Gesellschaft» erhobenen Herzens stets scha‐
ren können, ohne jemals befürchten zu müssen,
daß die Gottheit solchen Ort der Weihe nicht als
ihrer würdig betrachten möge! ‒ ‒ ‒
.Theoretische Erörterungen über hellseheri‐
sche «Forschungen» auf «höheren» Ebenen sind
völlig überflüssig, einmal, weil kein Hellseher je
mals zu «höheren» Ebenen emporzudringen im
stande ist, und dann: weil alles Wissen über geistige
Zustände nichts nützt, nur eitle Befriedigung kin‐
discher Neugier bleibt, solange man nicht, mit
dem Bewußtsein des lebendigen Gottes in sich
104 NachleseII
selbst vereint, selbst fähig wurde, die Wunder gei‐
stiger Welten geistig zu erleben.
.Auf das geistige Erlebnis hin muß die «Theosophi
sche Gesellschaft» ihre Mitglieder erziehen, damit
ihr Tempel nicht zur Stätte wüstester Spekulation
entarte, damit er ein Heiligtum geistigen Lebens
bilde, inmitten der ausgetrockneten Wüste dür‐
ren Gedankenflugsandes, der auch die erhaben‐
sten Tempelbauten früherer Zeiten allmählich zu
verschütten droht. ‒ ‒ ‒
.Möchten meine Worte offene Herzen fin‐
den! ‒ ‒ ‒
105 NachleseII
siehe auch: "Worte der Meister" ...für die deutschen OO
Schüler der Theosophie (i.d. "Nachlese" nicht enthalten)
DAS «WUNDER»
DER TANZENDEN TISCHE
W I E  kürzlich  zu  lesen war,  beschäftigt  man
sich zurzeit im Pariser Psychologischen Institut
mit einem weiblichen «Medium», in dessen An‐
wesenheit sich ein Tisch frei in die Luft erhebt,
ohne auch nur von dem Medium berührt zu wer‐
den. Eine solche Art der Mediumschaft ist aller‐
dings schon ziemlich selten, und es lohnt sich
zweifellos, die Manifestationen zu beobachten.
Prof. Bertrard, der die junge Dame einem gelehr‐
ten Kreise vorführte, ist nun ein vorurteilsfreier
Forscher, der doch erst wissenschaftlich prüfen
möchte, wo andere ‒ man vergleiche nur Eduard
von Hartmann ‒ frisch drauflos urteilen und dabei
selbst gestehen, niemals bei ähnlichen Manifesta‐
tionen zugegen gewesen zu sein. ‒
.In der Pressenotiz, die über die Experimente
mit dem Pariser Medium berichtet, heißt es zum
Schluß: «Verwunderlich scheint dem Laien aller‐
dings, daß das Mädchen nur bei gedämpftem, ro‐
safarbenen Lichte operieren kann, während weis‐
106 NachleseII
ses und blaues Licht seine Kraft lähmt und das
Aufblitzen von Magnesiumlicht ihm sogar einen
Nervenschock verursachte. Sollte es am Ende
doch Grund haben, hellere Lichtgattungen zu
scheuen?»
.Das erinnert mich lebhaft an die schöne Ge‐
schichte von dem Mandarinen, dem zur Zeit des
ersten Aufkommens der Photographie ein euro‐
päischer Gelehrter begreiflich machen wollte, daß
lediglich die Lichtstrahlen solche Bilder malten.
Der chinesische Würdenträger aber ließ sich dar‐
aufhin also vernehmen: «Ja, wenn du das, was du
da in der Dunkelkammer treibst, mir bei hellem Son
nenlicht zeigen willst, dann werde ich dir gerne
glauben, vorher aber nicht!»
.Gewiß hat das Medium «hellere Lichtgattungen
zu scheuen», aber wenn es ein echtes Medium ist,
wenn also kein Schwindelmanöver vorliegt, was
bei den gelehrten Untersuchungen des Prof. Ber
trard doch wohl als ausgeschlossen gelten dürfte,
dann hat es helleres Licht in keiner anderen
Weise «zu scheuen», wie der Photograph, der sich
auch außerstande sehen würde, ein gutes Licht‐
bild zu fertigen, wollte man ihm die Bedingung
stellen, die Entwicklung der Platte bei hellem Ta‐
geslicht vorzunehmen. ‒
107 NachleseII
.Dennoch aber werden diese neuen Pariser Ex‐
perimente, wie so viele andere vorher, nur sehr
fragmentarische Lösungen des Rätsels bringen,
aber das liegt nicht etwa an der Fragwürdigkeit
der Phänomene, sondern daran, daß man hier
mit einer Wesenreihe experimentiert, von deren
Vorhandensein man keine Ahnung hat; und wäh‐
rend man mit Recht die läppische Hypothese, es
handle sich da um Äußerungen «unserer lieben
Verstorbenen», von vornherein fallen läßt, be‐
geht man nach der anderen Seite hin doch den
gleichen Fehler, indem man als gesichert annimmt,
daß es keinerlei außermenschliche, unsichtbare
Wesen geben könne. ‒ ‒
.Nun muß, wie auch bei den Experimenten von
Ochorowitz, das «Mädchen für alles», der soge‐
nannte «Animismus» herhalten, obwohl es da gar
keine präzise Kontrolle geben kann, durch die
festzustellen wäre, wo «animistische» Wirkungen
aufhören und wo «spiritistische» beginnen; denn
die Kräfte der «Anima», der «Seele» des Mediums,
sind ja im sogenannten Trancezustand, mag er
nun vollendet oder nur teilweise vorliegen, völlig je‐
ner unsichtbaren Wesenreihe ausgeliefert, deren
Existenz man von vornherein leugnen zu dürfen
glaubt. ‒ ‒
108 NachleseII
.Wie man vielleicht aus gewissen früheren Ab‐
handlungen wissen wird, warne ich stets entschie‐
den vor sogenannten «spiritistischen» Experi‐
menten. Ich rate auch hier wieder jedem meiner
Mitmenschen, der etwa «mediale» Fähigkeiten an
sich bemerkt und sich dadurch vielleicht gar noch
besonders «begnadet» glaubt, sich so schnell als
nur möglich dem Spinnengewebe, das ihn zu
umschnüren droht, zu entwinden. Das ist jeder‐
zeit möglich durch entschiedene Aktivität, durch
ein Aufsuchen gesunder Lebensbedingungen
in freier Natur und durch ein grundsätzliches
Vermeiden jeder geistigen Atmosphäre, in der
die «mediale» Veranlagung gefördert werden
könnte. Man vergesse nicht, daß jedes echte «Me‐
dium» ein unglückliches Opfer sehr bedenklicher
und niemals von ihm zu erkennender Wesen ist,
Wesen, die zur physischen Welt gehören, auch
wenn sie für uns unsichtbar bleiben, und die für
das Leben der Seele Parasiten darstellen, wie Ba‐
zillen und Mikroben für das Leben des physi‐
schen Körpers! ‒ Diese Parasiten saugen ihr Op‐
fer aus bis zum letzten Rest seiner feineren physi‐
schen Kräfte, die dem Willen und dem Seelenleben
dienen sollten, bis sie es schließlich zerbrochen
am Wege liegen lassen, so hochmoralisch auch die
«Bekundungen der Geisterwelt» vielleicht vorher
waren. ‒
109 NachleseII
Das Ende fast aller sogenannten «Medien» ist
entweder ein Versinken in willenlose moralische Ver
worfenheit, oderin die Nacht des Wahnsinns!
.Es ist wahrlich notwendig, vor einer solchen
Seuche, die gerade jetzt wieder besonders stark
grassiert, eindringlichst zu warnen, auch wenn
die von dieser psychischen Pest Ergriffenen ent‐
rüstet sein mögen, da sie sich ja doch für «er‐
wählte Werkzeuge höherer Mächte», für die
«Mittler zwischen Diesseits und Jenseits», ja für
die eigentlichen «Sprachrohre Gottes» halten und
mit hirnverbrannter Kritiklosigkeit immer wie‐
der den erhabenen Meister von Nazareth als «das
größte Medium» proklamieren. ‒
.Wenn ich aber, aus einer Kenntnis der Dinge
heraus, wie sie nur wenigen Lebenden möglich
wurde, so entschieden vor jeder «spiritistischen»
Betätigung, vor jedem Glauben an «spiritistische»
Orakelei warnen muß, so darf man gewiß schon
daraus ersehen, daß die mir in jeder ihrer Auswir‐
kungsarten bis ins kleinste bekannten «spiritisti‐
schen« Phänomene als solche durchaus realen Gege
benheiten entsprechen. Nur Ignoranz kann das Dasein
dieser Phänomene deshalb leugnen, weil es zu al‐
ler Zeit gerissene Schwindler gab, die aus der
Neugierde ihrer Mitmenschen auf ihre Art Vor‐
teil zogen, indem sie die möglichen echten Phäno‐
110 NachleseII
mene auf mehr oder weniger geschickte Art vorzu
gaukeln suchten und so ihre Gläubigen oft lange
Zeit hindurch um deren «schnöden Mammon»
erleichterten, bis eines Tages die «Entlarvung»
dem Treiben ein Ende setzte.
.Das Vorhandensein der echten Phänomene d. Spiri
tismus steht, trotzdem auch oft echte Medien sich zu
gelegentlichen Schwindeleien hinreißen lassen,
und je mehr ihre Kräfte ausgesaugt sind, desto
häufiger ‒ so außer allem Zweifel, wie das Dasein der
Röntgenstrahlen, nur werden sie sich niemals wie
diese erforschen lassen, eben weil es sich nicht le
diglich um physikalische Kräfte handelt, sondern weil
hier uns zum Teil unbekannte physikalische
Kräfte durch eine Art von Wesen in Aktion gesetzt
werden, die ihren eigenen Willensimpulsen folgen
und keineswegs gesonnen sind, unsern Wissens‐
trieb wirklich zu befriedigen.
.Diese Zwischenwesen, auf deren Dasein wohl so
manche Gestalt aus der Vorstellungswelt des Mär‐
chens und früherer Sagen zurückgehen mag,
sind durchaus amoralisch, weder gut noch böse,
folgen allein einem Triebe, den man bei Men‐
schen etwa «Laune» nennen würde ‒ kennen kei‐
nerlei «Gewissen» und sind einzig darauf bedacht,
sich mit Hilfe solcher Menschen, deren psycho‐
physischer Organismus krankhaft gelockert ist,
111 NachleseII
auf dem Gebiet der physischen Erscheinungswelt
zu manifestieren. ‒ Was aus ihren Manifestatio‐
nen erwächst, ist ihnen durchaus gleichgültig,
und es kümmert sie wenig, daß ihre Opfer
schließlich zugrunde gehen müssen. ‒
.Im Orient, wo die Kenntnis der okkulten Er‐
scheinungen bis ins graueste Altertum zurück‐
reicht, gab es stets und gibt es auch heute noch
Menschen, die nicht nur, wie unsere Medien, wil
lenlose Sklaven dieser Wesen sind, sondern sich ih‐
rer Hilfe bewußt zu bedienen wissen, sie durch ihre
ungemein trainierte Willenskraft beherrschen.
.Es sind jene «Fakire», über deren staunenerre‐
gende «Wunder» die bestbeglaubigtsten Berichte
vorliegen, die aber durchaus nicht mit jenen
«Büßern» zu verwechseln sind, von denen der
eine sich langsam zwischen vier Feuern rösten
läßt, während ein anderer es vermag, viele Jahre
lang kopfabwärts an einem Baume zu hängen
und dergleichen mehr.
.Auch mit den bekannten «indischen» Zirkus‐
künstlern und Taschenspielern haben natürlich
diese echten «Fakire» nicht das mindeste zu tun.
.Ich leugne durchaus nicht, daß es sehr seltene
Fälle gibt, in denen auch von Seiten entkörperter,
also nicht mehr auf der Erde lebender Menschen,
112 NachleseII
diese hier besprochenen Wesen zur Manifestation
angetrieben werden, aber man glaube ja nicht,
auf normale Weise durch die Hilfe dieser Wesen
den erwünschten «Verkehr mit dem Jenseits» an‐
bahnen zu können!
.Die wenigen, denen die Natur dieser Wesen be‐
kannt ist und die sich ihrer bedienen könnten, weil
sie aus Gründen höherer übersinnlicher Entfal‐
tung einst diese Wesen überwinden mußten, hüten
sich wohl, von ihrer Macht Gebrauch zu machen,
ja, sie gehen für gewöhnlich diesen Wesen aus
dem Wege wie giftigen Schlangen.
.Auch wissenschaftlicher Forscherdrang er‐
scheint ihnen keineswegs entschuldbar, wenn er
dazu führt, den gefährlichen Bereich dieser Zwi‐
schenwelt aufzusuchen.
.Sie können nur immer wieder davor warnen,
diese dunklen und dem Menschen verderblichen
Gebiete der Allnatur vorwitzig zu betreten. ‒
.Niemals wird die Menschheit aus dem Zwi‐
schenreich her, dem die spiritistischen Phäno‐
mene entstammen, irgendeine Antwort erhalten,
die ihr auf die Dauer segensreich werden könnte.
.Torheit aber wäre es, seine Augen vor gesicher‐
ten Tatsachen verschließen zu wollen, die jederzeit
113 NachleseII
vorhanden waren, die so alt sind wie die Welt und
zu allen Zeiten, unter allen Völkern beobachtet
wurden, lange bevor Amerika, die Wiege des
neueren «Spiritismus», überhaupt entdeckt war.
.Wer hier noch zu leugnen versucht, der ist, um
mit Schopenhauer zu reden: ‒ «nicht ungläubig, son‐
dern unwissend zu nennen», ‒ aber wer gar Offen
barungen des ewigen Geistes bei spiritistischen Mani‐
festationen erwartet, der gleicht einem in der Wü‐
ste Verschmachtenden, der einer Luftspiegelung
nachläuft, die ihm schattige Oasen mit köstlichen
Quellen verspricht, während er durch seinen Irr‐
tum nur desto sicherer dem Verderben anheim‐
fällt, dem er entrinnen wollte. ‒
114 NachleseII
STIMMEN AUS DEM
«GEISTERREICHE»
SIE mehren sich wieder allerorten! Zwischen
hypermodernen Modedichtern und Salon‐
bolschewisten verzeichnen die Kataloge ge‐
schäftsgewandter Verleger eine Literatur, die mit
Prophetengeste sehr abgestandene Sensationen
von ehedem als «Allerneuestes» auftischt; und in
so mancher reputierlichen Familie sitzt man
halbe Nächte, um das Tischorakel zu befragen.
Männer und Frauen, die noch vor wenigen Jah‐
ren halb Verachtung, halb gelindes Grauen zeig‐
ten, wenn das Wort «Spiritismus» fiel, verharren
jetzt passiv am Schreibtisch und lassen sich von ih‐
ren «Freunden aus dem Jenseits» ehrfurchtsvoll
die Feder führen. Eine wahre Epidemie dieser Art
wütet im Lande, und sie ist um so gefährlicher,
weil fast alle, die von ihr erfaßt wurden, ihr Tun
sorglichst geheim zu halten suchen, so daß man in
Kreisen, die nicht selbst zu den Mitgerissenen ge‐
hören, auch nicht die leiseste Ahnung hat von der
erschreckenden Ausbreitung dieses Taumels.
115 NachleseII
.Als um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die
neue Geisterkunde von Amerika her zu uns kam,
war die Wirkung weitaus harmloser. Abgesehen
von einigen schwärmerischen Enthusiasten und
allem Aberglauben freundlich gesinnten Eigen‐
brötlern, die sich nun in spiritistischen Zirkeln
fanden, beschäftigten sich wirklich ernsthaft mit
diesen Dingen nur wenige Männer der Wissen‐
schaft, stellten je nach Gelegenheit und Ausdauer
die Tatsächlichkeit der Phänomene oder auch
plumpen Schwindel daneben fest, kamen aber im
besten Falle ‒ wie etwa der Physiker Crookes ‒ nur
zu dem Schlusse, daß sie wohl das Wirken un‐
sichtbarer, anscheinend oder unbestreitbar von
Intelligenz geleiteter Kräfte beobachtet hätten,
daß aber keinerlei beweiskräftige Gründe dafür
aufzubieten seien, in diesen durch Intelligenz ge‐
leiteten Kräften wirklich, nach spiritistischer Hy‐
pothese, die weiterlebende Geistigkeit gestorbe‐
ner Menschen zu bestätigen.
.Was sonst vom damals neuen «Spiritismus» in
weitere Kreise drang, war Gesellschaftsspiel. In je‐
dem Mädchenpensionat war der tanzende Tisch
bekannt. Wo immer eine ausgelassene Gesellschaft
beisammen war, gehörte es zu den beliebtesten
Scherzen, den Tisch nach allem zu befragen, was
Heiterkeit und Laune fördern konnte.
116 NachleseII
.So blieb der Spaß ungefährlich und ward als
überlebte Mode schließlich ganz vergessen.
.Die Zirkel der Schwärmer allein erhielten sich
auf dem Plan, und wenn auch die «Geistermani‐
festationen» meist über bald bekannt gewordene
physikalische und psychische Phänomene sich
nicht erhoben, wenn auch die «Offenbarungen»
der «Geister» selten über die trivialsten Phrasen
emporstiegen, so fehlte es doch bald nicht an spi‐
ritistischer Literatur, deren Berichte um so lieber
geglaubt wurden, je kritikloser sie abgefaßt wa‐
ren, und es nährten sich diese halb frömmelnden,
halb kirchenabgewandten Leutchen eben wie sie
sich heute noch nähren: ‒ durch gegenseitige
Stärkung ihrer frommen Wünsche, mehr aus Bü‐
chern als aus der Erfahrung.
.Auf über dreißigtausend «Bände» in allen Spra‐
chen beziffern die Spiritisten mehr oder minder
strenger Observanz ihre Literatur, wobei aller‐
dings die Vernünftigeren bedauernd zugeben,
daß das weitaus meiste obskures und wertloses
Zeug ist, oft nicht einmal von ehrlich Überzeug‐
ten verfaßt, nur der geschickten oder bloß
schlauen Ausnutzung der Konjunktur sein Da‐
sein dankend, geschrieben von Menschen, die ih‐
ren Beruf darin sehen, das jeweils Sensationelle
117 NachleseII
aufzugreifen, um seine pekuniären Erfolgsmög‐
lichkeiten auszunutzen.
.Als Kaviar genießt man daneben in Behaglich‐
keit die ernsten Werke wissenschaftlicher Auto‐
ren, die über ihre Forschungsresultate berichten,
übernimmt aber jeweils nur solche Äußerungen,
die eigener Meinung als brauchbare Stütze er‐
scheinen, und übersieht in der großmütigen Ge‐
ste des Besserorientierten schlechthin alles, was
ein solcher Autor etwa an kritischen und negieren
den Einwänden gegen die spiritistische Lieblings‐
theorie zu sagen hat.
.Da die Anhängerschaft opferbereit ist zugun‐
sten der «guten Sache», und zu neun Zehnteln al‐
les aufnimmt, was der Büchermarkt nach ihrer
Richtung hin bringt, so wird hier noch jahraus,
jahrein recht beträchtliches Nationalvermögen
entwertet, zugunsten geschäftstüchtiger Zeitge‐
nossen, die stets für Befriedigung der Bedürf‐
nisse und neuen Anreiz sorgen, was von ihrem
Standpunkt her gesehen gewiß das Lob der Klug‐
heit verdient, hinsichtlich der Erhaltung und För‐
derung geistiger Volksgesundheit aber sicherlich
vom Übel ist.
.So verbreitet aber auch derartiges Konventikel‐
wesen verschiedener Schattierung in halbgebil‐
118 NachleseII
deten Kreisen immer noch ist, so sind doch diese
Zirkel ehrlich genug, sich offen als «Spiritisten» zu
bekennen. Wer mit ihnen Fühlung sucht, der ist
entweder schon, auf Grund vorher genossener li‐
terarischer Kost, mehr oder weniger spiritisti‐
scher Gläubigkeit anheimgefallen, oder er will
sich unvoreingenommen orientieren.
Bedenklicher, ‒ weit bedenklicher steht es um
jene neueren Kreise unserer Gesellschaft, die
heimlich Spiritismus treiben und es nicht wahr ha‐
ben wollen, daß dieses Tun nichts anderes ist,
auch wenn man ihm andere Namen gibt.
.Viele darunter glauben sich allen Ernstes be‐
rechtigt, sehr verächtlich auf die deklarierten
«Spiritisten» herabzusehen, wollen vom Spiritis‐
mus durchaus nichts wissen, glauben alles, was sie
erfahren, nur einer «hohen psychischen Entwick‐
lung» danken zu dürfen, und ahnen nicht, daß
das, was ihnen widerfährt, die allerverbreitetste
Abart des «Mediumismus» ist, allen Spiritisten
wohlbekannt und von den Erfahreneren nur in
ganz besonderen Ausnahmefällen den «beweis‐
kräftigen» Phänomenen zugezählt.
.Tatsächlich ist, wie selbst jeder anfängerhafte
Spiritist und wie die ernstere spiritistische Litera‐
119 NachleseII
tur seit fast einem halben Jahrhundert weiß, der
Erfolg beim sogenannten «Tischrücken», wie
beim automatischen Schreiben, an sich durchaus
kein Beweis für die Mitwirkung unsichtbarer, in‐
telligent geleiteter Kräfte.
.(Für gänzlich Fernstehende sei hier eingeschal‐
tet, daß beim «Tischrücken» mehrere Teilnehmer
um einen Tisch herum sitzen, auf den sie die
Hände legen. Früher oder später gerät der Tisch
in Bewegung, die Tischbeine heben und senken
sich, und die Antwort auf gestellte Fragen wird
nach dem Alphabet, je nach der Anzahl der Auf‐
schläge des Tischbeins auf den Boden, buchsta‐
biert. Beim automatischen Schreiben setzt sich das
«Medium» ‒ die Person, von der die unsichtbare
Intelligenz wirklich oder angeblich Besitz ergreift
‒ entweder allein oder mit andern an einen Tisch,
legt ein Papierstück vor sich, nimmt einen Bleistift
und erwartet in passiver Haltung die unwillkürli‐
che Bewegung seiner Hand, durch die dann nach
und nach Schriftzeichen entstehen, die ohne wei‐
teres gelesen werden können.)
.In beiden Fällen ist es möglich, sehr weitge‐
hende Resultate zu erhalten, bei deren Erlan‐
gung niemand anders beteiligt ist als das «Me‐
dium» selbst bzw. seine Beisitzer, wobei ich hier
keineswegs an Betrug denke. Das «Medium» kann
120 NachleseII
in beiden Fällen in völligem Wachzustand sein,
kann aber auch in sogenannten «Trance»-Zustand
verfallen, eine Art autohypnotischen Schlafes, der
die verschiedensten Stadien aufweist und in sei‐
nen Anfangsstadien noch kaum als solcher er‐
kennbar ist.
.Gewisse fluidische Kräfte des unsichtbaren Tei‐
les der physischen Natur des «Mediums» wie der
Teilnehmer sind nun, ebenso wie die Nerven‐
bahnen, von jeder Willensfessel befreit, für sich al
lein imstande, sowohl den Tisch wie noch viel
leichter die Hand zu bewegen, und automatisch
lösen sich sodann aus den im Gehirn gleichwie in
einer Grammophonplatte eingeprägten Runen
der Vorstellungsinhalte die entsprechenden Ant‐
worten auf die gehörten ‒ auch im Trancezustand
gehörten ‒ oder auch nur gedachten Fragen los, oft
überraschend gut angepaßt, dann aber auch wie‐
der orakelhaft dunkel, je nach der allgemeinen
und zeitlichen Disposition des «Mediums».
.Öftere Übung spielt diese automatische, durch
Verstand und Willen nicht mehr kontrollierte Tä‐
tigkeit von Gehirn, Nervenbahnen und durch
beide wirkenden Seelenkräften derart ein, daß
die Erfolge oft verblüffend sind, besonders wenn
durch die erhöhte Aufnahmefähigkeit des «Medi‐
ums» auch noch Gedankenbilder anderer wahrge‐
121 NachleseII
nommen und in seiner Mitteilung verwertet wer‐
den: ein Vorgang, der dem «Medium» selbst nicht
zu Bewußtsein kommt.
.Unsere «Neospiritisten» haben aber von alledem
entweder kaum gehört oder stehen gar den Er‐
fahrungen ausgesprochener «Spiritisten» und
wissenschaftlicher Forscher auf diesem Gebiete
absolut fern.
Ein dunkles Ahnen einer unsichtbaren höheren
Welt, der durch religiöse oder phantastische Lek‐
türe erregte Wunsch nach «geistiger» Führung,
deren man sich meist besonders würdig zu wissen
glaubt, oft auch, genau wie bei wissentlichen «Spi‐
ritisten», die Sehnsucht nach einem Lebenszei‐
chen eines kürzlich Gestorbenen, führen meist
spontan die ersten, mehr oder minder primitiven
Phänomene herbei, in denen der Betroffene stau‐
nend und begeisterungsvoll seine besondere Be‐
gnadung bestätigt wähnt.
.Nun vergeht kaum ein Tag, an dem man nicht
mit dem «geistigen» Führer oder mit dem lieben
Dahingegangenen zu verkehren sucht, was bei
solcher Annahme allerdings sehr begreiflich ist.
Alle wichtigen Entscheidungen werden der Gei‐
sterstimme unterbreitet. Man ist selig, sein Privat‐
122 NachleseII
orakel zu besitzen, und jeder vollgekritzelte Bo‐
gen Papier aus solchen Stunden wird wie ein Hei‐
ligtum verwahrt.
.Sind es wirklich nur die Kräfte des «Mediums»
selbst, die ihm Antwort geben (jeder Mensch ist bis
zu gewissem Grade «mediumistisch» veranlagt,
auch wenn es bei ihm nie zu den abnormen Er‐
scheinungen der ausgesprochenen «Medien» spi‐
ritistischer Zirkel kommt), so könnte man in alle‐
dem nur ein harmloses Tun erblicken, wenn nicht
auch dabei schon schwere Schädigungen sich ein‐
stellten, Schädigungen nervöser und seelischer
Art, und vor allem eine allmähliche Paralysierung
der Willensbildung und des Verantwortungsbewußt
seins.
.Schlimmer aber wird die Sache dadurch, daß
tatsächlich jederzeit jene unsichtbaren lemuren‐
haften Wesen des unsichtbaren Teiles der physi‐
schen Welt, die in den Sitzungen der spiritisti‐
schen Zirkel eine so verhängnisvolle, täuschende
Rolle spielen, ganz oder teilweise von dem seiner
Meinung nach so hoch «Begnadeten» Besitz er‐
greifen können.
.Die Existenz dieser Wesenheiten wird trotz al‐
ler wissenschaftlichen Erforschung spiritistischer
Phänomene, wie sie gerade neuerdings von vor‐
123 NachleseII
urteilsfreien Gelehrten wieder betrieben wird,
niemals einwandfrei und experimentell nach‐
prüfbar zu erweisen sein. Trotzdem scheint dieser
unsichtbare Teil unserer physischen Welt schon in äl‐
testen Zeiten für manche Menschen gelegentlich
seine Pforten geöffnet zu haben, und die Sagen,
Mythen und Märchen, die von «Kobolden», «Na‐
turgeistern» und ähnlichen Unsichtbaren zu be‐
richten wissen, dürften ursprünglich in recht rea‐
ler Erfahrung wurzeln.
.Auch ich vermag keinerlei «Beweise» für das
Dasein unsichtbarer, intelligenter Bewohner un‐
serer physischen Welt zu erbringen, aber ich darf
bekennen, daß es auch heute Menschen auf die‐
sem Planeten gibt, denen dieses unsichtbare
Reich der physischen Welt durch eigene geistige
Anschauung sehr genau bekannt ist, und daß ich
hier aus Erfahrung rede.
.Eben diese Erfahrung ist auch Ursache der er‐
schreckenden Einblicke in seelische Verwüstun‐
gen, die mir die Betroffenen selbst in überaus
zahlreichen Fällen ermöglichten, wobei stets das
Wirken jener unsichtbaren Lemurenwesen fest‐
zustellen war und, wahrhaftig zum Heile der also
Mißbrauchten, in genügend überzeugender
Weise bestätigt werden konnte.
124 NachleseII
.Die Wesenheiten, um die es sich hier handelt,
sind weder als «gut» noch als «böse» anzuspre‐
chen. Erfüllt von einer ungebundenen Täu
schungslust, kennen sie keinen anderen Drang, als
dem Menschen sich bemerkbar zu machen, was
aber nur unter besonderen Bedingungen mög‐
lich ist, und dann ihn zu beherrschen und sich
selbst den Grad ihrer Herrschaft über ihn zu de‐
monstrieren.
.Ich mag hier nicht alles wiederholen, was ich an
anderer Stelle (in meinem «Buch vom Jenseits»
und anderen Schriften) in ausführlicher Weise
darlegte, möchte vielmehr hier nur betonen, daß
die gewollte oder ungewollte Verbindung mit die‐
sen Wesen die verhängnisvollsten Folgen nach sich
ziehen kann und in allen Fällen dem Menschen
nur Täuschung bringt, dort wo er Klarheit zu erhal‐
ten hoffte.
.Es kann nicht genug vor diesen Regionen ge‐
warnt werden, vor denen die Natur selbst ihre
Schutzwälle weise für den Menschen aufgerichtet
hat.
.Wer wirklich die göttliche Stimme in sich ver‐
nehmen will, der muß andere Wege gehen, und
diese Wege habe ich gezeigt. (Siehe mein «Buch
vom lebendigen Gott».)
125 NachleseII
.«Geistige» Leitung, soll sie wirklich diesen Na‐
men verdienen, kann dem Menschen nur in seinem
Allerinnersten werden. Sie bedarf weder des klop‐
fenden Tisches noch der schreibenden Hand. Vor
allem aber wird sie stets den Suchenden selber zum
Finden führen, wird nie ein Gängelband um ihn
schlingen, dem er gleich einem Hypnotisierten
folgen zu müssen glaubt!
.Wer aber die tief verstehbare Sehnsucht fühlt,
mit dem geistig Ewigen derer in Verbindung zu
bleiben, die ihm vorangegangen sind in jenes
stille Reich des Geistes, aus dem kein Zeuge je‐
mals wiederkehrt, der lasse sich durch Gaukel‐
spiel nicht täuschen, auch wenn die unsichtbaren
Gaukler in der Maske jener Heimgekehrten ihm
erscheinen sollten!
.Auch ihm ist kein anderer Weg zu jenen ihm Ent‐
rückten frei, als der Pfad in die leuchtenden
Lande seines allerinnersten geistigen Innern.
.Nur dort allein darf er hoffen, von denen Kunde
zu erhalten, die selbst nur noch in ihrem allerinner
sten geistigen Sein von ihm wissen...
126 NachleseII
Die uns verlassen mußten,
.sind uns nicht verloren:
Sie wurden nur zu einem neuen Leben
.neu geboren.
Wir finden sie dereinst,
.so wie wir hier sie fanden;
Ihr «Tod» war nur die Lösung
.aus des Leibes Banden.
Das enge Haus der Sinne
.faßt «den Menschen» nicht:
Er ist ein König
.und sein Reich ist Licht!
127 NachleseII
BESPRECHUNGEN
DR. CARL VOGL
UND SEIN BUCH
«UNSTERBLICHKEIT»
.Hier soll von einem Buche gesprochen werden,
das vielleicht viele Leser der «Magischen Blätter»
noch nicht kennen dürften.
.Der Untertitel des Buches lautet: «Vom gehei‐
men Leben der Seele und der Überwindung des
Todes». Sein Verfasser ist ein tiefschürfender, stil‐
ler Gelehrter, der in einer abgelegenen Ge‐
meinde Thüringens ein anstrengendes Seelsor‐
geamt verwaltet, aber hoch über jeder dogmati‐
schen Gebundenheit steht und mit dem vorur‐
teilsfreien Forschermut des unvoreingenomme‐
nen Wahrheitssuchers an die Aufgaben heran‐
trat, die ihm die Abfassung dieses überaus gründ‐
lichen und bedeutenden Buches stellte.
.Jahrzehntelanges Forschen und sorgfältigstes
Beobachten fanden in seinem Werke ihren Nie‐
derschlag. Nichts was jemals alle Zeiten und Völ‐
ker zur Lösung des Unsterblichkeitsproblems bei‐
zutragen hatten, blieb dem Verfasser fremd, aber
darüber hinaus scheute er auch keine Mühe,
131 NachleseII
nicht weite Reisen und umfangreiche Korrespon‐
denzen, um dem persönlich näher zu gelangen,
was er mit Recht für die einwandfreieste Basis je‐
der wissenschaftlichen Untersuchung der Un‐
sterblichkeitsfrage hielt: ‒ dem Erlebnis. ‒
.So wurde sein Buch nicht nur zu einem auf‐
schlußreichen Handbuch für alle, die sich für
diese Frage interessieren, sondern, weit darüber
hinaus, zu einem durchaus persönlichen Werk ei‐
nes reifen Denkers.
.In leicht lesbarer, formvollendeter, oft dichte‐
risch verklärter Sprache, bleibt es trotz seiner wis‐
senschaftlichen Gründlichkeit auch dem völligen
Laien durchaus verständlich, ist auf jeder Seite in‐
teressant und voll Bedeutung, zeigt große Aus‐
blicke und gibt das Resultat der Forscherarbeit
seines Autors in einer so abgeklärten und seelisch
durchfühlten Form, daß ich nicht anstehe zu sa‐
gen: ‒ dieses Buch gehört zum Besten und Schönsten,
was jemals über das gleiche Problem geschrieben wurde!
.Aber es sei gleich hier schon bemerkt, daß ich
mich nicht mit allen Resultaten, zu denen Dr.
Vogl gelangt, einverstanden erklären kann, und
die Kenner meiner Schriften werden unschwer
die Stellen in dem hier empfohlenen Buche fin‐
den, auf die sich meine Einwände beziehen, so
132 NachleseII
daß ich kaum genötigt bin, Seite für Seite darauf
einzugehen.
.Im wesentlichen richtet sich die hier angedeu‐
tete kritische Stellungnahme nur gegen eine ge‐
wisse Weitherzigkeit des Verfassers, die ihn dazu
führt ‒ quasi aus einem Übermaß an Toleranz ‒
okkulte Phänomene sehr verschiedenwertiger Art
dennoch gleichwertig zu behandeln, und überdies
scheint mir die Gefahr zu bestehen, daß hier das
Phänomen oft allzusehr in den Vordergrund tritt,
um so das eigentliche Erlebnis als seelische Reaktion
zurückzudrängen. ‒ ‒
.Daneben habe ich meine Bedenken, wenn Dr.
Vogl das indische Nirvana-Erlebnis, das er zwar
wunderbar klar zu vermitteln sucht, in jener, eu‐
ropäischen Gelehrten und Okkultisten geläufi‐
gen und wohl auch bei einigen indischen Sekten
findbaren Weise ausdeutet, wie es nur auf psycho‐
pathologischer Basis zustandekommt.
.Ich kenne es anders, ‒ und auch bei Rabindra
nath Tagore fand ich in diesen Tagen zu meiner
Freude eine dem echten Erfassen weit mehr ent‐
sprechende Erklärung. ‒
.So wunderschön daher auch das Schlußkapitel
des Buches «Unsterblichkeit» ausklingt, so würde
ich doch wünschen, der auf das Nirvana-Erlebnis
133 NachleseII
bezügliche Passus wäre dort fortgeblieben, zumal
er auch inkonsequent wirkt, denn hier gelangt der
Autor, nachdem er eingangs die Unzulänglichkeit
des Denkens zur Lösung des Unsterblichkeitspro‐
blems so überzeugend darlegt und alles Forschen
auf das Erlebnis gegründet sehen will, unverse‐
hens zur Philosophie, und damit zum Denken zu‐
rück, ‒ wobei ihm freilich zur Rechtfertigung die‐
nen mag, daß er speziell die indische Philosophie
als auf das Erlebnis gegründet auffaßt.
.Ich glaube aber, daß diese meine Einwände, die
ich keinesfalls verschweigen durfte, keinem Ein‐
sichtigen das Buch «Unsterblichkeit» entwerten
können.
.Die ganze Grundtendenz des Buches ist so wert
voll und hocherfreulich, die ganze Gesamtgestaltung
des Buches ist so vollendet, daß es wahrhaftig in sei‐
nem inneren Werte völlig intakt bleibt, auch wenn
da und dort eine Schlußfolgerung des Verfassers
so gegeben ist, daß man sie ‒ eben aus eigenem
Erlebnis heraus ‒ und einst belehrt von den beru‐
fensten «Wissenden» auf diesem Gebiet, als irrig
ansprechen muß. ‒ ‒
.Wer dieses Buch richtig zu lesen weiß, dem
kann es eine gesegnete Fülle innerer Aufschlüsse
vermitteln, und manches Wort seines Autors läßt
134 NachleseII
sich, besonders für Fortgeschrittene, in einer
Weise deuten, die ihm eine vielleicht von dem Au‐
tor selbst noch kaum ganz erfaßte Tragweite
gibt...
.Ich bin sicher, daß dieser Gelehrte auch keines‐
wegs bei seinen ersten Ergebnissen stehen bleiben
wird, ja ich habe begründete Anzeichen dafür,
daß er wohl schon heute zu Ergebnissen gelangte,
die es ihm durchaus erwünscht erscheinen lassen,
daß ich neben aller vorbehaltslosen Würdigung
seines Werkes doch auch nicht verschwiegen
habe, was mir aus meiner eigenen Einsicht heraus
noch der Nachprüfung bedürftig erscheint.
.Wer dieses Buch schreiben konnte, hat allen
Anspruch auf die eindringlichste Beachtung aller, die
sich mit den magischen Tatsachen des Seelenle‐
bens befassen, umsomehr als die okkultistische Li‐
teratur nur sehr wenige Werke aufweist, die auch
nur von ferne der Bedeutung dieses Buches
gleichkommen! Dr. Vogl darf als ein Pfadfinder auf
den Gebieten des Übersinnlichen bezeichnet werden,
dessen Fußspuren zu folgen, jedem ernsthaften
Suchenden empfohlen werden muß. ‒
.Außer dem fesselnden Inhalt des Buches «Un
sterblichkeit» werden auch die im «Anhang» zusam‐
135 NachleseII
mengefaßten «Anmerkungen» und «Literatur‐
nachweise» hochwillkommen sein.
.Was da mit wissenschaftlicher Gründlichkeit
zusammengetragen wurde, ist schon für sich allein
betrachtet: wertvollstes Material, das zum Teil weit
über die eigentlichen Ergebnisse des Buches
selbst hinausweist.
.Auf diese Art betrachtet, stellt sich das wegwei‐
sende und bedeutende Werk als ein Führer in die
Grenzlande des Übersinnlichen dar, und ich erblicke
das Wertvollste des ganzen Buches in dem, was
der Autor selbst zu sagen hat, aus eigenem Erle‐
ben, so daß ich all seinen, auf hoher Gelehrsam‐
keit beruhenden, philosophischen und mehr nur
spekulativ gearteten Expektorationen doch nur se
kundäre Bedeutung beilege, im Hinblick auf die
Bekundung des reichen und abgeklärten Geistes, die
uns aus dem Ganzen des Werkes entgegenstrahlt.
.In unserer Zeit, in der jeder geschickte Be‐
griffsjongleur sich berufen glaubt, die Welt mit
seinen Eintagserzeugnissen zu überschwemmen,
mit wissenschaftlich übertünchten Machwerken,
die nichts anders sind, als ein Aufguß aus schon
hundertmal gehörten okkultistischen Theore‐
men, ist es besonders dankbar zu begrüßen, wenn
ein wahrhaft Berufener erscheint. Als solchen aber
136 NachleseII
begrüße ich den Verfasser des Buches «Unsterblichkeit»,
und ich bin über allen Zweifel sicher, daß sein
Buch jedem Leser, auf welcher Stufe des Erken‐
nens er auch angelangt sein mag, reichen Gewinn
bringen wird. ‒
Zum empfohlenen Buch (nicht i.d. Nachlese enthalten)
137 NachleseII
«MEISTER IN INDIEN*»
von F. R. Scatcherd**
.Trotzdem in dem Geleitwort des einen der drei
Übersetzer meines Namens als eines Gliedes der
Hierarchie des Geistes, in außerordentlicher
Weise gedacht wird, trotzdem die Einsichten der
Übersetzer sie unschwer als Schüler der Lehren
ausweisen, die ich in meinen Tagen den Men‐
schen meiner Zeit geben durfte, sehe ich mich
verpflichtet, mit Wärme für dieses mir eben über‐
sandte Büchlein einzutreten...
.Es wäre eine falsche «Bescheidenheit», eine Be‐
scheidenheit, die der Lüge nur allzu nahe käme,
wollte ich nicht auch meinerseits bestätigen, daß
die Übersetzer dieser kleinen Berichte völlig ihre
Tragweite erkannten, daß sie auch in dem, was sie
* Bei den «Meister in Indien» handelt es sich nicht um 00
Leuchtende im Sinne von Bô Yin Râ, sondern um den zu 00
jener Zeit bekannt gewordenen Ramana Mahârshi und 00
dessen Chela Sastriar.
** Aus dem Englischen ins Deutsche übertragen von Paul 00
Behnke, Alfred Müller und Edgar Treusein.
138 NachleseII
erläuternd hinzufügen zu müssen glaubten, mit
größter Sorgfalt bemüht waren, sichersten Boden zu
gewinnen, und daß so diese kleine Schrift eine Be‐
deutung erlangte, die sie hoch emporhebt über
gar manches dickleibige Buch, in dem nach Art
der Lederstrumpf- und Robinsongeschichten von
denen gesprochen wird, deren geistigem Kreise
ich zugehöre, nicht durch eigenes «Verdienst»,
oder als «Belohnung» meines Strebens, sondern
weil sie mich selbst zu einem der ihren, und für
die mir von ihnen gestellte schwere Aufgabe in
sorglichster Weise bereiteten, wie sie auch jene,
für einen kleineren Wirkungskreis Verpflichteten
bereitet haben, von denen die vorliegenden Be‐
richte eines offenbar sehr einfachen Mannes in
ungekünstelter Weise erzählen.
.Schon der Umstand, daß hier, wo gewiß die
sprachliche Übersetzung an sich keine Schwierig‐
keiten bot, doch keiner der Übersetzer allein die
Verantwortung auf sich nehmen wollte, ergibt ei‐
nen Beweis dafür, wie sehr die drei Männer, die
dieses Büchlein in deutscher Sprache vorlegen,
sich bewußt waren, welche Wichtigkeit den Be‐
richten zugesprochen werden muß, die tatsäch‐
lich von einem auch von mir in Freundschaft ver‐
ehrten Wissenden weit höher geschätzt werden,
als fast alle, sonst so schwer zugänglichen okkulti‐
139 NachleseII
stischen Werke seiner wahrlich erlesenen und rei‐
chen Bibliothek. ‒
.Mir ist vor allem maßgebend, daß in diesem
kleinen Schriftchen jedes Wort, das die eigentli‐
che Lehre betrifft, auf Wahrheit beruht, daß die all
gemeine Charakterisierung der beiden «Meister» ‒
vielleicht abgesehen von einigen wenigen und
nicht ins Gewicht fallenden mythologisierenden
Zügen ‒ tatsächlich die menschliche Wesensart
wirklicher «Meister» getreu widerspiegelt, und daß so
der Suchende endlich befreit wird von den myste‐
riösen, theatermäßigen Vorstellungen, denen er
in fast allen anderweitigen Berichten über angeb‐
liche Mahâtmas zu erliegen droht, wenn er sich
nicht in gesundem Ekel vor derlei Mummen‐
schanz abwendet und dabei dann allerdings auch
das Körnchen Wahrheit, das hinter allen diesen my‐
stifizierenden Erzählungen dennoch gesucht zu
werden verdiente, völlig aus den Augen verliert. ‒
.Ich kann daher das Büchlein «Meister in Indien»
nur jedem Suchenden ohne Vorbehalt empfehlen
und den von heiliger Ehrfurcht vor der Wahrheit
erfüllten, bereits sehr «wissenden» Übersetzern
Dank sagen, daß sie auf ihre Weise mithelfen, an
Stelle verwirrender und phantastisch ausge‐
schmückter Sagen, einfache Tatsachen zu setzen,
die allerdings weit weniger seltsam klingen als der
140 NachleseII
bisher meist verbreitete, auf üppig gedüngter
Erde erwachsene mediumistische «Meister»‐
Spuk, dafür aber Wirklichkeit sprechen lassen, wo
bisher Traumwahn orakelte. ‒ ‒
.Die Ausstattung der kleinen Schrift ist äußerst
vornehm und die beiden, in vorzüglicher Repro‐
duktion wiedergegebenen Photographien des
«Meisters» Sastriar und des Mahârshi, seines höhe‐
ren «Bruders», dürften jedem natürlichen, feine‐
ren Empfinden manches zu sagen haben, beson‐
ders im Vergleich zu gewissen angeblichen «Mei‐
sterbildern», die noch unglaublicherweise in so
manchen okkultistischen, bzw. theosophischen
Kreisen Verehrung genießen, obwohl wahrlich
nicht allzuviel Kritikfähigkeit dazu gehören
dürfte, diese letztgenannten Phantome einer
überreizten Phantasie, die noch dazu in einer
künstlerisch so unmöglichen Art gestaltet wur‐
den, als das zu erkennen, was sie wirklich sind...
.Ich hoffe und wünsche, daß die vorliegenden
Berichte manches nur erträumte Ideal endgültig in
sein leeres Nichts zurückweisen werden, um an
dessen Stelle würdigeren Vorstellungen in bezug
auf jene Geisteseinheit Platz zu schaffen, die tat‐
sächlich von Menschen dieser Erde verkörpert wird,
um Licht zu verbreiten, wo ohne sie nur der finster
ste Aberglaube herrschen würde. ‒ ‒ ‒
Zum empfohlenen Buch (nicht i.d. Nachlese enthalten)
141 NachleseII
«NACHKLANG»
von Erika von Watzdorf-Bachoff
.Nachdem man geraume Zeit in deutschen Lan‐
den einer gewissen Scheu vor jedem Gedichtband
begegnet war, bewegt sich heute unstreitig das In‐
teresse am Gedicht als solchem wieder in aufstei‐
gender Linie. Man empfindet wieder den seelen‐
lösenden Himmelstau, der aus wirklich guter Ly‐
rik, wie aus keiner anderen Form dichterischen
Schaffens sich über die eigene Stimmung hernie‐
dersenkt, weiß wieder jene subtilen Empfindun‐
gen zu schätzen, die Reim und Rhythmus der
Sprache entlocken können, kurz: man liest wie‐
der Gedichte!
.Nun ist aber in unserer Zeit, in der jeder dritte
Mensch mit leidlichem Geschmack oder grausa‐
mem Ungeschmack sich zum Reimen berufen
fühlt, der Kunstform des Gedichtes arge Unbill
widerfahren und widerfährt ihr noch Tag für Tag.
.Die alte Gartenlaubenlyrik gräßlichen Ange‐
denkens pudert und frisiert sich dem Zeitge‐
schmack entsprechend und gilt als «neue Dich‐
142 NachleseII
tung», während auf der anderen Seite barbari‐
sche Sprachverstümmelung eine seltsame Clow‐
nerie ihre geschmacklosen Kapriolen schlagen
läßt.
.Einsam steht ferne all diesem betulich-beflisse‐
nen Gebahren der wirkliche Dichter, und gute Ly‐
rik, die, aus klingender Seele geboren, der Mut‐
tersprache Laute in Musik zu wandeln weiß, ist
seltener geworden als je. ‒
.In solchen Tagen ist es geradezu ein Labsal, ei‐
nem Gedichtbande zu begegnen wie dem vorlie‐
genden.
.Es sind durchweg nur kleinere Gedichte. Auf
dem Titelblatt des schmalen, auch in seinem Äus‐
seren überaus vornehm, still und edel wirkenden
Bandes steht, gleichsam als Vorzeichen der Ton‐
art, das Goethewort: ‒
.«Jeden Nachklang fühlt mein Herz froh- und
trüber Zeit,
.Wandle zwischen Freud' und Schmerz in der
Einsamkeit.»
.Und so wie hier über dem Tor des Gartens die‐
ser reifen, starken Dichterin ein Wort des von ihr
ehrfurchtdurchdrungen erfühlten Größten steht,
143 NachleseII
so gibt sie auch jedem Blumenbeete ihres Gartens
eine Inschrifttafel mit Versen Goethes.
.Vielleicht kein ganz ungefährliches Unterfan‐
gen? ‒ Aber wer diese reine, quellende Lyrik in
sich trägt wie Erika von Watzdorf-Bachoff, der darf
schon ruhig bewußt große Vergleiche wecken, die
manchem anderen recht fatal werden könnten. ‒
.«Heimat», «Einsamkeit und Erinnerung»,
«Weimar» und «Sternenfreundschaft» sind die
vier Teile des Gedichtbandes überschrieben. Der
Titel des Ganzen: «Nachklang», weist von selbst auf
das lange vorher schon Erschienene zurück. Wem
das Schaffen der Dichterin, die Johannes Schlaf
wahrhaftig nicht zu Unrecht nur der Droste-Hüls
hoff an die Seite stellen zu dürfen glaubt, nicht oh‐
nehin bekannt ist, dem seien hier ihre früheren
Bände genannt: das stattliche Bändchen «Zwi
schen Frühling und Herbst», das bei Cotta erschien,
sowie «Das Jahr und neue Gedichte», 1913 bei Kiepen
heuer erschienen. Dazu kommt noch der feinsin‐
nige, im Milieu ihrer Jugend spielende Roman
«Maria und Yvonne», der ebenfalls bei Cotta verlegt
wurde.
.Es ist nicht die Aufgabe des Rezensenten eines
Gedichtbandes, die einzelnen Gedichte irgend‐
wie inhaltlich zu erläutern. Auch würde es mir
144 NachleseII
verfehlt scheinen, dies oder jenes Gedicht zitieren
zu wollen, denn stets bleibt hier die Wahl viel zu
subjektiv bestimmt, und es besteht die Gefahr, das
Bild der Dichterin zu verzeichnen. Lyrische
Kunst in höchster Vollendung, herbsüße Frauen‐
lyrik voll rhythmischer Schönheit, eine Sprache,
die restlos in Wohllaut und Klang aufgeht, bietet
jede Seite des Bandes! Ich sage mit Vorbedacht:
Frauenlyrik, denn nichts ist hier männlichem Füh‐
len nachempfunden, alles kündet nur von dem
reichen, starken Schwingen und Sehnen einer in
Freud und Leid gleich erlebenstiefen Frauen‐
seele. Erika von Walzdorf-Bachoff gehört zu den
wenigen Erlesenen der heutigen Menschheit, die
in weiser Selbstgestaltung ihr Leben zu formen
wissen, so daß nichts Unedles ihnen zu nahen ver‐
mag. Aus solcher Lebensformung fließt das Werk
der Dichterin. Solcher Selbstdarstellung dankt sie
die unbestreitbare Eigenform ihrer Gedichte.
Wer Vollendetes liebt und Echtes zu beurteilen
weiß, der wird ihre Kunst, die stets nur reifster
Ausdruck innersten Fühlens ist, wahrlich zu
schätzen wissen.
145 NachleseII
REZENSION, VIELLEICHT
AUCH SELBSTANZEIGE*
ES kam ein Mensch zu mir, der einer meiner
nächsten Schüler werden mußte, weil er es
lange vorher schon im Geistigen war.
.Dieser Mensch wurde mir zum intimsten
Freunde.
.Was Wunder, wenn er als Kunsthistoriker sich
berufen und bewogen fand, ein Buch über meine
Kunst zu schreiben.
.Ich kann dieses Buch nicht hinausgehen lassen,
ohne ihm ein paar Geleitworte mitzugeben.
.Freilich kann ich nur über das Buch selber spre‐
chen, denn es stünde mir übel an, seine Werturteile
zu begutachten.
* Bezieht sich auf «Der Maler Bô Yin Râ» von R. Schott, 00
München, Hanfstaengl. 1927. Eine zweite erweiterte 00
Ausgabe erschien 1960 in der Koberschen Verlagsbuch‐ 00
handlung, Bern.
146 NachleseII
.Was aber das Buch selber betrifft, so kann ich
nur sagen, daß es mit einer Einfühlungssicherheit
und genialen Erfassung des Wesentlichen ge‐
schrieben ist, die für mein eigenes Urteil sicher
ans Wunderbare grenzt.
.Es ist hier unendlich vieles zu Worte geworden,
was mir selbst immer unaussprechlich schien.
.Aber es ist die alte Geschichte: ‒ ohne den An‐
schlag des Stahles springt der Funke nicht aus
dem Feuerstein. ‒ ‒
.Ich sollte Rudolf Schott, der das Buch über den
Maler Bô Yin Râ geschrieben hat, eigentlich recht
«böse» sein, denn er hat mich bis aufs Blut ge‐
quält, um alles das aus mir heraus zu holen, was er
für sein Buch zu brauchen glaubte.
.Allein, das Resultat seiner unermüdlichen Ar‐
beit zwingt mich denn doch, ihm vor aller Öffent‐
lichkeit für die Tortur zu danken, der er mich so
manchen Achtstundentag und manche Nacht‐
stunde hindurch mit unerbittlicher Grausamkeit
unterworfen hat.
.Es war lediglich die Kunst seiner Fragestellung,
die es mir ermöglichte, ihm tausend Dinge auf‐
zuklären, die mir jedem anderen Menschen ge‐
genüber als unsagbar erschienen wären.
147 NachleseII
.So kam ein Material zutage, dessen Fülle mich
selbst in Erstaunen versetzte.
.Aber gerade auf dieses Material hatte es Schott
abgesehen, und mit intuitiver Sicherheit wußte er
daraus sein einzigartiges Buch zu gestalten.
.Möge es allen die Augen öffnen, die sehen ler‐
nen wollen!
.Ich habe nichts Besseres in ihre Hand zu ge‐
ben. ‒ ‒
.Daß in dem Buche nichts besprochen ist, was
nicht auch bildhaft dargestellt wäre, dürfte zweifel‐
los als besonderer Vorzug zu betrachten sein.
.Sollte man mehr in dieser Art erwarten, so wird
der Autor auch noch mehr zu sagen und zu zeigen
haben, obwohl er bereits hier wahrlich überrei‐
chen Stoff zum Nachdenken und Nachfühlen bie‐
tet.
.Ich begrüße dieses Buch als Wegweiser für Tau‐
sende, ganz abgesehen davon, daß es ein wahrhaft
zuverläßiger «Cicerone» ist in den Gebieten geisti‐
ger Kunst!
.Dem Kunstverlag Hanfstaengl aber weiß ich
Dank für die vorzügliche Ausstattung.
Zum empfohlenen Buch
148 NachleseII
DAS BÔ YIN RÂ-BREVIER
von Rudolf Schott
Auf eine Anfrage an Bô Yin Râ, ob es ihm unerwünscht er‐ 00
scheinen würde, wenn wir das in unserem Verlag (Richard 00
Hummel Verlag, Leipzig) seinerzeit erschienene obenge‐ 00
nannte Brevier weiter propagierten, bzw. ob es durch 00
seine Bücher unnötig sei und forthin zurückzuziehen 00
wäre, erhielten wir nachfolgend wiedergegebene Ant‐ 00
wort:

.Ihre Anfrage kommt mir durchaus nicht über‐
raschend, denn auch bei mir sind im Laufe der
Zeit zahlreiche und einander stark widerspre‐
chende Urteile eingelaufen.
.Es scheint mir aber ein allgemeiner Irrtum vor‐
zuliegen, sowohl bei den begeisterten Freunden
des «Breviers», wie bei seinen Kritikern, die gewiß
formal im Recht sind, wenn sie dagegen geltend
machen, daß man ‒ herkömmlicherweise ‒ soge‐
nannte «Breviere» erst dann zusammenstelle,
wenn man das Lebenswerk eines Autors als ab‐
geschlossen betrachten dürfe. Jedoch folgt aus
solchem Herkommen keinerlei Gesetz! Es ist
149 NachleseII
nicht einzusehen, weshalb man nicht aus jedem
vorliegenden reichlichen Material an Sentenzen
ein Buch zusammenstellen dürfte, einerlei, ob der
Autor schon verstorben ist oder noch im Schaffen
steht. An sich bedeutet ein Kurzbuch mit gesam‐
melten Aussprüchen ja noch nichts Abschließen‐
des. Meines Erachtens ist ein solches Buch überall
da berechtigt, wo eine größere Reihe von Senten‐
zen jederzeit leicht zugänglich gemacht werden
soll, einerlei ob von der gleichen Stelle her noch
weiterhin Produktives ausgeht oder ob man vor
einem bereits abgeschlossenen Lebenswerke
steht.
Was aber nun das von Rudolf Schott aus meinen
Werken zusammengestellte «Brevier» angeht, so
liegt da ein Sonderfall vor, der eigentlich vielleicht
von Anfang an einer Erläuterung bedurft hätte,
denn meines Wissens kam es dem feinsinnigen
Autor des Ludwig-Richter-Buches und der «Reise
in Italien», der das ausgezeichnete Wort von der
«inwendigen Antike» geprägt hat, viel weniger auf
eine Sentenzensammlung an als eben um das Auf‐
zeigen dieser von ihm auch in meinen Werken er‐
fühlten «inwendigen Antike» unter Benutzung
meiner eigenen Worte, die hier gleichzeitig das
Aufgezeigte bestätigen sollten.
150 NachleseII
.Gewiß dachte er daneben auch daran, daß die
gegebenen Zitate manchem Leser meiner Werke
zuweilen schon an sich willkommen sein könnten,
‒ so etwa auf Reisen, wo die Bücher nicht alle mit‐
geführt werden, ‒ oder auch um Neulingen einen
bequemen Überblick verschaffen zu können über
die Begriffs- und Gedankenkreise, die mein Leh‐
ren umfaßt. Er hat das ja auch in seiner, übrigens
im Hauptinhalt wirklich ganz einzigartig bedeu‐
tungsvollen «Einführung» nebenher erwähnt.
Aber weitaus wichtiger war ihm natürlich doch
das, was er in den von ihm gewählten Zusammen‐
fassungen mit meinen Worten aufzeigen wollte.
Das erklärt auch seine Wahl der einzelnen Be‐
griffe, durch die er meine Aussprüche zusam‐
menbündelt, wie «Geist», «Seele», «Körper»,
«Ich», «Du» u.s.f., wie auch die nicht immer gleich
erkundbare Motivierung für die mitunter schein‐
bar kaum gerechtfertigte Einbeziehung von ein‐
zelnen Aussprüchen, die ich vielleicht selber in ei‐
ner bloßen Sentenzen-Anthologie nicht als beson‐
derer Hervorhebung entsprechend erachtet
hätte. Als ich aber einmal während unfreiwilliger
Bettruhe die Möglichkeit fand, alles sorgfältig
kontrollierend durchzulesen, blieb kein einziges
Zitat übrig, von dem ich noch weiterhin geurteilt
hätte, daß es an seiner Stelle überflüßig sei. Es
wird auch das zuerst Befremdende sogleich deut‐
151 NachleseII
lich, wenn man sich klar macht, daß die Aussprü‐
che dazu dienen sollen, mein Verkündungswerk
von verschiedenen Seiten her in klarer Kontur fassen
zu lehren.
Gelegentlich ist mir in kritischen Äußerungen
über das vermeintlich «überflüssige» ‒ in Wahr‐
heit aber so überaus zum Nachdenken anregende
und seelisch fördernde ‒ Werkchen, das da, unter
Benutzung meiner Worte, über meine Bücher ge‐
schrieben ist, und vielleicht das Authentischste
darstellt, was von einem Anderen darüber ge‐
schrieben werden kann, ‒ auch der Einwand be‐
gegnet, es seien doch auch Stellen gebraucht, die
in späteren Neuausgaben mehrerer Bücher end‐
gültig eine andere Fassung erhalten haben. Die‐
ser Einwand kommt aber nur zustande durch die
recht merkwürdige Annahme, als bilde die endgül
tige Formung, wo sie von mir für notwendig ge‐
halten wurde, etwa gar eine Negierung der vorher
gebrauchten Formulierung. Wer zu solcher An‐
sicht neigt, dem muß ich jedoch hier eindeutig sa‐
gen, daß ich selbstverständlich zu jedem Wort
stehe, das ich jemals in die Öffentlichkeit gegeben
habe, so daß die späterhin erfolgte Andersformu‐
lierung natürlich niemals das zuerst gegebene
Wort von meiner Verantwortung ablösen könnte.
152 NachleseII
Insofern stellt also Schotts «Brevier» geradezu
den Beweis dafür dar, daß die mittlerweile in
Neuausgaben einzelner meiner Bücher getroffe‐
nen Neuformulierungen natürlich nichts am Sinn
des Ganzen verändert haben.
.Aus all dem Vorstehenden werden Sie gewiß
schon ersehen, daß ich das unter Verwendung
meiner eigenen Worte seinerzeit von Rudolf
Schott gestaltete Erläuterungswerk zu meinen
Büchern, das er als «Brevier» herausgab, ganz ge‐
wiß nicht für etwas Überflüssiges halten kann. Na‐
türlich will und kann dieses Buch, auch wenn es
das, was Schott die «inwendige Antike» nennt, an
meinen eigenen Worten aufzeigt, niemals auch nur
eines meiner Bücher «ersetzen», aber man würde
sich ja auch einer kuriosen Vorstellung hingeben,
wenn man der törichten Annahme Raum lassen
wollte, als wäre die doch von mir gutgeheißene Ent‐
stehung des «Breviers» der Absicht zu verdanken,
einen «Ersatz» für meine Bücher zu schaffen.
.Ich bin Ihnen nur dankbar, wenn Sie dem «Bre‐
vier» auch weiterhin die Wege zu denen offenhal‐
ten wollen, die es brauchen können, was von jedem
Leser meiner Bücher mit Bestimmtheit zu sagen
ist! Freilich sollte kein Benützer dieses «Breviers»
darin nur eine bloße Anthologie sehen, sondern
in erster Linie ein in acht Kapiteln bewußt aus
153 NachleseII
meinen Worten gestaltetes Buch über mein Ver‐
kündungswerk, das ihm für sehr vieles in meinen
Büchern die Augen öffnen kann. Auch die «Ein‐
führung» Schotts ist dabei gewiß nicht auszuneh‐
men!
154 NachleseII
ZUR MITARBEIT
AN DEN «MAGISCHEN BLÄTTERN»
UND AN DER «SÄULE»
ZUSCHRIFTEN AN BÔ YIN RÂ
BÔ YIN RÂ bittet um Veröffentlichung nachfolgender Zeilen:
.«Je mehr meine Bücher zu einem wertvollen
Besitz vieler Leser werden, desto ungeheuerli‐
cher häuft sich die Masse der Zuschriften, die mir
direkt oder durch Verlagsvermittlung zugehen,
entweder um Dank und Freude Ausdruck zu ge‐
ben, oder um persönliche Fragen zu stellen.
.Anfänglich versuchte ich, alle derartigen Briefe
gewissenhaft zu beantworten; wollte ich aber auch
weiter bei dieser Gepflogenheit bleiben, dann
müßte ich jede andere Tätigkeit einstellen und könnte
dennoch die Stöße von Briefen nicht auf solche
Weise beantworten, wie es meinem Empfinden
und meinem Willen, Hilfe zu bringen, entspre‐
chen würde. ‒
.Es ist im übrigen bis auf den heutigen Tag noch
keine einzige Anfrage an mich ergangen, auf die
sich der Fragende mit einigem guten Willen und
157 NachleseII
etwas Nachsinnen, auf Grund logischer Folge‐
rungen aus den durch mich gegebenen Lehren,
nicht selbst die Antwort hätte geben können...
.Jene anderen zahllosen Zuschriften aber, die
nur dem Dank und der Freude, oder der inneren
Zustimmung des Herzens Ausdruck geben sollen,
muß ich leider gleichfalls fürderhin unbeantwor‐
tet lassen, obwohl ich gewiß gern jedem einzelnen
Briefschreiber von Herzen danken möchte.
.Vielfach scheinen die Absender der an mich ge‐
richteten Briefe anzunehmen, daß die Einsendung
des Rückportos alle der Antwort im Wege stehenden
Umstände beseitigen müsse. Gern wollte ich je‐
doch die Portospesen tragen, sähe ich überhaupt
noch eine Möglichkeit, all diese Briefe zu beantwor‐
ten, ohne meine anderen bindenden Lebens‐
pflichten zu vernachläßigen, ja gänzlich unerfüllt
zu lassen.
.Allen, die in den letzten Monaten an mich ge‐
schrieben haben und keine Antwort mehr erhal‐
ten konnten, sage ich hiermit herzlichen Dank
und bitte zugleich, die Nichtbeantwortung nicht
als Zeichen der mangelnden Anteilnahme an dem
jeweiligen Einzelschicksal auslegen zu wollen! ‒
.Ich bin kaum mehr imstande, auch nur alles zu
lesen, was man mir zuschickt, und ich glaube
158 NachleseII
nichts Unmögliches zu erwarten, wenn ich an‐
nehme, daß man bei einiger Überlegung begrei‐
fen wird, wie vieles durch meine Geistesarbeit ge‐
tan sein will, und daß auch ich nicht in der Lage
bin, zu gleicher Zeit den mir übertragenen Pflich‐
ten zu genügen, wenn ich von Sonnenaufgang bis
zur Mitternacht nur Zuschriften beantworten
wollte.»
159 NachleseII
AN UNSEREN LESERKREIS!
BÔ YIN RÂ ersucht uns um die Verbreitung folgender Mitteilung:
.In den letzten Jahrgängen der «Säule» (bzw.
der «Magischen Blätter») waren zahlreiche Bei‐
träge von mir zu finden, so daß es manchen Le‐
sern zuletzt als ganz selbstverständlich erschien,
daß sie in jeder Nummer der Zeitschrift meinen
Abhandlungen begegnen müßten.
.Nun liegt es aber gewiß nicht in der Art meines
Lehrauftrags, die Mitarbeit an Zeitschriften zu er‐
streben, sondern es hatte sich zwanglos aus dem
freundschaftlichen und Schülerverhältnis des
Herausgebers und Verlegers der «Säule» zu mir
ergeben, daß ich dieser seiner Zeitschrift einzelne
in sich geschlossene Teile meiner für zukünftiges
Erscheinen in Buchform vorbereiteten Schriften
zum Vorabdruck überließ.
.Gelegentlich nur kamen auch Themen zur Be‐
handlung, die der Tag nahegelegt hatte und über
160 NachleseII
die ich mich den Lesern der Zeitschrift gegenüber
äußern wollte.
.Niemals aber war es von mir beabsichtigt, mei‐
nerseits die «Magischen Blätter» oder die «Säule»
ad infinitum mit Beiträgen versehen zu wollen,
sondern ich hoffte stets darauf, daß sich ein Stab
gediegener Mitarbeiter zusammenschließen
möge um mir die Mitsorge für die als nötig und
bedeutsam erachtete Zeitschrift abzunehmen.
.Mehr und mehr fand diese Hoffnung auch ihre
Erfüllung, und gleichzeitig plante der Verlag eine
gewiße Neugestaltung der «Säule», wie sie der
laufende neunte Jahrgang bereits erfreulicher‐
weise zeigt.
.Hier war die Zeit meiner Entlastung nun ge‐
kommen und wenn ich auch wußte, daß ein künf‐
tiger Ausfall meiner Beiträge vorerst zu allerlei
Legendenbildungen Anlaß werden könne, so
durfte ich mir doch auch sagen, daß alle einsichti‐
gen Leser alsbald auf die Spur der wahren Gründe
meines Zurücktretens als «Mitarbeiter» der Zeit‐
schrift geführt würden, die mir so nahe steht wie
je zuvor.
.Was mir aber da und dort neuerlich zu Ohren
kommt, läßt es mir nachgerade als Pflicht erschei‐
nen, den Lesern der «Säule» klar und deutlich zu
161 NachleseII
sagen, wie ferne der Wahrheit alle Vermutungen
sind, die aus dem Fehlen meiner Beiträge auf ir‐
gendwelche Veränderung meiner Wertschätzung
der Zeitschrift oder gar ihres Herausgebers und
Verlegers schließen möchten!
.Ich stehe der Neugestaltung der «Säule» seit
Beginn des laufenden neunten Jahrgangs sogar
mit besonderer Sympathie gegenüber und bin si‐
cher, daß Herausgeber und Mitarbeiter auf dem
nun betretenen Wege immer Besseres schaffen, im‐
mer mehr segensreiche Klärung bringen werden.
.Was ich persönlich den Lesern der «Säule» zu sa‐
gen habe, ist allein in meinen Büchern zu finden und
soll nur dort gesucht werden!
.Die Zeitschrift hat nicht den Zweck, mich zu
Wort kommen zu lassen, sondern soll durch dazu
Berufene, ‒ aber auch nur durch solche! ‒ Fragen
der Lebenspraxis, Probleme der Vorstellung und
der zeitgegebenen Mentalität im Lichte der durch
mein Wirken verbreiteten Lehren klären helfen, ‒ soll
aufzeigen, wie die unerschütterbare Wahrheit dieser
Lehren den nach ihnen Lebenden offenbar und bestim
mend wurde. ‒
.Längst gemahnt, meine physische Gesundheit
nicht ganz außer acht zu laßen, die durch eine al‐
len Nahestehenden bekannte, beispiellose Ar‐
162 NachleseII
beitsüberbürdung und stete Sorge um Andere
seit Jahren um ihre primitivsten Rechte kam, muß
ich auch die äußeren Bedingungen zu erhalten
suchen um alle Kraft auf das Werk konzentrieren zu
können, das mir zu vollbringen geboten ist und
das wahrlich den ganzen Menschen verlangt...
.Daß die Nötigung, einzelne Teile aus noch un‐
vollendeten Schriften in den Vorabdruck hinzu‐
geben, zur quälenden Störung der Arbeit an der
Endgestaltung einer Schrift werden kann, brau‐
che ich wohl keinem Menschen zu sagen, der die
Bedingungen geistigen Schaffens auch nur von
ferne erahnt. ‒
.Manches ist mir so in den Jahren meiner
«Mitarbeit» an der Zeitschrift verlorengegangen,
was ich bis heute noch nicht wiederbringen
konnte. ‒ ‒
.Unmöglich aber wäre es mir, außer allem ande‐
ren Tun das meine Kräfte braucht, noch beson‐
dere Abhandlungen, nur für die «Säule» be‐
stimmt, zu formen, und wie ich oben dargelegt zu
haben glaube, ist es auch gewiß nicht mehr von‐
nöten.
.Hier sollen nun Menschen sprechen, die in sich
erlebten, was meine Schriften sie erleben lehrten,
163 NachleseII
und die befähigt sind in Wortgestalt zu formen was
sie innerlich erfüllt.
.Alle Unfähigkeit zur Darstellung, ‒ alle Unzuläng
lichkeit der Gestaltung aber möge diesen Blättern
fernebleiben, und jeder der an ihnen mitzuarbeiten
berufen ist, sei stets sich der Verantwortung bewußt,
die jeder übernimmt, der Anderen auf seine Weise
Hilfe bringen will, damit auch ihnen nach der
Weise ihrer Seele Licht und Wahrheit werde. ‒ ‒
164 NachleseII
MEIN «GLÜCKWUNSCH»
an den Herausgeber der «Säule»
HIER sollte der mir freundschaftlich naheste‐
hende Herausgeber der «Säule» eigentlich
weghören, denn was ich sagen will, gilt zwar ihm
und seiner Arbeit, geht aber mehr seine Freunde
und vielleicht ‒ auch Feinde ‒ an, als ihn selbst.
.Was ich ihm selbst zu sagen hatte, ob es nun An‐
erkennung war oder zuweilen auch ernste Kritik,
das hat er stets in direkter Aussprache erfahren,
und so wird er auch heute wieder von mir hören
wie ich's meine, ohne daß ich dazu des freundli‐
chen Setzers Mithilfe in Anspruch nehmen
möchte.
.Ich will hier nur zu den Lesern dieser Zeit‐
schrift sprechen, die mit dem vorliegenden Heft
ihren zehnten Jahrgang erfolgreich vollendet.
.Mit der Zeitschrift feiert zugleich ihr Verlag sein
zehnjähriges Bestehen.
.Was das in so schwerer Zeit heißen will, wissen
am besten die dem Buchhandel Nahestehenden,
165 NachleseII
die während dieser zehn Jahre so viele Verlage
und Zeitschriften entstehen, aber auch alsbald
wieder verschwinden sahen. ‒ ‒
.Es ist gewiß leicht, an der allgemeinen Berufs‐
tätigkeit eines Verlegers, und noch leichter, an ei‐
ner von ihm herausgegebenen Zeitschrift Kritik zu
üben, aber oft recht schwer, der trotz allem Anlaß
zur Kritik dennoch geleisteten positiven Arbeit ge‐
recht zu werden.
.Auch ich konnte mich in Sachen der «Säule» ge‐
wiß nicht immer einer wohlwollenden Kritik ent‐
halten, ‒ auch mir erschien gewiß nicht jeder Bei‐
trag, dem die Zeitschrift Raum gab, der Auf‐
nahme würdig, und noch weniger konnte ich eine
allzu weitherzige Liberalität gutheißen, die in der
Aufnahme von Beilagen oder auch redaktionell
befürworteten Buchanzeigen zum Ausdruck
kam, und zu der sich der Verleger für beruflich
verpflichtet halten mochte.
.Ich muß aber nachdrücklichst dennoch beto‐
nen, daß es recht verkehrt wäre, aus solchen sicht‐
lichen Mißgriffen heraus voreilige Schlüsse zu zie‐
hen und die geistige Einstellung des Herausge‐
bers, der hier sein eigener Verleger ist, besorgt in
Frage zu stellen.
.Ich weiß, daß stets nur das Beste erstrebt
wurde, auch dann, wenn die Wohlmeinenden
166 NachleseII
schärfste Kritik üben zu müssen meinten und oft
auch mich auf ihrer Seite fanden.
.Nicht umsonst stehe ich bis auf d. heutigen Tag die
ser Zeitschrift mit allem Vertrauen und mit den wärm
sten Wünschen für ihr ferneres Gedeihen gegenüber!
.Nicht umsonst verbindet mich aufrichtigste Be‐
freundung und Hochschätzung mit ihrem Her‐
ausgeber und Verleger!
.Nur zu gut kenne ich die großen Schwierigkei‐
ten, denen sein lauterer Wille sich in diesen zehn
Jahren immer wieder gegenüber sah, und ebenso
weiß ich, daß so manches, was andere zur Kritik
nötigte, auch von ihm nicht gebilligt wurde,
mochte er es auch, der Macht äußerer Verhält‐
nisse gegenüber, nicht verhüten können.
.Es steckt eine immense Arbeit und ein ganz un‐
gewöhnliches Maß freudiger Hingebung in die‐
sen zehn Jahrgängen der Zeitschrift und der
gleichzeitigen Verlagsentwicklung, ganz abgese‐
hen von dem tiefen Bewußtsein, durch das alles
mit den eigenen Kräften der Ausbreitung geisti‐
gen Lichtes zu dienen!
.Die in solcher Weise betriebene Treue der ein‐
mal gestellten Aufgabe gegenüber, verdient um so
mehr Anerkennung, weil es sich im wesentlichen
167 NachleseII
hier stets nur um ein Wirken aus idealer Intention
handelte, die bei allem, was sie erstrebte, das ma‐
teriell Mögliche streng im Auge behalten mußte.
.Allzuwenig wird beachtet, daß es sich hier um
eine Zeitschrift handelt, die einer noch keines‐
wegs konventionell ausgemünzten Form geistiger
Erkenntnisse Ausbreitung zu schaffen sucht, so
daß es überaus schwer hält, die wirklich geeigne‐
ten und allen Einwänden überlegenen Mitarbei‐
ter zu erlangen.
.Ebensowenig aber ist man sich auch der Tatsa‐
che bewußt, daß der Bezugspreis einer Zeitschrift,
die sich nach Möglichkeit von artfremden Insera‐
ten und Beilagen freihalten soll, kaum die Druck‐
und Versandkosten deckt, so daß es der Beihilfe
vieler, die heute noch lässig, wenn auch wohlmei‐
nend und kritikbereit zur Seite stehen, bedürfte,
um das an sich auch finanziell gesunde, gegebene
Fundament zu einem seiner Tragkraft entspre‐
chenden Aus- und Aufbau zu nutzen. ‒
.Aus allen diesen Erwägungen heraus kann ich
meinem Glückwunsch zur Vollendung des zehn‐
ten Jahrgangs dieser Zeitschrift nur die Form des
Appells an alle, die es angeht, geben, sich selbst
einmal zu überlegen, ob das, was da nun bereits
ein volles Jahrzehnt überdauerte, nicht doch da‐
168 NachleseII
mit den Beweis seiner Notwendigkeit erbrachte,
und somit auch den Beweis einer Ausbaufähig‐
keit, die sich nur dann in der Tat bewirken läßt,
wenn gleichstrebende Beihilfe sich dem Heraus‐
geber und Verleger freudig zu verbinden gewillt
ist. ‒
.Geschieht, was Einsicht und Weitblick hier mit
einigem Einsatz der im irdischen Getriebe auch
dem Geistigen nötigen Mittel bewirken können,
so bin ich ganz außer Sorge über die Frage maß‐
geblicher Mitarbeiterschaft, die der «Säule» jenes
Niveau sichern wird, das die näheren Freunde
der Zeitschrift von ihr mit Fug und Recht erwar‐
ten.
.Dann dürfte nach der Vollendung eines weite‐
ren Jahrzehnts wohl kaum noch die Frage erho‐
ben werden können, ob solcher Ausbau vonnöten
war und ob sich der hierfür bereitgestellte Einsatz
lohnte. ‒
.Der Begründer und Herausgeber dieser Zeit‐
schrift wird stets das Verdienst für sich in An‐
spruch nehmen können, ihre Fundamente so tief
verankert zu haben, daß sie auch den hochra‐
gendsten Aufbau zu tragen imstande sein wür‐
den.
169 NachleseII
DANKESADRESSEN
ZUM
50. UND 60. GEBURTSTAG
DANK
ES sind mir zu meinem fünfzigsten Geburtstag
fast unzählige Glückwunschbriefe und Tele‐
gramme ins Haus geflogen, so daß meine anfäng‐
liche Absicht, jedem einzelnen Gratulanten per‐
sönlich zu danken, sich leider als unausführbar er‐
weist, und ich mich in der Zwangslage sehe, we‐
nigstens von den Lesern dieser Zeitschrift die Er‐
leichterung erbitten zu müssen, daß sie mir gütig
erlauben, ihnen auf diese Weise von Herzen Dank
zu sagen. ‒
.Wenn auch der so überreich gefeierte, mit Blu‐
mengrüßen und Geschenken bedachte Tag für
mich nur insofern von besonderer Bedeutung
war, als noch vor kurzer Zeit nicht allzusicher
stand, daß ich ihn in dieser Sichtbarkeit erleben
würde, so waren mir doch diese unerwartet zahl‐
reichen Zeichen der Liebe und Verehrung, die
mir aus aller Welt zugesandt wurden, Anlaß ge‐
rührter Freude und Dankbarkeit genug, um ihn
in frohem Festempfinden und mit heißen Segens‐
173 NachleseII
wünschen für Alle, die mich liebend zu ehren
suchten, als rechten «Feiertag» zu begehen. ‒ ‒
.Freilich nehme ich die mir entgegengebrachte
Liebe und Ehrung auch gewiß nicht für mich per
sönlich in Anspruch, sondern sehe in dem allen
nur die freudige Dankbarkeit der Seelen, die an
Hand der durch meine Bücher der Welt wieder‐
geschenkten Lehren, beglückt zu sich selber fan‐
den, und in sich selbst zu ihrem lebendigen Gott.
.Daß ich noch weiterhin allen zum Lichte Stre‐
benden auf den Weg helfen darf, ist für mich das
schönste Geschenk des Himmels, denn ich weiß
nur zu gut, welche Aufgaben noch darauf warten,
von mir getan zu werden...
.In Zeiten hoher religiöser Kultur ist es verhält‐
nismäßig ein Leichtes, den Weg zum Lichte zu zei‐
gen, da im Vorstellungsleben Aller die grundle‐
genden Voraussetzungen gegeben sind, die zu‐
nächst einmal da sein müssen, soll einige Hoff‐
nung bestehen, daß es gelinge, die Augen der
ernstlich Suchenden zu öffnen.
.Heute aber gilt es vor allem, erst einmal diese
Voraussetzungen wieder zu schaffen, und der Weg,
der gezeigt werden soll, ist überdies derart von
dürrem und grünem Gestrüpp überwuchert, daß
es vonnöten ist, ihn erst wieder zu bahnen und al‐
174 NachleseII
lenthalben neue Wegmarken zu setzen, damit der
Suchende vor den verderblichsten Irrgängen be‐
wahrt werde. ‒
.So sehe ich denn bis heute noch kaum das Allernö
tigste getan, wenn meine Lebensaufgabe wirklich
erfüllt werden soll, und mehr denn je bin ich mir
heute der Tatsache bewußt, daß mein Wirken
durchaus nicht außerhalb der Gesetze steht, die
jegliches menschliche Schaffen bestimmen, so
daß auch in meinem Verkündungswerke ohne
Zweifel die Linie einer allmählichen Entfaltung
einst feststellbar sein wird, sei es auch nur im Hin‐
blick auf die Fähigkeit, das oft fast Unsagbare in
Worten menschlicher Sprache zum Ausdruck zu
bringen...
.Aus innerster Gewißheit kann ich sagen, daß
ich wohl auch nach weiteren fünfzig Jahren, wenn
solches im Bereich der mir bestimmten irdischen
Lebensbahn gegeben wäre, mich noch in gleicher
Weise erst am Beginn meines Wirkens fühlen
würde, denn keine Kunst der Sprache ist jemals
vollendet genug, um dessen wahrhaft würdig zu
werden, was ich meinen Mitmenschen hier auf
Erden zu Bewußtsein bringen soll! ‒ ‒
.In solcher Erkenntnis weiterwirkend, danke
ich allen, die den «Weg» betreten haben, daß sie
175 NachleseII
nicht Anstoß nahmen an dem, was etwa Mangel
menschlichen Ausdrucksvermögens nicht zu faß‐
lichster Verständlichkeit kommen ließ, und sich
an das unmißdeutbar Gegebene hielten, das in ih‐
rem eigenen Herzen Widerhall fand, um so zur
Gewißheit auch dessen zu gelangen, was meine
Worte noch im Dunkel lassen mußten! ‒
.Möge es mir beschieden sein, den Pfad immer
mehr erhellen zu dürfen, zum Besten derer, die
ihn bereits betreten haben, wie nicht minder aller
jener, die ihn, durch meine Worte bewegt, zu‐
künftig in sich suchen wollen! ‒
.Die frohe Hoffnung, für Gegenwart und alle
Zukunft Weg und Ziel stets lichter und klarer be‐
zeichnen zu können, und damit die Zahl der Men‐
schen zu vermehren, die schon hier auf Erden
zum untrüglichen Bewußtsein ihres ewigen Le‐
bens gelangen, läßt mir vor allem anderen mein
weiteres Erdendasein, dem es an Mühe, Arbeit
und Sorge wahrlich noch niemals fehlte, als aller
mir so liebevoll zugedachten Wünsche wert er‐
scheinen! ‒ ‒
Im Dezember, 1926
176 NachleseII
DANK
ES ist gewiß nicht die Schuld der Schriftleitung
dieser Zeitschrift*, wenn meine Worte des
Dankes erst so spät all jenen Lesern vermittelt
werden, die mir bei Gelegenheit meines fünfzig‐
sten Geburtstages liebe Grüße und Glückwünsche
sandten.
.Äußere Umstände verschiedener Art ließen
mich nicht eher dazu kommen, das hier Gesagte
niederzuschreiben, und diese Verzögerung war
mitbedingt durch meine anfängliche Absicht, den
einzelnen Gratulanten, wenn irgend möglich,
brieflich zu danken oder danken zu lassen.
.Leider wurde das zu einem Ding der Unmög‐
lichkeit.
.So hoffe ich denn, daß mein verspäteter Dank
wohl doch auch jetzt noch entgegengenommen
werden mag, und daß man es mir nicht verübelt,
*«Magnum Opus», Freiburg i.Br.
177 NachleseII
wenn ich ihn nur auf diese Weise zum Ausdruck
bringen kann.
.Wenn ich auch selbst sehr wenig Wert auf die
Wiederkehr der Daten des Kalenders lege, so war
es mir doch wahrhaft wohltuend und beglückend,
von so vielen zum Lichte Strebenden aus aller
Welt die rührendsten Zeichen der Verehrung
und Liebe zu empfangen.
.Ich bin dabei sehr weit davon entfernt, diese
Bekundungen der Dankbarkeit etwa auf mich
persönlich zu beziehen, und es wurde mir vielmehr
Anlaß besonderer Vertiefung meiner Freude, al‐
les, was man mir zu sagen kam, geistig an der
Quelle niederlegen zu können, aus der die Lehre
entströmt, der ich den Weg zu den Herzen zu be‐
reiten suche...
.Aus den allermeisten Zuschriften war denn
auch wirklich bereits zu ersehen, daß die mich Be‐
grüßenden im Innersten erfühlt oder erahnt ha‐
ben, um was es sich in meinem Wirken handelt
und allein handeln kann, und wenn andere auch
noch erkennen ließen, daß ihnen noch nicht recht
zu Bewußtsein kam, wie weit entfernt die Offen‐
barung des Urlichtes, die allein ich der Welt zu
vermitteln habe, aller spekulativ erdachten Er‐
denweisheit ist ‒ wenn auch einige gar mir dan‐
178 NachleseII
ken zu müssen glaubten für meine «tiefschürfen‐
den Gedanken» oder meine «lebensbejahende
Philosophie», so war doch auch das herzlich gut
gemeint, und ich zweifle kaum daran, daß auch
diesen noch mehr außen Stehenden im Verlaufe
der Zeit ein tieferes Eindringen möglich werden
wird, wie es die Erkenntnis der ewig unwandelba‐
ren Wahrheit nun einmal fordert.
.Wenn man mir Gutes wünscht für mein weite‐
res äußeres Erdendasein, so sehe ich das mir wün‐
schenswerteste Gute vor allem darin, daß es die
hohen Geistesmächte, denen ich alles danke, also
lenken möchten, daß auch jene Suchenden, die
jetzt noch fernab stehen und im Dunkeln tasten,
dereinst zu glückbewegten Findern werden.
.Der Weg zum Lichte ist wahrlich durch meine
Lehre schon aufs deutlichste gezeigt und all mein
Wirken kann jetzt nur noch dazu dienen, ihn im‐
mer aufs neue auch denen zu zeigen, die noch in
der Wildnis irren, oder ihn zu finden meinen, wo
er nicht zu finden ist.
.Wohl weiß ich, was noch vor mir liegt, wenn ich
im Laufe der Jahre allem noch Ausdruck schaffen
soll, was denen helfen kann, die redlichen Her‐
zens nach dem Licht der Ewigkeit verlangen ‒
wenn ich alle erreichen will, die noch befangen
sind im Wahn: als handle es sich hier um etwas,
179 NachleseII
das der Strebende erlangen könne, wenn er sich
im Denken dazu aufzuschwingen wisse...
.Nur die wenigsten ahnen allbereits, daß die Be‐
friedigung, die uns gedankliches Erschließen
bringen kann, zwar recht erfreulich sein mag,
aber keineswegs auch nur das mindeste uns nützt,
wenn dieser Erdenleib dereinst verlassen werden
muß. ‒ ‒ ‒
.So rede ich denn vielen noch wie in einer ihnen
fremden Sprache, weil sie gewohnheitsmäßig
meine Worte bildlich nehmen, dort wo ich vom
Geiste als von jener höchsten Wirklichkeit zu
sprechen habe, die allem Denken unvergleichbar ist.
.Von Schein und Scheinweisheit geblendete Au‐
gen gilt es vor allem erst zu heilen, und leider weiß
ich, daß Jahrtausende vergehen werden, ehe wie‐
der einer kommen wird, der hier Arzt sein kann,
wenn es auch niemals an Quacksalbern und un‐
berufenen, eigenmächtigen Kurpfuschern fehlen
wird, und ebensowenig an solchen Menschen, die
das Heil stets nur dort erwarten, wo es niemals zu er
langen ist. ‒
.So danke ich denn allen, die mir segensreiches
weiteres Wirken wünschten, insonderheit auch
im Namen derer, denen mein Wirken noch gar
sehr vonnöten ist! ‒
Im Januar 1927
180 NachleseII
DEN GRATULANTEN
ZU MEINEM
SECHZIGSTEN GEBURTSTAG
DIE in den Ländern des Sonnenaufgangs gel‐
tende Gepflogenheit, am Geburtstag eines
Menschen lediglich seiner Mutter zu gedenken, da
er ja bei dem Ereignis seiner Geburt nur passiv be‐
teiligt war, entspricht durchaus meinem eigenen
Empfinden, so daß ich nach allen in Betracht
kommenden Seiten hin eindringlich den Wunsch
geäußert hatte, man möge von der platten Tatsa‐
che, daß sich zum sechzigsten Male die jährliche
Wiederkehr des Datums meines Eintretens in die‐
ses Erdendasein ereigne, keinerlei Notiz nehmen.
.Nun ist jedoch trotzdem an diesem Tage eine
derartige Menge von Gratulationen bei mir ein‐
gelaufen, daß ich mich vor die Frage gestellt sehe,
ob meine Auffassung nicht, etwas zu einseitig, von
anderen eine Zurückhaltung erwartet habe, wo
mit Freuden die Gelegenheit erwünscht worden
war, einem vielfach empfundenen seelischen
Drängen Ausdruck geben zu dürfen.
.Ich mag auch nicht verschweigen, daß ich mich
nun dennoch mit jeder, auch der bescheidensten
181 NachleseII
Gratulation gefreut habe, wenn ich auch nur den
allergeringsten Teil von dem mir Zugedachten
am gemeinten Tage selbst einzusehen vermochte.
.Was mich aber jetzt, nachdem ich endlich alles
gelesen habe, am allermeisten freut, ist die in so
vielen kurzen und längeren Briefen zu findende,
fast wörtliche Wiederkehr des Satzes: «Was wäre
aus mir geworden, hätte mir e. unsichtbare Führung
nicht vor Jahren Ihre Bücher zugeleitet, die mir nun si
chere Wegweiser auch in allen Angelegenheiten d. äus
seren Alltagslebens geworden sind, so daß ich sie nie
mehr missen möchte
.Ich muß unumwunden sagen, daß mir diese,
nur auf die Werte praktischer irdischer Lebens‐
gestaltung bezogenen Dankesbekenntnisse fast
noch mehr Freude bereitet haben, als die vielen,
mir gewiß überaus erfreulichen Beweise der seeli‐
schen Einfühlung in die von mir so vielgestaltig
dargebotenen Schilderungen der inneren Struk‐
tur des ewigen Geisteslebens, das unser aller Da‐
seinsgrund ist, denn die vom Innersten der Seele
her gesicherte Aufnahme ewig unwandelbarer
Geisteswirklichkeit sollte ja jedem meiner Mit‐
menschen, der über ein gesundes Empfindungs‐
vermögen und klares Denken verfügt, ganz
selbstverständliches Ergebnis der Beschäftigung
mit meinem nun abgeschlossenen Lehrwerk sein,
182 NachleseII
während das Hereinwirken ins praktische, durch
so mancherlei äußere Umstände gemeinsam be‐
stimmte Alltagsleben mit seinen notwendigen An‐
forderungen, schon «die Probe aufs Exempel»
darstellt.
.Aber alle Gratulanten ‒ ohne jegliche Aus‐
nahme ‒ soweit sie durch diese Zeitschrift erreich‐
bar sind, dürfen gewiß sein, daß sie mir mit ihrem
Gedenken Freude bereitet haben. Allen sei hier‐
mit von Herzen gedankt!
.Mit allen Segenswünschen für jeden der überaus
Vielen, denen ich auf keine andere Weise im ein‐
zelnen antworten kann.
Im November 1936
183 NachleseII
PERSÖNLICHE ERINNERUNGEN
EIN LEBEN
DIE Menschen, denen ich das Leben danke,
waren einfache Leute, aber beider Familien
standen in ihrem Kreise in hohem Ansehen, das
durch Besitz, Tüchtigkeit und persönliche
Würde, mehr aber noch durch Rechtlichkeit und
Wohltätigkeit begründet war.
.Frömmigkeit, in den Formen der Kirche Roms,
war erblich.
.Mein Vater, ein strenger Mann, dem alles
Menschliche Sünde war, ist niemals lachend gese‐
hen worden.
.Meine Mutter, eine tiefreligiöse Frau, voll ech‐
ter Mystik, lebte in ständiger Gemeinschaft mit
den heiligen Wesen, die sie nach katholischer
Lehre verehrte, und ihre Andacht war mehr ein
Schauen als bloßer Glaube.
.Ich war etwa 7 Jahre und einige Tage alt, als zum
erstenmal ein Bote jener Gemeinschaft, deren
Bruder ich heute bin, sichtbar in mein Leben trat. ‒
187 NachleseII
.An einem strahlend schönen Sonntag-Morgen
lag ich, erfrischt durch einen gesunden Kinder‐
schlaf, bereits völlig erwacht in meinem kleinen
Bette.
.Die Sonne schien durch das geöffnete Fenster
und erfüllte den ganzen Raum mit Licht.
.Die Mutter war zur «Frühmesse» gegangen,
während wohl der Vater, wie es seine Gewohnheit
auch später war, in dem alten Predigtbuch, dem
Geschenk eines verstorbenen geistlichen Freun‐
des, die auf den Sonntag gerade bezügliche Pre‐
digt las.
.Ich hatte nur die Mutter gesehen, bevor sie zur
Kirche ging.
.Während ich nun so lag, in froher Erwartung
der Rückkehr der Mutter, ‒ plötzlich, ohne daß
eine Türe sich geöffnet hätte, stand zu Füßen mei‐
nes Bettes ein alter Mann im Sonnenschein, ange‐
tan mit seltsamen und mir recht ärmlich erschei‐
nenden dicken Wintergewändern. (Heute weiß
ich, daß es die im Innern Hochasiens übliche
Wintertracht war).
.Ich sah sein braunes durchfurchtes Gesicht und
glaubte zuerst, es sei ein alter Bettler, der öfter ins
Haus kam um ein Essen zu erhalten.
188 NachleseII
.Erschreckt schrie ich auf.
.Der Vater, seit Jahren sehr schwerhörig,
konnte mich nicht vernehmen. Die Gestalt jedoch
kehrte sich nicht an meinen Angstschrei und der
Gesichtsausdruck des alten Mannes hatte etwas so
unbeschreiblich Gütiges, daß ich sogleich darauf
mich völlig sicher fühlte.
.Ich «wußte», daß er irgend etwas Gutes für
mich hier zu tun habe, ohne mir Rechenschaft zu
geben darüber, was das wohl wäre. ‒
.Mit einem Gefühl der Neugierde und des Ver‐
trauens zugleich betrachtete ich bald das faltige,
und so unendlich gütige Gesicht, bald den seltsa‐
men Mantel, der mir besonders merkwürdig war,
weil die Ärmel viel zu lang und weit über die
Hände herabreichten. Bilder, auf denen so etwas
dargestellt gewesen wäre, hatte ich niemals gese‐
hen.
.Da hob er langsam und bedächtig den Arm,
streifte den überlangen Ärmel zurück, und kam
zur Seite meines Bettes.
.Ich war so unerklärlich vertrauensvoll, daß ich
es diesmal, ohne zu schreien und ganz von Angst
befreit, geschehen ließ, daß er mit der rechten
Hand, einer Hand mit vornehmen feinen Fin‐
189 NachleseII
gern, langsam über meine Decke strich. Dabei
verweilte er Augenblicke über meinen Füßen,
über den Knien, dann über dem Herzen und zu‐
letzt legte er die feine zarte Hand auf meine
Stirne.
.Dabei schlief ich ein. ‒ ‒
.Ich erwachte erst, als längst die Mutter von der
Kirche zurückgekommen war.
.«Wo ist der Mann? ‒ Wer war denn der Mann? ‒
Er muß ja noch hier sein. ‒ Du weißt gewiß wer er
ist.» ‒
.So bestürmte ich meine Mutter mit Fragen, die
sie ängstlich bestürzt anhörte.
.Nachdem auch der Vater meine Worte gehört
hatte, wurde zu meinem größten Leidwesen ent‐
schieden, ich dürfe heute nicht mit zum Hoch‐
Amt, sondern müsse mich ausschlafen.
.Nach dem Frühstück wurde das Zimmer ver‐
dunkelt, alles Protestieren half nichts, und ich
mußte «schlafen».
.Ich schlief aber nicht. ‒
.Stets suchten meine Augen den alten Mann, je‐
doch er kam nicht wieder.
190 NachleseII
.Dabei hatte ich eine brennende Sehnsucht nach
ihm und versprach mir hoch und heilig, daß ich,
wenn er wiederkäme, gewiß nicht mehr schreien
würde. Er kam nicht, aber alles im Zimmer schien
mir lebendig geworden.
.Ich fühlte mich, wie wenn eine ganze Gesell‐
schaft guter Leute um mich wäre. Dabei war mir
leicht und so froh zumute, daß ich schließlich die
Betthaft nicht mehr aushielt und unversehens,
gewaschen und angezogen, neben der Mutter in
der Küche stand. Sie mochte wohl sehen, daß mir
nichts fehlte und so wurde mir erlaubt, hinab zum
Garten zu gehen, wo ich noch den ganzen Mor‐
gen hinter jedem Busch und wo es nur ein Ver‐
steck gab, nach dem alten Manne suchte.
.Alle Gärtnerburschen wurden befragt nach ihm
und kein Auslachen konnte mich irre machen.
.Ich wurde älter.
.Das religiöse Leben, in der Art wie meine Mut‐
ter es pflegte und es mir nahelegte, übte große
Anziehungskraft auf mich aus.
.Im übrigen war ich ein völlig normaler Junge,
mit allen guten und üblen Eigenschaften.
191 NachleseII
.Tollkühn und waghalsig trieb ich mich viel im
Freien, im Wald und Feld herum, und lebte des
Glaubens, daß mir nie etwas geschehen könne.
Kein Baum war zu hoch, kein Abhang zu steil zum
Erklettern, kein Mensch und kein Tier wurde ge‐
fürchtet. Im religiösen Leben aber war der ganze
Junge ein Anderer.
.Alle die Worte der Liturgie, alle Symbole des
Ritus wurden von mir mit einer tiefen klaren Be‐
deutung erfüllt und es wurden mir in dieser
Weise Dinge klar, über die ich gelegentlich von
Erwachsenen als von «unerklärlichen Rätseln»
sprechen hörte.
.Ich fürchtete mich, etwas von dem zu verraten,
was ich «wußte», denn es war so ganz anders als
die Erklärungen der Predigt, oder die des Kate‐
chismus. Nicht im geringsten aber konnten mich
diese anderen Meinungen irre machen an dem,
was ich auf diese innere klare Weise schaute. So
ging es lange Jahre, bis im halbwegs Erwachsenen
die äußeren Zweifel an Kirche und kirchliche
Lehre erwachten.
.Da fielen wohl manche Formen, aber für jede
«Form» war schon ein tieferer «Inhalt» in mir le‐
bendig. Der «alte Mann» war fast vergessen, je‐
doch an seiner Stelle stand etwas, das immer,
192 NachleseII
selbst in den tollsten Stunden, um mich war und
das mich nur deshalb an ihn denken ließ, weil es
mit demselben Gefühl der Zuversicht auf meine
Seele wirkte, wie dieser seltsame Alte mit seinem
wohltätigen Streichen der Hand, mit seinem so
unendlich gütigen Ausdruck. ‒
.Mir war oft ein innerlicher Zuspruch gewor‐
den, zu Zeiten, in denen ich gerade am wenigsten
dessen würdig schien, und jedesmal hatte ich stär‐
ker als sonst das Gefühl des Zusammenhanges mit
jenem alten Mann, und ich war in solchen Mo‐
menten fester überzeugt als je, daß ich ihn wie‐
dersehen würde. ‒
.Mittlerweile hatte ich mich einem Lebensberuf
gewidmet. In dieser Zeit kam ich mit Spiritisten in
Berührung, und deren Sache erschien mir mehr
als nur interessant.
.Ich hatte Gelegenheit, unter den denkbar si‐
chersten Bedingungen, die unglaublichsten Phä‐
nomene zu sehen, aber meine geheime Hoff‐
nung, gelegentlich auf diese Art jenes Alten wie‐
der ansichtig zu werden, wurde nicht erfüllt. Ich
fühlte im Gegenteil eine immer mehr sich aus‐
breitende Kälte und Leere in mir, je mehr ich
mich an den «Sitzungen» beteiligt hatte. Der in‐
nere Zuspruch, an den ich fast gewohnt war, hatte
193 NachleseII
nach und nach gänzlich aufgehört, und dennoch
verließ mich nicht jenes unerklärliche Gefühl, in
Sicherheit und guter Hut zu sein.
.An einem Weihnachtsfest endlich vernahm ich
wieder das Gewohnte, und diesmal war es eine so
starke Warnung vor den Experimenten, denen
ich als Zuschauer beigewohnt hatte, daß ich, zum
Erstaunen der früheren Freunde, plötzlich die
Beziehungen zu jenen Spiritisten abbrach.
.Ich empfand ein Grauen vor dieser Sache, als
ob ich verwesende Leichname liebkost hätte, und
nichts in der Welt hätte mich je wieder zu den Sit‐
zungen bewegen können.
.Immerhin waren mir in dieser Zeit einige Be‐
griffe klarer geworden, zu denen mir «Thomas a
Kempis», mein einziges mystisches Lehrbuch,
noch nicht die nötige Aufklärung gab.
.(Daß das römisch-katholische Meßbuch das
vollkommenste Einweihungs-Rituale der Welt
darstellt, wußte ich damals noch nicht, trotzdem
ich an seiner Hand in die tiefsten Mysterien nach
und nach geistig eingeführt wurde. ‒
.Wie oft mußte ich später an jenes Wort Jesu
denken: «Ihr habt die Schlüssel des Himmel‐
reichs, aber Ihr gehet nicht hinein, und denen,
die hineinwollen, wehret ihr!») ‒
194 NachleseII
.So vergingen weitere Jahre, bis ich eines Tages
unter Umständen, die auch einem mehr myste‐
riös veranlagten Gemüt, als mir, genügend «my‐
stisch» erschienen wären, aufs neue mit jenem
alten Manne meiner Kinderzeit Bekanntschaft
machte. Diesmal auf eine wesentlich andere
Art. ‒ ‒
.Briefe, die ich in jener Zeit an eine liebe Seele
richtete, erfüllten die Leser mit unsagbarer Angst,
und nur die nüchterne Erwägung, daß dieser
«Wahnsinn» denn doch zu viel «Methode» habe,
verscheuchten den aufkeimenden Glauben, es
könne sich um eine geistige Erkrankung handeln.
.Wenig später wurden meine Beziehungen zu
dem «alten Mann», oder meinem Guru, denn das
war er, wie der etwas erfahrenere Leser leicht
längst raten konnte, völlig regelmäßig.
.Die letzte Spirale der Chelaschaft hatte begon‐
nen. ‒
.Im ägäischen Meer, auf einer weltabgeschiede‐
nen Insel, sollte sie ihr Ziel erreichen. ‒ ‒ ‒ ‒
195 NachleseII
ALPENLUFT
FAST hört es sich heute wie ein Märchen an,
daß die großen Hotels des Berner Oberlan‐
des vor dem Kriege bis zu sechzig Prozent Deut‐
sche unter ihren Besuchern zählten. Jetzt beher‐
bergen sie der Mehrzahl nach Amerikaner und
Holländer; aber der Verdienstausfall, der ihnen
durch das Fehlen des deutschen Reisepublikums
erwächst, bleibt sehr empfindlich und ist so leicht
nicht auszugleichen. Vielleicht nirgends in der
Welt ersehnt man so sehr das Steigen der deut‐
schen Valuta. Jeder vereinzelt auftauchende
deutsche Besucher wird als Vorbote einer wieder‐
kehrenden besseren Zeit begrüßt.
.Aber ganz abgesehen von den hier berührten
Interessen der Schweizer Hotelbesitzer ist es auch
vom allgemeinen deutschen Standpunkt tief be‐
dauerlich, daß die geistigen Bande zwischen
Deutschland und der Schweiz durch die Ungunst
der Zeitumstände und die daraus für den Deut‐
schen sich ergebende Unmöglichkeit, die Schweiz
als Reiseziel zu wählen, so sehr gelockert werden.
196 NachleseII
.Zwar ist entschieden die Beliebtheit des deut‐
schen Reisenden gerade durch seine Seltenheit
außerordentlich gewachsen, während anderer‐
seits mancher Schweizer, der früher im eigenen
Lande geblieben wäre, durch die für ihn so gün‐
stigen Geldverhältnisse angelockt, heute nach
Deutschland fährt und meist weit bessere Ein‐
drücke mit nach Hause nimmt, als er vorher er‐
wartet hatte. Alles das aber kann nicht die stete
nahe Berührung ersetzen, die durch den frühe‐
ren deutschen Reiseverkehr in der Schweiz gege‐
ben war.
.Und wieviel leuchtende Erinnerung lebt in un‐
seren Herzen auf, wenn die Namen der majestäti‐
schen Alpengipfel der Schweiz, der Paßüber‐
gänge und traulichen Täler im Gedächtnis vor‐
überziehen!
.Wie manchen deutschen Naturfreund mag zur
Sommerzeit die Sehnsucht packen, liebgewor‐
dene Stätten wieder aufzusuchen; aber wenn
nicht Wunder und Zeichen geschehen, dann wer‐
den die Schweizer Grenzen für die allermeisten
Menschen in deutschen Landen noch recht lange
Leidensjahre hindurch eine unübersteigbare chi‐
nesische Mauer bilden, die nur im Rückerinnern
an schönere Zeiten zu überfliegen ist.
197 NachleseII
.So werde sie auch hier nun in einem kleinen Er‐
innerungsbezirk einmal überflogen! Ich bin ge‐
wiß, daß mich mancher Leser, der die Orte und
Namen kennt, von denen hier die Rede ist, gerne
begleiten wird. ‒ ‒
.Nachdem wir wochenlang die Häupter der
Schneeriesen des Berner Oberlandes nur vor klar‐
blauem Himmel gesehen hatten, war offenbar der
Wetterumschlag gekommen; denn immer mehr
ballten sich schwere Wolkenmassen in stein‐
grauen Klumpen um die Berge, verdeckten bald
dieses, bald jenes Eishaupt der höchsten Gipfel,
bis sie auch die Jungfrau selbst, die noch vor einer
Stunde in all ihrer Majestät sich dem stets aufs
neue überwältigenden Blicke dargeboten hatte,
dichter und dichter umhüllten.
.Besorgt standen wir auf der breiten Terrassen‐
bastion des Regina-Hotels in Wengen und ver‐
suchten immer wieder, irgendein Anzeichen zu
entdecken, das doch auf besseres Wetter schlies‐
sen lassen könnte; denn lange schon war es ge‐
plant: ‒ morgen sollte es über die Stationen Ei‐
gergletscher, Eigerwand und Eismeer hinauf zur
derzeit höchsten Station der Jungfraubahn ge‐
hen, zum Jungfraujoch. Was hätten wir aber da‐
198 NachleseII
von, in 3457 Meter Höhe zu sein, wenn man doch
droben nur im Nebel herumstapfen könnte?!
.«Sie werden morgen einen prächtigen Tag ha‐
ben», ließ sich da der Besitzer des Hotels verneh‐
men, der eben unserer besorgten Gruppe näher‐
getreten war.
.Nun, das hörte sich fast an wie Hohn und
wurde auch zuerst fast als mitleidiger Spott von
uns aufgenommen, bis wir doch merkten, daß es
dem stets nur in liebenswürdig-persönlicher
Weise um seine Gäste besorgten Hotelier gar
nicht in den Sinn gekommen wäre, uns ein wenig
zu verspotten, daß er im Gegenteil: mitfühlte, was
in uns vorging, und uns ganz ernstlich Hoffnung
geben wollte.
.Nun bin ich schon grundsätzlich mißtrauisch
gegen jede Gutwetterprophezeiung in den Ber‐
gen; aber wenn auch dieses Mißtrauen vielleicht
in vorliegendem Fall nicht ganz gerechtfertigt ge‐
wesen wäre, so setzte ich dennoch allerlei Zweifel
in die Wetterkundigkeit unseres freundlichen
Trösters, denn er war jahrelang drunten am Nil
Direktor eines Hotels in Assuan, bevor er sein
Schweizer Hotel übernahm (eines der auch vom
künstlerischen Standpunkt her vorbildlichsten
großen Hotels, die ich kenne); und Leute, die so
199 NachleseII
lange unter dem ewig blauen Himmel des Südens
lebten, haben meist ihre Wetterinstinkte für un‐
sere Breiten ziemlich verloren.
.Wie sehr aber hatte ich am anderen Morgen in
Gedanken Abbitte zu leisten, als ich schon beim
ersten Augenaufschlag ‒ ich hatte absichtlich am
Abend die Vorhänge nicht vorgezogen ‒ das
durch all die Wochen her gewohnte Bild wieder
erblickte: den leuchtend blauen, gleichsam strah‐
lensprühenden Himmel, und davor das giganti‐
sche Jungfraumassiv, Gipfel und Silberhorn eben
gerade von dem ersten Licht der Morgensonne
zart übergossen!
.Ja, er kannte halt doch seine Berge und ihr
Wetter besser als wir; und es war kein bloßer fa‐
denscheiniger Trost gewesen, als er uns gestern
so selbstverständlich «gutes Wetter» verheißen
hatte!
.Es dauerte nicht lange, da trug uns die trotz frü‐
her Morgenstunde schon mit Fahrgästen voll‐
besetzte Wengernalpbahn hinauf zur kleinen
Scheidegg, dem Ausgangspunkt der Jungfrau
bahn.
.Die Fahrt bis Scheidegg hinauf ist schon an sich
überaus lohnend durch die stetig wechselnden
Bilder, die man beim langsamen Emporklimmen
200 NachleseII
der elektrisch betriebenen Zahnradbahn fort und
fort zu beobachten Gelegenheit hat. Man genießt
dabei wie ein Fußgänger die allmähliche Erobe‐
rung der Höhe, nur völlig unbehindert durch die
Mühe eigenen Ersteigens. Vom bequemen Sitz
aus blickt man hinunter ins Lauterbrunnental mit
seinem Staubbachfall, dann geht's durch Tannen‐
wald immer höher hinauf zu Alpweiden, wo uns
Kuhglockengeläute melodisch umfängt und wo
«die guten großen Tiere» Segantinis nachdenk‐
lich an der Bahnrampe dem seltsamen Ungetüm
nachsehen, das da raupenartig auf die Höhe
kriecht und in seinem Innern so viel Menschen
herauftragen kann, ohne Stöhnen und Pusten,
und vor allem ‒ ohne Rauch, so daß man im offe‐
nen Aussichtswagen durch nichts gestört wird in
seinem Naturgenuß.
.Jetzt endlich ist, kurz vor Station Wengernalp ‒
dem weltbekannten, herrlichen Ausflugsziel ‒ die
Höhe fürs erste erklommen; und nun bietet sich
dem Auge ein Bergpanorama aus nächster Nähe!
Nun läßt sich förmlich jedes Steinchen der Glet‐
schermoränen schon greifen, und Jungfrau,
Mönch und Eiger liegen ausgebreitet in der gan‐
zen Erhabenheit und Größe ihrer urweltlichen
Formen vor uns! Hier auch erblicken wir nun
hoch oben das Jungfraujoch, den großen Glet‐
201 NachleseII
schersattel zwischen dem eigentlichen Jungfrau‐
gipfel und dem Mönch. Aber wer würde ahnen,
daß man auf diese unglaubliche Höhe mit einer
Bahn hinaufkommen kann?! Wo sieht man auch
nur die leisesten Spuren ihres Daseins??
.Doch wir haben nicht gar lange Zeit zu solchen
Betrachtungen; denn kaum konnten wir auch
nur das grandiose Bild des gewaltigen Bergmas‐
sivs so recht in uns aufnehmen, da sind wir auch
schon auf der kleinen Scheidegg angelangt, wo
die eleganten Salonwagen der Jungfraubahn be‐
reitstehen, uns aufzunehmen.
.«Einsteigen nach Station Eigergletscher, Eis‐
meer, Jungfraujoch!» ruft der sprachenkundige
«Interpret» des Platzes, der stets in liebenswür‐
digster Weise bereit ist, den Fremden aus allen
Nationen, die hier heraufströmen, Auskunft auf
alle Fragen zu geben. Wie eigentümlich berührt
doch das Aussprechen dieser Namen hier als
«Bahnstationen»! Man muß sich erst an den Ge‐
danken ordentlich gewöhnen, bevor es einem so
recht zu Bewußtsein kommt, daß man keinen Ju‐
les-Verne-Traum träumt, sondern daß das reale
Wirklichkeit ist!
.Eben hilft er einer alten Dame, die am Arm ih‐
rer Begleiterin langsam auf den Wagen zukam,
202 NachleseII
flink und behutsam beim Einsteigen, und ‒ in die‐
sem Moment erst empfinden wir völlig die Größe
der Idee Guyer-Zellers, des geistigen Urhebers
und Erbauers der Jungfraubahn, empfinden, was
er allen denen geben wollte und mit aller Zähig‐
keit seines unbeugsamen Willens schließlich er‐
kämpfte, die wohl die unendliche Majestät der
Bergwelt ahnend empfinden konnten, aber nie‐
mals imstande gewesen wären, die Höhen des
ewigen Eises selbst zu ersteigen...
.Während wir aber noch in derartigen Empfin‐
dungen versunken, dem bedeutenden Tatmen‐
schen, der diese Bahn erstehen ließ, unsern Dan‐
kesgruß über sein Grab hin senden, hat sich fast
unmerklich unser kleiner elektrischer Zug in Be‐
wegung gesetzt. Tief unter uns sehen wir schon
wieder die Wengernalpbahn, die uns heraufge‐
tragen hatte, nach Grindelwald hinunterkrie‐
chen; dann geht's bei uns durch einen kleinen
Vortunnel, und schon haben wir die Station Ei‐
gergletscher erreicht.
.Von Wengen aus zu Fuß, oder von der kleinen
Scheidegg her, waren wir schon öfters hier, haben
den Gletscher bis weithinauf durchquert, sind in
seine phantastischen Spalten hinuntergestiegen
und ließen die Kinder auf dem Schneefeld beim
203 NachleseII
Gletscher in der Julihitze auf dem großen Hör‐
nerschlitten rodeln.
.Auch die grünsmaragdene Eishöhle, die man,
da der Gletscher stets wandert, alljährlich aufs
neue in seine Flanken bohrt, haben wir natürlich
bewundert. Der Gletscher ist uns so schon richtig
lieb und vertraut geworden und hat unvergeß‐
liche Erinnerungsbilder der Seele eingeprägt.
.Wie oft sahen wir auch schon die braunpolier‐
ten, vornehmen Wagen der Jungfraubahn gleich
hinter der Station durch die dunkle Höhlung in
den Felsen des Eiger verschwinden!
.Jetzt fährt auch unser Zug, prächtig elektrisch
beleuchtet, in die Finsternis des Berginnern hin‐
ein. (Von hier aus braucht er mit allen Aufenthal‐
ten nicht mehr ganz eine Stunde, um sein höch‐
stes Ziel zu erreichen, und überwindet dabei eine
Steigung von 1127 Meter, denn auf 2330 Meter
Höhe waren wir schon beim Eigergletscher ange‐
langt.) Nach einigem Fahren gewahren wir plötz‐
lich eindringendes Tageslicht in der Ferne des
Tunnels. Noch wenige Minuten, und der Zug
hält. «Station Eigerwand!» Ein kurzer Aufenthalt
ermöglicht es allen Reisenden auszusteigen, und
durch den Stollen, den man in die Felsen
sprengte, bis zum Aussichtspunkt zu gelangen,
204 NachleseII
von wo aus man das Tal von Grindelwald und da‐
hinter die weiten Bergketten bis fast ins Vorland
hinaus überblickt. Die Aussicht ist bestrickend,
aber dennoch trennt man sich bald von ihr, denn
noch gibt es hier keine Gletscher und ewige
Schneefirnen.
.Wieder im fahrenden Zug, wird nun mit Span‐
nung die Station Eismeer erwartet und ‒ die ver‐
wegenste Erwartung wird nicht enttäuscht, als wir
schließlich in diesem respektablen Bahnhof im
Innern des Urgesteins der Erde anlangen.
.Die Bahnstrecke hatte von Station Eigerwand
aus eine Biegung gemacht, und wir sind nun hoch
oben im Innern des Bergmassivs wieder ans Licht
gekommen, mitten in einer titanisch aufgebäum‐
ten Gletscherwelt mit haushohen Eisblöcken und
unergründlichen Spalten; und dahinter ragt wie‐
der mächtiges Felsengebirge bis zu den Gipfeln
des Schreckhorns, des Finsteraarhorns und vieler
anderer ferner Spitzen. Der Eindruck ist so uner‐
hört großartig, daß man lange braucht, seiner
Herr zu werden.
.Erst, als nach längerer staunender Bewunde‐
rung das Auge zu ermüden anfängt, empfinden
wir es doch recht angenehm, hier im Erdinnern in
einer eleganten Restauration auch unserer Leib‐
205 NachleseII
lichkeit einige Stärkung zufügen zu können;
denn hier ist Wagenwechsel, und der Aufenthalt
genügt, um Seele und Leib zu ihrem Rechte ge‐
langen zu lassen. Eines der Sprüchlein in Schwei‐
zer Mundart, die mir rings an den Wänden der
äußerst geschmackvollen Restaurationsräume
auffielen, möge hier seine Stätte finden, da es mir
eine sehr beherzigenswerte Weisheit zu enthalten
scheint. Es besagt:
.«Dä hät am meiste vo sim Gält,
.Wo öppis g'seht vo dr schöne Wält!»
.Wirklich, man kann dem Spruchdichter nur
recht geben, besonders hier, wo man so Grandio‐
ses «vo dr schöne Wält» zu sehen bekommt!
.Das gilt natürlich noch weit mehr von der bald
darauf erreichten, derzeit höchsten Station der
Jungfraubahn ‒ dem Jungfraujoch.
.Wer jedoch hier heraufkommt und nur in
Sorge ist, ob er hier oben nicht etwa «verhungern»
müsse, dem sei zum Troste gesagt, daß er hier al‐
les vorfindet, was Küche und Keller einer ganz
erstklassigen großstädtischen Hotelrestauration
zu bieten haben. Und das in einer Höhe von 3457
Metern über dem Meer! Der tüchtige Wirt gehört
zu jenen Originalen, denen man schließlich auch
206 NachleseII
eine gewisse Rauhbeinigkeit verzeiht, weil man so
gut bei ihnen aufgehoben ist.
.Ich sprach hier zuerst von den leiblichen Ge‐
nüssen, weil der Weg von der Station im Innern
des Berges zum Tageslicht und zum eigentlichen
Joch, durch das heimelige und wieder überaus
geschmackvolle Restaurant führt.
.Schon auf der Terrasse des Restaurants ist man
mitten in einer wahren Wunderwelt. Unter uns
der riesenhafte Aletschgletscher, auf dem alljähr‐
lich im Juli das berühmte «Jungfrau-Ski-Rennen»
stattfindet, gegenüber aber, in erhabener Maje‐
stät, der eigentliche Gipfel der «Königin der Al‐
pen»!
.Das Auge ist zuerst so geblendet von der fast un‐
wirklichen Weiße des Schnees, von all der strah‐
lenden Helligkeit, daß man gerne die Schnee‐
brille anlegt, oder wenn man noch keine besitzt,
sich eine hier oben noch kauft.
.Der ganz unbeschreibliche Eindruck steigert
sich noch ins völlig Märchenhafte, wenn man
dann heraustritt und mit wenig Schritten über
den Schnee, droben am Joch selbst mit seiner un‐
vergleichlichen Aussicht, angelangt ist! Weder
Wort noch Bild können hier das Wesentliche der
Empfindung zum Ausdruck bringen, die jeden
207 NachleseII
fühlenden Menschen ergreift, der, so fast un‐
vermittelt auf dieses ragende Gletscherplateau
emporgehoben, nun mit allen Sinnen aufzuneh‐
men sucht, was ihn umgibt...
.Tausende bringt die Jungfraubahn alljährlich
hier herauf, aber es dürfte nicht einen geben, der
hier nicht in stiller Ergriffenheit verstummen
müßte, der nicht auf dieser Empore des Tempels
der Allnatur von Andacht ergriffen würde und
Höheres auch in sich selbst erwachen fühlte, als
ihm jemals im Leben des Alltags, drunten in der
Ebene, zu Bewußtsein gekommen war.
.Wer solches seinen Mitmenschen zu verschaf‐
fen wußte, der hat wahrlich den Dank der Nach‐
welt reichlich verdient! Sein schönstes Denkmal
aber bleibt sein Werk, dieses Meisterwerk, das un‐
zählige Gehirne in seinen Dienst spannte, die alle
nur durch die Kraft der Idee eines einzelnen an‐
geregt wurden, dem Werke ihr Bestes zu geben.
.Der Mann aber, aus dessen Geist heraus die
Idee einer Jungfraubahn Gestalt gewann, der
Schweizer Guyer-Zeller, hat niemals selbst diese
Firnenhöhen betreten. Er starb, als er gerade
noch kurz vorher durch den Draht die Nachricht
erhalten hatte, daß der Durchbruch bei Station
Eigerwand geglückt war.
208 NachleseII
HERBST IM TESSIN
Anm.: 1925 kam Bô Yin Râ nach Massagno bei Lugano. Die 00
beiden Fotos von Lugano (aufgenommen um !1914! in einer 00
unglaublichen Qualität von Prokudin-Gorsky und bearbei‐ 00
tet von Jan Bielawski) sollen einen Eindruck der ge‐ 00
priesenen Landschaft vermitteln und sind im Buch nicht 00
enthalten:
Lugano1/ Lugano2
GESEGNET ist dieses südliche Bergland mit
seinen Seen, im Verbande der helvetischen
Republik, gesegnet sind seine Rebengelände und
Kastanienhaine, gesegnet seine malerischen
Bergdörfer und heiteren kleinen Städte, gesegnet
vor allem seine Menschen!
.Diese Nachkommen der alten Etrusker haben
bis auf den heutigen Tag noch Eigenschaften be‐
wahrt, die man weiter südlich nicht in diesem
Maße findet: sie wirken heute noch so, wie wir die
Menschen der Antike uns vorstellen, man findet
bei ihnen eine Tatkraft und Energie, eine kluge,
würdevolle Besonnenheit, eine Ehrlichkeit und
Rechtlichkeit, die dieses italische Schweizervolk
uns bald von Herzen lieb gewinnen lassen. Auch
innerhalb des Schweizer Staatsverbandes hat der
Kanton Tessin es verstanden, sich immer mehr
hohe Achtung und Sympathie zu erwerben, und
was die tüchtige Art des Tessiners zu leisten ver‐
mag, das zeigten und zeigen noch zur Stunde so
209 NachleseII
manche Männer in hohen Ämtern der Zentral‐
regierung der Schweiz, Männer, deren Namen
weit über ihr engeres und weiteres Heimatland
hinaus allüberall guten Klang haben.
.Es ist ein beglückendes Gefühl der Geborgen‐
heit hier um den Fremden, mag er auch durch die
einsamsten Täler und Schluchten wandern. Er
weiß, daß er nur guten Menschen begegnen
kann, und in dem entlegensten Albergo, das ihm
des Abends Rast gewährt, braucht er seine Türe
nicht zu verschließen.
.In solchem Lande, das alle Reize des Südens
mit aller Schönheit der Bergnatur vereint, wo
Licht und Wärme selbst noch des Winters rauhe
Kraft zu bändigen vermögen, da läßt es sich gut
sein, besonders für den, der auch andere Art und
Sitte ehrt und schätzt, der ein Land und seine Be‐
wohner als organische Einheit empfindet, der
diese Einheit mit zu erleben versucht und das
herzliche Gastrecht vollauf zu würdigen weiß, das
man ihm, dem Fremden, allerorten zugesteht.
.Ein Paradies ist dieses Land! Südlich genug, um
der belebenden Kraft der südlichen Sonne reich‐
lich teilhaftig zu werden, und doch nicht ihrem
sengenden Brande ausgesetzt, ‒ erfrischt stets
durch die Nähe der Berge mit ihrer ewigen Fir‐
210 NachleseII
nenwelt, und doch nie von ihren rauhen Stürmen
umtost.
.Während nördlich vom St. Gotthard bereits die
feuchten Nebel über den Tälern nördlicher Nie‐
derung lagern, während der Herbstwind die letz‐
ten vergilbten Blätter von den kahlen Bäumen
schüttelt, prangt hier im Süden der Alpen Busch‐
werk und Baum noch in vollem Grün, und die im‐
mergrünen Pflanzen, die im Norden nur in Kü‐
beln und Töpfen gezogen werden, überwintern
hier im Freien und erreichen dabei eine Größe,
die sie eben nur in ihrer Heimat haben können.
.Überall zwischen dem Laubwerk und den Blu‐
men leuchten heitere südliche Villen hervor und
aus jedem Bergdorf grüßt uns der schlanke Cam‐
panile als Zeuge alter hoher Kultur.
.Wir stehen oben auf dem Monte San Salvatore
bei Lugano und genießen in heller Freude den
wundersamen Ausblick über dieses wahrhaft ge‐
segnete Land. Tief unter uns breiten sich die ural‐
ten Wasser des Ceresio, des Lago di Lugano, in ih‐
ren mannigfach geschlungenen Buchten, und am
Fuße des Berges lagert an der smaragdenen Flut
die ausgedehnte Stadt, deren Namen der See in
heutigen Tagen trägt, in der heiteren Vornehm‐
heit ihrer leuchtenden Paläste, Villen und moder‐
211 NachleseII
nen Hotelbauten aus dem Grün der Palmen und
dem Dunkel der Zypressen, wie die kostbare Fas‐
sung eines Edelsteins.
.Drüben am anderen Ende der Stadt erhebt
sich, wie ihr zweiter Beschützer, der Monte Bré
aus den Fluten, von Rebenhängen bedeckt, aus
denen die hellen Villen strahlen. Dort liegt der
prächtige Villenort Castagnola mit seinen Kasta‐
nienhainen, die ihm den Namen gaben, mit sei‐
nem alten Kirchlein und seinem unvergleichlich
schön gelegenen Friedhof; weiter entfernt liegt
Gandria, malerisch aus dem See heraufgebaut,
und in noch weiterer Ferne erblickt man die
Grenzorte Italiens, dem der See sich in langge‐
streckter Bucht verbindet.
.Am gegenüberliegenden Ufer aber erhebt sich
das mächtige Bergmassiv des Monte Generoso,
von dessen Gipfel aus man die ganze lombardi‐
sche Ebene bis nach Mailand hin überblicken
kann.
.Wir wenden den Blick, und über den Gefilden
des Lago Maggiore gewahren wir nun ein Alpen‐
panorama von unbeschreiblichem Reiz. Vom
Monte Rosa bis zu den Aletschfirnen drängt sich
Gipfel an Gipfel und noch weiter im Norden setzt
sich der Kranz der Schneehäupter fort, wie eine
212 NachleseII
weiße Zinnenmauer, die den immergrünen Kan‐
ton Tessin umschließt. Es ist fast zuviel des Schö‐
nen für das Auge, und immer wieder mühen wir
uns, den ausgebreiteten Reichtum zu fassen.
.Hier oben stand, nach manchen Funden zu
urteilen, einst ein altes Druidenheiligtum, und
mancher andere Mysterienkult mag hier seine
heilige Stätte gefunden haben, bevor ein christ‐
liches Sanktuarium sich auf dem Bergesgipfel er‐
hob.
.Die Alten wußten wahrlich ihre geweihten Stät‐
ten stets an Punkte zu legen, die schon von der
Natur dafür bestimmt zu sein schienen, und ob
wir nun auf den Hängen von Delphi stehen, oder
hier auf dem San Salvatore; ‒ wir empfinden in
gleicher Weise ein geheimnisvolles fluidisches Et‐
was an allen Orten, die dem Altertum heilig wa‐
ren, oft ohne vorher zu wissen, daß da ein Heilig‐
tum stand. ‒ ‒ ‒
.Noch lange saß ich am Abend im südlich tag‐
klaren Mondlicht auf meinem Balkon im Hotel
Villa Castagnola und blickte über die Silhouetten
des Parkes zu meinen Füßen hinüber über den
See, stets magnetisch angezogen von den Formen
des heiligen Berges, der, jetzt dem auferstande‐
213 NachleseII
nen Erlöser geweiht, einst den Namen des Son‐
nengottes Belenius trug.
.Unzählige Geschlechter sind seitdem in die
Erde versunken, die Namen der Gottheit haben
sich gewandelt, die Herzen haben dem Göttlichen
in mannigfacher Art andere Empfindungen ge‐
weiht, aber noch immer trägt der Berg sein Hei‐
ligtum, und vielleicht ist es kein Zufall, daß es
heute das Heiligtum dessen ist, von dem die heili‐
gen Bücher künden: «Sein Angesicht leuchtete
wie die Sonne und sein Gewand war weiß wie
Schnee» ‒ ‒ ‒?
.Vielleicht gibt es in unserem tiefsten Innern
doch eine Wahrheit, die kosmisch verankert ist, so
daß sie nur im Laufe der Zeiten sich stets andere
Gewänder formt, um das Urewige, im Symbol
verhüllt, der Verehrung darzustellen.
.Reiner als an anderen Orten empfindet man in
dieser heiteren Natur des Südens das Ewige, und
es wird schwer, sich an den Gedanken zu gewöh‐
nen, daß man wieder diese heiteren Gefilde ver‐
lassen soll.
.Wer aber einmal hier seelisch heimisch wurde,
auch wenn seine Wiege im kälteren Nordland
stand, den zieht es mit unwiderstehlicher Gewalt
stets wieder zurück in den Bereich der südlichen
214 NachleseII
Berge, an diese Seegestade, mit ihren lauen Lüf‐
ten, ihren Sonnentagen, die alles im strahlenden
Lichte baden, ihren Mondscheinnächten voll von
flimmerndem Silberglanz, ‒ und mit dankerfüll‐
tem Herzen sendet er auch aus der Ferne seine
Grüße in dieses gesegnete Land.
215 NachleseII
«WIE WÜNSCHT SICH
DER SCHWEIZER SCHRIFTSTELLER
SEINE LESER?»
ICH weiß von einer lieben alten Schweizerfrau,
die ihr ganzes Leben hoch über einem welt‐
bekannten Tal in einem kleinen Almengütli bei
harter Arbeit verbracht hatte, und mit der man
doch die anregendsten Gespräche über viele Bü‐
cher führen konnte. Ein einziges Mal war sie in
der nächst erreichbaren Stadt gewesen. Niemals
hat sie einen Eisenbahnwagen betreten. Wie ich
vor Jahren hörte, ist die Gute hochbetagt gestor‐
ben. Zu ihren Lebzeiten aber konnte man bei ihr
nicht nur die Bibel und gute Goethe- und Schil‐
ler-Gesamtausgaben finden, sondern auch alles
von ihrem geliebten Jeremias Gotthelf, von Gott‐
fried Keller und Conrad Ferdinand Meyer. Die
ganze Bibliothek war versorgt in einem großen al‐
tertümlichen Schrank, den sie wie ihr Heiligtum
gehütet hat. Ich glaube getrost sagen zu dürfen,
daß alle Schweizer Schriftsteller sich Leser wün‐
schen würden von Art und Gehalt dieser alten
einfachen Bauersfrau, die beinahe von allen Sei‐
ten ihrer Bücher wußte, was dort zu finden war,
weil sie alles auch im Herzen trug!
216 NachleseII
ENDE
WARUM
ICH MEINEN
NAMEN FÜHRE
Verlagslogo
FLUGSCHRIFT DER
KOBERSCHEN VERLAGSBUCHHANDLUNG 1927
Anmerkung: Diese Flugschrift ist auch im Sammel‐ 00
band „NACHLESE” (1.Auflage 1953, erweiterte Auf‐ 00
lage 1990) enthalten, der vom Verlag NACH dem Tod 00
des Meisters herausgegeben wurde mit der Absicht, 00
VERSCHIEDENSTE Schriftzeugnisse des Meisters vor 00
dem Vergessen zu bewahren.
WARUM ICH MEINEN NAMEN
FÜHRE
ICH entstamme einer gänzlich unliterarischen
Familie.
.Bauern, Förster und ländliche Handwerker
waren die Vorahnen meines Blutes. Ich habe nie
von einem vernommen, zu dessen Beruf das
Bücherlesen gehört hätte.
.Von meinem Vater kann ich allerdings be‐
richten, daß er sehr gerne las, obwohl er nur nach
schwerer körperlicher Arbeit die Zeit dazu fand.
.Es war aber eine genau umgrenzte Literatur,
der er seine Aufmerksamkeit schenkte. Er fragte
nicht nach dem Autor (außer bei den Schriften
seines geliebten Alban Stolz, dessen «Weck‐
stimmen» für das katholische Volk er mit Freuden
immer wieder las), sondern sein erster Blick in
ein Buch galt immer dem bischöflichen «Impri‐
matur», das Sicherheit gab, daß der Katholik den
Inhalt vertragen könne ohne Schaden an seinem
Glauben zu nehmen.
3 Warum ich meinen Namen führe
.So wurde auch ich über zwanzig Jahre alt und
hatte, außer meinen Schulbüchern und Werken
über Anatomie, Perspektive, Maltechnik oder der‐
gleichen, noch kein Buch ohne kirchliche Zensur
gelesen. Auch dann noch holte ich mir, in pein‐
lichster Befolgung kirchlicher Vorschrift, erst beim
erzbischöflichen Ordinariat in München Dis
pens, um nun mit gutem Gewissen etwas mehr
von deutscher Literatur erfahren zu dürfen, als
was im Schullesebuch stand. ‒
.Von dem allen muß ich hier reden, wenn ich
verständlich machen will, was später in mir vor‐
ging, als ich ‒ meinem geistigen Lehrer verpflich‐
tet und innerlich dazu gedrängt ‒ endlich den
Versuch wagte, mit dem, was ich meinen Mitmen‐
schen bringen konnte, in die Öffentlichkeit zu
gehen. ‒ Das wurde mir keineswegs leicht! Erheb‐
liche Widerstände waren in mir zu bekämpfen, ehe
ich mich schließlich bereitfinden mußte, die Ver‐
antwortung auf mich zu nehmen, die meines Er‐
achtens jeder trägt, der einen von ihm geformten
Satz der Mitwelt durch den Buchdruck über‐
mittelt.
.Nur der Autorenname, unter dem ich von dem
geistig Erlebten Kunde geben könne, war mir
4 Warum ich meinen Namen führe
nie zur Frage geworden. Von allem Anfang
an stand es fest, daß ich von meinen geistigen Er‐
fahrungen unmöglich unter dem Namen sprechen
durfte, der mir stets nur wie das Alleräußerlichste
meines äußeren Lebens erschien: ‒ wie eine zwar
praktisch notwendige «Etikette» für das Einwoh‐
nermeldeamt, aber nichts besagend in Bezug auf
die Charakterisierung des Trägers. ‒
.Meine geistige Schulung hatte mir ganz andere
Begriffe vom Wesen eines wahren «Namens»
beigebracht. Ich hatte erfahren, daß man von
einem «Namen» zum anderen fortschreiten
könne, daß gewisse Buchstaben in einem wirk‐
lichen «Namen» wie geistige Antennen wirken
können, und anderes mehr. Ich hatte selbst als
geistiger Schüler «Namen» getragen, die ich erst
«überwinden» mußte, um meines Namens wür‐
dig zu sein, und ich kannte mich selbst nun nur
in diesem, «meinem» Namen, so daß ich mich
zuweilen, wenn auch nur in Bruchteilen einer
Minute, erst besinnen mußte, wie ich denn
nach dem Adreßbuch genannt werde, und
den äußeren Ruf- und Familiennamen: Joseph
Schneiderfranken, seit dieser Zeit stets nur ohne
jedes innere Verbindungsgefühl niederschreiben
konnte...
5 Warum ich meinen Namen führe
.Andererseits aber hing es mir gleichzeitig auch
noch an, daß mir die ganze Jugendzeit hindurch
der Inhalt eines Buches allein wichtig war,
so daß ich den Namen seines Autors meistens
kaum beachtet hatte. Ich kam mir daher als Autor
keineswegs besonders wichtig vor, und solange es
ging, suchte ich mit allen Mitteln zu vermeiden,
daß man mir, über meine Schriften hinaus, per
sönliches Interesse zuwende. Nicht anders
suche ich noch heute, solches Interesse abzu‐
lenken.
.Meinen allerersten Äußerungen, die jetzt im
«BUCHE DER KÖNIGLICHEN KUNST»
vereinigt sind, damals aber als kleine Versuche
herauskamen, gab ich nur die Anfangsbuchstaben
B. Y. R. mit, bis ich, beim «BUCH VOM
LEBENDIGEN GOTT», das vor neun Jahren
in seiner ersten Gestalt erschien, mich auf buch‐
händlerischen Rat hin entschloß, statt der Anfangs‐
buchstaben, mit dem ganzen Namen zu zeich‐
nen ‒ trotz seinem orientalischen Klang ‒.
.Ich wußte sehr wohl, daß mir hierdurch manche
Schwierigkeiten erwachsen mußten, und daß ich
‒ gerade bei den Menschen, die in erster
Linie Leser meiner Bücher werden sollten ‒
durch den asiatisch klingenden Namen, der ja nur
6 Warum ich meinen Namen führe
als gesuchtes «Pseudonym» aufgefaßt werden
konnte, dem größten Mißtrauen begegnen dürfte.
Auch sah ich die Neugier zu sehr aufgestachelt,
als daß sie mich mit ihren Fragen nach der «Bedeu‐
tung» meines vermeintlichen «Pseudonyms» ver‐
schonen würde.
.Da aber mein buchhändlerischer Berater keines‐
wegs diese Bedenken teilte und auch mit Recht
darauf hinweisen konnte, daß ein Kapitel des
Buches «vom lebendigen Gott» ausführliche
Angaben über die Art geistiger «Namen» bringt,
so faßte ich schließlich genügend Vertrauen in die
Urteilskraft meiner Leser und sagte mir, daß sie
doch wohl aus dem ganzen Buchinhalt
ersehen müßten, wen sie vor sich haben: ‒ daß
sie mir also gewiß nicht zutrauen könnten, ich
fände es für nötig, mich durch ein fremdländisch
scheinendes Pseudonym erst in erwünschte «ben‐
galische» Selbstillumination zu bringen...
.Erfreulicherweise kann ich bestätigen, daß die‐
ses Vertrauen gegenüber den meisten Lesern
meiner Bücher gerechtfertigt war.
.Daneben aber höre ich doch auch zuweilen
von Leuten, die mit begreiflicher Voreingenom‐
menheit an dem «exotischen» Namen Anstoß neh‐
men, und somit Grund zu haben glauben, die
7 Warum ich meinen Namen führe
Lektüre meiner Schriften abzulehnen, ohne
auch nur den Inhalt einer Seite zu kennen.
.Andere wieder möchten gar zu gern eine deutsche
und deutliche «Übersetzung» des Namens.
.Ich kann aber hier nicht anders helfen, als daß
ich dem einen sage: «Wenn du Anstoß daran
nimmst, daß ich in dem Namen schreibe, in dem
allein ich mich lauthaft erkenne, und wenn
dir dieser Name zu 'exotisch' klingt, dann nenne
mich meinetwegen wie du willst, aber lies, was
ich auch für dich geschrieben habe!» ‒ und
zu dem andern: «Wenn du dir unbedingt bei
meinem Namen 'etwas denken' mußt, dann übe
einstweilen Geduld, bis du Lautwerte inner‐
lich so erfassen kannst, wie der Musiker
Klangwerte erfaßt, die in Noten dargestellt
sind!»
.Im übrigen könnte wohl auch verstanden wer‐
den, daß ich mich aus reiner Anhänglichkeit
an den geistigen Lehrer, der mir den Namen gab,
BÔ YIN RÂ nennen würde, auch wenn mir
diese drei Silben ebenso «fremd» wären, wie sie
andern vielleicht erscheinen.
.Es sei nur ein für allemal gesagt, daß es sich hier
nicht um drei Worte handelt, aus deren «Sinn»
man irgend etwas herausgeheimnissen könnte,
8 Warum ich meinen Namen führe
auch wenn die drei Silben zu Sprachwurzeln einer
alten Sprache gehören, sondern daß sie nur des
halb meinen, mir geistmenschlich zugehörigen
«Namen» bilden, weil ihre Lautwerte meiner
Wesensart entsprechen, so wie eine bestimmte
Notengruppe einem bestimmten Akkord ent‐
spricht.
.Mir selbst erscheint das alles so kristallklar
sichtbar, so einfach und selbstverständlich, daß
ich meine, jedes Kind müsse hier begreifen können,
was vorliegt...
.Allerdings weiß ich auch, daß uns das instink‐
tiv-sichere Erfühlen der Lautwerte menschlicher
Sprache als geistig bedingter Werte, so gut wie
ganz verloren gegangen ist, und daß man nicht
fehlgeht, wenn man hier den Grund sucht, wes‐
halb mein geistiger Lehrer meinen «Namen» aus
drei Wurzelsilben einer alten orientalischen
Sprache bildete, obwohl er ihn auch aus Silben
oder Worten meiner Muttersprache hätte fügen
können, was mir auf alle Fälle meine Aufgabe sehr
erleichtert haben würde.
.Man wird mir doch die Einsicht zugestehen, die
nötig ist, um zu wissen, daß nur ein weltfremder
Tor ungeschickt genug sein könnte, sich heute
mit einem fremdländisch klingenden Pseudonym
9 Warum ich meinen Namen führe
zu drapieren, aber man sollte auch aus dem In
halt meiner Bücher ersehen, daß man mir die
Unehrlichkeit nicht imputieren darf, die in
der Wahl eines «Pseudonyms» gegeben wäre, das
den Anschein erwecken könnte, ich sei ein Mensch
fernen, fremden Stammes.
.Abschließend aber muß ich sagen, daß mir die
Art, in der ich selbst in meiner Jugendzeit gewohnt
war, Bücher zu lesen, indem ich kaum nach dem
Autor, desto mehr aber nach dem Inhalt fragte,
gar nicht so übel gewesen zu sein scheint.
.Ich kann meinen Büchern solche Leser nur von
Herzen wünschen!
.Zuletzt ist sicher der Inhalt eines Buches,
und dieses Inhalts Einwirkung auf die Seele des
Lesers, auch die sicherste Grundlage für das Urteil
über den Verfasser. ‒
10 Warum ich meinen Namen führe
ENDE
Einige Texte
(nicht überprüfbar)
Hr. Werner Erni, früher auch für den "Kober Verlag" tätig, zeigt auf seiner Homepage einige Texte des Meisters, die heute vielleicht unauffindbar wären. Mit seiner freundlichen Genehmigung finden sie sich auch hier wieder.
Goldregen (langweiliges Paradies)
Brauchen wir eine neue Religion? (Deutsche Wesensart)
      aus der Zeitschrift „Der Türmer”, Januar 1922
Das Mysterium der künstlerischen Ausdrucksform (Körper/ewige Seele)
      eine etwas andere Fassung des gleichlautenden Kapitels im Buch „Mehr Licht”
Geistige Baukunst (die ewige Seele als Baustein am ewigen Tempel der Menschheit)
      aus der Zeitschrift „Die Säule”, Januar 1927
Ein verschütteter Tempel (Freie Maurerei)
Wahrheit (Bô Yin Râ`s Beitrag zur E.B.D.A.R.)
Was ist die E.B.D.A.R.?
      von Hr. Erni unter Benützung eines Briefes von Bô Yin Râ vom 05.05.1933
Der Goldregen
(langweiliges Paradies)
Vor alten Zeiten stand es einmal so schlecht in der Welt, dass alle Menschen stöhnten und voll Wehklage waren.
Alles war grau und trüb, und die Freude kannte man nur noch vom Hörensagen.
Da beteten die Menschen zu ihrem großen Gotte Re‐Nai‐Schu, dass er sich ihrer unerträglichen Leiden erbarmen möge. Aber Re‐Nai‐Schu hörte sie wohl nicht.
So beteten sie denn weiter, vierzig Monate und drei Tage …
Als es aber an jenem Tage Abend geworden war und alle wieder voll Trauer ihren Schlaf suchen wollten, siehe, da erhob sich am Rande des Himmels ein kleines Wölkchen von der Farbe einer Zitrone.
Es stieg höher und höher und nahm zu an Grösse, so dass es den ganzen Himmel überdeckte.
Zugleich kam eine geheimnisvolle Freude über alle Menschen und sie glaubten, dass Re‐Nai‐Schu jetzt wohl erscheinen würde.
Re‐Nai‐Schu erschien nicht, sondern die Wolke löste sich auf in winzige Tröpflein, die wie ein Licht- und Feuerregen zur Erde fielen.
Wo aber dieser Regen fiel, da ward alles leuchtend.
Die Bäume des Waldes wurden golden und die Felder und Wiesen glänzten und flimmerten von Gold.
Die Bettler in ihren Lumpen erstrahlten wie Könige im goldbrokatenen reichen Krönungsgewand.
Das Wunderbarste aber war, dass von allen Menschen alles Leid zur Stunde floh, so dass Jauchzen und frohes Leben fortan die Erde erfüllte.
Dies währte nun an die dreihundert und neunzig Jahre. Damals jedoch standen einige auf und sagten:
„Uns genügt nicht, zu besitzen und glücklich zu sein. Wir sehen wohl, dass dieses heilige Gold nicht nur Schönheit allen gibt, sondern auch alles auf geheimnisvolle Weise nährt und am Leben erhält, ‒ allein wir wollen wissen, weshalb alles so ist.”
Eines Tages sprachen diese Grübler untereinander und einer machte den Vorschlag und sagte:
„Wir wollen von dem Golde nehmen, es in den Schmelztiegel tun und es peinigen im Feuer, bis uns seine Wesenheit kund werden wird.” Und sie taten also …
‒ Da entstand am Himmel alsobald eine große, undurchdringliche Finsternis und die Erde bebte, dass die Grundmauern der Tempel zerrissen wurden.
Als aber das Beben vorüber war, da lag die Welt grau und trübe und die Menschen fühlten sich elend, wie nie zuvor.
Alle Schönheit war von der Erde geflohen. Jammer und Not herrschten wieder und werden weiter herrschen, wenn nicht Re‐Nai‐Schu einen neuen Goldregen schickt.
Vorher aber werden die Menschen wohl wieder vierzig Monate darum bitten müssen…
Wer weiss aber, ob Re‐Nai‐Schu einen neuen Goldregen schicken wird, bevor nicht jene gestorben sind, die keine Ruhe finden im Glück, solange sie nicht wissen, warum das Glück die Menschen glücklich macht. ‒

Brauchen wir eine neue Religion?
(Deutsche Wesensart)
aus der Zeitschrift „Der Türmer”, Januar 1922
An diesem Artikel wurden einige kleine, redaktionelle Änderungen und kleine Kürzungen vorgenommen, damit der in der damaligen Zeit und für die damalige Zeit geschriebene Text besser in die heutige Zeit passt. (Änderungen sind kursiv gesetzt) WE
Unter den Lesern dieser Zeitschrift sind meines Wissens nicht wenige, denen mein Autorenname bereits durch meine Bücher bekannt geworden ist.
Wenn mir nun der verdienstvolle Herausgeber die Möglichkeit bietet, auch von dieser Stelle her an der Erneuerung und Vertiefung seelischen Lebens mitzuwirken, so bedeutet das für mich eine nicht geringe Freude.
Schon lange war es meine Absicht, vor einem religiös ernst gestimmten und verstehenden Kreise, wie ich ihn gerade unter den Lesern dieser Blätter zu finden glaube, die Frage zu erörtern, die ich dieser kleinen Abhandlung als Überschrift gab; und ihre Erörterung dürfte denn auch denen nicht ganz unwichtig sein, für die eine solche Frage, aus tiefstem inneren Fühlen heraus, von vorneherein beantwortet ist.
Ich sehe Bestrebungen in dieser Zeit am Werke, die zwar von den edelsten Motiven her geleitet sein mögen, deren Auswirkung mir aber gerade für die Deutschen verhängnisvoll zu sein scheint; und es wird mir die Pflicht, von meiner durch keinerlei konfessionelle Bindung bedingten seelischen Einschau her vor einer Gefahr zu warnen, die viele bedroht.
Die Welle geistiger Erneuerung, die schon lange vor dem Kriege einzelne Schichten der Deutschen ergriffen hatte, wächst zusehends zu einer mächtigen Woge an, von der sich nun auch gar manche tragen lassen, die vorher in den stagnierenden Wassern religiöser Gleichgültigkeit ihr Behagen fanden.
Die aufrüttelnden Erlebnisse des Krieges (Anm.: 1914/18), das unsägliche Leid und die äußerste Not der Kriegsjahre, die ja im Grunde trotz aller „Friedens”-Verträge noch nicht beendet sind, mögen immerhin das Ihrige dazu beigetragen haben, dass die Seelen sich mehr und mehr auf Inneres und Allerinnerstes besinnen; aber es wäre doch eine arge Täuschung, wollte man alles Streben nach religiöser Vertiefung lediglich aus diesen Momenten heraus erklärbar finden und somit allem Suchen nach geistigen Gütern in dieser Zeit nur eine vorübergehende Bedeutung zuerkennen.
Ich sehe weitaus Tieferes hier am Werke, und es dürfte weit eher erlaubt sein, das schwere Erleben, das der Krieg so vielen brachte, als ein zwar schmerzendes, aber letztlich doch zur Gesundung führendes Heilverfahren ewiger, leitender Mächte anzusehen ….
Vielleicht war man doch, bevor diese harten Tage kamen, oft allzusehr geneigt, zu übersehen, dass die weltgeschichtliche Aufgabe eines Volkes nur dann zu lösen ist, wenn jeder einzelne, der ein Glied dieses Volkes bildet, durch eigene seelische Vertiefung so gefestigt wurde, dass der ganze Volkskörper aus seinen tiefsten Wurzeln heraus jene überschüssige Gesundheit erlangen kann, die der Welt einst Heilung bringen können.
Das dunkle innere Ahnen, dass dem so sei, lässt heute die neue Sehnsucht nach religiöser Vertiefung in vielen keimen und wachsen.
Wird diese Sehnsucht zur Tat und tritt sie gestaltend ins Leben des Alltags ein, nicht nur für Sonn- und Feiertage reserviert, ‒ so kann sie wahrhaftig die Deutschen zu jenem Aufstieg führen, den seine erleuchtendsten Geister ihm wieder und wieder prophetisch zeigen zu müssen glaubten, und nach dem es heute mehr als je verlangt.
Sie werden dann einem Aufstieg entgegengehen, den keine Erniedrigung mehr bedroht. ‒
Noch aber besteht die Gefahr, dass diese Sehnsucht sich verwirren lässt und auf irre Wege führt..
Man fühlt die Notwendigkeit neuer, vertiefter Religiosität und lässt sich nun gar vielfach verleiten, statt dessen nach einer neuen Religion zu suchen.
Selbst bis in tiefgläubige Kreise christlicher Frömmigkeit hinein trägt moderne Zweifelsucht ihre Unheilsaat und möchte Seelen beirren in ihrem Vertrauen an die ewige Lebenskraft dessen, dem gerade deutsche Art ihr bestes dankt.
Historische und philologische Kritik wurden, als die ungeeignetsten Instrumente, angesetzt, um einen Boden zu unterwühlen, der nur mit den subtilen, seismographisch empfindsamen Organen der Seele untersucht werden darf, will man seine überzeitlichen Quelladern finden, die wahrlich tiefer liegen als die lose Krume, die oft gutgläubiger wissenschaftlicher Forschungseifer zu untersuchen vermag.
Nun steht man verwirrt auf dem an manchen Stellen arg verwüsteten Lande, das einst der Seele blühender Garten war, und wagt es fast nicht mehr, daran zu glauben, dass neues Leben ihm entsprießen könne.
Zugleich aber finden sich eilfertig gar manche Karrenführer ein, die Erdreich aus fremden Zonen bringen mit der oft durchaus ehrlich gemeinten Versicherung, dass erst diese fremde Erdkrume, die sie von fernher holten, an ihrem Ursprungsort nur deshalb fruchtbar war, weil sie aus den gleichen tiefen Quelladern ihre Kraft empfing, aus der auch die Blumen der Seele ihre Nahrung zogen, die aus dem Boden sprossten, den sie jetzt verschütten möchten.
Diese allem seelischen Leben gemeinsame Quelladern gilt es aufzusuchen, wenn man wahrhaft zu einer Verwurzelung mit dem ewigen Seinsgrund gelangen will, und sie sind dort aufzusuchen, wo sie seit Jahrhunderten sich für die deutsche Seele wirksam zeigten, die deutsche Seele, deren schönstes Vorrecht ihrer Eigenart darin besteht, dass sie nichts eigentlich „Fremdes” auf dieser Erde kennt, dass sie zu jeder anderen seelischen Eigenart Zugänge findet, die aber nur allzu leicht bereit sind, völlig zu vergessen, dass sie alles fremde Saatgut nur auf eigenem Boden zu eigener Ernte heranreifen sehen kann.
Mit anderen Worten: Es bedarf durchaus keiner anderen Religion, um den tiefsten Quellgrund allen Seins der Seele zu erschließen, sondern es braucht nur die glühende Inbrunst der Seele selbst, und sie wird von der Stelle aus, an der sie eingewurzelt ist, ihre Wurzelfasern immer tiefer in das ewige Herz des Seins zu versenken vermögen, weit sicherer, als wenn sie sich selbst erst in anderen Boden verpflanzen wollte, mag dieser Boden ihr auch erfüllter erscheinen von geheimer Kraft, als der, aus dem sie selbst ihres einstigen Keimens Nahrung zog.
Deutscher Seelenart ward das Christentum zum eigenen Blütengarten, und christliche Glaubensglut ward zur deutschen Frömmigkeit.
Noch haben zu allen Zeiten nur einzelne Deutsche den Mut gehabt, bis zu den innersten Mysterien vorzudringen, die sich in dieser deutschen Frömmigkeit, diesem deutschen Christusglauben, dieser deutschen Christusliebe bergen. Es ist hier mehr Mysterium verborgen, als die meisten ahnen mögen!
Kein echter Mysterienkult der alten Zeiten, so ehrwürdig er auch sein mag, reicht völlig an dieses Mysterium deutscher Frömmigkeit heran, und selbst die weiseste Erkenntnis alten indischen Denkens führt kaum zu den Vorhallen dieses Heiligtums, ja das meiste all solch erdachter Weisheit schuf nur Wolkenträumen phantastische Brücken aus luftigem Gespinst, Brücken, die niemals in Wirklichkeit eines Menschen Fuß betreten könnte.
Alle letzte Erkenntnis aber gilt einer Wirklichkeit, vor der alles Denken und Träumen jeglichen Wert verliert und ihn nur wiedergewinnen kann, nachdem es diese Wirklichkeit zu seinem Ausgangspunkt zu machen vermag.
Das Mysterium deutscher Frömmigkeit ist nichts anderes, als die für die deutsche Seeleneigenart deutbarste Darstellung dieser kosmischen Wirklicheit auf unserer Erde, und in der Sage vom heiligen Gral ist sie am deutsamsten geworden.
Kein Symbol, sondern ein Abbild irdisch verankerter geistiger Wirklichkeit ist hier gegeben.
„Suchet, und ihr werdet finden!” Suchet und ihr werdet gefunden werden.
Aber suchet nicht etwa in alten und neuen fremden Kulten, sondern lasst erst alles, was ihr in anderen Zeiten und Völker heiliger Lehre findet, nur zu Erhellung des eigenen Weges dienen!
Euer Christenglaube ist das gegebene Feld des Suchens und Findens für euch!
Euer Christenglaube ist kein Ideengebilde und kein Märchenwahn.
Euer Christenglaube entspricht einer Wirklichkeit, die man wohl auch mit anderen Namen nennen kann, als die euch vertraut geworden sind, zu der ihr aber am ehesten ohne Irrweg hinfinden werdet, wenn ihr auch alles, was andere Darstellung dieser gleichen Wirklicheit zu sagen hat, in die euch vertraute Sprache übersetzen lernt.
Wehe denen, die den Glauben an diese Wirklichkeit als „Wahn” verlachen!
Wenn sie euch aber sagen: „Das Christentum hat heute aufgehört, eine wahre Lebensmacht zu sein; wir müssen nach anderer Offenbarung Ausschau halten!”, dann findet den Mut zu einer Antwort, die lauten möge:
Nicht das Christentum ist tot, sondern wir, die wir uns Christen nennen, standen nicht genug in seinem Leben!”
Wahrlich, das Christentum ist noch gar jung, und viele Jahrhunderte mögen noch vergehen, ehe es seine volle Entfaltung dereinst erreicht!
Ich glaube, dass deutscher Frömmigkeit bei seiner allmählichen Entfaltung eine Weltaufgabe winkt.
Es wird das Wesen des Christentums sein, das der Welt einst „Heilung” bringen kann. Das Christentum in seiner seelisch geheimnisvollsten Darstellung. Es wird die Frömmigkeit der Deutschen sein, die ihrem Wesen sein kosmisches Gepräge gibt, die alles Tun des deutschen Menschen durchdringen und veredeln muss, genährt aus Tiefen, die kein Forscherauge je erspäht, die nur der Inbrunst der Seele sich eröffnen und ihr die Kräfte ewigen Lebens spenden.
Die Arbeit des Alltags wird dann zum Gottesdienst werden, und den Hierarchien der Ewigkeit wird ein wahrhaft würdiges Ebenbild in der Gliederung menschlicher Weltaufgaben erstehen.
Weder müde Weltflucht, noch raffgieriges Wühlen nach den Schätzen, die Rost und Motten verzehren, wird der Menschheit Gedeihen bringen.
Nicht mit Mordmaschinen wird die Freiheit der Völker jemals zu sichern sein.
Nur aus der Wiedergeburt der Seele kann Heil erwachsen, und hier wird deutsche Seeleneigenart allen Völkern der Erde noch zum Segen werden!
Unterschrift
Das Mysterium der künstlerischen Ausdrucksform
(Körper/ewige Seele)
etwas andere Fassung als im Buch „Mehr Licht” 
Es gab eine Zeit ‒ und vielleicht mag sie noch nicht zu Ende sein ‒ da man „Körper” und „Seele” fein säuberlich zu scheiden suchte.
Wer der Seele dienen wollte, der glaubte beinahe, des Körpers nicht zu bedürfen, hielt ihn bestenfalls für ein lästiges Bleigewicht, das nur die Seele niederziehen könne, für ein vielleicht notwendiges, aber gräuliches Übel, ein widerwärtiges Hindernis aller seelischen Entfaltung. ‒
Man suchte den Körper nach Möglichkeit „abzutöten” um die Seele frei zu machen, und ahnte nicht, dass „die Seele” eine gähnende Leere, ein inhaltloses Unendliches, bestimmungs- und grenzenlos wäre, ohne den Reichtum, den ihr der Körper gibt.
Man wusste nicht, dass wir keinen einzigen Gedanken denken können, der nicht im Körper seine analoge Beziehung, seinen eigentlichen Inhalt, real ausgedrückt fände, dass all unsere Vorstellungsbilder, selbst die kompliziertesten, im Körper vor-gebildet sind. ‒
Aber auch heute sind noch die Wenigen zu zählen, die da wissen, dass beim Denken etwas mehr in Tätigkeit gesetzt wird, als nur das Gehirn
Der Vorgang jeglichen Denkens, ‒ und was wir „fühlen” und „empfinden” nennen, ist nur eine besondere Abart des Denkens, die zu genau der gleichen Schärfe und Sicherheit emporentwickelt werden kann, ‒ ist dem blitzschnellen aussenden bewusster und unbewusster Fragen vergleichbar, auf die meist mit der gleichen Schnelligkeit die Antwort erfolgt.
Bei jedem Gedanken, und sei er noch so abstrakter, noch so sublimer Art, sendet unser Gehirn gleichsam einen Kundschafter aus in jene Teile des Körpers, die der Art des Gedankens entsprechen, und fast im gleichen Moment kehrt der Bote zurück und berichtet von seinen Findungen.
Es ist nicht leicht, diesen Vorgang im Rahmen einer kurzen Abhandlung zu erklären.
Beispiele mögen zum eigenen Forschen anleiten, aber auch da können nur die einfachsten Fälle herangezogen werden.
Nehmen wir an, ein Mensch denke über den „Standpunkt” nach, den er in irgend einer Frage einzunehmen willens sei.
Er kann den Begriff „Standpunkt” unmöglich denken, ohne einen Strom vom Gehirn bis zu den Ganglienknoten seiner Füße zu senden, mag er sich dessen bewusst sein oder nicht, und in den Füßen, nicht im Gehirn, empfindet  er, was der Begriff „Standpunkt” besagt. Das Gehirn empfängt nur die Botschaft und stellt die bewusste Empfindung fest.
Ein anderes Beispiel!
Man denkt: ich weiss etwas vom „Hörensagen”.
Hier werden gleich zwei Ströme ausgesandt, einer zum Ohr und einer zum Mund, und beider Botschaft bei der Rückkehr veranlasst erst das Bewusstwerden des eigentlichen Wortinhalts. ‒
Ähnlich geht es bei Worten wie: „Handreichung”, „Fortschritt”, „Niederlage”‚ etc. etc.
Je stärker die betreffende Körperstelle reagiert, je besser die Verbindungsdrähte, die sensorischen Nerven, Frage und Botschaft leiten, desto intensiver wird der Inhalt des Wortes gefühlt, desto sicherer wird der Gedanke „verstanden”.
Ich habe hier absichtlich nur die allereinfachsten Beispiele gewählt und man könnte ein ganzes Wörterbuch mit der Aufzählung ähnlicher Beispiele füllen.
Hier enthält noch das gedachte Wort selbst schon den Hinweis auf einen Körperteil oder eine körperliche Funktion.
Der Vorgang ist aber der gleiche, wenn wir etwa das Wort: „Gewölbe” denken. Blitzschnell erfüllt der ausgesandte Strom das Innere der Schädeldecke, während er bei dem Worte: „Kuppel”, das Äußere des Schädels umfasst und seine Botschaft zurückbringt. ‒
Je mehr sich die Begriffe dann dem Abstrakten nähern, um schließlich scheinbar völlig abstrakt zu werden, desto schwieriger wird zuerst das Auffinden der entsprechenden Analogien des Körpers für die Ströme, die das Gehirn aussendet, und eine neue Begriffsbildung, die ihrem Urheber nur deshalb gelang, weil die von seinem Gehirn ausgesandten Ströme im Körper Verhältniswerte vorfanden, die noch nie von den Strömen eines anderen Gehirnes gefunden wurden, bleibt solange bei Anderen unverstanden, bis auch die Ströme, die ihre Gehirne aussenden, die in Frage stehenden Verhältniswerte im eigenen Körper finden. ‒
So haben wir den ganzen Reichtum unseres Fühlen- und Denkenkönnens vom Körper empfangen, und längst bevor der Mund des Kindes Worte einer willkürlichen Verständigungskonvention stammeln lernt, ist das kleine Menschenwesen voller „Sprache”.
Es gibt gewisse, uralte Lehren, die nur Wenigen zugänglich sind, und die mit aller Sicherheit verkünden, dass des Menschengeistes zeitweilige Verbindung mit dem Körper lediglich erfolge, um dem Geiste zur „Individualisierung” zu verhelfen, um ihm Vortellungsinhalt zu geben, und ihn „zu Wort” kommen zu lassen....
Doch ich will hier nur von Dingen reden, die Allen zugänglich und sicher erfahrbar sind, und meine Erörterungen sollen uns weiter führen zum Verständnis der künstlerischen Ausdrucksform, der Wirkungsmittel des bildenden Künstlers.
Mag auch beim Maler in erster Linie an das Auge gedacht werden, während man im Bildhauer ein besonders ausgeprägtes Tastempfinden vermutet, so bildet doch für beide Kunstarten das, was man „den Tastsinn des Auges” genannt hat, die gemeinsame Rezeptionsbasis.
Aber innerlich „erfasst”, künstlerisch „verstanden” wird das Aufgenommene wieder nur mit Hilfe des Denkmechanismus, mit Hilfe der Ströme die das Gehirn in die verschiedenen Teile des Körpers sendet, um sich dort seine Antworten zu holen. ‒
Das Gleiche gilt für den Beschauer des vom Künstler geschaffenen Kunstwerkes, sofern er überhaupt willens ist, es nachzuerleben.
Der Künstler suggeriert durch die von ihm geschaffenen Ausdrucksformen dem Beschauer, was er selbst innerlich erlebte.
Verhält sich der Beschauer nicht passiv, ist er in andere Betätigung seines körperlich-geistigen Denkvermögens verwickelt, dann wird die Suggestion nicht bemerkt, wie stark sie auch sei.
Ergibt er sich aber der Suggestion, so wird sie um so intensiver wirken, je besser die Ströme vom Gehirn zu den einzelnen Körperstellen bei ihm „eingearbeitet” und, je mehr des Künstlers Schaffenserlebnis gerade von solchen körperlichen „Antwortpunkten” angeregt war, die auch im Beschauer bereits gewohnheitsmäßig, oder doch leicht gefunden werden. ‒
Alles was das Auge des Künstlers dem Gehirn vermittelt, löst dort als Bildgedanke seine Ströme aus und sendet sie nach jenen körperlichen „Antwortpunkten”, die seiner Art entsprechen, und erst die Antwort bringt dem Gehirn das „Verstehen” des aufgenommenen Bildes. ‒
Nehmen wir an, es werden etwa Tannenzweige in ihren äußersten Verästelungen wahrgenommen.
Sofort geht ein Strom vom Gehirn zur Hand und wieder zum Gehirn zurück, denn die fragliche Form wird uns nur verständlich im Gefühl der ausgespreizten Hand. ‒
Die Wahrnehmung eines Laubbaumes von beiläufiger Kugelform wird zur Folge haben, dass der Strom, der vom Gehirn ausgeht, sofort den ganzen Kopf umfasst und so das Verständnis dem Gehirn zurückbringt.
Tragendes Gebälk wird mit Hilfe unserer Schultern, unserer Arme verstanden, die Pfeiler einer Brücke verstehen wir als unsere gespreizten Beine, die Brücke selbst wird durch die Empfindung des gekrümmten Rückens verständlich.
Bei einem Kirchturm verstehen wir das Fundament durch unsere Füße, alles Übrige durch Beine und Rumpf in straff aufrechter Haltung, und den obersten Teil durch die Empfindung des Kopfes, wobei das Dach durch die Empfindung unserer Schädeldecke uns zum Verständnis kommt.
Dass die Fenster eines Gebäudes durch unsere Augen, die Türen durch den Mund verstehbar werden, haben Karikaturisten und phantastische Zeichner schon zur Genüge ausgenützt …
Auch alle Farbenempfindungen sind nur durch Beihilfe des Körpers möglich, doch sind hier die körperlichen „Antwortpunkte” mit dem Aufnahmeapparat selbst identisch.
Für jede außen wahrnehmbare oder vorstellungsmögliche Farbe findet sich das körperliche Analogon im Auge selbst.
Wird also eine Farbe wahrgenommen, so gelangt die Wahrnehmung zuerst vom Auge ins Gehirn, setzt dort Ströme in Bewegung, die in das körperliche Auge zurückfluten und sich die in ihm enthaltenen Analogiepunkte suchen, um mit der Antwort ins Gehirn zurückzukehren, wo dann erst die Farbe bewusst „verstanden” wird.
„Farbenblindheit” ist nichts anderes, als die partielle oder absolute Unfähigkeit eines Auges zur verlangten Antwortfunktion.
Es würde ins Uferlose führen, wollte man die stete Rückwirkung des Körpers auf den Geist in allen ihren einzelnen Phasen, von dem Erlebnis des Schaffensanstosses beim Künstler bis zum Kunsterlebnis des Betrachters aufzuzeigen versuchen.
Ob sich der Künstler den Formen und Farben der Natur nahe hält, oder ob er ein Kunstwerk aus völlig naturfremden Formen und Farben schafft, stets wird das Gehirn im Körper nach den Analogien, nach den Antwortpunkten suchen und ein „Verständnis” des Werkes ist nur möglich, wenn die entsprechenden Antwortpunkte gefunden werden.
Dass auch die Tonkunst uns nicht ohne Hilfe des Körpers zugänglich ist, bedarf wohl nach allem Gesagten kaum mehr der Erwähnung. Jede Tonvibration, jedes Intervall, jeder Rhythmus ist im Körper vor-gebildet und nur die Auffindung des „Antwortpunktes” im Körper bringt das „Verständnis”. ‒
Die vorliegenden Erörterungen wollen nichts weniger als erschöpfend sein. Sie können kaum mehr, als kurze Hinweise geben, denn der Stoff ist unübersehbar.
Es genügt, wenn es mir gelungen sein sollte, Künstler und Kunstgenießende zu einem größeren Verständnis der Funktion zu führen, die der Körper sowohl beim Vorgang der künstlerischen Konzeption und des Schaffens, wie beim Nacherleben eines Kunstwerkes ausübt.
Geistige Baukunst
(die ewige Seele als Baustein
am ewigen Tempel der Menschheit)

aus der Zeitschrift „Die Säule”, Januar 1927
Nicht von ungefähr ward dem Menschen schon in ältesten Zeiten aus der irdischen Baukunst ein fast überreiches Symbol geistiger Selbstgestaltung!
Nicht von ungefähr waren die „des Bauens und der Zierde Kundigen” einst wissende Priester der Gottheit, ‒ und wahrlich nicht von ungefähr lassen heute noch Tempelruinen und hohe Dome Kundige verborgenes Weistum ahnen! ‒ ‒
Hier geht es um Allertiefstes, und nur wer erfaßt hat, dass alles Hohe, so es sicher stehen soll, in der Tiefe gründen muß, ‒ nur wer seine eigene Tiefe nicht fürchtet, ‒ wird hier belehrt aus uralter Lehre, ‒ erschreckend für den, der unreinen Herzens kommt, ‒ trostreich Allen, die in Lauterkeit nach Licht verlangen. ‒ ‒ ‒
So ist es denn auch in diesen neueren Tagen gewiss kein kindisches Unterfangen, aus der Baukunst das Symbol zu heben, und allgemach aus ihren alten Werken deuten zu lernen, was annoch dunkel erscheint, so dies nur nüchternen Sinnes und frei von Deutesucht geschieht. ‒
Wahrlich, es war den Alten kein müßiges Spiel, den Symbolreichtum der Baukunst dienstbar zu machen dem geistigen Tempelbau, der aus dieser Erdenmenschheit höchsten Seelenkräften erstehen, und alles wahrhaft Menschgewordene dereinst auf Erden einen soll! ‒ ‒ ‒
Denen, die in sich selber die Tiefe erreichten, allwo ihr Dasein gründet, werden aufs neue heute wieder durch wissende Werkmeister die so lange verschütteten, nun gereinigten, wiedergefundenen Wege gewiesen, die zu den Werkhütten geistiger Baukunst führen.
Nicht jeder aber ist berufen, diese Wege zu beschreiten, und es ward auch wahrhaftig nicht etwa von Männern, aus der Macht des Mannes, angeordnet, dass diese, ‒ auch nicht jedem Manne offenen Wege, niemals von einer Frau betreten werden können, ‒ was allen Anschein einer Geringerwertung der Frau verliert, wenn man bedenkt, dass auf diesen Wegen Kräfte zu geistiger Wirkung kommen müssen, die physisch und psychisch nur dem Manne angeboren sind und ihn allein zum Manne machen.
Es wäre eben so töricht, hier von einer schicksalsmäßigen „Bevorzugung” des Mannes reden zu wollen, wie es töricht wäre, wollte der Mann dem Weibe seine Mutterwürde neiden und sich im ungerechten Nachteil wähnen, weil er ‒ auch als Vater ‒ niemals in jener engen Vereinung mit dem werdenden Leben steht wie das Weib. ‒ ‒
So aber, wie der Mann nur durch das Weib zum Vater werden kann, und wie das Kind dann beider Art und Wesen in sich eint, ‒ so kann auch der Frau nur durch den berufenen Mann ihr Anteil an dem reinen Segen geistiger Kunstausübung in den Werkhütten geistiger Baukunst werden, und was der Mann allhier in werkgerechter Arbeit sich erwirbt, wird gleicherweise zum Miteigentum der Frau, die mit ihm in wahrer geistgegründeter Ehe dieses Erdenleben teilt, ‒ obwohl er erworbenes Kunstgeheimnis nie vor ihr offenbaren darf und kann, da hier „Erklärung”: ‒ Geistverwirrung wäre, könnte sie gegeben werden.
Nur weil hier niemals Werk in Worten darzustellen ist, verpflichtet sich der Mann, der solches Werk vollbringt, zum absoluten Schweigen über seine Kunst, ‒ und nicht nur etwa vor der Frau allein, sondern auch vor jedem Manne, der nicht am gleichen Werke in der gleichen Weise wirkt. ‒ ‒
Es würde nur Heiligstes entweiht, und dennoch würde kein Begriff von dem vermittelt, was hier verborgen bleiben muß, da es sich niemals anders fassen läßt, als in der eigenen Ausübung, die lange, ernste Schulung fordert. ‒
So kann denn das, was wirklich hier „Geheimnis” ist, auch selbst durch den, der sich mit untilgbarer Schuld beladen wollte, keinesfalls „verraten” werden, denn was ein solcher etwa sagen könnte, wären Worte, die nur wirre Vorstellungen wecken würden, ohne irgend einen Einblick aufzutun. ‒
Wer aber auch nur seine erste Schulung in der Werk-Kunst wirklich mit Erfolg bestand, so dass ihm schon ein Weniges zu sicherer Erfahrung wurde, der ist in sich schon so gewandelt, dass es ihm unmöglich wird, nur den Gedanken auszudenken, dass hier einer einem Andern, der nicht selbst die gleichen Wege wandelt, irgend etwas Wesentliches jemals offenbaren könnte, denn er weiß bereits, wie hier allein ein „Wissen” zu erlangen ist.
Alles, was jemals über diese Dinge an „Enthüllungen” geboten wurde, ist barer Unsinn, oder aber nur Enthüllung kindlich simpler, pietätvoll festgehaltener Gebräuche solcher Zirkel, die längst, ‒ wie sie auch selbst gestehen, ‒ gerade das verloren haben, was dem Gebrauchtum, das sie üben, einst Bedeutung gab.
Ich zweifle nicht daran, dass einst auch sie die Wege finden werden, die nun wieder gangbar wurden, um bei den werkvertrauten Wissenden die alte Werk-Kunst zu erlernen, die allein erst ihrem Namen dann erneut Berechtigung verleihen kann.
Dies alles mußte ich vorerst erwähnen, weil es deutlichste Erwähnung fordert, will man nicht die üppige Phantastik weiter wuchern lassen, die aus frivol verstreuten Samen allerorten blüht und, ungehindert, giftigunheilvolle Früchte zeitigt.
Nun aber will ich hier zu Frauen und zu Männern reden, die vielleicht in stiller Ahnung zu ermessen wissen, was es heißen will, dass Werkeskundige erneut in dieser Zeit erstanden sind, die jetzt auf dem so lange schon verlassenen Werkplatz weiterbauen, auf dem in alten Zeiten kunstgeübte Maurer nach den Rissen hoher Wissender die ersten Säulen setzten zu der Erdenmenschheit höchstem Weihetempel. ‒ ‒ ‒
Ich will zu Menschen reden hier, die wohl den Bau des allgemeinen Tempels fördern wollen, auch wenn sie nicht sich selbst gerufen hören, auf dem Werkplatz, tätig und der Kunst beflissen, mitzubauen!
Es ist nicht nötig, dass sich jeder, der den Tempelbau in seiner unermeßlichen Bedeutung zu bewerten weiß, auch selbst zur Arbeit meldet, und jeder, der ihn fördern will, kann ihm in bester Weise dienen, wenn er zu seinem Teil die Arbeit an sich selbst zu leisten sucht, die wahrlich mancherlei von ihm verlangt, denn hier ist gleichsam jede Menschenseele „roher Stein”, der erst behauen werden muß, um einst dem Tempel eingefügt zu werden, und auch die Bauenden sind „Steinmetz, Stein und Meißelfür sich selbst...
In jedem einzelnen der „Steine” muß der Tempel vorgebildet werden, der nur erstehen kann, wenn er, in strengster „Maßgerechtigkeit”, nach Maß und Winkel aufgerichtet wird. ‒
Die Menschheit ist ‒ um hier im Gleichnis zu verbleiben ‒ wie ein großer Steinbruch, angelegt für diesen Tempelbau, den erst in fernsten Erdentagen einst die Kuppel überwölben wird ...
Nicht jeder Stein, der aus dem Steinbruch kommt, ist aber gleicher Art und gleicher Form und gleicher Größe! Doch jeder trägt verborgen in sich selbst die Werkform, die ihm werden kann, und erst wenn er nach dieser Werkform zubehauen wurde, kann sich entscheiden, wo er einzubauen ist. ‒ ‒
‒ Hier haben Jene zu entscheiden, die vormaleinst des Baues Risse gaben und auch heute wieder wachen über dem von ihnen selbst erneuerten Maurerwerk...
Die Bauenden, die werkgerecht „des Bauens und der Zierde” hohe Kunst erlernten, sind nur die treuen Diener nach dem Willen Derer, die sie bauen lehrten und zur Werkarbeit bestimmten.
Soll der Tempelbau nicht in sich selbst zusammenstürzen, so muß in seinen Mauern jeder Stein nach Schwere, Form und Größe seine baugerechte Stätte finden, die durch des Tempels planbewusste Baumeister allein gewiesen wird.
So darf hier jeder „rohe Stein”, der durch die Arbeit an sich selbst die ihm gemäße Formung sich erwirbt, wahrhaftig sicher sein, dass er zu seiner Zeit im Tempelbau an jene Stelle kommt, die ihm allein nur: ‒ an-gemessen ist.
Das gilt nicht minder von den Bauenden, wie von den vielen Andern, die zwar nicht am Bau ein zugewiesen Werk verrichten müssen, aber sich in aller Stille aus dem „rohen Stein” hervor zu formen wussten.
Es wird sich aber jeder bei den Bauenden stets Rat erbitten können, wie er am besten seine Formung sich erwerben soll, denn wahrlich wissen diese werkgerechten Maurer ihm zu helfen!
Jeder, der guten Willens ist, und das Seinige beizutragen sucht um den Tempelbau zu fördern, gehört im Geiste auf reingeistige Weise der Bauhütte an, auch wenn er nicht als Kunstbeflissener mit Hammer, Kelle und Senkblei an der Arbeit steht. ‒ ‒
Von solcher Zugehörigkeit im Reich des wesenhaften reinen Geistes, wird auch in gleicher Art die Frau umschlossen, sofern sie ihren Willen dem der Bauenden bewußt vereint, auch wenn sie nicht in einer wahren Ehe hier auf Erden eines echten Maurers Erdenleben teilen kann.
Es wird ihr dann vom Geiste her zuteil, was sie benötigt, um sich selbst zum werkgerechten Stein zu formen, und geistig fließen ihr die Segenskräfte zu, die aus der Werkarbeit der Bauenden entströmen. ‒
Wenn ich einst sagte, dass da jegliche „Gemeinde” nur den Leichenzug ihres toten Glaubens bilde, ‒ so muß ich nun hier in erneuter Bekräftigung dieser Worte auch aufs Deutlichste betonen, wie die Vieleinheit in maurerischer Bruderschaft das denkbar ausgeprägteste Gegenbeispiel zu aller „Gemeinde”-Formung bildet! ‒ ‒
Von der Welt des wesenhaften, reinen Geistes her betrachtet ist die Anhäufung von Menschenseelen zur „Gemeinde” nur verzeihliche Folge erdenhafter Ängste, und bedingt durch tiertriebhafte Sicherungsinstinkte, ‒ oft nicht mehr ganz der Würde des zum reinen Geiste Strebenden vereinbar, ja für manchen gar ein arges Hindernis, ‒ während die Brudereinung, die einst Urmaurer hier auf Erden zur Erscheinung brachten, und die in diesen Tagen neu erstand, vom ewigen Geiste her gefordert wird, als ihm gemäße Art der geistig-menschlichen Gemeinsamkeit. ‒ ‒ ‒
Entsteht „Gemeinde” immer dort, wo atavistisch eingefleischter Herdentrieb die Einzelnen zusammendrängt, so bildet die freie Einung werkwissend bauender, wahrer Maurer ‒ und auch der ihnen geistgeeinten Förderer des Tempelbaues ‒ gleichsam eine geistig berechtigte Ritterschaft, ‒ den einzigen „Adel”, der vor dem Königtum des Geistes gilt, und ewig gelten wird. ‒ ‒ ‒
Es gilt aber hier auch die Sprichwortwahrheit, dass „Adel verpflichtet”, ‒ und wer solche innerste Verpflichtung noch nicht in sich fühlt, der bleibe lieber der Werkhütte fern, ‒ ja er bleibe ihr auch geistig fern, und wähne nicht, als Förderer sei er aller Pflicht entbunden!
Es ist besser für ihn: er wird erst nach dieser Erdenzeit zu seiner kubisch-winkelrechten Form gestaltet, ‒ in jener Zeit, da er sich selbst nicht mehr gestalten kann, da ihm das Werkzeug fehlt, ‒ ‒ als wenn ihn hier bereits in seinem Erdenleben, die Baumeister des Tempels wieder aus dem Mauerwerk entfernen müßten, als einen „toten” unbrauchbaren Stein ‒ ‒ ‒ ‒
Der Tempel duldet nur, was leuchtend werden will, denn was hier scheinbar in der Zeitlichkeit geschieht, ist ewigliches Werk der Ewigkeit, und was der Mensch davon vorerst gewahrt, ist nur das Wenige, das er in zeitlich-irdischer Beschränkung fassen kann. ‒ ‒
Will nun ein Mensch des Tempels „Maßgerechtigkeit” erkennen, so wie der „Eckstein” sie gebietet, der, den Kundigen bekannt, im Fundamente ruht, so wird er jenes hehre Bauglied suchen müssen, das nach Außen Ausdruck Allerinnerstem verleiht.
Wenn dieser Mensch sich selbst bereits berechtigt hat zum Finden, so wird sein Suchen ihn zur Säule führen, die, fest auf dieser Erde Boden stehend, ‒ ragend ‒ tragend ‒ sich erhebt um aufzunehmen, was von oben sich auf sie herniedersenkt, ‒ Last und erhabene Krönung zugleich!
Das innerste Mysterium des Tempels zeigt sich hier der Vorahnung von ferne, ‒ auch wenn es erst dann zu erleben ist, wenn der Mensch, als „Baustein” eingefügt, mit seinem ganzen Sein ein Teil des Tempels wurde, ‒ auf ewig leuchtend im lebendigen Licht! ‒ ‒ ‒
Ein verschütteter Tempel
(Freie Maurerei)
‒ Älter als jede der bekannten Religionen, ‒ alt wie die ältesten Zeichen menschlicher Kultur, die auf diesem Erdball aufzufinden sind, ist die ursprüngliche Freie Maurerei: die Priestergemeinde derer, die des „Bauens” kundig, die der „Kunst” mächtig sind, auch wenn sie jeweils sich unter anderem Namen verborgen hielt.
Die Hiram‑Legende heutiger Logen könnte ein jüngeres Datum ihrer Begründung vermuten lassen und die heutige Bezeichnung des Bruderbundes würde ihm gar nur ein Alter von zweihundert Jahren zugestehen, aber in Wahrheit reicht die echte alte Maurerei in jene Erdenzeit zurück, da die ersten der Leuchtenden des Urlichtes auf dieser Erde wirkten und sich ihre Helfer schufen unter denen, die zu ihrer Zeit die Erde trug...
Nichts anderes waren die allerersten wahren „Maurer” als solche Helfer jener Wenigen, die den in das „Tier” gefallenen Geistesmenschen wieder zu retten suchten und um diese Rettung durchzuführen sich eine Helferschar erzogen, die auf Erden weitergab, was sie an Geistigem empfangen hatte.
Selbst „Künstler” im Sinne reinster Erkenntnis der Gesetze, die sich in aller „Kunst” der Erde widerspiegeln, hatten die ersten Leuchtenden kein besseres Mittel zur Verfügung, wollten sie sich Helfer schaffen, als die dafür tauglichen Menschen mit den Gesetzen der Kunst, die zugleich faßbarste Form der Gesetze des Geistes sind, vertraut zu machen.
So kommt es, dass die ältesten Werke der Kunst auf dieser Erde dem Kundigen heute noch zeigen können, dass ihre Schöpfer auch der Gesetze des Geistes vollbewußt geschaffen hatten, dass sie wahrhaft geheimer Weisheit ergebene priesterliche Künstler waren. ‒ ‒
Die Tempelbauten und Paläste Babylons, die Burgen der minoischen Zeit, die Pyramiden Ägyptens und seine Tempel kündigen solche Künstlerschaft nicht minder als der Parthenon. Die lichten Tempel der Griechen und Römer, die Basiliken der Christenheit und später ihre hohen Dome, ja noch die ganze Kunst der Renaissance, bilden ihres Wirkens Zeugnis.
Da ist nichts zu finden, das nicht zum mindesten doch ihre Spuren noch zeigen würde, und Vieles, das ihre geistige Erkenntnis in Maß und Rhythmus wahrhaft herrlich heute noch bezeugt. ‒ ‒ ‒
Erst nach der letzten Kunstperiode geriet die uralte Priesterkunst der Wissenden und wahrhaften freien Maurer fast völlig in Verfall.
Aus ihren Bauhütten rettete sich ‒ dem Äußeren nach noch bis auf unsere Zeit ‒ was eben noch zu retten war...
Viel war es wahrlich nicht mehr. ‒ ‒ ‐
Im Altertum waren diese Priesterkünstler, diese freien Maurer, vielfach noch weit in geschichtliche Zeit hinein, auch die offiziellen Priester der jeweilig gepflegten höchsten Kulte, ja selbst noch in christlicher Zeit verbanden viele aus ihnen ihre Kunst dem Priestertum.
Stets aber wurden sie auch wieder von Zeit zu Zeit durch Unberufene, die sich in ihre Reihen schlichen und das Priestertum nur als Mittel: Macht und Willkür auszuüben, wählten, aus dem dann herrschenden Priesterkreis verdrängt, schieden auch freiwillig, angewidert von dem, was sie um sich her gewahrten, aus der Priesterschaft aus, so dass sie für ihre Umwelt nur noch als freie Künstler galten.
Im Geheimen aber übten sie, die wahrlich ihrer Priesterschaft Bewussten, nach wie vor den Dienst am Heiligtum nach ältestem Gebrauch. ‒
Dies wiederholte sich schon immer wieder innerhalb der Kulte der alten Welt, bis schließlich dann das erstarkende Christentum einen besseren Schutz zu gewähren schien.
Je mehr aber die nun zur Herrschaft gelangte Hierarchie, die ihren ganzen Aufbau der freien Maurerei verdankte, der Scheiterhaufen Flammen lodern ließ, desto mehr mußte die geheime Künstler‑Priesterschaft der freien Maurer nach Symbolen und Formen suchen, die es ihr möglich machen konnten, ihre heiligen Riten auszuüben, ohne dies Tun als priesterliche Übung zu verraten. ‒
So kam denn allmählich alles das als Form und Gebrauchtum in die „Logen”, was man zwar heute noch bewahrt, was aber schon Jene nicht mehr sachlich zu deuten wussten, die aus den Resten der alten Werkmaurerei vor zweihundert Jahren das neue symbolische Maurertum erstehen ließen.
Nur auf diese Art war man leidlich sicher, nicht sein wahres priesterliches Wirken zu verraten.
Nur so ward älteste geheime Weisheit mitteilbar, ohne als das erkannt zu werden, was Unverstand und enger Zelotismus mit Folter und Henkerbeil zu vernichten strebten.
Man barg sich in die Form der Zünfte, die ja Zunftlegenden und geheime Kennzeichen besaßen, die manche sonderliche Seltsamkeit sich wahrten, auf die der hohen Herren herrschender Priesterschaft sonst so listiges Auge lächelnd niederblickte, und so war man ‒ gerettet. ‒ ‒ ‒
Urälteste freie Maurerei war jedoch anders geartet:
Hier soll sie nun, ohne der Wandlungen in der Zeiten Lauf zu achten, in ihrer echten Form ans Licht gehoben werden.
Soweit ich mich etwa erst später entstandener Worte bediene, geschieht dies nur zur Verdeutlichung.
Auch vergesse man nicht, was ich schon vordem sagte: ‒ dass die Schöpfer der Form der römischen Priesterhierarchie des Christentums, sowie die Schöpfer ursprünglichen kirchlichen Kultes noch wirkliche freie Maurer, Künstler der königlichen Kunst, Priester der höchsten Weisheit waren, die sich in jedem Kult, den sie durchdringen kann mit ihrem Licht, zu verherrlichen weiß.
Man wolle aber wahrlich vergessen, was alles sich heute „freie Maurer” nennt, ‒ und wolle ebenso der törichten Forschung hier entraten, die nur von außen her der Loge Geschichte zu verstehen sucht.
Nur wer auf Allerinnerstes in diesen Dingen sich verläßt, wird nicht verlassen sein!
Der Tempel aller freien Maurer aller Zeiten ist zu tief im Geistigen gegründet, als dass die äußere Geschichte seines Baues jemals seine Fundamente offenbaren könnte....
Uroberste Instanz der Loge seit ihrem Bestehen in der Welt der Sichtbarkeit: ihr Ausgangsort, waren stets jene hohen Brüder der Lichtgemeinschaft der „Leuchtenden”, die einst ihre Kunst jenen ersten Helfern lehrten und so sie zu freien Maurern am geistigen Tempel bereiteten.
Höchste Leitung lag in eines Leuchtenden Hand, der sich zu solcher Leitung berufen fand durch seine hohen Brüder.
Eines unsichtbaren Reiches ewiger König, ‒ Hoherpriester in Ewigkeit, ‒ der Kunst Kundiger, ‒ „Pontifex maximus” ‒ Brückenbauer und auch Fährmann zugleich, ‒ war dieser Leuchtende das Licht der Loge.
Von ihm gingen alle hohen Weihen aus!
Er gab Vollmacht zur Weihe, gab Gesetz und Norm, er band und löste!
Von ihm aus wurden Ströme lebendigen Wassers durch die Loge in die Welt geleitet.
Wie aber war die Loge auferbaut?:
Hier, O Neuling und wenn du auch aller „Geschichte” Durchforscher sein magst, wirst du „anderes” hören, als was die bisher dir zugängliche Kunde zu berichten wusste....
Die urälteste Loge priesterlicher Künstler, die Ur‑Loge aller freien Maurer, umfaßte nicht mehr und nicht weniger als sieben wohlgeordnete Grade.
Wer durch Art, Begabung und Tat als würdig gelten mochte, der Loge Glied zu werden, der fand für sich den ersten Grad bereit: den Grad der Neophyten oder Katechumenen. Du kannst ihn noch erkennen in dem Lehrlingsgrad der „Blauen” Logen.
Hatte er sich in diesem Grade dann wohl bewährt und zuletzt eine strenge Prüfung gut bestanden, so gab man ihm den zweiten Grad: den Grad eines bereits Belehrten, eines Gläubigen oder Mitarbeiters. Die Benennung des Grades kommt hier nicht in Betracht, da sie vielfach wechselt. Die heutige Zeit nennt ihn den „Gesellengrad”.
Auch hier bewährt befunden und strenger Prüfung standhaltend, fand er den dritten Grad: den Grad des Mysten. Du findest ihn wieder in dem Meistergrade der heutigen Maurerei. Diese drei Grade bildeten den Konvent der Laienbrüder.
Viele Glieder der freien Maurerei blieben im Grade des Laienbruders ihr Leben lang, viele wurden aber auch für reif befunden, höher emporzusteigen zu den Priestergraden.
Der vierte Grad war bereits der eines Priesters und ihm folgten die beiden höheren: der fünfte und sechste Grad, zu deren Weihe man nur nach langjähriger strenger Prüfung endlich gelangen konnte.
Für jeden höheren Grad wurde eine strengere Prüfung, eine längere Bewährungszeit gefordert.
Die strenge Auslese bewirkte, dass die Zahl der Inhaber eines Grades sich mit jedem höheren Grad bedeutend verringerte.
War der Laienkonvent noch sehr zahlreich, so standen ihm dagegen verhältnismäßig weniger Priester gegenüber und die höchsten Priestergrade wurden nur von sehr wenigen erlangt: am seltensten der „sechste” Grad. ‒ ‒ ‒
Von ihm aus führte dann ein seltener Weg von Zeit zu Zeit einen besonders würdigen Inhaber dieses Grades auch empor zum höchsten, dem siebenten Grad, den stets nur ein einziger unter den Lebenden hier auf Erden innehaben kann, ‒ dem Grad des Patriarchen, des Vaters der „Väter”, mit welch letzterem Namen alle Priester‑Grade bezeichnet wurden.
Er stand nun in steter Verbindung mit dem hohen Leuchtenden, der die Loge aus der Gemeinschaft der Lichtgeeinten leitete durch ihn.
Von diesem Leuchtenden allein konnte er seine Weihe empfangen und ihm nur war er geistig verpflichtet.
Dieser eine des siebenten Grades ward stets von allen Brüdern der Erde hoch geehrt, und von ihm aus gingen die Strahlen geistigen Lichtes, die ihm der Leuchtende, der Meister der „Weißen Loge” sandte, weithin über die ganze Erde, soweit irgendwo die Loge wirkte.
Er allein konnte die Weihe für den sechsten Grad erteilen.
Der durch ihn geweihte Inhaber des sechsten Grades aber erhielt durch ihn die Vollmacht, die Weihe des fünften und des vierten Grades zu erteilen, während sodann dem vierten Grad die Befugnis wurde, die drei ersten oder Laiengrade zu verleihen.
So war das ganze Gebäude dieser Hierarchie priesterlicher Künstler und wahrhaft freier Maurer am geistigen Tempelbau der Menschheit in sich selbst gefestigt und jeder Baustein konnte sicher auf dem anderen ruhen.
Freiwillige Unterordnung der niederen Grade war durch die Wahrnehmung begründet, dass der höhere Grad auch tatsächlich höhere Einsicht in den Plan des Tempelbaues besaß und die Gesetze der Kunst vollkommener verstand.
Jedes Höherschreiten war auf das Sicherste jeweils durch einen „Kanon” geregelt, so dass nur der wirklich Erprobte die Beförderung erlangen konnte.
Für die drei unteren oder Laiengrade kannte diesen Kanon nur der vierte Grad.
Für den vierten und fünften war er nur dem sechsten Grad bekannt.
Den Kanon für den sechsten Grad aber kannte nur der Inhaber des höchsten, des siebenten Grades, der wieder nur durch den Leuchtenden des Urlichtes, der durch ihn die Loge leitete, die hohe Weihe seines Grades empfing.
Für jeden Grad bestand ein besonderer Tempeldienst und besondere Kunstverpflichtung oder Arbeitszuteilung.
Um jede irrtümliche Auffassung dieser Darstellung zu vermeiden, betone ich nochmals, dass die von mir hier gebrauchten Namen und Bezeichnungen nur der Verständlichung dienen sollen, denn es ist die Sache selbst, deren Aufbau gezeigt werden soll, während die Namen stetigem Wechsel je nach der Zeit und der Örtlichkeit des Wirkens unterlagen.
So wirkte denn die ursprüngliche freie Maurerei unter vielen Namen segensreich von Uranfang an, bis sie in den letzten Bauhütten dann ihr Ende fand, und die wenigen ihrer Anhänger, die noch etwas von ihrer einstigen Würde ahnten, dazu trieb, einen „neuen” Anfang zu suchen.
Was aber dazumal begonnen wurde, hat nicht zu einer wahrhaftigen Erneuerung des Tempels geführt und konnte nicht dazu führen, da die Grundvoraussetzung fehlte, die Wiederherstellung der Verbindung mit dem ursprünglichen Ausgangspunkt der Maurerei.
Erst in neuerer Zeit wird diese Verbindung in aller Stille wieder erstrebt.
Es wird gewiß keine leichte Arbeit sein, die mannigfache Überbauung abzubrechen um zu den ersten Fundamenten zu gelangen, und manches eingestürztes Mauerwerk wird vorher fortzuräumen sein.
Dennoch kann sich die alte, echte, freie Maurerei, das alte Priestertum der Künstler, der Kundigen der Kunst des Bauens und der Zierde, aus seinem Schlafe zu wacher Tat erheben, um so wie einst der Menschheit ein Segen zu sein, obwohl der Name, den die Sache heute trägt, schon wahrlich viel von seinem guten Klang verlor. ‒
Es kommt bei dieser Erneuerung alles auf die mannhafte Tat, auf die Reinheit des Wollens und auf die Einsicht an, dass nur die ursprünglichen Fundamente noch verwendbar sind, soll nicht aufs neue in sich selbst zusammenstürzen, was man nun in bester Absicht neu errichten will. ‒
Nur auf den alten Fundamenten kann erneut der hehre Tempel erstehen, den Unkenntnis zerstört und in seinem eigenen Schutte begraben hat, so dass man seit Jahrhunderten aus diesem die Steine nahm um seltsamste Baugebilde auf den Trümmern kunstlos herzurichten, ohne Plan und Maßgerechtigkeit. ‒ ‒ ‒
Mehr denn je könnte die Menschheit heutiger Tage in ihrer schier grenzenlosen Verwirrung einen solchen priesterlichen Weltbund der des Bauens Kundigen gebrauchen!
Viel Vorurteil werden die Neuerer allerdings zu berichtigen haben, denn was heute noch den Namen der Sache trägt, hat gar wenig mit dem zu tun, aus dessen Zerfall es vor zweihundert Jahren ersprießte, um nach dem Willen seiner Neubegründer wenigstens noch jene Tugenden zu üben, die den alten, echten, freien Maurern heilig waren. ‒
Nicht als politischer Geheimbund, wie er sich in manchen Ländern etablierte, nicht als humanitäre Bankettgesellschaft mit absonderlichen Bräuchen und nicht als theosophisch-okkultistischer Verein wird die wahre echte freie Maurerei aufs neue erstehen können, sondern nur durch die bewußt geübte Einstellung aller ihrer Glieder auf das Hochziel reiner Geisteserkenntnis und eines aus solchem Erkennen strömenden Lebens nach höchstem geistigen Gesetz!
Dann werden viele der alten Gebräuche fallen können, an die man sich jetzt noch ängstlich zu klammern müssen meint, da sie nur aus der Not einer unduldsamen Vorzeit sich erklären, und heute weder nötig, noch dem Werke förderlich sind.
Hingegen wird man aber einen Tempeldienst aufs neue einzurichten haben, der in erhebender Symbolik höchste Geistesweisheit, die in Worten unaussprechlich bleibt, der Seele nahe bringt, und wenn einst jene priesterlichen Künstler ihr Erkennen in die Werke ihrer Hände fließen ließen, so wird der freie Maurer künftiger Tage ebenso zum „Künstler” werden müssen, danach trachtend, dass alles, was sein Beruf von ihm verlangt, ‒ was immer er schaffend ins Leben treten läßt oder sonstwie bewirkt, ‒ zum offenbaren Zeugnis seines hohen geistigen Erkennens werden. ‒ ‒ ‒
In seiner Volksgemeinschaft sicher wurzelnd, wird er für den Bruder, der aus einem anderen Volke stammt, aus eigenstem Empfinden tiefstes Verständnis gewinnen, und nie kann ihm die Liebe, die ihn seinem Stamm verbindet, zum Anlaß des Hasses gegen fremde Stämme werden.
So wird ein Weltbund freier Maurer, der den Tempel neu auf seinen echten Fundamenten aufzubauen unternimmt, wahrlich ein Anderes sein als alles, was noch in diesen Tagen sich mit gleichem Namen nennt! ‒
Hier kennt man genugsam die Werke und weiß ja leider, dass längs tot und kalten Herzens ist, was noch den Namen führt, als ob es lebe....
Töricht aber wäre es zu glauben, dass ein entehrter Name auch für alle Zeit das große Werk entehren könne, das dieser Name zu bezeichnen fähig ist.
Wenn kommende Geschlechter jene großen, echten, freien Maurer neu erstehen sehen werden, die mein Geist vor sich erblickt, dann wird man meine Worte einst zu segnen wissen und mehr noch wird man jene segnen, die ich kommen sehe als ritterliche Streiter wider alle Torheit und Verblendung und als die Priester einer neuen Zeit..
Nichts liegt mir ferner als „Prophetengeste”, allein ich weiß, dass wir im Dämmergrund eines neuen Tages liegen, dass aller Albdruck, der uns heute noch bedrückt, in wenig „Weltenstunden” schon der Sonne weicht ‒ und da ich solches weiß, heißt mich die Liebe reden, um denen, die gleich mir das Dunkel dieser Zeit ertragen, den neuen Tag zu künden. ‒
In jenes neuen Tages Licht wird auch der Tempel endlich sich erheben, den seit Jahrhunderten die echten freien Maurer zu errichten suchten auf den Fundamenten, die im Felsengrund der Ewigkeit verankert sind, und dann erst wird man die Geschichte der Kultur des Menschen auf der Erde endlich deuten können, wird Wahn und Wahrheit dauernd wie die Spreu vom Weizen sondern! ‒ ‒
Signatur
Wahrheit
(Bô Yin Râ`s Beitrag zur E.B.D.A.R.)
Dass man sich, ‒ durch sein Schaffen und Werk in der Öffentlichkeit bekannt geworden, ‒ auch auf allerlei Verunglimpfung gefasst machen muss, gilt besonders dann, wenn man auf dem Gebiet seines geistigen Schaffens zum Tempelreiniger wurde, dadurch dass man vor aller Augen aufzeigte, wieviel Aberglaube, Selbstbetrügertum, und Spekulation auf die Börse der Allzuleichtgläubigen sich auch in der heutigen, vermeintlich so nüchtern abwägenden Zeit doch noch in Bezirken festgenistet zeigt, die ihm längst verwehrt sein sollten.
So war ich denn gewiss noch niemals darüber erstaunt, wenn die Teilnehmer an dem „Okkultistischen Karneval”, die ich (nebenbei auch unter diesem Titel) etwas deutlicher beleuchtet hatte als es ihren mühelosen Geschäften dienlich sein konnte, sich immer dadurch zu salvieren suchten, dass sie innerhalb Deutschlands, das hier seit vielen Jahren ja nur allein in Frage kam, alle Kreise zu denen sie direkt oder indirekt die gerade verlangte politische Beziehung fanden, mit den abenteuerlichsten Behauptungen hinsichtlich meiner Person infiltrierten, um nur ja des lukrativen Arbeitsfeldes nicht verlustig zu gehen, das ihnen auch weiterhin leicht zu behebende Gewinne bot, wenn es ihnen nur gelang, den ihnen unbehaglichsten Kenner ihres volkswirtschaftlich so schädigenden Treibens, an Stellen, die gerade jeweils den besten Schutz verhießen, als suspekt erscheinen zu lassen. Neuerdings hat man nun zu besagtem Zweck eine „Sekte” erdacht, der ich angehören solle, und zum vorgeblichen „Beweis” jede nur mögliche Missdeutung aufgeboten.
Wahr ist jedoch, dass mir lebenslang nichts ferner lag als alles, was nach „Sekte” oder „Geheimer Gesellschaft” aussah.
Wahr ist vielmehr, dass ich, weit von allen solchen Dingen fern, einer Vereinigung ausschließlich religiös eingestellter Gottsucher, die eine dogmenfreie, nur im inneren Erkennen des Menschen wurzelnde Religiosität erstrebte, ausdrücklich erbetene psychophysische Ratschläge erteilte, die ich schließlich in einem Buchmanuskript unter dem Titel „Ritualienbuch” zusammenfasste, zu dessen Gebrauch ich die kleine Gesellschaft allein ermächtigte, da das Manuskript ja mein geistiges Eigentum ist und bleibt, und ich es nur von Menschen, denen ich eine richtige Verwendung zutrauen konnte, gebraucht sehen wollte. Ich erkläre in diesem Buche ‒ das ich bisher nur als Manuskript vervielfältigen ließ, weil es nun einmal nur für Männer allein und primär nur für den besagten engen Kreis den ich zu seinem Gebrauch ermächtigte, bestimmt ist ‒ eine Anzahl der bereits lange vor meiner Kenntnis von dem Bestehen eines in solcher Richtung seelisch suchenden Kreises, in meinen frühesten Schriften schon unter anderem besprochenen alten Riten der mittelalterlichen Dombauhütten-Bruderschaften und vorangegangenen antiken, ebenfalls auf einer dogmenfreien Erkenntnis fußenden Tempelbauwerkstätten, deren letzte, wenige und teilweise schon sehr korrumpierte Reste von der 1717 in England entstandenen „Freimaurerei” zwar für sich in Anspruch genommen und unter Heranziehung sehr fremder Vorstellungen, in damals neuer Art, unter Benützung alttestamentlicher Namen etc. symbolisch benützt worden waren, aber sonst auch rein gar nichts mit der nun in Deutschland verbotenen Institution der „Freimaurerei” wie man sie dort präzise zu verstehen meint und definiert, zu tun haben.
Es wäre hingegen gewiss zulässig, von den durch mich auf Grund geistiger Einsichten rekonstruierten alten Dombauhüttenriten, ‒ also von der mystischen traditionellen Bauhüttenpraxis, die wahrhaftig ein Erbe aus der Urzeit ist, ‒ gleichsam als von einer, der „Freimaurerei” tatsächlich von sich aus unzugänglichen und in jeder Hinsicht fremden „Ur”‑Maurerei zu sprechen, was ich auch in Erläuterungen und Hinweisen den allein durch mich mit diesen alten Riten Bedachten gegenüber absichtlich ausgesprochen habe, um damit die sachlich und psychotechnisch durchaus gegebene entscheidende Andersartigkeit gegenüber der Institution die sich „Freimaurerei” nennt, auf deutlichste Art zu betonen. Was viele nach seelischer Gewissheit allein strebende Naturen in der Freimaurerei vergeblich zu finden hofften, hätten sie in dem von mir beratenen kleinen Kreise wahrscheinlich gefunden.
Von dem Folgenden zu sprechen, sehe ich mich leider nun verpflichtet, da es Anlass zu irrigem Urteil wurde, wo kein Verstehen vorausgesetzt werden konnte. Was also von mir erwähnt wird, hat keinerlei Ursache mehr, unerwähnt zu bleiben. Es gibt hier nichts, das nicht der hellsten Beleuchtung standhalten könnte!
Im Jahre 1921 (das genaue Datum ist mir entfallen, wie denn bekanntlich und von mir stets betont, auch späterhin diese ganze geistige Hilfe und Aufklärung des kleinen Gottsucher-Kreises nur „an der alleräußersten Peripherie” meiner geistigen Interessen lag) erreichte mich die erste Kenntnis vom Bestehen der dann später von mir zum Gebrauch meines „Ritualienbuches” ermächtigten, zahlenmäßig kaum nennenswerten Vereinigung, durch einen Brief ihres, wie ich später kontrollieren konnte, mystischer Versenkung sehr zugänglichen und dafür auch besonders begabten Gründers und Leiters. Die kleine Gruppe seelisch Suchender nannte sich damals ‒ auf Grund der altfranzösischen „Graal”-Sage: „Ordre du Saint Graal”, um sich deutlich von gewissen vulgärokkultistischen, sogenannten „Gralorden” zu unterscheiden.
Da ihr Leiter auf alle Fälle mystisch religiöses erkennendes Urteil genug hatte, um nach allgemeiner Lektüre meiner Schriften, soweit er sie gelesen hatte, zu wissen, dass, wenn irgend ein Mensch, so nur ich die alten Riten der Dombauhütten eruieren und zum Gebrauch der heutigen Zeit formen könne, war sein Anliegen lediglich, durch mich diese alten Riten mitgeteilt zu erhalten. Man darf nicht sagen, dass ich zu schnell zur Erfüllung dieses Wunsches bereit gewesen wäre. Volle anderthalb Jahre ließ ich den sehr aktiv veranlagten Mann, trotz allem Drängen und Bitten warten, um sicher zu sein, dass keinerlei andere Absichten ihn leiteten, außer seinem Verlangen nach einer methodischen Förderung seines eigenen seelischen Suchens und des seelischen Strebens der von ihm gegründeten kleinen Gesellschaft. Allerdings brauchte ich auch diese Zeit, um mir selber die nötigen geistigen Einblicke zu erwirken.
Da mir die Bezeichnung als „Orden” zu manchen vermeidbaren Irrtümern Anlass bieten schien, schlug ich bei der Überlassung des ersten Fragments der Riten (mehr hat er nie erhalten!) dem „Ordensgroßmeister” vor, seine Vereinigung doch lieber eindeutig als „Bruderschaft” zu bezeichnen, analog den konfessionell religiösen Bruderschaften und denen der alten Dombauhütten. Das geschah dann schließlich auch, aber romantische Neigungen des seiner Sache hingebend dienenden Mannes, der zwar im bürgerlichen Leben den prosaischen Beruf eines Zahnarztes erfolgreich ausübte, führten ihn zur Einführung vieler pompöser barocker Titel, Anreden, Formeln und Signaturen, die mit dem von mir Gegebenen nicht das allergeringste zu tun hatten. Er beschwor mich aber, ihn gewähren zu lassen, denn er war überzeugt, das alles sei, seiner Erfahrung nach, psychologisch nötig um den Einzelnen bei dem Bewusstsein zu erhalten, dass er sich mit Heiligem, Religiös-Weihevollem beschäftige. Da ich seinen Erfahrungen nichts aus eigener Praxis entgegenzusetzen hatte, ließ ich den wunderlichen Wünschen, denen ich nicht wehren konnte, ihren Lauf. So ist auch der Einfügung eines natürlich in jedem Punkte bis in das letzte Wort gesetzlich einwandfreien Aufnahme-„Eides” in das Zeremoniell, von mir entsprochen worden, da der offenbar Erfahrene nur dadurch die Gewähr dafür gegeben sah, dass mein geistiges Eigentum vor jeder Profanierung gesichert bleibe. Dass dieser „Eid” praktisch nichts anderes als eine jeweilig verwendete Aufnahmezeremonie war, und auch nicht im Traum etwa als „juristisch” gemeinte  „Vereidigung” betrachtet wurde, zeigte sich später deutlich genug! Ich konnte dem Wunsche um so eher entsprechen, als ich ja wie niemand sonst wusste, dass Antike und Mittelalter weitaus strengere Bindungen kannten, und dass tatsächlich kein anderes Motiv, außer vielleicht einem entschuldbaren Prestigebedürfnis, für die Aufnahme dieser Schweigeverpflichtung bestand. (In der Praxis hat die vermeintlich so gewisse Gewähr für das Vermeiden der Profanierung des Meinigen bei der ersten Probe prompt versagt!)
Die Folgezeit zeigte den ehemaligen „Großmeister” des früheren „Ordens” der nun auf meinen Wunsch hin: „Ermächtigte Bruderschaft der alten Riten” genannt worden war, (abgekürzt „E.B.D.A.R.”) so stark von romantischen Neigungen und einem Hang zu phantastischen Deutungen beherrscht, dass ich schon im Jahre 1925, oder gar schon eher ( ? ) die Absicht aussprach, meine Ermächtigung zum Gebrauch des Ritualienbuchfragmentes, als meines geistigen Eigentums, zurückzuziehen, was nur unterblieb, weil mir das gewiss ehrlich gemeinte Versprechen gegeben wurde, alles von mir Beanstandete aufzugeben. Zeitweise wurde das Versprechen auch sehr erfreulich eingehalten, aber fast Jahr um Jahr schien mir wieder die Zurückziehung der gegebenen Ermächtigung, mein geistiges Eigentum zu gebrauchen, fast zwingend nötig. Wenn ich trotzdem bis 1931 zuwartete, so geschah das in erster Linie deshalb, weil ich nun auch immer mehr und immer deutlicher sah, dass manchen im Geistigen besonders vorangekommenen Mitgliedern der „Bruderschaft” nun, nach ihrer Auffassung, der Boden unter den Füßen fortgezogen sein würde, wenn ich nicht doch noch, trotz allem Erfahrenen, die Ermächtigung bestehen lassen wolle.
Kurz bevor ich dann aber dennoch mich unaufschiebbar dazu gezwungen sah, sie dem Leiter der Bruderschaft zu entziehen, hatte ich schon meine ehedem erbetene geistige „Protektion”, die zwar jederzeit eindeutig nur segnendes Wohlwollen war, als äußere, allenfalls verkennbare Form zurückziehen müssen, nachdem ich erfahren hatte, dass der Gründer und Leiter der meinerseits immer von mir distanzierten Bruderschaft intern die Ansicht nährte, dass er zu einer töricht herrischen Behandlung mancher Mitglieder, die sich bei mir darüber beklagten, quasi ‒ meine, ihn deckende Zustimmung habe.
Mein Schreiben lautete, nach einem Durchschlag wiedergegeben, wie folgt: „Da mir unzählige Erfahrungen in einer Reihe von Jahren gezeigt haben, dass der Irrtum, als habe ich in irgend einer Weise Anteil an der Leitung der E.B.D.A.R. nicht aus der Welt zu schaffen ist, solange ich nominell das „Protektorat” innehabe, lege ich hierdurch, nach langewährender geistiger Prüfung der Angelegenheit, ebendieses „Protektorat” in aller Form nieder, so dass ich vom heutigen Tage an in keiner wie immer gearteten äußerlich persönlich bestimmten Beziehung zur E.B.D.A.R. stehe, und daher auch in Briefen ihrer Mitglieder an mich alle bisher von der Leitung angeordneten Anreden und dergleichen fortzufallen haben.
Dieser wohlerwogene Schritt schließt jedoch nicht aus, dass mir das weitere geistige Gedeihen der ehrwürdigen Bruderschaft überaus am Herzen liegt.
Wohl aber schließt er definitiv aus, dass mir von Mitgliedern der Bruderschaft irgendwelche interne Mitteilungen gemacht, Klagen vorgebracht, oder irgendwelche Dinge vorgelegt werden dürfen, die Angelegenheiten der E.B.D.A.R. als selbständiger, von mir ganz unabhängiger Vereinigung sind.
Ich bitte dringend darum, diese meine Mitteilung unverzüglich im Wortlaut allen höheren Funktionären der Bruderschaft vorzulegen, die ihrerseits wieder gebeten sind, jeden einzelnen Bruder von diesem Wortlaut zu verständigen.
Lugano‑Massagno, am 15. November 1931  ”
(Meine Unterschrift)
Ich gebe den streng genauen, durch meinen Notar und jede Amtsstelle kontrollierbaren Wortlaut dieses Briefes hier wieder, weil er besser als alles andere beweist, wie mein absolut freies Beziehungsverhältnis zu dem kleinen Kreise wirklich beschaffen war. Dass die Tonart meiner Briefe, der Form nach, ebensowohl auch einem größeren Kreise entsprochen haben würde, war Folge einer Höflichkeitskonzession meinerseits.
Es ist dem allenthalben angesehenen Manne an den dieser Brief gerichtet war, gewiss nicht leicht gefallen, mir das ihm seinerzeit zum Gebrauch in seiner Vereinigung überlassene Ritenfragment zurückzuerstatten, als ich ihm, noch vor Schluss des Jahres, wenn auch in der Form, die eine Bitte war, so schonend wie möglich, so doch endgültig, die Ermächtigung, mein geistiges Eigentum weiterhin zu benützen, entziehen musste. Während mir sein Verhalten zuerst auch aller Bewunderung wert erschien, versuchte er jedoch dann, mich kurze Zeit später zu einer erneuten Ermächtigung umzustimmen, welchen Bestrebungen es zu danken ist, dass der hierdurch veranlasste weitere kurze Briefwechsel schließlich mit einem Abbruch jeder Beziehung endete. Seitdem ist der betriebsame Mann meinem Gesichtskreis notwendigerweise entschwunden.
Nachdem ich es nunmehr nur noch mit den mir im Laufe der Zeit bekannt gewordenen zehn oder zwölf Mitgliedern der Bruderschaft zu tun hatte, darunter auch persönliche Freunde von mir waren, die sich, trotz meinen, ihnen bekannten Bedenken, doch dem kleinen Kreise, im Glauben an seine Entwicklungsfähigkeit angeschlossen hatten, wenn sie auch seinen Leiter zuweilen kritisch betrachteten, trat erst zutage, wie sehr selbstherrliches und geheimniskrämerndes, ihm aber offenbar angeborenes Verhalten des Gründers und bisherigen Leiters die Entwicklung der kleinen Vereinigung gehemmt hatte.
Es schien daher zuerst kaum möglich, die von den wenigen mir bekannten Mitgliedern erbetene Ermächtigung zum weiteren Gebrauch meines geistigen Eigentums, der ja stets unter meiner geistigen Verantwortung blieb, an einen „Nachfolger” zu übertragen, und ein bemühend umständlicher Briefwechsel ließ mich erkennen, dass man sich einesteils offenbar meiner, von mir als „conditio sine qua non” erklärten Verantwortlichkeit gegenüber nicht recht berufen fühlte, anderenteils aber auch über Form und Namen nicht ohne weiteres einig war, die nun fortan die Gemeinschaft ohne den gewohnten Leiter zusammenhalten und mir den rechten Gebrauch des Meinigen sichern sollten. Stets wieder um Rat gefragt, wusste ich auf dem mir an sich fremden Gebiet der vielleicht möglichen vereinsrechtlichen Formen kaum noch irgendwie Rat zu bieten, bis ich schließlich sah, dass man auch hoffte, mich selbst als Leiter zu gewinnen, was gänzlich ausgeschlossen war. Erstens standen solcher Hoffnung meine eigenen geistigen Pflichten im Wege, die mir absolute Isolation im Interesse meines „Dienstes an der seelischen Erkenntnis meiner Mitmenschen” ungeschrieben vorschreiben, und zweitens ist es, auch ganz von diesen unlösbar bindenden Pflichten abgesehen, nicht meine Aufgabe, irgend eine religiöse Gruppe, oder eine ähnliche „Institution”, wie sie sich auch nennen möge, zu leiten, sondern meine alleinige, jetzt seit kurzem erfüllte Lebensaufgabe bestand einzig darin, nach Maßgabe meiner Kräfte, mein öffentlich erschienenes schriftliches Lehrwerk zustande zu bringen, das nun abgeschlossen vorliegt.
Um allen Weiterungen ein Ende zu bereiten, sah ich nach langem Zögern, aber im Willen, der kleinen Gemeinschaft so wie es mir möglich war zu helfen, mich veranlasst, ihr in dem nun vorliegenden „Ritualienbuch” die Gesamtheit der mir auf geistige Weise erfahrbar gewordenen alten Bruderschaftsriten der ehemaligen Dombauhütten und antiken Tempelbauwerkstätten in solcher Form darzustellen und zu erklären, dass weitere Ratschläge von meiner Seite her fortan definitiv unnötig wurden.
Um auch der Gefahr einer erneuten Zentralisation zu wehren, knüpfte ich zuletzt die Ermächtigung, mein geistiges Eigentum, soweit es in meinem, „Ritualienbuch” gegeben ist, zu gebrauchen, vorsorglich an die Bedingung, dass jede örtliche kleine Einzelgruppe (es handelte sich um verschwindend wenige) sich nur der Leitung eines auch von mir für geeignet befundenen Vorstehers anvertrauen möge, und dass alle Mitglieder eines Landes sich durch einen eigenen jeweiligen Landesvorsteher leiten lassen sollten. So war mir auch alle Garantie gegeben, dass niemals irgend eine unstatthafte Beeinflussung einer Gruppe, ‒ von außerhalb der in betracht kommenden Landesgrenzen her, ‒ in Erscheinung treten könne.
Meine Bezeichnung der mir tauglich erscheinenden Orts- und Landesvorsteher erfolgte ein einzigesmal, ‒ bei Erteilung der Ermächtigung, ‒ wonach dann jeder dieser, mein Vertrauen besitzenden Männer seinen Nachfolger selbst zu bestimmen hatte und hat, und ebenso weitere Vorsteher einsetzen kann, solange die E.B.D.A.R. irgendwo gesetzlich besteht. Es handelte sich also lediglich um die Wahrung wohlberechtigter Interessen an meinem geistigen Eigentum, das ich auch der winzigsten Gruppe nicht bedingungslos zum Gebrauch überlassen konnte.
Die vormals so zahlreichen Formeln, Signaturen, Titel und Anreden schaltete ich nun bis auf verschwindend wenige, anscheinend nötige Reste aus, oder ersetzte sie durch Besseres, dem ich eine rein geistige Verankerung gab. Eine solche bestand schon für die Ermächtigung. Doch, da das für alle, die es nicht selbst am eigenen Leibe und in eigener Seele erprobt haben, lediglich und bestenfalls nur „Glaubenssache” sein kann, gehört eine weitere Erörterung gewiss nicht hierher! Alles was man in dieser Beziehung zu wissen wünscht, kann in meinem vor aller Öffentlichkeit von 1913 an im Buchhandel erschienenen, und 1936 abgeschlossenen, bekannten geistigen Lehrwerk, das in aller Welt, ‒ auch weit außerhalb Europas und europäischer Glaubensbezirke, ‒ seine glücklichen Freunde und Schüler hat, leicht nachgelesen werden.
Dass ich in meinem geistigen Lehrwerke zu allen Menschen, ‒ Männern wie Frauen, ‒ spreche, während mein „Ritualienbuch” (das übrigens keineswegs in mein geistiges offenbarendes Lehrwerk aufgenommen ist!) sich nur an Männer wendet, darf nicht, aus Unkenntnis psychophysisch bestimmter Dinge, zu falschen Schlüssen verführen.
Es hat die gleichen Gründe, die, ‒ wenn sie auch heutigentages zwar den priesterlichen Vertretern der hier in Frage kommenden Religionen nur in den seltensten Fällen noch wirklich bekannt sind, ‒ dazu führten, dass dem Manne, von den indischen früharischen Brahmanen bis zur so viel späteren römisch-katholischen Kirche, eine von den Heutigen kaum noch geahnte priesterliche Stellung vorbehalten ist, die ein weiblicher Mensch, so sehr er das auch in seiner Unkenntnis bedauern mag, aus psychophysiologischen Gründen ebensowenig ausfüllen kann, wie ein männlicher Mensch gebären könnte. Auch noch in dem von Indien her bis heute stark beeinflussten, auf den Buddhismus bezogenen Lamaismus Tibets ist jeder „Hermaphrodit oder Transvestit” von der Aufnahme in den Kreis der Kleriker ausgeschlossen und der zu höchster Ordination gelangende Mönch muss vorher erst noch feierlich bestätigen, dass er wirklich physisch ein vollwertiger „Mann” sei. Vor dem Chor der Mönche wird er darüber nochmals beschwörend befragt...
(Siehe neuerdings Dr. Wilhelm Filchner: „Kumbum Dschamba Ling”, Verlag Brockhaus, sowie Univ. Prof. Dr. Robert Bleichsteiner: „Die gelbe Kirche”, Wien 1936)
Selbst in solchen Nachklängen handelt es sich noch um Dinge, die dem an seine Tierheit gefesselten Menschen schier unfassbar sind, denn das alles bezieht sich ursprünglich auf wirkliche geistig Eingeweihte höchster Mysterienkulte des ältesten Altertums.
Es wird sich aber wohl niemand nun unter Mitgliedern der „E.B.D.A.R.” etwa wirkliche „Eingeweihte”, also „Initiierte” im Sinne antiker Mysterien, wie sie noch in Delphi, Eleusis und an anderen Orten begangen wurden, vorstellen wollen, ‒ aber die von mir eruierten alten Riten, die ich den Mitgliedern der genannten kleinen Bruderschaft in meiner Bearbeitung überließ, sind in Wahrheit ursprünglich das Werk wirklicher Eingeweihter in höchste, aller zeitlichen Meinung entrückte Mysterien ewigen geistigen Lebens!
Ich kann an diesen Tatsachen auch nicht das geringste ändern. Ich kann nur misstrauischen Gemütern bestätigen, dass allen Mitgliedern der „E.B.D.A.R.” die Einehe im hohen Sinne meines Buches „Die Ehe” eindringlichst angeraten ist. Jegliche sexuelle Perversität schließt natürlich unerbittlich von jeder Teilnahme an den alten heiligen Riten der Dombauhütten-Bruderschaften aus! Es ist beklagenswert, dass man so Selbstverständliches erst noch sagen muss, doch scheint es leider nötig zu sein. Aus gleichen Gründen schließe ich diese Denkschrift mit der ausdrücklichen Feststellung, dass mein geistiges Lehrwerk allein für Männer wie Frauen maßgebend ist, ‒ die „E.B.D.A.R.” jedoch einen daneben möglichen Sonderfall darstellt, den aber dieses Lehrwerk keineswegs etwa irgendwie umfasst.
Ich habe niemals auch nur entfernt daran gedacht, Menschen, die sich für die in ihrem Wesen urgeschichtlich alten Riten der Dombauhüttenbruderschaften interessieren würden, zu begegnen. Noch weniger wäre es mir in den Sinn gekommen, dass ich, als der ewigkeitsverpflichtete Gestalter des der Welt meiner Zeit und ihrer Zukunft gegebenen Lehrwerkes, einer kleinen Menschengruppe in meinen Tagen die alten Riten einstens restaurieren würde, die längstvergangene Zeiten ihren, allen Glaubensmeinungen hoch überlegenen, wahrhaftig im Geiste „geweihten” Laienpriestern gegeben hatten, in deren erhabenen Kreis ehedem selbst höchste weltliche Fürsten und geistliche Würdenträger aller Grade Zutritt zu erlangen suchten. Schwer hält es jedoch, keine Satire zu schreiben, wenn man sieht, dass offenbar allen Ernstes für möglich gehalten wird, ich sei der Mann dazu, mich einer „Sekte” anzuschließen oder mir eine ergebene „Organisation” irgendwo auf dieser Welt zu schaffen.
Was ist die E.B.D.A.R.?
von Hr. Erni unter Benützung eines Briefes
von Bô Yin Râ vom 05.05.1933
EBDAR ist die Abkürzung für „Ermächtigte Bruderschaft der alten Riten”. Sie ist eine internationale Bruderschaft, die sich in geistig-menschlicher Gemeinsamkeit um die eigene und gemeinsame seelische Entfaltung im Sinne der antiken Mysterienschulen und der späteren mittelalterlichen Dombauhütten bemüht.
Im Mittelpunkt ihrer Arbeit an der Entfaltung des inneren Menschen steht der von Bô Yin Râ gegebene Meditations-Zyklus, der in sieben Graden (drei Graden des Lehrenehmens und vier Verdienstgrade) bearbeitet wird. Bô Yin Râ war weder Gründer noch Mitglied der EBDAR, übernahm jedoch vorübergehend das Protektorat der zahlenmäßig kleinen Bruderschaft, die er zum ausschließlichen Gebrauch der von ihm gegebenen Anweisungen ermächtigt hat.
Die EBDAR ist eine, durch den Willen und die freie Verpflichtung Einzelner gebildete geistliche Gemeinsamkeit von Männern, die sich nach einer uralten, von Bô Yin Râ wieder ins Leben gerufenen geistlichen Praxis zum Selbstempfinden ihrer eigenen ewigen Geistnatur fähig machen wollen. Diese Praxis ist eine Schulung der speziell männlichen Form geistiger Erkenntnisorgane und darum nur Männern möglich, entspricht aber durchaus den auch dem weiblichen Erkenntnisorganismus zugänglichen Methoden geistiger Selbsterkenntnis, wie sie im Lehrwerk Bô Yin Râ's vor aller Öffentlichkeit gelehrt werden.
Nur die bei weitem größere Gefahr des Mißbrauchs der mystisch geistigen Anweisungen durch Unberufene, verbietet eine öffentliche Darstellung der in der EBDAR zur geistlichen Schulung verwendeten Lehren, die vielmehr nur solchen Naturen zum Segen werden können, die alle Gewähr dafür bieten, bereits zu einem hohen Grade geistig sittlicher Festigkeit des Charakters gelangt zu sein.
Die hier in Betracht kommende, aus ältesten Kulturzeiten der Menschheit stammende, und von Bô Yin Râ der Anwendungsform nach erneuerte Praxis führt nur dann zum angestrebten Erfolg, wenn die sie übende geistliche Gemeinsamkeit als solche in geistigem Konnex mit den Vätern im Urlicht steht. Dieser rein geistige Anschluß ist durch Bô Yin Râ bewirkt worden, der deshalb auch allein die Ermächtigung zu der Ausübung der durch ihn wieder dargebotenen Schulungspraxis erteilen konnte.
Da die Glieder einer rein geistlichen Gemeinsamkeit ihrer irdischen menschlichen Erscheinung nach in verschiedenen Staaten leben können, und strengstens dazu verpflichtet sind ihre jeweiligen Staatsgesetze zu achten und nach Kräften zu erfüllen, so ergab sich die Notwendigkeit, die geistlichen Schülergruppen mit ihren Lehrmeistern konform den Staatsgebilden in denen sie leben, abzugrenzen, und zwar derart, daß die EBDAR in jedem Staate absolut unabhängig von den Gruppen der Schüler und Sakralmeister anderer Staaten ist und bleibt.
Alle die vorgenannten Würden und Funktionen sind rein geistlicher Art und beruhen allein auf der durch Bô Yin Râ erteilten Ermächtigung und dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Schülern (Mysten) und ihren Lehrmeistern (Sakralmeistern).
ENDE
OKKULTE
RÄTSEL
Verlagslogo
Kober`sche Verlagsbuchhandlung AG. Zürich
Der bürgerliche Name von Bô Yin Râ war
Joseph Anton Schneiderfranken
2. Auflage
Die erste Auflage erschien im Verlag
Magische Blätter, Leipzig, 1923
©
Copyright 1962 by
Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Switzerland by
Schellenberg-Druck Pfäffikon ZH
INHALT Seite
1. Vorwort 7
2. Geheimes Wissen und verborgene Wissenschaft 19
3. Planetarische Hilfskräfte 39
4. Das Geheimnis der Träume 61
5. Mantische Künste 83
6. Hypnose 101
7. Die Rätsel der Zukunft 123
Originalscan
VORWORT
.Nur Eines ist not! ‒ Dieses «Eine»
suchen alle meine Schriften aufzuzeigen, und
all mein Wirken geht darauf aus, den sicheren
Weg zu weisen, der dieses «Eine» erlangen
läßt. ‒
Wenn ich nun hier in diesem Buche jedoch
von Dingen rede, die völlig anderen We
sens sind, so soll auch dies nur den Weg er
hellen helfen und vor Abwegen bewah
ren...
*
Der Suchende, der sich entschlossen hat, den
Steilpfad zu betreten, der zu den lichten
Höhen des Geistes führt, bedarf der
Hilfe, um nicht schon im Beginn seines Em‐
porsteigens die Zielrichtung zu verlie‐
ren. ‒
Sein Weg beginnt mitten im Alltag und
führt ihn erst allmählich höher und höher,
so daß es geraume Zeit währen mag, bis er
sich endlich von dem klaren, wesenhaften
Lichte reingeistigen Seins umflutet findet.
Vorher dringen noch mancherlei andere
Strahlungen auf sein Auge ein, die er wohl
9 Okkulte Rätsel
beachten möge und ihrer Art nach erken
nen lernen muß, soll er durch erdenhaftes
Licht sich nicht täuschen lassen. ‒
Nicht alles Licht, das diese Erde spendet,
ist trügerisch!
Gar manches Leuchten, das aus unsichtbaren
irdischen Regionen glüht, kann auf dem
Wege zum Geiste Hilfe bedeuten, wenn der
Suchende es recht zu nützen weiß, denn
noch ist er ja in körperhaften Banden ‒ Ge‐
setzen unterworfen, die dem gleichen Ur‐
schoß körperlichen Seins entstammen, der
auch Gesetz und Wirken jenes Leuchtens
immerdar bestimmt. ‒
«Beherrschet die Erde und machet sie
euch untertan!»
Nicht durch Mißachtung ihrer geheimen
Kräfte wird der Mensch zum Herrn der Erde,
sondern durch die Kenntnis der Ge
setze, denen sich alles Irdische beugen muß,
und durch das Wissen um seine Geistes
macht, die allem gebieten kann, was irdi‐
schen Raum erfüllt, und stets in gleichem
Grade Gehorsam finden muß, in dem sie
10 Okkulte Rätsel
selbst gehorsam jenem ewigen Walten sich
erweist, das ihres individuellen Daseins Ur
sprung ist. ‒
*
Hier wird nun von Dingen gehandelt werden,
deren Kenntnis an sich zwar keineswegs
nötig ist zur Erreichung des höchsten gei‐
stigen Zieles: der Vereinigung des eigenen
Bewußtseins mit dem wesenhaften Geiste
in uns selbst ‒ der Geburt des lebendigen
Gottes in der eigenen Seele.
Da aber die hier behandelten Dinge ebenso‐
wohl zu einem Hemmnis geistigen Strebens
werden können, wie sie anderseits den Auf
stieg zu fördern vermögen, und da mannig‐
fache Unklarheit hinsichtlich der Ursachen
herrscht, auf denen die Erscheinungen be‐
ruhen, die hier in Betracht gezogen werden,
so dürfte es allen, die zu geistigem Lichte
streben, nur zum Segen gereichen, wenn so
manches vor ihren Augen auf seine eigentli‐
chen Wurzeln zurückgeführt wird, das
ihnen bisher noch Beunruhigung schaffte,
da sie es in ihrem Weltbild nicht recht unter‐
11 Okkulte Rätsel
zubringen wußten, aber anderseits im Leben
des Alltags viel zu oft von seiner Tatsächlich‐
keit überzeugt wurden, als daß sie sein Vor‐
handensein hätten in Zweifel ziehen können.
Ich werde von recht verschiedenwertigen
Erscheinungen zu sprechen haben.
Unkenntnis setzt noch immer verborgene
Wissenschaft dem Aberglauben gleich, ohne
auch nur zu ahnen, daß durch solche Ver
wischung aller Wertgrenzen die mehr
oder weniger harmlosen, zuweilen aber auch
äußerst giftigen Pilze des Aberglaubens
erst den Boden finden, auf dem sie üppig em‐
porschießen können, aller edleren Pflanzung
Kraft und Wachstum raubend. ‒ ‒
Solchen Nährboden des Aberglaubens gilt
es auszurotten, und das kann nicht auf
bessere Weise geschehen, als durch das Frei‐
legen jener Kräfte noch wenig erforschter
Natur, deren Wirkungsart zu abergläubi‐
scher Auslegung führte, weil man ihr
wirkliches Wesen nicht erkannte. ‒
Dabei wird sich dann zeigen, daß eine frühe
Vorzeit in so manchen Dingen doch weiser
12 Okkulte Rätsel
war, als die ihres «Fortschritts» und ihrer
«Aufklärung» allzustolze Gegenwart...
Manche Erkenntnis früherer Zeiten, die noch
vor wenigen Jahren unbedenklich zum «Aber‐
glauben» gerechnet wurde, ist bereits heute
schon als wirklich begründet erkannt, aber
weit mehr noch bleibt zu prüfen, will man
verborgene Wissenschaft dauernd von
abergläubischem Wahn befreien und
aufs neue so manches Geheimnis der den
Körpersinnen verhüllten Natur der Mensch‐
heit dienstbar werden sehen. ‒ ‒
Es gilt, ohne die Fesseln der Vor-Urteile
die hier vor uns liegenden Gebiete zu betre‐
ten, wenn man finden will, was sich finden
läßt, wenn man lernen will, das Wertlose
und Täuschende von dem Echten und
Wertvollen zu scheiden. ‒
Vor allem aber gilt es, hier zu prüfen, bevor
man sich berechtigt fühlen darf, zu eigenem
Urteil zu gelangen.
Voreingenommene Ansichten und Mei
nungen, auch wenn sie sich vermeint‐
lich gegen allen Aberglauben richten, sind
13 Okkulte Rätsel
noch immer die besten Schutzwehren
für die Moderverstecke wuchernden Aber‐
glaubens gewesen! ‒
Nicht dadurch, daß man allem Dunkel aus
dem Wege geht, beweist man seine
Furchtlosigkeit vor «Gespenstern», sondern
dadurch, daß man ruhigen Blutes durch
das Dunkel schreitet und fest zuzugreifen
weiß, sobald Gespenster schrecken wollen. ‒
*
Es zeigte sich mir aber auch aus noch anderen
Gründen als geboten, von den in diesem
Buche behandelten Dingen einmal zu reden.
Manches der Gebiete, die wir betreten wer‐
den, findet bereits seit geraumer Zeit seine
tändelnden oder auch ernsthaft forschenden
Besucher.
Eine unübersehbare Literatur sehr ungleichen
Wertes beschäftigt sich mit den hier der Be‐
trachtung unterzogenen Erscheinungen.
So kommen nun diese Dinge auch gar man‐
chem nahe, der ehrlich und ernsthaft bestrebt
ist, den Weg zum reinen Geiste zu finden,
14 Okkulte Rätsel
und nur allzuoft glaubt dann der Suchende,
er habe es hier schon mit einer Offenbarung
geistiger Welten zu tun, so daß er unver‐
merkt in eine seinem Streben diametral ent
gegengesetzte Wegrichtung gerät. ‒
Andere wieder fürchten jede Beschäftigung
mit derlei Dingen und leben stets in törichten
Ängsten vor allem, was sie an eingebildeter
«Schädigung» von dieser Seite her erwar‐
ten. ‒
Den Irrtum in jeder dieser beiden Formen
soll dieses Buch endlich beseitigen helfen.
*
Wohl kann es zu einer verhängnisvollen
Umkehrung der Zielrichtung führen,
wenn der Suchende glaubt, die geheimnisvolle
Wirkung ihm verborgener erdgebundener
Kräfte als Äußerungen höchster Geistes
regionen ansprechen zu müssen, aber auf
der anderen Seite steht er nur sich selbst
im Lichte, wenn er es aus bloßer Furcht ver‐
säumt, sich über Art und Herkunft solcher
verborgener Erdenkräfte Klarheit zu ver‐
15 Okkulte Rätsel
schaffen, ‒ wenn er in tausend Ängsten lebt,
es könne ihm von dieser Seite her Unheil
drohen, ‒ statt daß er selbst auch diese
Kräfte sich zu Dienern macht, damit sie
ihm das Schreiten auf dem Höhenpfad er
leichtern, der ihn einer Sonne zuführt, die
kein Erdenauge je erblickt, ‒ die nur mit
geistigen Organen wahrgenommen werden
kann, in jenen Reichen reinster Geistig
keit, die im Allerinnersten der Seele sich
erschließen lassen. ‒ ‒ ‒
So tief «geheimnisvoll» auch die Dinge er‐
scheinen mögen, die dieses Buch zu erklären
unternimmt, so führen sie doch ausnahmslos
nicht etwa in die Reiche wesenhaften Gei
stes, gehören vielmehr alle noch der «Außen‐
welt» an, wenn auch jenem weit ausgebrei
teteren Teile der Außenwelt, der schwer er‐
faßbar ist, da er sich irdischen Sinnen nicht
ergibt. ‒
Aber ebenso, wie der zum Geiste Strebende
jene anderen Dinge der Außenwelt be
herrschen lernen muß, die ihm in jenem
kleinen Kreis-Segment gegeben sind, das
16 Okkulte Rätsel
seine Erdensinne fassen, muß er auch in der
unsichtbaren, nur dem Fühlenkönnen
noch offenen Region des äußeren Daseins
zum Herrschenden werden, wenn er nicht
will, daß Unerkanntes ihn beherrscht. ‒
Das will jedoch durchaus nicht etwa heißen,
daß jeder, der zum Geiste strebt, erst die ma‐
gischen Kräfte der Erde erforschen müßte.
Er soll nur wissen, daß diese Kräfte, sofern
ihre Auswirkung ihm irgendwie auf seinem
Wege begegnet, von ihm als Diener seines
hochgerichteten Willens benutzt werden
dürfen und daß er niemals anders an diese
Kräfte herantreten darf, als in dem Willen,
sie zwar zu gebrauchen, aber nicht sich
selbst durch sie gebrauchen zu lassen. ‒ ‒
Er gleicht einem Künstler, der höchstes
Schaffen erstrebt, der aber auch niemals ver‐
schmähen wird, sich die Umstände nutzbar
zu machen, die das Erstehen seines Werkes
fördern können. ‒ ‒ ‒ ‒
So glaube ich denn genugsam dargelegt zu
haben, was mich zu den Abhandlungen dieses
Buches bewog.
17 Okkulte Rätsel
Möge es vielen sichernde Wegmarken
zeigen, damit sie stets wieder zu ihrem Hoch
pfade finden, auch wenn sich ihnen auf irdi‐
schen Straßen schon wahrlich genug des
Wunderbaren bekunden wird. ‒
Capri, im Mai 1922.
Signatur
18 Okkulte Rätsel
GEHEIMES WISSEN
UND VERBORGENE
WISSENSCHAFT
.Wahrlich, es gibt ein geheimes Wis
sen, ‒ nur wenigen erfahrbar, und durch
allen Fleiß nicht zu erlangen für den, dem es
nicht selbst sich geben mag.
Nur was aus dieses Wissens Grund als Fol
gerung erblüht, ist mitteilbar, so daß auf
diese Art wohl mancher, zwar nicht wis
send, aber urgewisser Ahnung sicher, sei‐
nen Weg zum Geiste finden kann.
Hier angelangt an seinem höchsten Ziele,
mag ihm dann auch wahres Wissen wer‐
den!
Nur wenige sind dieses Wissens geborene Hü‐
ter und verpflichtete Diener, aber unzählige
aller Geschlechterfolgen der Menschheit wur‐
den durch diese wenigen zur sicheren Ah
nung, zum Wege und endlich zu schauen‐
dem Wissen geführt. ‒ ‒ ‒ ‒
Wer möchte so töricht sein, um erst der Be‐
lehrung zu bedürfen, daß dieses Wissen
anderer Artung ist als jede Gewißheit, die
aus Forschertrieb entsprießt, aus jener Dis‐
ziplin des Denkens, angewandt auf irdische
Erfahrung, die, allgemeinem Sprachgebrauch
21 Okkulte Rätsel
entsprechend, mit dem Namen «Wissen
schaft» bezeichnet wird?! ‒
Und dennoch gab es immer wieder wirre
Köpfe und eitle Faselhänse, die den Men‐
schen ihrer Zeit damit zu imponieren such‐
ten, sich also zu gebärden, als hätten sie ge‐
heimstes Geisteswissen selbst erlangt und
selbst zu einer «Wissenschaft» geformt,
um so es ihren Schülern, gleich den Wissen‐
schaften dieser Erde, geordnet nach System
und Regel, durch «Schulung» übertragen zu
können.
Es dürfte kaum zu hartes Urteil sein, hin‐
sichtlich solcher Mystagogen zu vermuten,
daß weder Ehrfurcht vor dem Wissen, das
der Geist der Ewigkeit allein zu geben
hat, in ihnen wohnt, noch daß sie vor der
Wissenschaft der Denker aller Zeiten
ehrerbietig lauschend zu verharren pflegen, ‒
denn wer eines dieser beiden Lichter mensch‐
lichen Erkennens jemals in die Tiefen seiner
Seele strahlen fühlte, der wird auch dem an
deren, selbst wenn es ihm noch fremd sein
sollte, ‒ gewißlich nur in schätzender Ver
22 Okkulte Rätsel
ehrung nahen und niemals die Strahlenfär‐
bung des einen mit der des anderen verwech‐
seln. ‒ ‒
Gar wohl unterscheidbar ist das Licht des
irdischen Verstandes, auch wenn es
hoher Intuition sein Leuchten dankt, von
jenem Lichte aus der Ewigkeit, das nicht
erschlossen, nicht ergrübelt, nicht bewiesen
werden kann und das sein Dasein dem nur
offenbart, der es im eigenen Sein erlangt. ‒
Ein anderes ist: «Geheimes Wissen» und
wieder ein anderes: «Verborgene Wissen
schaft».
Stets wieder und wieder suche ich den Men‐
schen meiner Zeit von jenem geheimen Wis‐
sen Kunde zu vermitteln, und wenn ich nun
heute auch, ‒ mehr von ferne deutend, als
nahe betastend, ‒ verborgene Wissen
schaft aufzuzeigen suche, so sei von vorn‐
herein bekannt, daß ich nur Klarheit
schaffen möchte und keineswegs hier etwa
Resultate wissenschaftlichen Erdenkens ge‐
ben will.
*
23 Okkulte Rätsel
Es gibt wahrlich, außer der allen offenba
ren, auch eine verborgene Wissenschaft, ‒
ja, ich könnte sagen: alle Wissenschaft, die
heute als offenbar betrachtet wird, war einst
zu irgendeiner Zeit verborgen! ‒
Wer nur die Resultate menschlichen Erfor‐
schens und Erdenkens im Laufe knapper hun‐
dert Jahre vor der Gegenwart an sich vorüber‐
ziehen lassen mag, der wird gewiß ersehen,
daß dem also ist...
So aber gibt es auch Wissenschaft, die ehedem
schon bis zu hohem Grade offenbar, wieder
zurück ins Verborgene flüchten mußte, da
toller Aberglaube sich ihrer zu bemächtigen
drohte, ja sie bereits derart in seinen Banden
hielt, daß man es fast als ein Wunder betrach‐
ten könnte, wie sie doch die Kraft noch fand,
sich ihm zu entwinden.
Eine solche Wissenschaft versucht heute wie‐
der offenbar zu werden in jener Wissensdis‐
ziplin, die als «Astrologie» in diesen Tagen so
manchen, der sie näher kennen lernt, gar
sehr zu beeindrucken vermag. ‒
Ich sehe hier eine Wissenschaft im Aufer‐
24 Okkulte Rätsel
stehen, die den erleuchtetsten Geistern der
Vorzeit Halt und Sicherheit in diesem Erden‐
leben gab, und obwohl ich selbst mich nicht
in der Lage sehe oder berufen fühle, diese
Wissenschaft als Jünger zu fördern, so kenne
ich dennoch ihre verborgensten Gesetze und
weiß aus geistigem Wissen heraus mich
ihrer zu bedienen; weiß wohl zu schätzen,
was hier zu schätzen ist...
Mancher aber, der diese Worte lesen mag,
wird hier schon mit dem Einwand kommen:
‒ man könne wohl doch nicht gut von der
«Sterndeutekunst» der Alten, die in unseren
Tagen sich neu belebt, als von einer «Wissen‐
schaft» reden.
Er wird hinweisen wollen auf die unzähligen
Charlatane, deren Anzeigen die Spalten der
Zeitungen füllen und wird es unter seiner
Würde finden, daß ich ihm hier gar von
«Wissenschaft» sprechen könne. ‒
*
‒ Ich sehe jedoch in den Spalten der Zeitun‐
gen nicht nur die Anzeigen der sogenannten
'Astrologen', sondern weit mehr noch finde
25 Okkulte Rätsel
ich da gar manche Anpreisung von sogenann‐
ten «Ärzten», von Menschen, die sich «Heil‐
kundige» nennen. ‒
Wäre es aber nicht äußerst töricht, nun des‐
halb aller ärztlichen Kunst die Wissenschaft‐
lichkeit abzusprechen?!
Hier wie dort gibt es ein mühsam erwor‐
benes, wirkliches Können auf Grund einer
wahren Wissenschaft!
Hier wie dort gibt es ein geordnetes System,
an dessen Aufstellung die erleuchtetsten Den‐
ker der Vorzeit gearbeitet haben!
Hier wie dort wird alles Verstandeswissen,
alle Erfahrung nichts vermögen, wenn nicht
eine hohe Intuition von Fall zu Fall bestimmt,
in welcher Weise die Wissenschaft der Praxis
dienen muß! ‒
Hier wie dort endlich gibt es außer den
Menschen des wissenschaftlichen Gewissens
auch gewissenlose Charlatane, die im besten
Falle glauben, selbst hoch über der Wissen‐
schaft zu stehen, meistens aber zu jener üblen
Zunft gehören, die von der Unbelehrbarkeit
gewisser Menschen lebt, ‒ besonders solcher,
26 Okkulte Rätsel
denen jegliches Denken auch dort, wo es
hingehört, an sich schon «verdächtig» ist,
weil sie selbst mit dergleichen Tun leider stets
Fiasko erlitten...
Der Vergleich zwischen der Wissenschaft
der Astrologie und der Wissenschaft
der Heilkunde ist jedoch tiefer begründet,
als daß er nur des Beispiels wegen herangeholt
wäre.
Auch die Heilkunde stand nicht seit aller Zeit
so vor uns, wie wir sie heute kennen, und
selbst heute ist sie doch wahrhaftig noch im
Werden begriffen, so daß auch ihre erfah‐
rensten Vertreter, an deren Wissenschaftlich‐
keit durchaus nicht zu zweifeln ist, viel öfter,
als ihnen lieb wäre, vor «Rätseln» stehen.
Auch die Heilkunde besitzt einen erlernbaren
Fond an Wissen und Können, ‒ und doch
macht all dieses Wissen und Können noch
lange nicht den guten Arzt. ‒
Sowohl bei der Astrologie, wie bei der ärzt‐
lichen Kunst entscheidet eben letzten Endes
die persönliche Eignung dessen, der sich
einer dieser beiden Wissenschaften widmet,
27 Okkulte Rätsel
und nie wird der Ungeeignete auf dem Gebiete
seiner Wissenschaft das derzeit Mögliche in
seiner ganzen Fülle erschöpfen. ‒
Ich kann es gut verstehen, wenn man heute
in bezug auf Astrologie als von einer «wer‐
denden» Wissenschaft reden will, ‒ jedoch
zwingt mich zu gleicher Zeit mein eigenes Er‐
kennen, alle jene zu einiger Vorsicht aufzuru‐
fen, die nur zu leicht und durch keinerlei
wirkliche Kenntnis der Materie, die hier be‐
handelt wird, beirrt, dem Streben echter
astrologischer Forschung kurzerhand über
haupt die Wissenschaftlichkeit absprechen
wollen.
Es mag zugestanden werden, daß manche der
auf diesem Gebiete Forschenden als wenig
umfassend in bezug auf die heute erreichbare
Allgemeinbildung anzusehen sind, und mehr
als sie selbst es ahnen, ihre Bildungslücken
gerade dort verraten, wo sie in naiver Weise
glauben, in ihren schriftlichen Darlegungen
sich eines sehr gelehrt klingenden Jargons
befleißigen zu müssen, statt in den Sprach‐
grenzen ihrer Sphäre zu bleiben.
28 Okkulte Rätsel
Es sei weiterhin zugestanden, daß der über‐
lieferte Sprachgebrauch der Astrologie in
heutigen Tagen oft sehr antiquiert, ja mit‐
unter abgeschmackt oder recht aber
gläubisch anmuten kann.
Was aber haben denn in aller Welt solche
Mängel mit dem wirklichen Kern der Sache,
mit der Erforschung jener Einflüsse zu tun,
die das Spezialgebiet der Astrologie aus‐
machen?!
Der Kranke, der von einem Arzt Heilung
seiner Gebresten erwartet, wird ihn doch auch
gewiß nicht von sich weisen, weil er bemerkt
hat, daß dieser des Heilens Kundige auf ande‐
ren Gebieten anderen Geschmacksrichtungen
huldigt, als er selbst.
Wer sich über Astrologie ein gesundes Urteil
schaffen will, der sehe ruhig über alles hinweg,
was mit der Sache selbst nichts zu tun hat und
achte allein auf die durch astrologische For‐
schung tatsächlich zu erreichenden und über‐
aus häufig auch wirklich erreichten Resultate!
Er wende sich nicht an Charlatane, sondern
suche die wirklich von Natur aus zu dieser
29 Okkulte Rätsel
Wissenschaft Berufenen zu erreichen, wenn
er will, daß sein «Horoskop» ihm zu einer
Richtschnur für dieses Erdenleben werden
soll! Ein solches «Horoskop» ist im Grunde
nichts anderes, als was die Wetterkarte für
den Luftschiffer darstellt.
Es zeigt mehr oder weniger getreu die Mög
lichkeiten auf, die für ein bestimmtes
Menschenleben zum Heil oder Unheil aus‐
schlagen können, lehrt Übles bekämpfen
und kann verhindern, daß der Mensch, dem
es gilt, seinem eigenen Glücke im Wege steht.
Es gibt eine getreue Diagnose der Kräfte, die
im Guten wie im Schlechten sich um ein
menschliches «Ich» gruppieren, und lehrt so
seinen Inhaber, den eigenen Seelenhaushalt
in Ordnung zu bringen.
Es zeigt deutlich drohende Gefahren auf,
denen der Mensch sich mit wachem Willen
noch entwinden kann, ebenso wie es ihn
die zeitlich begünstigten Stationen seines
Lebensweges erkennen lehrt.
Ein gutes «Horoskop» kann den mannig‐
fachsten Segen in ein Leben tragen, und nur
30 Okkulte Rätsel
der kann allenfalls durch seine Diagnose
beunruhigt werden, der lieber im Dunkeln
tappt, statt klar seine erdgegebenen Kräfte
und deren Auswirkungsart zu kennen.
Freilich muß richtige Aufklärung dafür sor‐
gen, daß man in seinem Horoskop nicht, fata‐
listisch gebunden, quasi ein Verhängnis
sieht, dem nicht zu entrinnen sei. ‒
Erst dann wird das Horoskop eine wert‐
volle Hilfe, wenn es den Willen anreizt,
gerade das zu vermeiden, was seiner
Aussage nach am meisten droht, falls nicht
durch Gegenwirkung die Kraft, die etwa
schädigen könnte, gebrochen wird. ‒
*
Ein großes Hemmnis für die Erkenntnis
astrologischer Gesetze ist bis auf den heutigen
Tag, und gerade in unserer naturwissen‐
schaftlich orientierten Zeit, die alte Theorie,
die zur Erklärung astrologischer Wirkun‐
gen dient.
Hier möchte ich aus meinem eigenen Erken‐
nen heraus einige Aufklärung geben, obwohl
ich mir bewußt bin, daß es einer gewißen
31 Okkulte Rätsel
Beweglichkeit der Einstellung seitens astro‐
logisch Forschender bedürfen wird, wenn
meine Ausführungen wirklich Klarheit brin‐
gen sollen.
Es handelt sich, wie ich ausdrücklich bemer‐
ken muß, hier keineswegs um eine neue
«Theorie», sondern um die entsprechende
reale Naturgegebenheit! ‒
*
Alle aus alter Zeit überkommenen astrologi‐
schen Lehren schienen stets den Nachgebore‐
nen auf der Annahme zu fußen, daß die ge‐
heimnisvollen Wirkungen der «Gestirne» auf
das Menschenschicksal hier enträtselt würden.
Nun wehrt sich aber, und das mit einigem
Recht, modernes, naturwissenschaftliches
Denken gegen eine Theorie, die solche enorm
starke Beeinflussung von unvorstellbar weit
entfernten Weltkörpern ausgehen läßt.
Man hat sich auch schon in alter Zeit gegen
solche Annahme gewehrt und half sich so gut
es gehen wollte, indem man jene Weltkörper
nur als physische Träger ungeheurer geistiger
Potenzen ansehen lehrte, so daß gleichsam
32 Okkulte Rätsel
von jeder physischen Wirkung abgesehen,
rein geistige Strahlen unsere Erde erreichen
sollten, denen man nun die Wirkung auf das
Menschenschicksal zuschrieb.
Die neuere Entwicklung der Astrologie läßt
es aber an der Zeit erscheinen, endlich die
wirklichen Ursachen der von ihr festge‐
stellten Wirkungen auch dort zu suchen, wo
sie tatsächlich zu finden sind, und den als ver‐
meintlichen Wirkungsfaktoren herangezoge‐
nen «Gestirnen» den einzigen Platz anzuwei‐
sen, der ihnen bei der astrologischen For‐
schung zukommt.
Es handelt sich um nichts Geringeres als die
Erkenntnis, daß die Stellung der Gestirne nur
deshalb für den Astrologen so wichtig ist, weil
sie die einzig mögliche Bestimmung ge‐
wisser Wirkungspunkte darstellt, die inner
halb der Erd-Aura zu suchen sind. ‒ ‒
Alle astrologische Forschung trägt daher,
streng genommen, einen irreführenden Na‐
men. ‒
Es handelt sich in Wahrheit gar nicht um
ein Erforschen der Natur der Gestirne, son‐
33 Okkulte Rätsel
dern um Forschungen innerhalb der Aura
der Erde, und die Stellung der Gestirne
muß allein beachtet werden, weil gewisse
Ablaufszeiten aurischer Energieströme nur
eben durch die jeweilig korrespondierende
Stellung der Gestirne feststellbar werden, da
ja dem Bewohner der Erde keine sonstigen
außerirdischen Meßpunkte zur Verfügung
stehen, als jene geometrisch geordneten Pro‐
jektionsbilder der anderen Weltkörper des
Kosmos.
Die unsichtbare Aura dieser Erde liegt nicht
nur in vielen Schichten um die Ober
fläche unseres Weltballs, sondern durch
dringt ihn bis zu seinem innersten Kern. ‒
Vom Erdinnersten aus nun entquellen in
rhythmischen Intervallen gleichzeitig ge‐
wisse Energieströme, die von innen nach
außen und sodann zurück ins Innerste
kehrend, alle Schichten der Erdaura durch‐
wandern, gleich den Meeresströmen der irdi‐
schen Ozeane. ‒ ‒
Der Rhythmus des Aussendens und Ein‐
ziehens dieser Ströme ist völlig abhängig von
34 Okkulte Rätsel
der Stellung der Erde zur Sonne, so daß in
Wahrheit die Sonne der einzige Himmels‐
körper ist, der wirklich auf irdisches Ge‐
schehen, auf Schicksale der Erdbewohner,
auch im Seelischen einwirkt, wenn auch der
Mond als ihr Reflektor dabei sehr bedeutsam
wird, denn die in Rede stehenden Ströme der
sonnenbestimmten Erdaura senden eben alle
jene Wirkungen auf das psychophysische
Leben der Menschen aus, mit denen sich die
Astrologie beschäftigt. ‒ ‒ ‒ ‒
Die Mannigfaltigkeit der genannten Ströme,
von parallelem Lauf bis zu schärfster Gegen‐
wirkung, sowie ihre vielfältige Art der Durch‐
dringung gleich jenen feinen Farbenfäden
Muraneser Gläser, läßt fast unzählig ver‐
schiedenartige Kombinationen zu, und jedes
Erdenwesen wird stets für Lebenszeit von je‐
ner Kombination die Grundstimmung
empfangen, die gerade tätig war zur Zeit und
am Orte seiner ersten Licht-Empfängnis,
obwohl es schon vom ersten Augenblick der
Zeugung an, auch im Mutterleibe solcher
Ströme Einfluß indirekt unterworfen war,
35 Okkulte Rätsel
die schließlich mitbestimmend wirkten bei
der endgültigen Formung. ‒ ‒
Je nach der Kombination der Kräfteströme
in der Erdaura, die diese Grundform gab,
werden alle nur möglichen Kombinationen
in jeder Sekunde des Erdenlebens eines so
beeindruckten Wesens durchaus besondere
Beziehungen zeigen und dadurch eben den
Lebenslauf sehr verschieden gestalten.
Der Sprachgebrauch kann solchen Einfluß an
«Gestirne» binden und deren Namen, ‒
der oft in ursächlichem Zusammenhang
mit gleichzeitig beobachteten aurischen Strö‐
men steht, ‒ zur Bezeichnung gewisser
Einflüsse verwenden, allein die Sterne sind
es wahrlich nicht, was hier auf Erden
Schicksal schafft, so sehr auch wohl bei man‐
chen astrologisch Forschenden die konsta‐
tierte Wirkung eines Kräftestromes dieser
Erd-Aura, als eng verbunden wahrgenom‐
men mit einer Konstellation der Sterne, nun
diesen selbst nach alter Lesart zugeschrie‐
ben werden mag. ‒
Auch allerälteste Weisheit wußte wohl um
36 Okkulte Rätsel
diesen wahren Zusammenhang, nur wurde
solche Erkenntnis schon in früher Vorzeit
völlig verwischt.
*
Es ist weder meine Aufgabe noch meine Ab‐
sicht, hier die letzte Begründung zu geben,
um die eherne Notwendigkeit des geschilder‐
ten Geschehens zu erweisen, aber ich ver‐
traue denen, die in der wissenschaftlichen
Erforschung astrologischer Zusammenhänge
ihre Lebensaufgabe sehen, daß sie wohl schnel‐
ler als ich es hier vermöchte, auch die äußeren
Bestätigungen geben können, durch die ihnen
besserer «Beweis» erbracht sein wird, als
durch die schönste kosmologische Beweis‐
führung. ‒
Vielleicht kann diese Erörterung bewirken,
daß sich auch endlich andere wissenschaft‐
liche Forscher, die nicht von Hause aus als
«Astrologen» gelten können, mit den so
augenfälligen Wirkungen jener Kräfte befas‐
sen, die Einzelne wie ganze Völker in ihren
Banden halten, solange, bis man endlich sie
erkennt und so zu nützen weiß? ‒
37 Okkulte Rätsel
Vielleicht wird auf diese Weise eine fast ver‐
borgene Wissenschaft wieder völlig offenbar,
und damit die Erkenntnis aufs neue gebo‐
ren, daß der Mensch der Erde nicht nur für
sein physisches Leben, sondern in gleicher
Weise auch für das Leben seiner Seele nur
insofern sorgen kann, als er der Erde Kräfte
meistern lernt, um in Freiheit aus den so
erreichbaren Kräften sich zu gestalten, zu
einer Formung, die seinen höchsten Zielen
wahrhaft entspricht. ‒ ‒ ‒
38 Okkulte Rätsel
PLANETARISCHE
HILFSKRÄFTE
.Immer mehr vertieft sich in unseren Tagen
die Erkenntnis, daß das Altertum denn
doch in sehr vielen Dingen, die einem nach‐
geborenen, allzusehr auf sein exaktes Wissen
stolzen Geschlecht als «finsterer Aberglaube»
erscheinen wollten, auf recht gesicherter,
wenn auch heute noch nicht in allen Stücken
wissenschaftlich beweisbarer Grundlage
baute. ‒
Es sind hier noch viele Schätze zu heben,
aber wer sie heben will, muß außer mancher
erlernbaren Kenntnis auch den Mut be‐
sitzen, die versinterten Petrefakte der Vor‐
zeit, allem Meinungsdünkel zum Trotz, als
das aufzuzeigen, was sie wirklich einst
waren, und auch dann wird er noch bedenk‐
liche Fehlgriffe tun, es sei denn, daß er einer
hohen Intuition die Begnadung danke,
stets richtige Deutung dort zu finden, wo
erster Augenschein den Fund als Zeugnis
wüsten Wahns bestätigt sehen möchte.
Wem wirklich daran gelegen ist, in solchen
Dingen der Wahrheit auf die Spur zu kom‐
men, der kann gar nicht Vorsicht genug
41 Okkulte Rätsel
gebrauchen, bei seinem Bemühen, Wert von
Unwert zu scheiden.
Schuttberge von Vor-Urteilen wird er sich
selbst aus dem Wege räumen müssen um nur
erst allmählich dahin zu gelangen, wo andere
vor ihm schon vor Jahrtausenden standen.
Wie sollte er Über-Sicht erlangen, bevor
er auf dem Punkte steht, der einst die Alten
anders und Anderes sehen lehrte, als
unsere Zeit mit ihrer völlig veränderten Ein‐
stellung zu sehen vermag?! ‒
Er muß in sich selbst quasi seine eigenen Vor
ahnen suchen, muß verstehen lernen, was
ihm das eigene Blut zuraunt, was dumpfes
verschollenes Sagewissen ihm noch etwa
zu sagen haben mag, und darf auch dort sich
nicht der Belehrung von vorn herein ver‐
schließen, wo neuere Wissenschaft bereits
für alle Zeiten entschieden zu haben glaubt,
um dann nach Ablauf gewisser Bindungszei‐
ten der Gehirne eben ‒ wieder anders zu
entscheiden...
So hoch wir Resultate ernster menschlicher
Denkerarbeit auch werten wollen, so zeigt
42 Okkulte Rätsel
doch Erfahrung Tag für Tag, daß selbst die
scheinbar gesichertsten Erkenntnisse noch
lange nicht fest genug verankert sind, um
nicht zu Zeiten besserer Erkenntnis weichen
zu müssen. ‒ ‒
Wer wollte hier wohl zu sagen wagen: «Wir
haben alles längst erforscht, und was dar
über reicht, das kann nur Irrtum bergen!»
‒ ? ‒
Es gibt wahrscheinlich in dem, was wir für
«sicheres Erfahrungswissen» halten, weit
mehr Irrtum, als sich die Gegenwart er‐
träumen läßt, und wer gar heute glaubt, er
dürfe, wissenssicher, alter Zeit und ihres
«Aberglaubens» spotten, der sieht nicht, wie
gerade dort, wo wir am meisten «aufgeklärt»
uns wähnen, der allerfolgenschwerste
Aberglaube nistet: ‒ der Aberglaube, daß die
Alten, mehr als wir, nur Opfer ihres Wahns
gewesen seien, daß ihrem Denken jene sim‐
plen Gegengründe sich nicht auch ergeben hät‐
ten, die heute jeder flache Kopf zu finden weiß,
wenn er Gebräuche alter Zeiten sich durch
eigenes Wissen nicht enträtseln kann. ‒ ‒ ‒
43 Okkulte Rätsel
Wir werden uns wahrlich besser nützen, wenn
wir auch ferner Vorwelt einige Logik zuge‐
stehen, zumal auch mancher Weise jener
Zeiten auf Dinge zu achten pflegte, die neue‐
res Wissen gerne «abergläubisch» nennt...
*
Zu dem, was neunmalkluger Wissensdünkel
heute längst als «überwunden» ansieht, ge‐
hört auch der Glaube aller Völker an gewisse,
Segen oder Unheil bringende Edelsteine,
wie nicht minder jener Glaube, der sich
Amulette und Talismane schuf, um Un‐
heil von dem Träger dieser Weihestücke abzu‐
halten, oder Segen auf sein Haupt herabzu‐
ziehen. ‒
Dem ersten Augenschein nach ist es wohl
verzeihlich, wenn man hier vor «törich‐
tem Aberglauben» zu stehen meint, und
gewiß ist ferner, daß der tatsächliche Aber‐
glaube aller Zonen und Zeiten auf diesem Ge‐
biete ein weites und wenig gestörtes Tummel‐
feld fand.
Die Alten waren aber nicht ganz so «leicht‐
gläubig» wie ihre fernen, übergescheiten
44 Okkulte Rätsel
Enkel vorschnell anzunehmen geneigt sind...
Die Alten wußten ebensogut wie wir ‒ wenn
nicht weit besser, zwischen berechtigtem,
wohlbegründetem Glauben und dem, was
mit Recht als Aber-Glaube gebrand‐
markt wird, zu unterscheiden.
Auch die alten Weisen pflegten nicht Dinge
gedankenlos hinzunehmen, die, aller Begrün‐
dung bar, nur im Wähnen und Vermuten
ihre Stütze finden konnten, und dennoch
wußten sie von Glück oder Unglück bringen‐
den Steinen, von Amuletten und schüt‐
zenden Talismanen. ‒
Wohl mochte die Theorie, die ihr Wissen
formte, um Wirkung wie Ursache zu erklä
ren, durch ein Weltbild bestimmt und gebun‐
den sein, das die heutige Menschheit lange
schon berichtigt findet, ‒ allein daß hier
Ursache durch Wirkung bestätigt wird, hatte
mannigfache Erfahrung ihnen hinlänglich
gezeigt, so daß sie jeden den Ignoranten und
hoffnungslosen Toren hätten zuzählen müs‐
sen, der an dieser Stelle blind geblieben wäre,
um etwa von «Aberglaube» zu reden.
45 Okkulte Rätsel
Daß sie nicht im Unrecht waren, kann jeder
ernsthafte, vorurteilsfreie Forscher bezeugen,
der sich die Mühe macht, an sich selbst und
anderen zu erproben, wie weit sich die Wir
kungen bewahrheiten wollen, von denen das
Altertum hinsichtlich solcher Dinge uns
Kunde hinterließ.
Wer so handelt, geht den einzig richtigen
Weg, und er wird auf diesem Wege, auch wenn
er jeglicher Theorie seinen Glauben versagt,
sehr merkwürdige und seltsame Erfahrungen
machen.
Er wird bald bekunden können, daß hier
wahrlich anderes vorliegt, als bloßer «Aber‐
glaube», ‒ und mehr als nur die Wirkung
eigener oder fremder «Suggestion».
Zwar können ähnliche Wirkungen durch Sug‐
gestion zustande kommen, und es mag ruhig
zugestanden werden, daß gar mancher Ein‐
fluß, den man Steinen, Talismanen und Amu‐
letten zuschrieb, sehr deutlich als Suggestions‐
einfluß nachweisbar ist; aber schließlich gibt
es ja auch «eingebildete» Kranke, und es
wird niemandem deshalb einfallen können,
46 Okkulte Rätsel
die Möglichkeit echter Krankheiten in Ab‐
rede zu stellen...
Das Auftreten einer Pseudo-Wirkung
schließt die echte Wirkung nicht aus.
Es wird vielmehr festzustellen sein, inwiefern
sich die echte Wirkung von dem bloßen
Schein unterscheidbar zeigt. ‒
Daß diese Unterscheidung sehr scharf zutage
tritt, wird jeder, der sich ein wenig mit der
Sache befaßt hat, mir bestätigen.
Auch heute sind es durchaus nicht etwa nur
phantastische Träumer, die sich mit solchen
Studien mühen.
Es gehört vielmehr sehr ernste, nüchterne
Beobachtung, zeitraubende und mühse‐
lige Arbeit sowie ein klares, kritisches Urteil
dazu, will man auf diesem der exakten Wis‐
senschaft heute noch so anrüchigen Gebiet zu
gesicherten Resultaten gelangen. Mancher
Irrtum ist zu berichtigen, aber auch manche
Wahrheit zu finden, die heute noch als Wahn
betrachtet wird.
*
47 Okkulte Rätsel
Wie sind nun aber die hier in Rede stehenden
und so geheimnisvoll anmutenden Wirkun‐
gen letzten Endes zu erklären? ‒
Darüber gab es zu allen Zeiten und je nach
den in Betracht kommenden Kulturkreisen
sehr verschiedene Theorien, und doch ist alle
Wirkung nur aus rein naturgesetzlichen Zu‐
sammenhängen ableitbar, auch wenn die wir‐
kenden Gesetze noch nicht in dem gleichen
Grade beweisbar wurden, wie etwa die Ge‐
setze der Physik. ‒
Jeder, der nur einigermaßen das Alltagsleben
zu beobachten pflegt, kann stets wieder be‐
merken, daß feiner empfindende Menschen,
für die nicht nur der reine Geldwert eines
Gegenstandes alle Wertschätzung bestimmt,
bei der Auswahl ihrer Schmuckstücke, und
seien sie noch so bescheiden, gewisse Edel‐
steinarten typisch bevorzugen.
Hier wirkt bereits, wenn auch den Wählenden
völlig unbewußt und nur durch persönliches
Gefühl sich äußernd, das planetarische
Gesetz. Uralter Weisheit waren einst alle
Zusammenhänge, um die es hier sich handelt,
48 Okkulte Rätsel
offenbar, und neueres Suchen bemüht sich
wieder, sie zu ergründen.
Es handelt sich um nichts anderes, als um
die tausendfältig verschiedenen Kräfte
ströme in der Erd-Aura, von denen be‐
reits in meiner Betrachtung über den Wert
der Astrologie die Rede war.
Dort zeigte ich, daß jedes Menschenwesen auf
diesem Erdball durch gewisse Kombina
tionen dieser Kräfteströme, ‒ so, wie sie
gerade zur Zeit seiner Geburt bestanden, ‒
für alles weitere Erleben gleichsam imprä
gniert wird, um nun in ganz bestimmter
Weise zu reagieren, so daß die fast unzähligen
Kombinationen jeder Sekunde seines Erden‐
lebens stets durch die ursprüngliche Be‐
eindruckung ihre Wirkungsform erlangen.
Zu diesen Kräfteströmen der Erdaura stehen
nun aber alle Dinge dieser Erde in Bezie‐
hung, und besonders prägnant zeigt sich
solche Beziehung in der Welt der Kristallge‐
bilde, insonderheit bei den von alter Zeit her
besonders gewürdigten ‒ Edel-Steinen...
Auch Pflanzen und Tiere sowie alle Metalle
49 Okkulte Rätsel
werden in gleicher Weise durch die genannten
Kräfteströme bestimmt. ‒
Auch hier sind die «Vorlieben» nichts
anderes, als gefühlsmäßiges Erfassen ge
setzlicher Zusammenhänge. ‒ ‒
Es ist auch nicht nur seine Seltenheit, die seit
ältesten Zeiten und bei allen Völkern der
Erde, die es kannten, dem Golde den Rang
eines grundlegenden Wertes verlieh...
Einseitige Theoretiker haben in wohlmeinend‐
ster Absicht allerlei Theorien ersonnen, um
das Gold, in dem sie die Quelle alles Unheils
auf der Erde gefunden zu haben glaubten,
endlich macht- und wertlos zu machen.
Ich zweifle wahrlich nicht an der Menschen‐
freundlichkeit solchen Bemühens, allein ich
habe allen Grund, daran zu zweifeln, daß diese
so wohlmeinenden Reformer wissen, was
sie tun? ‒ ‒ ‒
Zum Glück sind die hier erwähnten Gesetze
besser verankert, als alle solche Theorie,
und so wird denn das Gold seinen Wert auch
dann noch behaupten, wenn längst die letz‐
ten Spuren dieser Theoretiker in neuem
50 Okkulte Rätsel
Menschheitsgeschehen verlöscht sein werden.
Keine Theorie, wie «einleuchtend» sie auch
klingen mag, wird je die Tatsache aus der
Welt zu schaffen vermögen, daß jedes Volk
seinen wirklichen Wohlstand verliert,
bei dem die «Goldwährung» aufhört, de
facto zu bestehen ‒ selbst wenn es dabei
über unermeßliche Goldreichtümer in ver‐
schlossenen Kassen verfügen sollte. ‒ ‒ ‒
Es ist nötig, daß das Gold von Hand zu
Hand geht, daß auch die weniger begüterten
Kreise es noch als Schmuck tragen und an
seinem Umlauf teilnehmen, soll ein Volk
wirklich gedeihen und nicht nur gerade
noch «vegetieren». ‒
Es ist notwendig, daß sich dieser Umlauf in
materiellem Golde vollzieht, denn alle «Gut‐
schein»-Wirtschaft kann diesen materiel
len Umlauf nicht ersetzen, auch wenn die
«Deckung» überreichlich vorhanden wäre.
‒ ‒
Es ist ein Fehler, den Umlauf des materiellen
Goldes aufzuheben, und dieser Fehler muß
sich unter allen Umständen bitter
51 Okkulte Rätsel
rächen, mag man auch glauben, nur auf
solche Weise noch Schlimmeres verhüten zu
können. ‒
Wohlstand und Lebensenergie werden
in gleicher Weise schwer gefährdet durch die
aus guter Absicht erfolgte Einziehung des im
Umlauf befindlichen Goldes, sobald diese
Auslaugung des Goldes aus dem Alltagsleben
längere Zeit währt! ‒ ‒ ‒
Das sind eherne Gesetze, an denen auch der
Stärkste nicht zu rütteln wagen darf! ‒
Wer diese ganze Abhandlung versteht, der
wird auch verstehen, weshalb ich hier, mich
scheinbar von meinem Thema entfernend,
von der naturgesetzlich gegebenen Bedeutung
des Goldes rede...
*
Doch wir wollen hier nun weiter bei den
okkulten Wirkungen irdischer Dinge auf den
einzelnen bleiben, obwohl ein «Volk» letz‐
ten Endes nichts anderes ist, als eine Ge‐
samtheit vieler einzelner. ‒
In dem ersten der Bücher, die ich der Mensch‐
heit in meinen Erdentagen geben durfte, ist
52 Okkulte Rätsel
unter manchem anderen auch von «Talis
manen» die Rede.*
Dort sprach ich es deutlich aus, daß jeder
Gegenstand zu einem Talisman zu werden ver‐
möge, sobald er nur mit jenem Glauben, der
da Berge versetzt, einen Impuls des Willens
erhalte, seinem Eigner Gutes zu vermitteln.
Es ließe sich in gleichem Sinne auch von
«Talismanen des Bösen» sprechen, denn
nicht nur der ethisch Edle vermag es, in
solcher Weise einen Talisman zu schaffen,
und wenn ein Mensch einem andern Übles will,
so kann er mit gleicher Sicherheit und in glei‐
chem Glauben auch einen Gegenstand zum
Träger seines Vernichtungswillens wer‐
den lassen, kann ihn mit Willensimpulsen
«laden», die seinem Eigner alles «Übel»
bringen...
Hier aber möchte ich von einer anderen Art
der Talismane reden!
* «Das Buch vom lebendigen Gott», Verlag der Weißen Bücher, OO
Kurt Wolff-Verlag A.-G., München 1918. (Seither erschienen: OO
Neue erweiterte Fassung: Kober'sche Verlagsbuchhandlung, Basel, 1927, OO
Neuauflage Zürich 1957.)
53 Okkulte Rätsel
Es gibt auch Talismane, die nur ein Kun‐
diger der hier schon mehrfach angedeuteten
Gesetze allein zuwege bringt, ‒ Talismane,
zu deren Verfertigung sehr mühsame Arbeit
und mancherlei Studium nötig ist, so wie es
Amulette gibt, denen gleicherweise nicht
nur der Wille ihre schützende Kraft verleiht,
weil in ihnen selbst die Kräfteströme
der Erdenaura Äußerungsmöglichkeiten
finden, die nur nach streng bestimmten Ge
setzen herbeigeführt werden können.
Hier kann nur ein Kenner dieser Kräfte‐
ströme und ihrer Gezeiten als Verfertiger in
Betracht gezogen werden!
Es wird mancherlei Schwindel mit solchen
Dingen getrieben, aber das kann nicht hin‐
dern, daß aller Schwindel immer nur das
Echte für kritiklose Gemüter nachzu
ahmen sucht, daß folglich das Echte beste
hen muß, soll der Schwindel überhaupt An
laß finden, sich an des Echten Stelle zu
drängen...
Wer hier nicht unterscheiden kann, der
verdient, daß er betrogen werde!
54 Okkulte Rätsel
Wer aber noch völlig in Unkenntnis über
derlei Dinge ist, der lasse sich belehren dar‐
über, daß die Wirkungen jener aurischen
Kräfteströme, die zu allen Zeiten die Erde
durchfluten, zu gewissen Zeitpunkten und
unter gewissen Vorsichtsmaßregeln sich an
besondere Zeichen, auf besonderen Metal
len oder sonstigen Dingen, magnetisch knüp‐
fen lassen, so daß der Eigner eines solchen
Gegenstandes gleichsam in ihm einen Akku‐
mulator der Kräfte besitzt, die zu gewisser
Zeit durch eben jene aurischen Ströme in
Wirksamkeit treten. ‒ ‒
Wer hier nicht verstehend zu folgen vermag,
der möge sich vergegenwärtigen, was noch
vor hundert Jahren ein Physiker gesagt haben
würde, dem man etwa von der Möglichkeit ge‐
sprochen hätte, Lichtbilder des lebenden inne‐
ren Menschenkörpers herzustellen oder Mit‐
teilungen durch Ätherwellen um die Erde zu
senden ‒ obwohl diese Möglichkeiten für
einige wenige Menschen dieses Planeten kei‐
neswegs etwas Neues gewesen wären, weil
diese wenigen aus dem Geiste leben, dem alles
55 Okkulte Rätsel
irdisch Mögliche innewohnt, da es nur Spiege‐
lung seiner eigenen Möglichkeiten ist.
*
Man darf auch keineswegs glauben, daß der
Gebrauch der Amulette, Talismane oder
jener Edelsteine, die zur eigenen, erden‐
aurischen Schwingungszahl in harmonischem
Verhältnis stehen, von höherem geistigem Ge‐
sichtspunkt her gesehen, verwerflich wäre.
Ebenso könnte man vermuten, es sei unstatt‐
haft, zur Winterzeit einen wärmespendenden
Ofen zu besitzen. ‒
Es handelt sich bei wirklichen Amuletten,
Talismanen und wirklichen Edelsteinen
stets nur um die geeigneten und Jahrtausende
hindurch erprobten Mittel, gewisse plane
tarische Hilfskräfte für unser Erdenda‐
sein wirksam zu machen.
Wer sie für sich wirksam zu machen vermag,
sei es infolge eigener Kenntnis oder durch
Benutzung fremden Wissens, der wird stets
ebenso im Vorteil sein wie jeder, der sich die
physikalischen Hilfsmittel dieser Erde
dienstbar macht.
56 Okkulte Rätsel
Es handelt sich hier um keinerlei abenteuer‐
liche Zaubermacht und noch weniger um
rein geistige Kräfte!
Es sind lediglich unsichtbare, aber darum
keineswegs un-wahrnehmbare physische
Kräfte dieses Planeten, die sich auf solche
Weise nützen lassen.
Töricht ist nur der zu nennen, der sich sol‐
cher Hilfsmittel zur Erleichterung seines
Erdenlebens nicht bedient, ‒ sei es, daß er sie
nicht wahrhaben will, oder daß er das wenige,
was ihre Beherrschung von ihm verlangt, nicht
zu beachten vermag. ‒
Alles Irdische kann dem Geistigen, alles
Zeitliche kann dem Ewigen dienen, so‐
bald es nur in rechter Weise angewandt wird.
Wer aber in anmaßlicher Selbstgewißheit
achtlos an allem vorübergeht, was ihm Natur
an Hilfe bieten will, der darf sich wahrlich
nicht wundern, wenn ihm das Erdenleben
Hemmnis auf Hemmnis häuft, ‒ nur möge
er sich auch nicht in Klagen ergehen, da er
selbst es ist, der sich alle Erleichterung ver‐
scherzt!
57 Okkulte Rätsel
Weise wußten zu allen Zeiten auch für ihr
Geistiges zu nützen, was erdenhafter
Kräfte Wirkung ihnen gab.
Nur der Tor verlacht in eitler Selbstgefällig‐
keit, was er nicht kennt...
*
Wir gehen einer neuen Zeit entgegen, die in
unerbittlicher Gerechtigkeit die Spreu vom
Weizen sondern muß, und gar manches alte
Wissen, das heute noch entwürdigt und ver‐
achtet ist, wird in kommenden Tagen seine
Auferstehung feiern, während vieles, das uns
längst «erwiesen» schien, seine bisher unbe‐
zweifelte Geltung verlieren wird...
Aber noch immer war die Wissenschaft der
vielen vorher nur ein Wissen einzelner! ‒
Stets wurden «Naturgesetze» erst dann for
muliert, nachdem die Wirkungen, die
sie als gesetzlich begründet erweisen sollten,
längst anerkannt waren.
Wer warten will, bis alle Welt ihr «Ja und
Amen» sagt zu irgendeiner Sache, der wird
lange Zeit hindurch begnügsam sich beschei‐
den müssen, während andere, die selbst zu
58 Okkulte Rätsel
suchen und zu finden wußten, sich ihres Vor‐
teils freuen können...
Noch immer hatte man vorher die längste Zeit
hindurch als «Aberglaube» ausgeschrien, was
später sich gar wundersam und nach bester
wissenschaftlicher Weise begründet erwies. ‒
So liegt auch hier ein Feld vor uns gebreitet,
aus dem die mannigfachsten Ähren sprossen,
die alles Unkraut, das sich in der Zeiten Lauf
dazwischendrängte, nicht verkümmern kann.
Wer hier zu ernten weiß, den wird es zum
mindesten nicht gereuen!
Von Albrecht Dürer stammt das Wort:
«Die Kunst steckt in der Natur; wer sie
herausreißen kann, der hat sie!»
In gleicher Weise sind auch die mannigfach‐
sten subtilen Kräfte in der Natur ver‐
borgen und harren derer, die sie zu nützen
vermögen.
Der ärmste der Menschen besitzt hier auf
Erden einen Reichtum, von dem er sich nichts
träumen läßt!
Wollte jeder der auf Erden Lebenden sich
seiner verborgenen und von ihm selbst nicht
59 Okkulte Rätsel
gekannten Macht bedienen, dann würde
gar vieles materielle Elend des Erdenlebens
behoben sein! ‒ ‒ ‒
Aber bevor man sich einer Macht bedienen
kann, muß man sie kennen, und kennt man
sie nicht, zum mindesten an ihr Vorhanden‐
sein zu glauben fähig sein.
So ist auch hier der Glaube des Wissens Vor
läufer und findet seine Bestätigung erst in
der Erfahrung. ‒
Soweit ich also hier «Glauben» zu fordern
scheine, handelt es sich nur um die Vorbe
dingung, durch die allein solche Erfahrung
möglich wird. ‒ ‒
60 Okkulte Rätsel
DAS GEHEIMNIS
DER TRÄUME
.Unter den vielen Millionen Menschen die
auf dieser Erde leben, dürfte wohl nicht ein
einziger zu finden sein, der nicht zu irgend‐
einer Zeit, aus natürlichem Schlafe erwachend,
die Erinnerung an ein Erleben in sich emp‐
funden hätte, von dem er sich sagen mußte,
daß es unmöglich in seiner ihn umgebenden
Außenwelt sich abgespielt haben könne.
Zwar zeigte ihm seine Erinnerung, daß er
wachend und vollbewußt in solchem Erleben
sich betätigt hatte, daß die Welt, die ihn da‐
bei umgab, so real und greifbar sich erwies,
wie die altgewohnte Welt, die ihm eben beim
Erwachen wieder bewußt geworden war,
allein es fand sich keine Brücke, die den
Schauplatz des einen Erlebens mit dem des
andern verbunden hätte.
In der Welt seines Erwachens gewohnt, Orte
und Räumlichkeiten, die er vordem verlassen
hatte, wieder aufsuchen zu können, sah er
sich jenem, in der Erinnerung mit aller Deut‐
lichkeit vermerkten Erleben gegenüber außer‐
stande, aufs neue und willkürlich den gege‐
benen Erlebnisschauplatz zu betreten.
63 Okkulte Rätsel
Handlungen, die er dort vollzogen hatte,
fanden keine Folge in der Außenwelt des Er‐
wachens, Besitz, der ihm dort wohl zuge‐
hörte, hinterließ hier keinerlei Spuren, Men
schen, die dort vielleicht noch eben mit ihm
gesprochen hatten, wußte er jetzt, erwachend,
längst verstorben, Gefahren, die ihn dort
etwa in furchterregender Art bedrohen woll‐
ten, sah er jetzt durch keinerlei Gegebenhei‐
ten begründet.
Nur eines hatte jene Welt der Erinnerung
mit dieser Welt des Erwachens gemein: ‒ die
gleiche greifbare Dinglichkeit ‒ ‒ nur
eine Verbindung zwischen beiden Welten
war ihm noch geblieben: ‒ sein eigenes
Selbstempfinden, sein Bewußtsein um
das eigene «Ich». ‒ ‒ ‒
Man hat dieses seltsame Erleben, das unseres
äußeren Körpers Betätigung nicht bedarf und
Spuren nur im Inneren hinterläßt, mit
einem Namen bezeichnet und nennt es
«Traum», um so das körperlich wache
Erleben von ihm zu sondern.
Schon die ältesten Zeiten aber fanden sich
64 Okkulte Rätsel
durch solches Traum-Erleben derart beein‐
druckt, daß sie versuchten, hinter sein Ge‐
heimnis zu gelangen.
Mit ehrfurchtsvoller Scheu wurde das Traum‐
Erleben betrachtet, in dem man sich wa
chend, handelnd und genießend finden
konnte wie nur jemals in der gewohnten
Außenwelt, während der Körper dabei in
tiefem Schlafe ruhte.
Man suchte nach indirekten Zusammen‐
hängen mit der Außenwelt und erfand sich
so eine umfangreiche Symbolik, um die
Träume als Vorzeichen künftigen Geschehens
zu «deuten».
Auch neuere Wissenschaft betrat allen
Ernstes diesen Weg; nur suchte sie nicht mehr
die Zukunft durch Träume zu erhellen, son‐
dern des Träumenden eigenes Wollen und
Streben erschien ihr durch den Traum ent‐
rätselt, seine verhülltesten Wünsche er‐
schienen ihr aufgedeckt und in Traumform
offenbar geworden. ‒
*
65 Okkulte Rätsel
Im Grunde ist aber sowohl bei der alten, wie
der neuesten und streng wissenschaftlichen
Deutung der Träume nichts Wesentliches
über das Wunder des Träumens selbst
gefunden worden.
Auch alle auf physiologischer Forschung
beruhende Theorie vermag es nicht, das Ge‐
heimnis der Träume zu enthüllen, kann be‐
stenfalls nur den physischen Zustand erken‐
nen, in dem sich der äußere Erdenkörper
des Träumenden während des Traumes findet.
Und doch ist das Träumen ein höchst beach‐
tenswertes Geschehen, ‒ weit über alle psy‐
chologische und physiologische Forschung
hinaus, ‒ so daß es sich wohl verlohnen
dürfte, dieses Geschehen im Lichte reingei‐
stigen Erkennens zu betrachten.
*
Mehr als die meisten Menschen ahnen, wird
ihr sogenanntes «waches Tagesleben» durch
ihre Träume mitbestimmt. ‒
Es ist wahrlich nicht zu viel behauptet,
wenn ich hier sage, daß das Erleben der
Träume nicht weniger Anteil an der Cha‐
66 Okkulte Rätsel
raktergestaltung des Menschen hat, als sein
äußeres Erleben im Gebrauch des Erden
körpers. ‒ ‒
Auch wenn er seine Traumerinnerungen völlig
unbeachtet läßt, oder nur mit der vagen Er‐
innerung erwacht, irgend etwas geträumt
zu haben, ohne den Inhalt des Traumes in
den Lichtkegel seines Bewußtseins bringen
zu können, wird doch das Traumerlebnis
selbst seine Spuren im tiefsten, dunkelsten
Abgrund der Gedächtnisregionen: im Ge‐
dächtnis der Ganglien, in der Akkumulatoren‐
Batterie der Körperzellen, hinterlassen ha‐
ben, und ohne sich dessen irgendwie bewußt
zu sein, wird er in seinem Handeln des Ta
geslebens auf diese Weise durch Wirkungen
seiner Träume recht wesentlich beein
flußt...
Allerdings schließt sich hier ein Kreis, denn
wohl die meisten Träume die solche starken
Wirkungen üben, sind eben durch die Ge‐
danken, Strebungen, Neigungen, Wünsche
und Willensbetätigung des Menschen be
stimmt, so daß er selbst es ist, der sich im
67 Okkulte Rätsel
Träumen Verstärkungen seiner Gedan‐
ken- und Gefühlskräfte schafft, so daß ihm
der Traum gar manchen Aufschluß über sich
selber geben kann. ‒
In gleicher Weise kann jedoch auch der
Traum eine wohltätige Entlastung schaf‐
fen, indem der Träumende Erlebnismöglich‐
keiten die durch seine Veranlagung sehr wohl
auch für das äußere Tagesleben bestehen, die
er jedoch aus ethischen Gründen zu vermei
den strebt, nun im Traume aufsucht und aus‐
erlebt, so daß die Spannung in seinem Inne‐
ren aufgehoben wird. ‒ ‒
In solchen Fällen besteht dann die Rückwir‐
kung auf das Tagesleben ‒ außer der wohl‐
tätigen Entspannung ‒ meistens in einer
Empfindung, die nicht ganz unähnlich echtem
«Schuldbewußtsein» ist, und die so den Men‐
schen anspornt, nur noch entschiedener seinen
als ethisch gefordert erkannten Richtlinien
nachzustreben. Töricht aber wäre es, wollte
man sich in solchem Falle etwa moralisch
verantwortlich für seine Träume fühlen!
*
68 Okkulte Rätsel
So, wie die Wirkungen der Träume auf das
Tagesleben sehr verschieden sind, so aber
auch ihre Ursachen!
Nicht alles, was wir «Träume» nennen, er‐
schöpft sich im Bereich des Traumes.
Der echte Traum, im streng begrenzten
Sinn, besteht in den Wahrnehmungen die das
tierkörperliche Bewußtsein ‒ durch den
Schlaf, als rein physiologischen Vorgang, von
der vollen Wahrnehmung der Außenwelt ab‐
geschlossen ‒ nun im Innern des Körpers
macht und die ihm eben infolge seiner Ab‐
scheidung von der Außenwelt und ihrem
Maßstab nur in Gestalt gewisser, im Gehirn
erregter Vorstellungsbilder aufnahme‐
möglich werden.
Beeindruckungen des Körpers von Seiten
der Außenwelt, durch welche der «Sinne»
sie auch erfaßlich sein mögen, werden dabei
ausnahmslos nur in Bezug auf ihre innere
Wirkung im Körper, also gleichsam «von
innen gesehen», wahrgenommen.
Der Schläfer empfindet die Kälte der Luft um
seinen bloßgelegten Fuß, und im Inneren der
69 Okkulte Rätsel
Körperzellen wird die Erinnerung an einmal
durchwatetes kaltes Wasser wach, wodurch
im Gehirn das Vorstellungsbild sich gestaltet:
‒ «ich durchwate einen Bach», und wobei
dann durch dieses Bild eine große Anzahl mit
ihm assoziierter Bilder, je nach dem Grad der
Verknüpfung deutlicher oder verwischter,
miterweckt und so als Erleben mitempfunden
werden. ‒
Erkrankte Organe, mag auch die Erkrankung
im Wachsein des Tages noch nicht als Be‐
schwerde wahrgenommen worden sein, kön‐
nen so die Vorstellungsbilder einer Ver
letzung an der betreffenden Körperstelle
gestalten. Druck der aufgenommenen Speise
von Magen und Darm her auf gewisse Nerven‐
bahnen, die im Tagesleben durch Angst
empfindung alteriert werden, kann scheuß‐
liche Vorstellungsbilder drohender Art und
somit gräßliche Angstträume erzeugen...
Alles dies sind «echte» und unvermischte
Träume im Sinne meiner vorhin gegebenen
Definition.
*
70 Okkulte Rätsel
Nun kann aber diese Fähigkeit des Träu‐
mens, die auch das Tier besitzt, von einer Seite
her, die mit dem Traumbilden an sich gar
nichts zu tun hat, gleichsam «benutzt»
werden. ‒ ‒
Während der «echte» Traum nur innerkör‐
perliche Zellenempfindungen in ihren
Ausklängen als Vorstellungsbilder des Ge‐
hirns zu Bewußtsein bringt, können auch
Regungen der Seelenkräfte, die an sich ja
völlig außerkörperlicher Art sind, eben‐
sogut im Schlaf das Gehirn zu beeindrucken
suchen, wie sie es im Wachen zu beein‐
drucken gewohnt sind.
Die physiologische Veränderung jedoch, die
den Schlaf bewirkt, schafft gerade für jene
Kontaktstellen, von denen aus die Seelen‐
kräfte die Gehirnvorgänge zu disziplinie
ren vermögen, eine äußerst wirksame Isola‐
tion, so daß zwar das Gehirn zur Erzeugung
der in ihm latent ruhenden, durch die Seelen‐
kräfte gewollten Vorstellungsbilder erregt
werden kann, während die gleichen Seelen‐
kräfte völlig machtlos bleiben in Bezug auf
71 Okkulte Rätsel
die dadurch wachgerufenen Assoziations
bilder.
Der so von einer eigentlich traumfremden
Seite erregte Traum kann ein sehr logisch
gegliedertes Erleben zu Bewußtsein bringen,
kann aber ebensowohl, kaleidoskopartig, ein
Erlebnis noch während seines Ablaufs in ein
anderes verwandeln, oder schließlich alles
im wüsten Chaos vorbringen.
Zu dieser Art, nicht mehr rein nur im kör
perlichen Traumbereich wurzelnder
Träume, gehört alles Traumerleben, das
neuerdings von wissenschaftlicher Seite her
erforscht wird, um dadurch tiefere Einblicke
in die Psyche des Träumers zu gewinnen als
sie jemals durch seine bewußten Aussagen im
Wachzustand des äußeren Lebens zu erlangen
wären.
Hierher gehören auch die Träume des Gelehr‐
ten, der im Traume seine Forschungsaufgabe
weiter verfolgt, des Erfinders, der an seinem
Werke arbeitet, des Künstlers, dem so oft im
Traume gelingen mag, was ihm das Schaffen
im Tagesleben versagt.
72 Okkulte Rätsel
Hierher gehören aber auch die Träume, die,
beim Erwachen rückerinnernd betrachtet,
tatsächlich mitunter die Lösung schwierig‐
ster Aufgaben darstellen. ‒
Aber auch alle diese Träume bringen letzten
Endes nichts anderes zum Bewußtsein, als
was schon in irgend einer Weise Eigentum
der Psyche war und sich mit Hilfe der ins
Gehirn eingelagerten Vorstellungsbilder
zum «Erlebnis» gestalten ließ. ‒
*
Es gibt jedoch noch eine, von allem was bis‐
her hier angedeutet wurde, recht verschiedene
Art des Träumens, und vielleicht hat gerade
sie dazu beigetragen, daß der Traum den
Alten stets etwas Geheimnisvolles blieb.
Genau so, wie die Kräfte der Seele, sowohl
im Wachen, wie im Schlaf, wenn auch in recht
verschiedener Weise, die Gehirnzellen zu
beeindrucken vermögen, können auch Vor‐
stellungsbilder anderer Wesen, ‒ seien es
erdenkörperlich lebende Menschen,
seien es die Lemurenwesen des unsicht‐
baren physischen Zwischenreiches, oder
73 Okkulte Rätsel
aber hohe Geisteswesenheiten, ‒ das Ge‐
hirn des Schlafenden wie des Wachenden er‐
reichen, wobei hier jedoch die Aufnahme‐
fähigkeit des Gehirns eines Schlafenden, vor‐
ausgesetzt, daß er nicht bereits zu intensiv
durch anderweitiges Traumerleben bean‐
sprucht wird, dem Wachzustand gegenüber
erheblich gesteigert sein kann. ‒ ‒ ‒
Waren in den vorher geschilderten Fällen des
Schlafenden eigene Körperzellen oder
seine Seelenkräfte Auslöser des Traumer‐
lebens, so treten hier an diese Stelle nun
bewußte, vom Schläfer selbst individuell
verschiedene Wesen, die aus eigenem
Willen und in bewußter Absicht auf ihn
einzuwirken suchen.
Es kommt so, durch das Gehirn vermittelt,
ein Vorstellungskontakt zustande, der sehr
verschiedenen Wertes sein kann, ‒ von der
bloßen «neutralen» Übertragung gewisser
Vorstellungsinhalte bis zu fast hypnotisch
wirkendem Befehl, oder aber hohem geisti‐
gem Rat, hoher geistiger Erkenntnisver
mittelung. ‒ ‒
74 Okkulte Rätsel
Auch die dieser Erde Gestorbenen kön‐
nen, durch die Hilfe hoher Geisteswesen‐
heiten, auf diese Weise vorübergehend das
Bewußtsein der noch im Erdenkörper Leben‐
den erreichen. ‒ ‒
Alle «Wahrträume» gehören hierher, ‒
alle Warnungsträume und hohen geistigen
Traumerlebnisse, die in irgend einer Weise als
gewährte Hilfe zu deuten sind, ‒ ‒ aber
ebenso können auch in gleicher Art sehr
üble Einflüsse sich Gehör und Beachtung
verschaffen...
Hier muß der Wachende, der sich solchen Trau‐
mes erinnert, selbst zu urteilen vermögen,
und das Urteil wird ihm nicht schwer fallen. ‒
Je mehr er gewohnt ist, nach streng ethi
scher Richtschnur zu handeln, desto klarer
wird er erkennen, welcher Art der Einfluß
war, der ihn im Traum erreichte.
Auch hier handelt es sich, wie aus allem, was
ich sagte, ersichtlich ist, um keinen «echten»,
d.h. nur im eigenen Körperempfinden
beschlossenen «Traum», sondern die Fähig‐
keit des Träumenkönnens wird benutzt,
75 Okkulte Rätsel
um auf diese Weise fremde Vorstellungs‐
bilder dem Bewußtsein des Schläfers, durch
dessen eigenes Vermögen, sie zu reflektie
ren, vorzuführen. ‒
Die meisten Träume dieser Art hinterlassen
bei dem Erwachenden das Gefühl, daß es sich
hier um mehr als nur um einen «Traum»
gehandelt habe.
Man fühlt instinktiv das ordnende Be
wußtsein des fremden Traum-Senders. ‒
Aber auch hier kann Verwischung eintreten,
sei es, daß während der Vorstellungsübertra‐
gung die eigenen unberuhigten Seelenkräfte
sich geltend zu machen suchen, oder daß
physische Empfindungen des eigenen Körpers
einen 'echten Traum' dazwischenschieben.
Trotzdem läßt sich oft die eigentliche Mittei‐
lung noch in der Verwirrung erkennen, denn
die aus eigenem Lebensbereich dazwischen‐
geratenen Vorstellungsbilder werden stets
mehr oder weniger verändert, falls solche
Vorstellungsübertragung zur Zeit ihrer Gestal‐
tung am Werke war.
Es tritt dann eine Art «Übersetzung» der
76 Okkulte Rätsel
fremden Vorstellungsinhalte in symbolische
Traumerlebnisse ein, die zwar oft sehr schwer
deutbar, aber doch meistens irgendwie als
solche erkennbar ist. ‒ ‒
Wohl das berühmteste Beispiel solcher
Traumsymbolik findet sich in jenem Traum
des Pharao, den ihm, nach der biblischen
Erzählung, der junge hebräische Sklave so gut
zu deuten wußte.
Will man diese Erzählung, wenn auch nur des
Beispiels halber, als «historisch» gelten lassen,
dann dürfte auch anzunehmen sein, daß jener
Pharao der Fähigkeit zu überlegendem Den‐
ken nicht gänzlich entriet und daß unter
seinen Weisen doch wohl einige waren, die von
der Deutung traumgeborener Symbole, wie sie
in alter Zeit sehr eifrig gepflegt wurde, einiges
verstanden! ‒
Wenn ihm trotzdem seine Zeichendeuter
keine Auskunft geben konnten, während der
hebräische Jüngling sie in so klarer Weise
fand, so geht hier denn die Lehre hervor, daß
alle Deutung der Symbolik der Träume nur
durch Intuition zu erlangen ist. ‒
77 Okkulte Rätsel
‒ Der Aberglaube des Volkes hat sich seit
alter Zeit mit besonderer Neigung der Traum‐
deutung angenommen, wobei gewiß nicht be‐
stritten werden soll, daß vereinzelte Regeln
dieser vulgären Traumdeutekunst einer ge‐
wissen Beachtung typisch wiederkehrender
Traumsymbole entstammen. Es wäre gewiß
auch möglich, durch die Lebensarbeit vieler
einzelner eine gewisse Gesetzmäßigkeit
in bezug auf die Einkleidung mancher
Traumerkenntnisse in eine entsprechende
Reihe von Vorstellungsbildern aufzu‐
weisen. Vorerst aber betritt jeder, der hier Zu‐
sammenhänge erkunden möchte, sehr schwan‐
kenden Boden, so daß ich nur raten kann,
alle Träume, die sich nicht ohne Schwierigkeit
klar und eindeutig erklärbar finden, auf sich
beruhen zu lassen.
Es werden auch immer nur sehr seltene
Träume sich in die zuletzt besprochene Kate‐
gorie mit Sicherheit einfügen mögen. ‒
Immerhin kann es für den einzelnen, voraus‐
gesetzt, daß er sich genügend gefestigt weiß,
um sein Leben nicht unvermerkt unter den
78 Okkulte Rätsel
Druck eines törichten Aberglaubens zu
stellen, von mancherlei Interesse sein, wenn
er seine Träume zu analysieren und gegebenen‐
falls auch die bei ihm auftretende Traum‐
symbolik zu enträtseln suchen will.
Es gibt schlichthin nichts in unserem irdi
schen Leben, das wir nicht in einer oder der
anderen Weise dem geistigen Leben dienst‐
bar machen könnten. ‒
Das Geheimnis der Träume ist im letzten
Sinne nur so lange Geheimnis, als uns selbst
die auch hier, wie überall im Leben, streng
gesetzmäßigen Zusammenhänge nicht
offenbar sind. ‒
Wer freilich sein Traumerleben als das «Be‐
treten geistiger Welten» auffaßt, ‒ und es
gibt selbst noch in unseren Tagen Menschen,
die gar sehr zu solcher Auffassung neigen, ‒
der tauscht den Weg zur Wahrheit mit dem
Weg zum Trug. ‒
Wohl kann der geistige Organismus eines
Menschen, während sein Erdenhaftes in
tiefem Schlafe ruht, auf geistigen Planen wei‐
len und dort Erfahrungen machen, von denen
79 Okkulte Rätsel
nur ein schwacher Abglanz in der «Überset‐
zung» in Traumsymbolik sein irdisches
Bewußtsein erreicht, weil dann sein eigenes
Geistiges, das er im wachen Tageserleben
selbst noch nicht kennt, es ist, das durch
die Vorstellungsbilder seines Gehirns ihm
seine hohen geistigen Einsichten mitteilen
will.
Aber das bewußte Betreten geistiger Reiche
im geistigen Organismus, das nur den Weni‐
gen auf dieser Erde möglich ist, die schon in
diesen Reichen wirkten, ehe sie das Kleid des
Erdenleibes trugen, ist wahrlich anderer
Art, als jegliches, noch so hohes Traum‐
Erleben! ‒ ‒
Es läßt sich durch keine «Übung», keine
Anstrengung erreichen, außer von jenen We‐
nigen, die das Urlicht selbst dazu be
stimmte, damit sie die «Brückenbauer»
werden konnten für ihre im Dunkel erden‐
haften Erkennens gebundenen Brüder. ‒
Wohl aber kann jedem Menschen der Traum
ein Abbild, ein Gleichnis eines Erlebens
bedeuten, das des irdischen Körpers Be‐
80 Okkulte Rätsel
tätigung nicht bedarf und dennoch sich in
realer Gestaltung innerhalb realer Wel
ten findet...
Alles Irdische, und dazu gehört auch der
Traum, ist stets nur ein schattenhaftes Spie‐
gelbild geistigen Seins. ‒
Wer so das Geheimnis der Träume zu ergrün‐
den sucht, dem kann es zu hoher heiliger
Lehre dienen. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
81 Okkulte Rätsel
MANTISCHE KÜNSTE
.Das Wort «Mantik» bezeichnet seit den
ältesten Zeiten jegliche Art der sogenannten
«Wahrsagerei», speziell der Vorhersagung
zukünftiger Dinge.
Das Altertum kannte eine Unzahl Methoden,
durch deren Anwendung man künftiges Ge‐
schehen im voraus erkennen zu können glaub‐
te, und wenn es sich dabei auch fast aus‐
nahmslos um rein abergläubische Annahmen
handelte, so wurden doch auch zuweilen in
solcher Sucht die Zukunft zu enthüllen, Ge‐
biete berührt, die über allen Aberglauben
hinaus ihre Bedeutung haben.
Gewisse mantische Künste haben sich bis auf
die heutige Zeit erhalten, ja sie werden gerade
in der Gegenwart wieder sehr gepflegt.
Vielfach ist es nicht so sehr der Wunsch nach
Enthüllung der Zukunft, der zu ihrer Aus‐
übung führt, als vielmehr das der Zeit eigene
Streben nach Analysierung des eigenen
Seelenkomplexes.
Um dies zu verdeutlichen sei es mir verstattet,
hier das Forschungsgebiet der Graphologie
heranzuziehen, obwohl Graphologie gewiß
85 Okkulte Rätsel
nicht zu den «mantischen Künsten» zählt,
sondern als eine mit wissenschaftlicher Ge‐
nauigkeit arbeitende Forschungsmethode sich
sogar schon das Vertrauen unserer staatlichen
Rechtspflege in so hohem Maße erworben hat,
daß man sich ihrer Hilfe bereits mit Selbst‐
verständlichkeit bedient.
Eine graphologische Feststellung ist wahr‐
haftig alles andere als eine Zukunftsent‐
schleierung.
Die Graphologie oder Handschriftbeurtei‐
lungskunde zeigt vielmehr lediglich die Cha
rakterveranlagung eines Menschen aus
den unwillkürlichen Besonderheiten seiner
Handschrift auf.
Trotzdem aber ist das Interesse an der Gra‐
phologie in allen Kreisen derart groß, daß ein
auch nur halbwegs mit den Grundgesetzen
dieser psychologischen Forschungsmethode
vertrauter Mensch sich sehr hüten muß, sein
Wissen darum zu bekennen, will er nicht mit
unzähligen Bitten um Analysierung der
Handschrift überhäuft werden.
Ähnlich dürfte es auch, nach meinen eigenen
86 Okkulte Rätsel
Beobachtungen und denen anderer, um das
Interesse an den heute noch betriebenen man‐
tischen Künsten stehen. ‒
Es sind meist recht naive Gemüter, die ent‐
weder selbst diese Künste üben oder zu einem
ihrer Kundigen kommen, um etwas über ihre
Zukunft zu erfahren. Dagegen interessiert
sich zuweilen, und oft weit mehr als zuge‐
standen wird, selbst hohe Intelligenz für
solche Dinge, soweit eine Art Seelen
oder Charakteranalyse dabei in Betracht
kommt. ‒
Daß eine solche Analyse des Charakters wie
der ganzen seelischen Eigenart eines Men‐
schen auch bei den mantischen Künsten sehr
wohl möglich ist, zeigt wohl am deutlichsten
die Chiromantie, die man, ganz abgesehen
von historischem Überkommen, schon des‐
halb zu den «mantischen Künsten» zählen
muß, weil sie den Anspruch erhebt, auch die
Zukunft, ‒ und zwar nicht etwa wie die
Astrologie durch Berechnung, ‒ sondern
durch Deutung gewisser Zeichen zu er‐
hellen.
87 Okkulte Rätsel
Es läßt sich heute nicht mehr leugnen, daß die
Linien und feinen Runen der Hand eines
Menschen in sehr engem Zusammenhang mit
seiner ganzen Charakterveranlagung
stehen und es bedarf kaum einer weitläufigen
Erklärung, wieso dies möglich sein könne,
wenn man sich vor Augen hält, daß die seeli‐
schen Regungen des Menschen überhaupt nie‐
mals zum Ausdruck kommen könnten, wenn
sie nicht feinste Nerven- und Muskelfasern zu
beeindrucken vermöchten.
Gewiß ließe sich hier sagen, daß dann das
menschliche Antlitz die seelische Art eines
Menschen noch weit leichter deutbar spiegeln
müsse, und tatsächlich dürften recht viele
Menschen aus einem Gesicht weit mehr
herauszulesen fähig sein, als aus einer Hand,
aber dennoch verdient hier die Hand ent‐
schieden den Vorzug, da sie weit weniger als
der Gesichtsausdruck «gefälscht» werden
kann. ‒ ‒
Wie mancher notorische Gauner wußte sich
schon unverdientes Vertrauen durch seine
«ehrlichen Augen» zu erschleichen, während
88 Okkulte Rätsel
die Linien seiner Hände ihn dem Kundigen
unfehlbar verraten hätten! ‒
Die Handlinien sind eben auch durch die
gewiegteste Verstellungskunst nicht zu ver
ändern, und anderseits ist wieder die Hand
unstreitig der Körperteil, der nächst dem
Antlitz am stärksten durch seelische Ein‐
drücke berührt wird.
Wie man aber jegliche Sache dilettan
tisch betreiben, oder aber auch ernsthaft
erforschen kann, so lassen sich denn auch
die Runen der Hand sowohl einem sehr ein‐
dringlichen Studium unterziehen, oder nur
nach oberflächlichen Regeln schematisch
und schablonenhaft betrachten.
Es gehört selbstverständlich eine jahrelange
intensive Beobachtung vieler Hände dazu,
um auf diesem Gebiete zu einiger Erfahrung
und Sicherheit der Diagnose zu kommen.
Daß dann auch gewisse Erlebnisse der Ver‐
gangenheit eines Menschen in seinen Händen
an den hinterlassenen seelischen Spuren «ab‐
gelesen» werden können, wird man leicht ver‐
stehen. Verwickelter liegen die Dinge hin‐
89 Okkulte Rätsel
sichtlich der Ambitionen der Chiromantie,
auch zukünftige Geschehnisse voraussagen
zu wollen.
Gewiß werden einem wirklich geübten Hand‐
leser auch Anlagen und Neigungen sich ent‐
schleiern, die mit einiger Sicherheit, und wenn
kein Eingreifen rein geistiger Mächte es ver‐
hindert, ‒ zu bestimmten Resultaten hinsicht‐
lich zukünftigen Erlebens führen können.
Weiterhin lassen sich aus den Handlinien
auch die rein physische Veranlagung, wie die
mutmaßlichen Abläufe der durch den physi‐
schen Habitus der Person gegebenen Erleb‐
nisperioden im allgemeinen erkennen.
Beide Beobachtungen kombiniert können
also auch dazu führen, daß sich der ungefähre
Zeitpunkt gewißer Geschehnisse der Zukunft
angeben läßt.
Dieses Vorausbestimmen beschränkt sich
jedoch immer nur auf einen engumgrenzten
Bezirk psychophysisch bestimmter Möglich‐
keiten.
Der Chiromant, der darüber hinaus zu
sicheren und später bestätigten Angaben ge‐
90 Okkulte Rätsel
langt, verläßt bereits bewußt oder unbewußt
das Gebiet der Chiromantie, auch wenn er
von ihm ausgegangen ist, denn seine Aus‐
sagen gründen in Wirklichkeit nur zum
Teil auf Beobachtungen der Handlinien,
während ihm das Wichtigste durch den
seelischen Kontakt vermittelt wird, der
sich während der Handuntersuchung spontan
einstellt und bei dazu geeigneten Naturen zu
einer Art «Hellfühlen» führen kann.
Bei wirklich guten Handlesern, seien es nun
ausgesprochene Forscher auf ihrem Gebiete,
oder vielleicht ihres Tuns nur halbbewußte
Natur-Begabungen, werden immer alle ge‐
nannten Faktoren zusammenwirken,
ohne daß es möglich wäre, exakte Trennungs‐
linien zu ziehen.
Kombinationsgabe und Menschenkenntnis
mögen dann das Resultat noch verbessern,
und wenn es sich um höchste Leistungen
handelt, wird man stets sicher sein können,
daß eine stark intuitiv erfassende Bega‐
bung mit allen erdenklichen Fähigkeiten zu
gleich gearbeitet hat, wobei zu beachten ist,
91 Okkulte Rätsel
daß die Befähigung zu solchem intuitiven
Erkennen nicht etwa gar als Beweis einer
höheren Geistigkeit gewertet werden darf und
sich sowohl bei ethisch hochstehenden, wie bei
völlig demoralisierten Naturen finden kann.
*
Hier sind wir nun bei einer wirkenden Kraft
angelangt, die bei allen mantischen Künsten
vielleicht die bedeutendste Rolle spielt!
Ich meine die Kraft der Intuition, die nur
eine starke Anregung verlangt, um oft dem
allereinfachsten Menschen Einsichten zu ver‐
mitteln, die bislang noch durch keine exakt
wissenschaftliche Forschungsmethode will‐
kürlich zu erhalten sind.
Aber auch der gelehrte Forscher wird auf den
hier behandelten Gebieten erst dann Befriedi‐
gendes zu erreichen vermögen, wenn er es ver‐
steht, seine in ihm schlafenden intuitiven
Kräfte zu wecken, und, trotz aller bewußt
kritischen Einstellung, auf die Stimme der
Intuition zu hören.
‒ Die Erfahrungen unzähliger Menschen aus
allen Bildungsschichten wissen immer wieder
92 Okkulte Rätsel
Gelegenheiten aufzuzeigen, bei denen durch
irgend eine mantische Kunst verblüffend
richtige Resultate erhalten wurden.
Äußerlich fühlt man sich scheinbar sehr erha‐
ben über allen «Aberglauben», aber insge‐
heim wird jede obskure Pythia in den Hin‐
terhäusern der Vorstädte aufgesucht, von der
dieser oder jener zu erzählen weiß, daß sie
ihm «alles richtig gesagt» habe.
Es geht nicht an, hier wie der Vogel Strauß
die Augen in den Sand zu bergen, um nicht
zu sehen, was man nicht sehen möchte. ‒
Es ist vielmehr nötig, in allen solchen Fällen
der wirkenden Kraft auf die Spur zu
kommen, die bald da bald dort, und oft unter
sehr albern anmutenden Nebenumständen,
doch immerhin beachtenswerte Resultate
schafft. ‒
‒ Asiatische Wahrsager bedienen sich noch
heute gewisser kleiner, mit sogenannten ma‐
gischen Zeichen versehener Tafeln oder
Stäbchen, die sie in einem halbsomnam‐
bulen Zustand durcheinanderwerfen, um aus
der so erhaltenen, scheinbar «zufälligen»
93 Okkulte Rätsel
Kombination der Zeichen, dem Fragestellen‐
den Antwort zu erteilen.
In den Tempelheiligtümern tibetanischer
Klöster werden auf den Altären gleichfalls
Tafeln verwahrt, die in ihrer Gesamtheit als
«heilige Bücher» gelten, die auf alle Fragen
Antwort geben, deren Text aber nur von
Kundigen gelesen werden kann, da sie nach
bestimmten Regeln gelegt und kombiniert
werden müssen, um ihr Geheimnis zu offen‐
baren.
Im sogenannten «Tarot» der Zigeuner, dem
Urahn sämtlicher Kartenspiele, haben wir
sehr Ähnliches vor uns.
Auch hier müssen die Karten, die symbolische
Zeichen, Buchstaben und Bilder tragen, unter
bestimmten Vorbereitungen und nach be‐
stimmter Methode «gelegt» werden, um aus
der so entstandenen Kombination die Ant‐
wort auf gestellte Fragen ablesen zu können.
Die «Kartenschlägerin» oben im Dachstock
irgend einer Hinterhaus-Mietskaserne, die
dort eine Klientel empfängt, von der man
wohl sagen darf, daß sie niemals sonst solche
94 Okkulte Rätsel
Stätten der Armut zu betreten pflegt ‒ hat
in den allermeisten Fällen von der erlauchten
Ahnenschaft ihres magischen Requisits, wie
ich sie oben aufzeigte, kaum eine Ahnung.
Ihr Tun aber entspricht durchaus, ‒ von
einigen begleitenden Äußerlichkeiten abge‐
sehen, ‒ dem des chinesischen Wahrsagers,
des tibetanischen Lamapriesters, oder dem des
Okkultisten vom Schlage Eliphas Lévis,
der den Tarot befragt...
Es leuchtet ein, daß hier gleiche Verursa‐
chung zu gleichen Resultaten führt, und so
schwören denn auch die Gläubigen der euro‐
päischen Großstädte genau so auf die Orakel
ihrer mehr oder minder bedenklichen Sibyl‐
len, wie das Volk des Dalai Lama auf die
Bekundungen seiner Priesterschaft...
Trotz allem Humbug aber, der sowohl in den
östlichen wie den westlichen Gefilden dieser
Erde niemals um Gläubige verlegen zu sein
braucht, treten hier wie dort auch Resultate
zutage, die nicht durch Humbug zu erlangen
sind und zuweilen selbst recht kritiklüsterne
Seelen in ihren Bann ziehen.
95 Okkulte Rätsel
Es bleibt nicht verwunderlich, daß dem so
ist, denn aller Hokuspokus, der die ehrfürch‐
tige, abergläubische Scheu der Gläubigen er‐
weckt, ist für den Wahrsager aller dieser
Gattungen nur ein Mittel, sich selbst in
einen Konzentrationszustand zu ver‐
setzen, der ihm den seelischen Kontakt
mit seinem Anfrager möglich macht. ‒
Infolge dieses Kontakts erst vermag er es, je
nach dem Grad seiner Intuition, die Dinge
zu verkünden, die dann so maßloses Staunen
erregen. ‒
Man ahnt ja nicht, daß wir Menschen dieser
Erde alle voneinander viel mehr wissen
könnten, wenn wir es verstehen würden,
in seelischen Kontakt zu kommen und
dann die Stimme der Intuition zu erlau‐
schen. ‒
Wer immer aber eine der mantischen Künste
sozusagen «berufsmäßig» ausübt, erlangt da‐
bei auf ganz natürlichem Wege eine große
Sicherheit in der Herstellung solchen seeli‐
schen Kontaktes, erlangt mit wachsender
Erfahrung wachsende Einsichten bezüglich
96 Okkulte Rätsel
der Herbeiführung des nötigen Konzentra
tionszustandes, so daß es, in des Wortes
wörtlichster Bedeutung, wahrhaftig kein
«Wunder» ist, wenn er seinem staunenden
Gegenüber Dinge zu verkünden weiß, die der
Anfrager, gewohnt, stets in wüster Zer-streu‐
ung seiner Blickrichtung einherzustolzieren,
längst selbst nicht mehr in sich wahrzu‐
nehmen fähig ist.
Das große Staunen ist also hier nur insofern
am Platz, als es wahrlich staunenswert er‐
scheint, mit welcher Gleichgültigkeit der
Mensch des Alltags seine wundersamsten
Fähigkeiten verloren-gehen läßt, um dann
in arger Torheit vor anscheinend dunklen
Rätseln zu stehen, wenn irgend eine frühere
Abwaschfrau oder irgend ein halbzivilisierter
Asiate noch zu benützen weiß, was jeder
Sterbliche benützen könnte, wenn er nicht
völlig stumpf für alles subtilere Fühlen ge‐
worden wäre, so viel er sich auch auf sein
«sicheres Gefühl» in dieser oder jener Hin‐
sicht, einbilden mag. ‒ ‒
*
97 Okkulte Rätsel
Es wird nun oft die Frage gestellt, ob es mit
dem Streben nach höherer geistiger Entwick‐
lung vereinbar sei, sich der mantischen
Künste zu bedienen?
Ich kann darauf nur antworten, daß «denen,
die Gott lieben, alle Dinge zum Besten ge‐
reichen» müssen! ‒ ‒
Es ist lediglich eine Geschmacksfrage, die
jeder sich selbst beantworten muß, ob er seine
Lebensgestaltung durch die Orakel irgend
einer wahrsagenden Zigeunerin bestimmen
lassen will oder es mit der Achtung vor sich
selbst zu vereinbaren weiß, wenn er heimlich
«Hellseher» und Kartenschlägerinnen konsul‐
tiert, ‒ aber an sich ist solche Neugier nichts
anderes als eine törichte Schwäche, die frei‐
lich anzeigt, daß der also Handelnde noch nicht
gar weit auf dem Wege zum Geist gekommen
sein kann. ‒ Würde er diesen Weg mit einiger
Ausdauer konsequent verfolgt haben, dann
sähe er sich selbst imstande, in sich selbst
alle Antworten auf seine Fragen zu erhalten
und könnte gar nicht mehr auf den Gedanken
kommen, sich bei anderen Rat zu holen. ‒ ‒
98 Okkulte Rätsel
Es ist angesichts der tausendfachen, bei allen
Völkern der Erde vorliegenden Erfahrungs‐
beweisen schlichthin lächerlich, etwa
daran zweifeln zu wollen, daß durch Aus‐
übung mantischer Künste eine sehr erheb‐
liche, spontane Steigerung der Empfin
dungsfähigkeit für subtile Einflüsse
erreicht wird, aber es wäre ebenso lächerlich,
wollte man den magischen Requisiten der
Wahrsager eine geheimnisvolle Bedeutung
beilegen, ‒ außer der einzigen, die ihnen zu‐
kommt: ‒ Hilfsmittel zur Erreichung
des Konzentrationszustandes, Anre
gungsmittel der Intuition zu sein. ‒ ‒
Zweifellos dürfte es denn doch erheblich wün‐
schenswerter und der Würde des Menschen
entsprechender sein, wenn man solche Kon
zentration auch ohne den Firlefanz zu er‐
reichen vermag, der von der Ausübung man‐
tischer Künste fast untrennbar ist, und wenn
man seine Intuition nicht erst durch äus
sere, mitunter keineswegs unbedenk
liche Mittel erwecken muß, ‒ abgesehen da‐
von, daß die Beschäftigung mit irgendwelchen
99 Okkulte Rätsel
mantischen Künsten, auch wenn sie lediglich
als forschendes Suchen aufgefaßt wird, alle
Seelenkräfte derart in Anspruch nimmt, daß
daneben kaum noch die Möglichkeit geisti
ger Entfaltung bestehen bleiben kann. ‒ ‒
Wer den Weg zum Geiste einmal in Wahr‐
heit betreten hat, dem werden alle mantischen
Künste, ungeachtet ihrer zuweilen sehr rich‐
tigen Resultate, völlig entbehrlich sein,
denn ihm wird von alledem, was er durch
mantische Kunst erfahren könnte, stets auf
geistige Weise gerade soviel zuteil werden,
wie er braucht, um seinen Höhenweg siche‐
ren Fußes weiterschreiten zu können.
Er wird aus allem das Beste zu gestalten
suchen, mag ihm die Zukunft dunkel bleiben
oder irgendwelche Erhellung erfahren...
Stets wird er wissen, daß alle mantische Kunst
‒ ja alle Zukunftsberechnung ernsterer Art ‒
nur den gesetzlichen Ablauf physischen Ge‐
schehens zur Voraussetzung hat. Wer aber im
Geiste «neu geboren» ist, dem dienen auch
des Geistes hohe Kräfte, die gar manches
irdische Geschehen umzulenken wissen! ‒ ‒
100 Okkulte Rätsel
HYPNOSE
.Ich glaube es mir ersparen zu dürfen, hier
ausführlich zu erklären, was man unter
«Hypnose» versteht, und wie dieser abnorme
Zustand der Willens- und Bewußtseinsbin‐
dung herbeigeführt werden kann.
Es wird heute leider viel zu viel auf diesem
Gebiete experimentiert und die Erscheinun‐
gen der Hypnose werden sowohl in gelehrten
Werken, wie in den fragwürdigsten Traktät‐
chen, weitläufig und breit erörtert.
Meines Erachtens sollte man mit den Anwei‐
sungen zur Herbeiführung der Hypnose weit
vorsichtiger sein, und selbst die Beschrei
bung des hypnotischen Zustands ist nicht
ohne Gefahr. ‒
In segensreichem Sinne wirken solche Erörte‐
rungen ganz gewiß nicht, wohl aber reizen sie
die Neugierde, erwecken je nach der aktiven
oder passiven Artung des Lesers in so man‐
chem den Wunsch, entweder selbst «hypno‐
tisieren» zu können oder den hypnotischen
Zustand am eigenen Leibe zu erfahren.
Hinsichtlich des «Könnens» herrscht noch in
weiten Kreisen die Annahme, als sei der er‐
103 Okkulte Rätsel
folgreiche Hypnotiseur mit einer mysteriösen
Kraft begabt, trotzdem immer wieder ver‐
sichert wird, daß «jedermann» hypnotisieren
könne, und daß nur die Willenskraft des
Hypnotiseurs die entscheidende Rolle spiele.
In Wirklichkeit verhält sich die Sache erheb‐
lich anders!
Erstens kann nicht jeder Mensch, und mag
er die Technik der Hypnose noch so genau
kennen, den hypnotischen Zustand herbei‐
führen, selbst wenn er seinen Willen in muster‐
gültiger Weise auf sein Vorhaben zu konzen‐
trieren vermag ‒ und zweitens ist es nun
einmal keineswegs der Wille des Einen, der
hier des Anderen Willen bindet. ‒ ‒
Es gibt sehr gute Hypnotiseure, die recht
«willensschwache», zur Konzentrierung ihrer
Wünsche auf einen einzigen Willens-Impuls
fast unfähige Menschen sind, während sehr
willensfeste Menschen oft leichter in Hypnose
verfallen als andere, bei denen von «Willens‐
kraft» wirklich nicht die Rede sein kann. ‒
Hier sind vielmehr Kräfte am Werke, die mit
dem Willen recht wenig zu tun haben, und
104 Okkulte Rätsel
wenn ich oben von «Willensbindung» sprach,
so ist auch das nicht so zu verstehen, als sei
etwa der Wille selbst in irgend einer
Weise zu schwächen. ‒
Es handelt sich in Wahrheit nur darum, daß
die körperlichen Organe des Menschen,
die im Normalzustand fast ausschließlich auf
die Regungen des eigenen Willens reagie‐
ren, während sie «fremdem» Willen nur sehr
unvollkommen und nur bei Ablenkung des
eigenen Willens zugänglich sind, im Zustand
der Hypnose unfähig gemacht werden, den
eigenen Willen zu vernehmen, oder, in
leichteren Fällen nur noch sehr unvollkom‐
men auf ihn reagieren. ‒
Jegliches Hypnotisieren ist also nur eine suk‐
zessiv gesteigerte Ablösung des Gehirn- Appa‐
rats vom Willen des Gehirn- Eigners.
Da aber der Wille dem Gehirn nur durch
die dem unsichtbaren Teil der physischen
Welt zugehörigen, feinen, fluidischen
Kräfte des Körpers Eindrücke zu vermit‐
teln vermag, so bedeutet die Herbeiführung
des hypnotischen Zustandes nichts anderes
105 Okkulte Rätsel
als eine Betäubung dieser feinen, flui
dischen Kräfte. ‒
Wohl ist es ein Willensimpuls des Hypno‐
tiseurs, der als erste Ursache dieser Betäubung
in Betracht kommt, aber die Stärke dieses
Impulses ist für das weitere Geschehen eben‐
so bedeutungslos wie die Theorie, nach der
sich der Hypnotiseur die auftretenden Er‐
scheinungen zu erklären versucht. ‒
Er selbst ist es wahrlich nicht, der jene
Zustände herbeiführt, die seinem kontinuier‐
lich beibehaltenen, aber deshalb durchaus
nicht etwa mit übernormaler Kraft erfolgtem
Willensimpuls folgen! ‒
*
Die Erscheinungen der Hypnose beruhen
‒ so seltsam dies auch allen herrschenden
Theorien gegenüber klingen mag ‒ auf einer
Art «Ansteckung», nur daß hier nicht durch
Bazillen und Mikroben Krankheiten über‐
tragen werden, sondern durch Energiezentren,
die auch dem besten Mikroskop unsichtbar
bleiben, eine Lähmung der feinen flui
dischen Körperkräfte erfolgt, wodurch
106 Okkulte Rätsel
eben diese Energiezentren direkt auf das
Gehirn einzuwirken vermögen unter Aus‐
schaltung des Willens seines Eigners.
Der Hypnotiseur aber ist ein Mensch, dessen
psychophysische Konstitution besondere
Eignung besitzt, um jene Energiezentren sei‐
nen Wünschen entsprechend anzuregen, so
daß sie automatisch in der Richtung des
erhaltenen Anstoßes weiterwirken.
Es kann deshalb auch durchaus nicht «jeder‐
mann» hypnotisieren, so wenig wie jeder
Mensch etwa als spiritistisches «Medium»
erfolgreich sein wird, obwohl in beiden Fällen
Kräfte zur Auswirkung kommen, die bis zu
gewissem Grade in jedem Menschen‐
wesen sind. ‒
Die unsichtbaren Energiezentren, um die es
sich hier handelt, sind an jedem Punkte der
unsichtbaren physischen Welt zu Myriaden
vorhanden, erfüllen als homogene Masse allen
Raum, und bedürfen nur des Anstoßes durch
einen Willensimpuls, um gleichsam mit die‐
sem Impuls «geladen», dessen auswirkende
Diener zu werden, so daß es fast den An‐
107 Okkulte Rätsel
schein hat, als habe man es hier mit kleinsten
unsichtbaren halbbewußten Lebewesen zu
tun.
Sie werden auch durchaus nicht etwa nur
durch den Willensimpuls eines Hypnoti
seurs zur Tätigkeit gezwungen, sondern stets
und ständig durch jeden, noch so verborgenen
Wunsch bewegt, sobald solches Wünschen
den Willen einmal in Hörigkeit zu zwingen
vermochte. ‒
Während aber bei der Mehrzahl der Menschen
die feinen fluidischen Körperkräfte individuell
isoliert sind, so daß die Beeindruckung die‐
ser Energiezentren nur durch verhältnis‐
mäßig spärliche Infiltration erfolgt, findet man
auch anderseits ziemlich zahlreich eine psy‐
chophysische Konstitution, die fast ein In‐
einanderfließen der eigenen, feinen fluidi‐
schen Kräfte des Körpers mit besagten
Energiezentren aufweist, und dies sind dann,
‒ je nach ihrer mehr aktiven oder mehr
passiven Veranlagung, ‒ entweder die
geborenen spiritistischen «Medien» oder aber:
die geborenen Hypnotiseure. ‒ ‒
108 Okkulte Rätsel
Auch die spiritistische «Medialität» bedarf
dieser unsichtbaren Energiezentren, ‒ nur ist
dabei der «Hypnotiseur» im unsichtbaren
Teile der physischen Welt zu suchen:
das «Medium» liefert sich passiv seinen
Wünschen aus, ohne ihn zu kennen, während
bei der durch einen Menschen vorgenom‐
menen hypnotischen Betäubung eines An‐
dern, ein Sichtbarer aktiv eingreift und
sich vorübergehend aus Menschen, die an sich
durchaus nicht im spiritistischen Sinne «me‐
dial» veranlagt sind, künstlich spiritisti‐
sche Medien schafft...
Der ganze Vorgang der Hypnose ist im
Grunde nichts anderes als das, was man
«Spiritismus» nennt, ‒ nur insofern vom
landläufigen Spiritismus unterschieden, als
bei der Hypnose Menschen untereinander
sich beeinflussen, während bei der spiritisti‐
schen Sitzung der menschliche Hypnotiseur
durch eine Wesenheit des unsichtbaren Teiles
der physischen Welt vertreten wird. ‒ ‒
Spiritistischer «Trance»-Zustand und hypno‐
tische Betäubung sind zwar ihrer Erschei
109 Okkulte Rätsel
nung nach oft sehr verschieden, im Wesen
aber fast identisch, ‒ mit Hilfe der gleichen
Kräfte hervorgebracht, wenn auch die aus‐
lösenden Faktoren: ‒ hier der Impuls eines
Menschen, dort der quasi «tierhafte» Be‐
tätigungstrieb eines Lemurenwesens des
unsichtbaren Teiles der physischen Welt, ‒
sehr verschiedener Art sind. ‒ ‒
Wären dem menschlichen Hypnotiseur alle
verborgenen Zusammenhänge der Natur
ebenso entschleiert wie jenen Lemurenwesen,
so würde er gar manche «Wunder» des Spiri‐
tismus mit Hilfe der von ihm hypnotisierten
Person experimentell hervorzurufen fähig
sein, und nur jene spiritistischen Phänomene
würden sich ihm versagen, zu deren Hervor‐
bringung unter allen Umständen ein echtes
Medium nötig ist, das seinerseits, wie oben
gesagt, nur die passive Artung der gleichen
psychophysischen Konstitution darstellt, de‐
ren aktive Artung wir in jedem Hypnoti‐
seur vor uns haben. ‒
Nun ist aber der Mensch, der einen anderen
Menschen in den Zustand hypnotischer Be‐
110 Okkulte Rätsel
täubung versetzt, lediglich auf seine durch
die Erdensinne vermittelte Erkenntnis der
Natur beschränkt und vermag es weder zu
verhindern, noch auch nur zu erkennen,
daß die unsichtbaren Wesen der physischen
Welt temporär von seiner künstlich zum
«Medium» gewordenen Versuchsperson Be‐
sitz ergreifen.
So ist es möglich geworden, daß man allen
Ernstes glaubte, in den tieferen Betäubungs‐
zuständen der Hypnose der eigentlichen
Geistigkeit des Menschen zu begegnen, ‒
daß man sich gutgläubig von einem vermeint‐
lichen «überpersönlichen Unterbewußtsein»
belehren ließ und dabei nicht ahnte, daß man
im Grunde nichts anderes als spiritistische
Seancen abhielt und ehrfürchtig sich Offen‐
barungen beugte, die aus der gleichen Sphäre
stammten wie alles, was die «lieben Geister»
irgendeiner spiritistischen Gemeinde ihren
andachtsvollen Freunden zu erzählen haben,
‒ nur geschmacksgerecht gemacht für den,
dem solche Bekundung galt, wie denn jede
Manifestation dieser Zwischenwesen stets mit
111 Okkulte Rätsel
einem unerhörten Raffinement gerade den
Ton zu treffen weiß, der in einem gegebenen
Kreise verlangt wird, soll die Botschaft Glau‐
ben finden.
*
Zuerst als «Schwindel» und «Aberglaube»
bekämpft, ist die Hypnose heute ein Requisit
der ärztlichen Wissenschaft geworden, und
man glaubt allerhand Heilerfolge ihrer An‐
wendung zuschreiben zu dürfen.
Es ist nicht meine Sache, darüber zu befinden,
inwieweit diese Heilerfolge vor strenger Kri‐
tik dauernd zu bestehen vermögen.
Ich muß jedoch unumwunden aussprechen,
daß alles Heilen mit Hilfe der Hypnose unge‐
fähr dem Austreiben des Teufels durch Beelze‐
bub gleichzusetzen ist und für den praktizie‐
renden Arzt wie für den Patienten die gleichen
Gefahren in sich bergen kann. ‒ ‒
Es fragt sich denn doch noch sehr, ob das,
was man vielleicht an wirklichen, vielleicht
aber nur an scheinbaren Heilerfolgen er‐
zielt, der Heraufbeschwörung dieser Gefah‐
ren wert erscheint?!?
112 Okkulte Rätsel
Die Entscheidung darüber wird der Erfah‐
rung des Arztes anheimgestellt bleiben müs‐
sen, während ich hier nur die Gefahr kon
statieren und ihre Art bezeichnen möchte.
*
‒ Wenn nicht aus eigener Beobachtung, so
doch aus der diesbezüglichen Literatur dürfte
jedem, der sich mit den Erscheinungen des
Spiritismus näher beschäftigte, sehr wohl be‐
kannt sein, daß ein «Medium» desto leichter
in «Trance» verfällt, je öfter es experimen‐
tiert.
Die gleiche Erfahrung macht jeder Hypnoti‐
seur bei seiner Versuchsperson hinsichtlich
des hypnotischen Betäubungszustandes.
Die Energiezentren, die hier wie dort den ab‐
normalen Zustand bewirken, sind gleichsam
permanent auf Erreichung dieses Zustandes
bei der in Frage kommenden Person «ein‐
gestellt»; sie bilden eine Art magischer
Kette, die den aktiven mit dem passiven
Pol dauernd verbindet.
Die «Ebene» der Verbindung ist der un‐
sichtbare Teil der physischen Welt, zu dem
113 Okkulte Rätsel
auch jene feinen fluidischen Kräfte des Kör‐
pers gehören, durch deren Wirksamkeit reine
Willensimpulse im Gehirn zur Auslösung
kommen, ‒ durch deren Betäubung aber das
eigene «Ich» aus seiner Herrscherstellung
verdrängt wird und irgendeiner anderen
Herrschaft die Macht überlassen muß, mit
dem Gehirn zu schalten wie es ihr beliebt. ‒
Je öfter der Hypnotiseur mit seiner Versuchs‐
person, der hypnotisierende Arzt mit seinem
Patienten experimentiert, desto unzerreiß‐
barer wird die magische Kette aus unsicht‐
baren Energiezentren, die beide Pole ver‐
bindet, mag auch der eine sich vom anderen
Tausende von Meilen entfernen.
Diese magische Kette ist fast ins Unendliche
dehnbar und zerreißt um so weniger, je fester
sie durch zahlreiche vorangegangene hypno‐
tische Experimente gehärtet wurde. ‒ ‒ ‒
Es liegt ohne weiteres auf der Hand, daß so‐
wohl der Arzt bzw. der Hypnotiseur im all‐
gemeinen, wie auch der Patient oder die Ver‐
suchsperson, durch diese stete Verbindung
sehr unliebsame Einflüsse erfahren können,
114 Okkulte Rätsel
denn das Verhältnis der Pole zueinander ist
keineswegs unter allen Umständen so kate‐
gorisch gegeben, daß nicht auch zu Zeiten der
aktive Pol passiv und der passive aktiv
werden könnte...
Nur die allerwenigsten solcher Fälle von un‐
gewollter gegenseitiger Beeinflussung werden
als solche erkannt werden, obwohl bereits
deutliche Beobachtungen gelegentlich ge‐
macht wurden, die nur aus solchem Einfluß
bei permanenter fluidischer Verbindung er‐
klärbar sind.
Bewußt wird diese Beeinflussungsmöglichkeit
von seiten gewisser okkultistischer «Geheim‐
schulen» benutzt, indem der betreffende
«Lehrer» durch eine «Schulung», die in
nichts anderem besteht, als in einer konti‐
nuierlich gesteigerten Reihe mehr oder weni‐
ger verschleierter, hypnotischer Betäubungen
seines Opfers, dieses allmählich so fest an sich
bindet, daß von einer eigenen Willensbe‐
tätigung bei ihm kaum mehr die Rede sein
kann.
Ein derartiger okkultistischer Abenteurer,
115 Okkulte Rätsel
der sehr genau weiß, daß seine ganze Macht
auf dem Spiele stehen würde, wollte er auch
nur für kürzeste Zeitspannen seine krampf‐
haft beibehaltene Aktivität aufgeben, wird
allerdings auch kaum in die Gefahr kommen,
von seiten seiner so wirksam gefesselten
«Schüler» Unliebsames zu erfahren.
Der Arzt jedoch, der seine aktive Haltung
nur auf die Zeitdauer des Experimentes
beschränkt, ist niemals sicher vor unvermu‐
teten Einbrüchen des Willens seines Patienten,
‒ selbst wenn er ihn längst vergessen hat, ‒
in seinen eigenen psychophysischen Haushalt,
in sein eigenes Fühlen und Denken.
Daß dies bei den Patienten in noch weit er
höhtem Maße der Fall ist, liegt in der Natur
der gewollten gegenseitigen Beziehung.
*
Viel wichtiger jedoch als alle sozusagen «tech‐
nischen» Gefahren der Hypnose bleibt die
unumstößliche Tatsache, daß jede hypno‐
tische Betäubung, werde sie nun des Experi‐
ments oder der Heilung wegen vorgenommen,
eine Isolation zwischen Willen und
116 Okkulte Rätsel
Gehirn des Hypnotisierten schafft und daß
diese Isolation bei vielfach hypnotisierten
Personen allmählich auch ihre Nachwirkun‐
gen weit über die Zeitdauer der Hypnose
hinaus erstreckt.
Ich meine hier nicht etwa den «posthypno‐
tischen» Befehl, dessen Befolgung nur des‐
halb eintritt, weil ein Vorstellungsbild des
Hypnotiseurs, zusammen mit einer in ihm
latent vorhandenen bestimmten Zeitemp‐
findung, die fluidischen feinen Körperkräfte,
die dem Willen den Einfluß auf das Gehirn
ermöglichen, während der Hypnose seiner
Versuchsperson derart beeindruckt hat, daß
sie nach Ablauf der geforderten Zeit automa‐
tisch in Betäubung fallen und so das während
der vorangegangenen Hypnose zwar Befoh
lene, aber nicht Ausgeführte, auf Grund
des Willensimpulses des Hypnotiseurs nun
genau so geschieht als wäre es während
der hypnotischen Sitzung erfolgt.
Ich meine auch nicht jene etwa zu Heil‐
zwecken erfolgte Hemmung der Willensein‐
wirkung, durch die sich der vorher Hypnoti‐
117 Okkulte Rätsel
sierte dann im Wachzustand noch auf ge‐
raume Zeit hin zurückgehalten findet, etwa
gewissen Neigungen nachzugeben, gewisse
Befürchtungen zu hegen oder Ähnliches mehr.
Dies alles sind noch vom Hypnotiseur ge
wollte Nachwirkungen, die streng genommen
zu den Phänomenen der eigentlichen Sitzung
gehören, wenn sie auch erst später in Erschei‐
nung treten.
Die weitaus bedenklicheren Nachwir‐
kungen treten bei oftmals Hypnotisierten da‐
gegen als von keiner Seite gewollte Schädi‐
gungen auf und bestehen darin, daß es der an
ein absolut passives Mit-sich-schalten
lassen gewöhnten Person mehr und mehr
unmöglich wird, fremdem Willen, fremden sug‐
gestiven Einflüssen, nennenswerten Wider
stand entgegenzusetzen. ‒ ‒
Dagegen hilft selbst der in bester Absicht
während der Hypnose ausgesprochene Be‐
fehl des Hypnotiseurs, die Versuchsperson
dürfe sich von keinem anderen Menschen als
ihm selbst beeinflussen lassen, nicht das
mindeste. ‒
118 Okkulte Rätsel
Sie wird wohl dadurch nur sehr schwer von
anderer Seite her in hypnotische Betäu
bung zu versetzen sein, aber im Alltagsleben
wird ihr stets gehemmter Wille es nicht ver‐
mögen, das Gehirn in seiner ausschließlichen
Gewalt zu behalten.
Es wird ein Tummelplatz für alle erdenklichen
fremden Willensimpulse.
Daß ein solcher Zustand aber für die höhere
seelische Entfaltung wünschenswert wäre,
wird gewiß kein Mensch von einiger Einsicht
jemals behaupten wollen.
Überdies handelt es sich bei der Anwendung
der Hypnose zu Heilzwecken auch noch vor‐
wiegend um die Abstellung gewisser Defekte,
die eigentlich in das moralische Gebiet
gehören.
Erfolgt solche Abstellung durch den eigenen
Willen, wenn auch nach vielen Fehlschlägen
und erst in langen Zeiträumen, so ist für den
ganzen Seelenkomplex des Menschen dabei
ein hoher, positiver Gewinn zu buchen.
Der Wille erlangt auf solche Weise mehr und
mehr unumschränkte Macht über das Gehirn,
119 Okkulte Rätsel
und immer weniger werden fremde, nicht
gewollte, ja selbst in der eigenen Konsti‐
tution gegebene unerwünschte Einflüsse
dieses zu überwältigen vermögen.
Wird aber die Beseitigung solcher mehr oder
weniger in das moralische Gebiet gehöriger
Defekte durch hypnotische Einwirkung
erstrebt, so kann wohl die unerwünschte Er
scheinung schwinden, aber keineswegs ist
auf solche Weise eine seelische Förderung
erzielt, und die Macht des Willens über das Ge‐
hirn, ohne die keine wahrhafte seelische Voll‐
endung auf dieser Erde jemals möglich ist, wird
dabei sukzessive immer mehr vernichtet. ‒
*
Es erhellt aus allem, was ich hier vorbringen
konnte, und obwohl ich das Wesentliche stets
nur streifte, daß die Beschäftigung mit der
Hypnose in allen Fällen ein sehr bedenk
liches Spiel ist und wahrlich nicht weniger
Gefahren bergend, als die Ausübung spiritisti‐
scher Mediumschaft oder die Bemühung um
die Fähigkeit zur Ausübung gewisser Fakir‐
künste. ‒
120 Okkulte Rätsel
Das, was die tatsächlichen Erscheinungen der
Hypnose beweisen, genügt, um auch selbst
oberflächlichere Gemüter nachdenklich wer‐
den zu lassen, hinsichtlich der geheimnisvollen
Regionen, in denen das Innenleben des Men‐
schen sich abspielt.
Das Wissen um diese Erscheinungen kann
zu einem Hilfsfaktor bei der Gestaltung
unseres Weltbildes werden und so außer‐
ordentlich wertvoll für jeden einzelnen sein.
Niemals aber werden diese Erscheinungen
an sich der Menschheit Segen bringen und
noch weniger können sie dazu führen, dem
Erdenmenschen das Geheimnis seines
Daseins zu enthüllen! ‒
121 Okkulte Rätsel
DIE RÄTSEL DER ZUKUNFT
.Alt wie die Menschheit ist der Trieb des
Menschen, vor seinem inneren Auge kommen‐
des Geschehen im Voraus enthüllt zu erblicken,
aber noch keiner, den diese Erde trug, ver‐
mochte es, den dichten, dunklen Vorhang zu
zerreißen, hinter dem für ihn die Zukunft lag.
Hier erwarte ich sofort den Widerspruch,
denn ‒ hatten nicht alle Völker ihre Pro
pheten? ‒ Hat man nicht tausendfach
alte Kunde von Sehern, die der Zukunft
Geheimnis wußten? ‒ Sind nicht selbst in
neuester Zeit des Nostradamus Centurien
wieder hoch zu Ehren gelangt? ‒ ‒
Es ist aber nichts von alledem mir unbekannt,
und dennoch muß ich leider sagen, daß sich der
Mensch mit wenig anderen Dingen in ähnlich
unbelehrbarer Weise stets wieder selbst betro‐
gen hat, als mit dem Glauben an seine Macht,
die Zukunft restlos zu durchschauen. ‒ ‒ ‒
Es hat wohl zu jeder Zeit Menschen gegeben,
und man wird sie auch heute und in kom‐
menden Zeiten finden, denen dann und wann
Zukünftiges entschleiert wurde.
Alle Zukunft liegt ja in aller Gegenwart be‐
125 Okkulte Rätsel
schlossen, wie alle Gegenwart nur Folge aller
Vergangenheit ist.
Durch mancherlei Mittel kann solche Ent‐
schleierung dem Menschen werden.
Mantische Künste können nicht minder
auf Augenblicke intuitive Zukunftserkenntnis
wecken, wie die strahlenden Kräfte aus
der Welt des reinen Geistes, aber immer
werden es nur Fragmente künftigen Gesche‐
hens sein, die so, meist in nächtig-symboli‐
schen Bildern, sich dem Schauenden zeigen. ‒
Nie wird der Seher der Zukunft Herr über
seine Gesichte sein!
Sie werden ihm zeigen, was er nicht sehen
wollte, und was er sehnlichst zu schauen be‐
gehrt, werden sie verborgen halten. ‒
Er muß nehmen, was ihm seine Gesichte brin‐
gen und kann die Form nicht ändern, in der
sie zu ihm kommen: bald in nüchterner Klar‐
heit und Eindeutigkeit, bald in phantastisch
verschlungener Arabeskenfolge...
Er ist nur Empfänger einer fernen Kunde,
nicht der Entdecker unerforschten Landes. ‒
126 Okkulte Rätsel
Es dürfte ersichtlich sein, daß ich hier von
prophetischem Schauen rede, nicht aber
von gesetzlicher Errechnung kommender Ge‐
zeiten, wie sie verborgener Wissenschaft aller‐
dings möglich, ‒ wenn auch noch nicht rest
los möglich ist...
Es wird wenig ändern, ob man bei solcher Er‐
rechnung kommende Gezeiten durch die
Stellung der Erde im Weltenraume zu bestim‐
men suchen mag, oder ob man aus den be‐
kannten Daten irdischen Geschehens sich ein
Rechnungsnetz zu wirken weiß, um es dann
aufzuspannen und in seinen Maschen künfti‐
ges Geschehen einzuknüpfen. ‒ ‒
So unvollkommen die Methode uns heute auch
noch erscheint, so wird sie doch des Menschen
einziges, halbwegs sicheres Mittel werden, Zu‐
künftiges im Voraus zu erkennen, so wie etwa
die Wetterkundigen heutiger Tage aus der
Luftdruckmessung an verschiedenen Stellen
der Erde schon gar manches atmosphärische
Geschehen im Voraus zu bestimmen wissen,
obwohl gewiß auch hier noch Fehler unver‐
meidbar bleiben, bis Erfahrung den verschie‐
127 Okkulte Rätsel
denen Verlauf gesetzmäßig bedingter Erschei‐
nungen in seiner Folgerichtigkeit erkennt.
Auch solcher Zukunfts-Berechnung werden
zwar Grenzen gezogen sein, aber wie eng
diese Grenzen auch bemessen sein mögen, so
wird das durch sie umhegte Gebiet doch mit
relativer Gewißheit erforschbar blei‐
ben und so der Menschheit immer noch mehr
Nutzen bringen, als jedes orakelmäßige und
völlig dem Willen des Sehers entzogene Zu‐
kunftsschauen, obwohl auch dieser «Nutzen»
für höhere Einsicht entbehrlich ist. ‒ ‒
*
Irrige Spekulation hat sich zu der Anschau‐
ung verstiegen, als sei alle irdische Zeit vor
einem ewigen Auge stete Gegenwart.
So konnte das monströse Gedanken-Gebilde
entstehen, das alle Zeit wie einen aufgerollten
Film betrachten lehrte, den man nur abzu‐
kurbeln brauche, um jeweils den gewünschten
Zukunftsbildern zu begegnen.
Hochweiser Wissensdünkel hat in selbstge‐
fälliger Breite solche Pseudoerkenntnis aus‐
gesponnen und das Heer der Eintagsfliegen
128 Okkulte Rätsel
vor der Nachtlampe intellektuellen Wahns
verfing sich so in diesem Spinnennetz, daß
jeder, der es verschmäht an ihm seinen Halt
zu suchen, voll hochmütigen Mitleids ver‐
achtet wird.
Aber die unerbittliche Wirklichkeit fragt eben‐
sowenig nach den Resultaten gedanklicher
Spekulation, wie nach den wüsten Phanta‐
stereien des Aberglaubens.
Sie ist in sich selbst begründet und spottet
jeglicher Theoreme, die sie erklärbar machen
möchten.
Wer sich von dem Blendwerk eitler Lehrsätze
täuschen läßt und nicht den Mut gewinnt,
der Wirklichkeit selbst ins Auge zu
blicken, wird stets mit seinen Gedanken am
Gängelbande des Irrtums hängen.
*
Wohl ist auch die fernste Zukunft in der Ge‐
genwart enthalten, aber auch ewigem
Auge noch nicht gegenwärtig, sondern
nur erschaute Folge gegenwärtigen Ge‐
schehens. ‒ ‒
Da alle Erscheinung nur Ausdruck wirken
129 Okkulte Rätsel
der Kräfte ist, so kann auch zukünf
tiges Kräftewirken stets nur als Erschei
nung dem Bewußtsein nahekommen, woher
es sich erklärt, daß Zukunftsschau die Bilder
künftigen Geschehens sieht, als wären sie be‐
reits in irgend einer Region vorhanden. ‒
Dadurch konnte dann der Irrtum entstehen
als sei alle Zukunft «ewige Gegenwart», und
blutleeres Denken suchte solchem Irrtum
Fundament zu unterbauen...
*
Es ist schwer für menschliche Gehirne, sich
anthropomorphem Denken zu entwinden,
und so fand die Meinung Raum, als müsse es
irgend eine Weltlenkung geben, der jegliches
Geschehen bis zu den fernsten Ewigkeiten
in jedem Augenblick entschleiert sei.
Man konnte sich nicht zu den freien Firnen‐
höhen der Wirklichkeit erheben, um von
dort aus zu erspähen, was Wahn und was
Wahrheit ist. ‒ ‒
Die Weltlenkung, die man gedanklich er‐
schlossen hatte, ist wahrlich gegebene Wirk‐
lichkeit, aber sehr wesentlich von dem Wahn‐
130 Okkulte Rätsel
bild verschieden, das in sich selbst leerlaufen‐
des Denken sich entwarf. ‒
Das, was man «Allbewußtsein» nennen
könnte, ist stets nur ein bewußtes Sein des
Augenblicks, der Folge aller Myriaden
Augenblicke vorher, ‒ der Zeugender für
alle Myriaden Augenblicke nachher ist. ‒ ‒
«Der Geist aber ergründet alles; auch die Tie‐
fen der Gottheit», und so ist es dem Geiste
zwar möglich, durch Errechnung, durch
Erschließung und in tiefster Selbstver
senkung durch das Innewerden seines eige‐
nen Gesetzes sich das künftige Geschehen vor‐
her zu entschleiern, allein die Sehnsucht sol‐
chen Wissensdranges ist nur gottes-fernem
Geiste vorbehalten, und jene höchste Wirk‐
lichkeit, die sich als Urlicht in sich selbst
erkennt, als Ursprung alles Seins und alles
Daseins Krone, ‒ erfaßt sich selbst von Ewig‐
keit zu Ewigkeit nur stets als vollbewußtes
Sein des Augenblicks, ‒ kennt keinen
Drang, in sich Vergangenes zu suchen,
noch durch das Wissen um Zukünftiges
die absolute Harmonie des All-Erfassens,
131 Okkulte Rätsel
die der Augenblick ihr bietet, zu zerstö‐
ren. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
Hier merke auf, wer zu hören ver
steht! Es sind viele falsche Folgerungen aus
den irrigen Grundprämissen über «Gott» und
«Göttliches» gezogen worden, weil man vor
die Wirklichkeit ein Gedankenbild
schob, um es als Götze zu verehren, und dann
hinwieder, wenn es sich als machtlos zeigte,
mit ihm zu hadern oder gar es seiner Götzen‐
herrlichkeit verlustig zu erklären.
Erst wenn dieses Bild, das man sich schuf,
es anzubeten, für alle Zeit vernichtet ist,
kann wieder «Gott» in seiner Wirklichkeit
zur Menschheit reden! ‒ ‒ ‒
Dann aber wird auch der Mensch zu lernen
wissen, dem Augenblick in voller Kraft zu
leben und jeder Drang nach Erforschung der
Zukunft wird ihn verlassen.
*
Die Nützung des Augenblicks erhebt den
Menschen in Göttliche Lebensform!
Die Myriaden Augenblicke, die schon sein
irdisches Leben bilden, werden sich dann,
132 Okkulte Rätsel
einer Schnur kostbarer Perlen gleich, anein‐
anderreihen, bis er dereinst im Leben der
Ewigkeit sich in dem steten gleichen Au‐
genblick findet, der ewiges Erleben in sich
schließt, ‒ dem Kleinod in der tausend
blättrigen Lotosblüte. ‒ ‒ ‒
«OM MANI PADME HUM!»
133 Okkulte Rätsel
ENDE
DAS REICH
DER KUNST
Verlagslogo
Ein Vademekum für Kunstfreunde
und bildende Künstler
Kober'sche Verlagsbuchhandlung
Basel-Leipzig 1933
BÔ YIN RÂ
IST DER DICHTER, PHILOSOPH UND MALER
JOSEPH SCHNEIDERFRANKEN
COPYRIGHT BY
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
BASLE 1933
KARL WERNER, BUCHDRUCKEREI IN BASEL
INHALT Seite
Geleitwort zur Neuausgabe 5
Kunst als Lebensfaktor 13
Ist Kunst ein „Luxus”? 27
Kunst-„Erklärung” 35
Künstlerisches Sehen 47
„Das Schöne” im Kunstwerk 59
Natur und Kunst 71
Plastisches Empfinden 83
Künstler und „Laie” 95
Künstler, Publikum und Jury 105
Das Kunstwerk und seine „Technik” 115
Das Kunstwerk und sein Stil 123
Das Übersinnliche im Kunstwerk 131
Kunst und Weltanschauung 145
„Moderne” Kunst 153
Expressionismus 163
Sinnlose Kämpfe 171
Die „Grenzen” der Malerei 181
Primitive Kunst und Archaismus 193
Kunst und Artistentum 203
Dilettantenkunst 213
Die Kunst Raffaels 221
Originalscan
Geleitwort zur Neuausgabe
.Im Jahre 1921 ist dieses Buch zum ersten‐
male erschienen.
.Hier liegt nun ein Neudruck vor, der zwar
einige Änderungen bedingte, aber im Ganzen
als eine durchgesehene Wiedergabe des ursprüng‐
lichen Textes gelten darf. Gewisse Wiederholun‐
gen habe ich auch in dieser Neubearbeitung nicht
gestrichen, da es sich ja um eine Sammlung ein‐
zelner, ehedem getrennt erschienener Darlegungen
handelt, so daß jedes Kapitel des Buches als für
sich abgeschlossen betrachtet werden will.
.Beim ersten Erscheinen der vorliegenden
gesammelten Abhandlungen sagte ich in einem
kurzen Vorwort:
.„Die Tendenz dieses Buches ergibt sich aus
seinem Inhaltsverzeichnis. Es will nicht für oder
gegen irgend eine Kunstrichtung kämpfen, son‐
dern aufzuzeigen suchen, was die wertgebenden
Elemente sind, die das Werk des bildenden
Künstlers erst zum Range eines Kunstwerkes
erheben, einerlei welcher Kunstauffassung dieses
Werk seine Formung dankt.”
7 Das Reich der Kunst
.Ich hatte sodann die durch gewichtige Zu‐
stimmungserklärungen aus den Kreisen hervor‐
ragender Künstler und Kunstfreunde geförderte
Hoffnung ausgesprochen, daß das Buch einem
wirklichen Bedürfnis entsprechen und in der Flut
moderner Kunstliteratur nicht untergehen möge.
.Aber ich ahnte dazumal nicht, daß die große
Auflage schon nach kurzer Zeit vergriffen sein
würde. Dennoch konnte ich mich, aus Gründen
rein persönlicher Art, nun schon seit Jahren
nicht entschließen, einen Neudruck veranstalten
zu lassen, bis ich doch durch das mir überall
begegnende ungeminderte Interesse an diesem
Buche mich bestimmen ließ, meinen vormaligen
Widerstand gegen sein Wiedererscheinen aufzu‐
geben.
.Nach eigenem Ermessen glaubte ich bei der
ersten Veröffentlichung der einzelnen Abhand‐
lungen auf meine Art eine gewisse Klärung in
zeitlich arg verwirrte künstlerische Anschauungen
gebracht zu haben, und vielleicht war auch zu
erwarten, daß durch meine Darlegungen bei man‐
chen vorerst noch „kunstscheuen” Menschen doch
die Erkenntnis geweckt werden könne: ‒ auch
sie seien berufen, das Reich der bildenden Kunst
allmählich kennenzulernen um allda eine ihnen
noch unbekannte Bereicherung seelischen Lebens
zu erlangen.
8 Das Reich der Kunst
.Der Erfolg des danach erschienenen Buches
hat meine Erwartungen erheblich übertroffen.
.Künstler, Kunstgelehrte, Kunstfreunde, sowie
auch solche seiner Leser, die durch mein Buch
erst den Weg zur Kunst gefunden haben, ver‐
langen heute dringlich sein Wiedererscheinen,
damit es auch Kreisen zugänglich werden könne,
die erst durch die bisherigen Leser von seiner
Existenz vernommen haben.
.So bleibt mir nichts anderes übrig, als meine
Zustimmung zum Neudruck zu geben, wobei ich
es nur bedauern muß, daß die ganze Anlage des
Buches keine kürzere Zusammenfassung zuläßt,
wenn nicht verzichtet werden soll auf Vieles,
was bei der raschen Folge neuerer Kunstbeur‐
teilungsweisen dem Wohlorientierten zwar nicht
mehr als erörterungsbedürftig erscheinen mag, ‒
was aber der noch kunstferne „Laie”, der gerne
das ihm vorerst unerschlossene Gebiet betreten
möchte, keinesfalls missen darf.
.Schließlich beabsichtige ich ja auch nicht,
hier in formvollendeter und streng gebundener
Weise etwa Aufgaben lösen zu wollen, die unter
allen Umständen einer heute hochentwickelten
und als Lebensberuf anerkannten Fachwissen
schaft vorbehalten bleiben müssen, obwohl mir
Methode und kritische Hilfsmittel solcher Wis‐
senschaft wahrhaftig nicht fremd sind.
9 Das Reich der Kunst
.Ich will nur, was an mir liegt, dazu beitragen,
daß das Reich der bildenden Kunst auch solche
Menschen anziehe, die es bisher fast ängstlich
für ein ihnen verschlossenes, ja verbotenes
Land halten, und ich glaube auch werdenden
Künstlern da und dort weiterhelfen zu können,
sofern sie sich selbst verstehen lernen wollen,
um nicht erst ein halbes Erdenleben lang, ver‐
anlaßt durch Ergüsse einer verhängnisvollen Li‐
teratur, in den Fesseln irgend einer, ihnen viel‐
leicht ganz ungemäßen „Richtung” Fronarbeit
zu leisten, bevor sie zu ihrem eigenen freien
Schaffen den Mut finden.
.Was hier nun gesagt werden wird, soll zu‐
gleich zur Erkenntnis führen, daß die Werke der
bildenden Kunst, ‒ wenn es sich wirklich um
geistgezeugte Werke und nicht um bloße, mehr
oder weniger routinierte „Mache” handelt, ‒
keineswegs nur dazu da sind, dekorative Schmuck‐
elemente für die Wände und Räume des äußeren
Lebens abzugeben, sondern daß die Einwirkung
wirklicher Kunstwerke auf die Seele auch zu
unerahnter Förderung werden kann für alle, die
den Weg zum wesenhaften Geiste suchen.
.Die Priester der Kulte des Altertums kannten
sehr genau die „Magie der Zeichen” und
wußten sie zur Erhebung der Seele aus Alltags‐
10 Das Reich der Kunst
wirrwarr in die geklärten Regionen der wesen‐
haften Welten des reinen Geistes zu nützen.
.Überkommenes Weisheitsgut solcher Art war
noch in den großen Meistern bildender Kunst
des Mittelalters und der Renaissance lebendig
und ging in ihre hohen Werke ein, so daß ge‐
heimnisvolle Kraft aus ihnen noch heute den
Betrachter überströmt. Ich erinnere hier nur an
die großen Baumeister dieser Zeiten, an den Maler
des Isenheimer Altars, und die Plastik im Dom
zu Naumburg! ‒
.Nach der Barockzeit aber, die ein letztes ju‐
belndes Aufleuchten solcher „Magie der Zeichen”
brachte, verliert sich, geradezu plötzlich, in Künst‐
lern und Kunstliebenden das Wissen um die gei‐
stige Macht, die dem darstellenden Künstler ge‐
geben ist.
.Was von da an künstlerisch gestaltet wurde
bis auf den heutigen Tag, bringt zwar die Lösung
vieler Probleme, die den Alten recht wenig be‐
deutsam erschienen waren, endet aber jetzt in
einem unruhigen verkrampften Suchen nach
Neuem und immer wieder Neuerem, denn die
Seele des Künstlers selbst, wie die des Beschauers,
bleibt bei jedem neuen Versuch, Sichtbares künst‐
lerisch zu deuten, nach wie vor unbefriedigt, bis
das Eine wieder erlangt wird, das sich in jeder
persönlichen Darstellungsart zum Ausdruck ge‐
11 Das Reich der Kunst
stalten läßt, wenn es der künstlerisch Schaffende
wirklich in sich trägt.
.Ich habe anderenortes wahrlich in aller Deut‐
lichkeit von diesem „Einen” gesprochen, das
allein not tut, das aber vor allem der schaffende
Künstler in sich lebendig fühlen muß, wenn er
durch sein Werk der Seele des nacherlebenden
Betrachtenden die Erhebung und Förderung brin‐
gen will, die von der bildenden Kunst her ‒
und nur durch sie ‒ erlangbar sind.
.Dieses Unerläßliche zeigt sich nicht etwa in
der Wahl der künstlerisch dargestellten Gegen‐
stände!
.In jeglicher Form wird es erkennbar, wenn es
der Schöpfer dieser Form in sich selber trägt.
.Die formende Hand des Künstlers bringt dieses
Allerinnerste unweigerlich zur Offenbarung, wenn
es wirklich in ihm lebendig ist, aber keine Bra‐
vour des formalen Könnens wird es dem kun‐
digen Betrachter eines Bildwerkes jemals vortäu‐
schen können.
12 Das Reich der Kunst
Kunst als Lebensfaktor
.Der bildende Künstler, wie weit er auch im
schöpferischen Gestalten seiner Zeit vorauseilen
mag, bleibt doch immer ein „Kind seiner Zeit”.
.So war es vor Jahrtausenden, ‒ so ist es
heute, ‒ und nicht anders wird es auch in Zu‐
kunft sein.
.Was die Zeit, in der ein Künstler lebt, bereits
an künstlerischer Form begriffen hat, das gibt
sie ihm mit, als erstes Verständigungsmittel: ‒
als erstes Material zur Gestaltung eigener kunst‐
gemäßer Ideen.
.Der Epigone, der sein höchstes Ziel nur im
Erreichen des bereits vor ihm Vorhandenen
sieht, bleibt lebenslang innerhalb der Grenzen,
die ihm das künstlerische Verstehen seiner Zeit
zu Anfang absteckte.
.Von allen ihn umgebenden Zeitbedingten wird
er mühelos „verstanden”, und auf recht bequeme
Weise findet er gewöhnlich bald Anerkennung
und Ruhm, indem er nur das Edelmetall aus‐
münzt, das Andere, Größere als er, einst aus
ihrer innersten Tiefe zutage schürften.
15 Das Reich der Kunst
.Oft genug ist der solcherart Selbstzufriedene
auch zugleich „Münzfälscher” und gibt dann für
gutes Gold aus, was er im eigenen Tiegel mit
allerlei billigem Unedlen mengte.
.Anders der wirklich Schaffende, der aus
Urtiefen des Geistes, die kein Senkblei psycho‐
logischer Forschung restlos ergründen kann, An‐
trieb und Kraft zu seiner Schöpfung empfängt!
.Auch ihm übergibt seine Zeit die ihr gewor‐
denen Darstellungsmittel als Behelf zu erster
Gestaltung.
.Bald aber treibt ihn inneres, in der Ehrlich‐
keit vor sich selbst begründetes Müssen aus
dem engen Kreise, den er mit solchem Behelf
durchreicht, hinaus, empor, und er sieht sich ge‐
zwungen, Form und Darstellungskonvention sei‐
ner Zeit zu durchbrechen, will er sein Stärkstes
und Bestes nicht verkümmern lassen.
.Die hemmenden Kräfte, die gerade in sei‐
ner Zeit sich auswirken, stemmen sich ihm ent‐
gegen, aber ob sein Weg nun auch durch Armut
und Not führen mag, ‒ er muß ihn zu Ende
gehen!
.Nur die wenigen echten Schaffenden aber
erzeugen, „bilden” mit wahrer Bildnerkraft die
bleibenden künstlerischen Werte einer Zeit!
16 Das Reich der Kunst
.Mag der Schöpfer dieser Werte im Elend
seine Tage beschließen, so bleibt doch sein
Werk, in dem die Gottheit wohnt, allen kom‐
menden Zeiten gestaltet.
.Fast will es wie eine besondere Gunst des
Schicksals erscheinen, wenn ein solcher wirkli‐
cher Schaffender nach mancherlei Entbehrung
noch die Tage erlebt, da man sein Werk den
Werten der Zeit endlich einzuordnen weiß, aber
auch dann bleibt es unabhängig von zeitlich wer‐
tender Willkür, weil Ewiges, schon in der
Stunde, in der ein solches Werk geschaffen
wurde, seinen bleibenden Wert bestimmte.
.Für die Mit- und Nachwelt bleibt zwar die
Erhaltung des Werkes immer bedeutsam,
allein der ewigkeitsgültige Wert ist im
Schaffensvorgang selbst gegeben, und bleibt
geistig bestehen, auch wenn das sichtbare Werk
längst zerstört ist.
.Um in diesem Satz nicht eine leere Behaup‐
tung zu sehen, muß man freilich erkannt haben,
daß alle menschliche Gestaltungskraft ewiger
Schöpferkraft einbezogen ist, und wie diese,
hoch über aller, ihr möglichen Gestaltung er‐
halten bleibt, einerlei, welche Schicksale das Ge‐
staltete erleidet.
17 Das Reich der Kunst
.Zu den echten Schaffenden muß der Blick
sich wenden, will man erkennen lernen, was bil‐
dende Kunst als Lebensfaktor bedeutet!
.Es ist aber nicht genügend, in dem Werke
der wahrhaft Schöpferischen nur die Elemente
zu entdecken, die sie ihrer Zeit verdanken: ‒
man muß vielmehr zu erfühlen suchen, was ihr
Schaffen aus der Ewigkeit ins Zeitliche
holte, ‒ was es so der Zeit an Neuem, vor‐
her noch nicht im Zeitlichen Geformten gab:
‒ ‒ wie das Werk der Schaffenden die Zeit
erst formte, in der es entstand. ‒
.Eine jede Zeit bleibt nur chaotische Ansamm‐
lung vieler und vielgestaltiger Einzelwillen, so‐
lange sie noch nicht ihre Form empfing aus
der Hand der wirklichen Formbildner: ‒ ihrer
echten Schaffenden unter den bildenden
Künstlern!
.Niemals hätte die hohe Kultur des alten Hel
las ihre göttlich-erhabene Blüte entfalten können,
ohne die Werke der großen Bildner, die dem
Empfinden ihrer Zeit den sinnenfälligen Aus‐
druck, ‒ das göttliche Symbol ‒ schufen,
durch dessen Formgewalt jeder Fühlende sich
bestimmt fand, mochten auch die Künstler
selbst die Kraft zu solcher Formgebung der
Zeit verdanken, aus der sie emporgewachsen
waren.
18 Das Reich der Kunst
.Sie selbst wußten weit über ihre Zeit empor
zu weisen, indem sie ihren Zeitgenossen vor-bil‐
deten, was diese zu werden fähig seien.
.Das Beste der Kultur des Mittelalters und
der Renaissance ist undenkbar ohne ein be‐
stimmendes, durch hohe Bildner geschaffenes
göttliches Symbol: ‒ das in allen damals
gestalteten Werken der gluterfüllten Maler, Pla‐
stiker und Architekten erkennbar wird, die noch
heute der Nachwelt Bewunderung finden.
.Genährt vom Kulturwillen ihrer Zeit, stellten
alle diese große Schaffenden das Ideal solchen
Kulturwillens sichtbarlich und in höchster Voll
endung in ihren Werken dar.
.Sie zeigten nicht, wie ihre Zeitgenossen wirk‐
lich waren, ‒ denn wahrlich gab es zu ihrer
Zeit auch des Niedrigen und Gemeinen gerade
genug, ‒ sondern wie sich ihre Zeitgenossen
gesehen wissen wollten, durchdrungen von
dem starken Willen zur steten Erhöhung ihrer
eigenwüchsigen Kultur!
.Nicht ihr Fehlwertiges, nicht das, was
erkannt war als ein zu Überwindendes, stell‐
ten sie dar, ‒ sondern das Göttliche, dessen
Spuren sie auch unter tierischer Hülle zu ge‐
wahren wußten.
.Ihre Werke sprachen mit lauter Stimme:
19 Das Reich der Kunst
.„Seht, das ist die Welt, die unsere Besten
ahnen!”
.So wirkte ihr Werk auf die Seelen gleichsam
als „Vor-Bild” dessen, was der Mensch aus sich
machen könne, was er zu werden vermöge.
.So holte ihr Werk in den Seelen Kräfte aus
der Tiefe, die ohne solchen Erweckungsruf nie‐
mals schaffend und zeugend ins Leben eingewirkt
hätten, und die Mächtigen der äußeren Gewalt
wußten sehr wohl, was sie den großen Bildnern
ihrer Zeit zu danken hatten.
.Das wußte noch jede Zeit hoher und vom
Willen zu großer Lebensformung durchströmter
Kultur!
.Wer vermag es, sich die großen Zeiten der
Vergangenheit auf gleicher Höhe vorzustellen,
ohne ihre Schaffenden und Kundigen der Magie
der Zeichen: ‒ ohne ihre gestaltenden
Künstler und deren bleibende Werke!? ‒
.Auch unsere Zeit, unleugbar des größten
Kraftaufwandes und hingebendster Arbeit fähig,
aber so bettelarm an selbstgeschaffenen kultu
rellen Werten, kann niemals zu ihrer eigenen,
von Dichtern und Denkern vorgefühlten wirk‐
lichen Kultur gelangen, ja nicht einmal zur Voll‐
endung ihrer Zivilisation, wenn man nicht end‐
20 Das Reich der Kunst
lich doch wieder einsehen lernt, daß es ein Un‐
ding ist, Kultur zu fordern oder zu erwarten,
solange bildende Kunst nur gerade noch ge
duldet wird, solange selbst Menschen, die sich
zu den „Gebildeten” rechnen dürfen, völlig in
Unsicherheit geraten, wenn sie die Mache eines
geschickten Routiniers von dem Werke eines wirk‐
lichen Schaffenden unterscheiden sollen.
.Man glaubt mit dem Erkämpfen politischer
und sozialer Forderungen, mit Höchstleistungen
auf den Gebieten der Wissenschaft und Technik,
mit einer „Kunstpflege”, die sich im Wesent‐
lichen nur der Literatur, der Musik und dem
Theater widmet, die ersehnte Kultur erreichen
zu können und sieht nicht, daß alle diese Be‐
strebungen, so richtig und wichtig sie auch an
sich sind, keine dauernden Wirkungen auf das
Leben zeitigen können, solange die Beziehungen
zu bildender Kunst nicht mit gleicher Hin‐
gabe und Energie gepflegt werden.
.Ein Zeitalter, das noch die Werke seiner bil‐
denden Künstler unter den allenfalls leicht ent‐
behrlichen Luxus rechnet, ohne sie zu befragen
nach dem Sinn seines Kulturideals, ‒ ohne mit
Entschiedenheit Antwort auf solche Frage zu
verlangen, ‒ ein Volk, das sich nur mehr
nebenbei und wenn es gerade „anstandshalber”
21 Das Reich der Kunst
nicht anders gehen will, an seine großen Schaf‐
fenden unter den bildenden Künstlern erinnert,
kann es zu keiner in der Tiefe verankerten
Kultur bringen, auch wenn es sehnlichst danach
verlangt.
.Es genügt nicht, daß man sich, wenn wieder
einmal ein bildender Künstler gestorben ist, durch
die Zeitung darüber informieren läßt, daß er
auch am Leben war, während man nichts von
ihm wußte.
.Wurden in der neueren Zeit die arkadischen
Gefilde bildender Kunst zu einem wilden Tum‐
melplatz erregter Experimentatoren, denen so
mancher bedächtig schlau nachlief, weil es ihm
anders zu langsam zu gehen schien mit dem Be‐
rühmtwerden, so liegt die Schuld weit mehr an
der Verwahrlosung des künstlerischen
Urteilsvermögens auf seiten derer, für die
Kunst ein Bedürfnis der Seele sein sollte,
als an der inneren Unsicherheit der herangezüch‐
teten Künstler, die sich mitten im Kampf ums
Dasein sehen und schon aus Selbsterhaltungs‐
trieb, um jeden Preis siegen möchten.
.Die Ignoranz gegenüber der bildenden Kunst
schädigt alle: ‒ das Volk, das seine bildenden
Künstler für ausgemachte Sonderlinge hält, weil
es den Kontakt mit ihrem Streben verloren hat,
22 Das Reich der Kunst
und den Künstler, der jede Beziehung zu seinem
Volke verliert, sich in abstruses Erfindenwollen
neuer Darstellungsgesten verkrampft, weil all sein
Sagenkönnen auf die ihm angeborene Weise ein‐
fach unbeachtet bleibt.
.Keine Kunstrichtung, keine Schule kommt zu
reifer Auswirkung.
.Alles bleibt schon in den ersten Anfängen
stecken, oder entartet zu steriler Manier.
.Unruhig tasten die jüngeren Künstler nach
neuen Formgesetzen, weil sie auch ihren be‐
sten Werken gegenüber jeden Widerhall in der
eigenen Volksgemeinschaft vermissen.
.Gewiß werden auf diese Weise zuweilen auch
neue Wege gebahnt, aber nur um in kurzer Zeit
wieder verschüttet zu werden, noch bevor sie zu
Ende gegangen werden konnten.
.Noch hat ja kaum der Impressionismus
sein Gestaltungsideal in einigen vollendeten Mei‐
stern gezeigt, da gilt er auch schon als „über‐
wunden”, als „eine Sache von vorgestern”, mit
der man sich nicht mehr befassen darf, wenn
man nicht in den Ruf gelangen will, verständnis‐
los den seither aufgetauchten Erzeugnissen künst‐
lerischen Wollens gegenüberzustehen.
.Aber der Impressionismus hat ja noch kei‐
23 Das Reich der Kunst
neswegs in seiner Form allen Inhalt erschöpft,
der gerade dieser Darstellungsauffassung zu‐
kommen könnte!
.Warum soll er nicht auch weiterhin von de‐
nen gepflegt werden, die durch naturhafte Ver‐
anlagung für seine Ausdrucksart mehr Talent
mitbringen als für jede andere?! ‒
.Wie lange wird es noch dauern, und die „neue
Sachlichkeit” ist ebenso wieder „überwunden”
wie heute schon der „Expressionismus” für die
Eilfertigen abgetan ist, lange bevor es noch dieser
Kunstauffassung gelingen konnte, sich zu einer
Kunst deutbarer Symbole zu klären, als welche
sie gewiß auch zu Schöpfungen von bleibendem
Werte hätte führen können!
.Die Künstler sehen selbst nicht mehr, daß
ihr Reich unendlich ist, und daß in jeder
Kunstform, welcher Auffassung des Kunstschaf‐
fens sie auch ihr Dasein danken möge, Ewiges
gestaltbar ist, wenn der Schaffende nur selbst an
das Ewige hinanzureichen vermag. ‒ Ich rede
hier nicht von gedanklich-literarisch Gestalt‐
barem, sondern von der Gestaltung aus den Form‐
elementen bildender Kunst!
.Alles Suchen nach neuer Form ist sinnlos,
wenn jede gefundene Form alsbald wieder ver‐
24 Das Reich der Kunst
worfen wird, noch bevor der in ihr gestaltbare
Inhalt erschöpft ist.
.Es ist ein seichter Irrtum, daß der Impres
sionismus allein einer materialistischen
Weltanschauung entspräche, und daß man Gei
stiges nur auf die Weise des Expressionis
mus ausdrücken könne.
.In beiden Kunstformen läßt sich natürlich
immer nur das ausdrücken, was der Maler wirk‐
lich in seiner Seele trägt, und was ihm seine
Seele eröffnet.
.Was sich dann mit den Mitteln impressio
nistischer Kunst sagen läßt, wird niemals auf
expressionistische Weise zu sagen möglich
sein, während expressionistischer Auffassung Ge‐
biete vorbehalten bleiben, denen der Impressio‐
nist weder nahen kann noch will.
.Die ganze Verwirrung heutiger Kunstbegriffe
ist eine Folge der Hast unserer Zeit. Man drängt
zu Wirkung und Erfolg, wie die Eintagsfliegen
zum Licht der Gartenlampe.
.Letzte Ursache dieses Einbruchs nervösen
Hastens in das weihevolle Reich der bildenden
Kunst ist aber die durch Ignoranz ihrer Mit‐
menschen hervorgerufene innere Not der Künstler,
25 Das Reich der Kunst
die ja gewiß nicht daran zu zweifeln vermögen,
daß die bildende Kunst zu den wichtigsten Fak‐
toren geistig-kulturellen Lebens gehört, aber
gleichzeitig sehen müssen, daß man ihrem Tun
nur dann Beachtung schenkt, wenn sie sich
durch verwegene Kapriolen oder brüske Motiv‐
wahl Beachtung erzwingen.
.Würde das Werk des bildenden Künstlers
auch wieder als Lebensfaktor allgemein ge
wertet, dann könnten, ‒ wie in den großen
Zeiten der alten Kunst Japans, ‒ bei uns
heute alle neueren Kunstrichtungen fried
lich nebeneinander zu ihrer Auswirkung kom‐
men, und es entstünde alsdann in allen das Beste,
was sie zu geben imstande sind: Vor-Bildung
dessen, was Bildnerkraft im Menschen als
zukunftsmöglich erspürt.
.Nur in solcher Freiheit vor jedem Schlag‐
wortzwang kann schließlich die große Kunst er‐
stehen, die wieder fähig ist göttliches Symbol
zu formen und damit das Vor-Bild zukünftiger
Zeitbildung: ‒ wirklicher Kultur!
26 Das Reich der Kunst
Ist Kunst ein „Luxus”?
.Solange es noch den meisten Menschen näher
liegt, spottbereit und überlegen die Achseln zu
zucken, wenn sie von der unschätzbaren Berei‐
cherung hören, die aus dem Schaffen seiner bil‐
denden Künstler dem Geistesleben eines Volkes
zuströmen kann, ‒ solange haben wir noch gar
keinen Grund, uns auf gutem Wege zu der uns
zeit- und artgemäßen Kultur zu glauben, die so
viele gar schon „erreicht” wähnen, und aller Stolz
auf die Erkenntnishöhe in den Wissenschaften,
auf die großen Leistungen der Technik und ihre
Verwertung in der Industrie, darf uns nicht über
die Tatsache hinwegtäuschen, daß es zwar unter
vielen Völkern schon Zeiten gewaltiger wirklicher
Kulturhöhe ohne alle unsere neueren Errun
genschaften gab, daß aber noch niemals eine
große Kultur erreicht wurde, ohne die Mitwir
kung des Vor-Bild setzenden Schaffens be
deutender Bildner, auch wenn man heute nur
von den wenigsten noch die Namen kennt.
.Wo aber ein Wille ist, da findet sich bekannt‐
lich auch immer ein Weg, und darum gilt es,
zuerst den schlafenden Willen zu wecken, den
Willen zu einem kulturvorbereitenden Le
benszustand, in dem das bildnerische Gestalten
29 Das Reich der Kunst
wieder die ihm gebührende Würdigung erfährt,
da es als Notwendigkeit empfunden wird.
.Schaffen und Werk des bildenden Künstlers
dürfen nicht weiter als „Luxus” eingeschätzt
werden, auf den ein mit Lebenssorgen überbür‐
detes Volk verzichten müsse, ‒ auf den es auch
nur verzichten könne!
.Der Wille zu einem Lebenszustand, dem bil‐
dende Kunst eine nicht mehr entbehrliche
Bereicherung bedeutet, kann jedoch nur aus dem
Schlafe gerüttelt werden durch die Erkenntnis,
daß sich im echten Schaffen der bildenden Künst‐
ler die Seele ihres Volkes selbst offenbart
und aus der künstlerischen Gestaltung zurück‐
wirkt auf die Lebensauffassung derer, die solche
Gestaltung empfinden lernen und mit ihr vertraut
werden. Durch die Degeneration seiner zeitlichen
Mitwelt kann freilich auch der schaffende Bildner
zum zersetzenden Zeitverderber entarten, aber
selbst an solcher Entartung läßt sich die lebens
gestaltende Wirkung bildender Kunst, wenn
auch hier mit negativen Vorzeichen, deutlichst
erweisen.
.Wer allerdings nur seine persönlichen Lieb‐
lingsgegenstände, die Naturszenerien, die ihn
etwa auf einer Reise ergriffen haben, oder irgend‐
welche Begebenheiten, die er für wichtig hält,
im Bilde dargestellt sehen möchte, der ist vom
30 Das Reich der Kunst
Willen zur Kunst, von einem Erfassen des
allein Wesentlichen im Kunstwerk, noch gar
weit entfernt.
.Dergleichen war lange genug im Schwange und
trägt reichlich Schuld daran, daß so wenige heute
auch nur ahnen, was Kunst wirklich ist.
.So nehmen doch noch die meisten, der Kunst
nicht sehr nahestehenden Menschen, übelste
Kunstprostitution für Kunstwerke „ersten
Ranges”, und gehen gleichgültig oder gelangweilt
an echter Kunst vorüber, wenn sie sich nicht
gar berufen fühlen, in vorlauter Weise „Kritik”
zu üben an Werken, die ihnen noch so uner‐
faßbar sind wie ein fernes Gestirn.
.Noch immer blüht eine Industrie allerübelsten
Kunstersatzes, und von ahnungslosen Käufern
werden Produkte als vermeintliche „Kunstwerke”
erworben, die selbst die Kosten des an sie ver‐
geudeten Rohmaterials nicht mehr wert sind,
da dieses Material für alle Zeit nun völlig un‐
brauchbar wurde, obwohl man aus ihm auch
künstlerisch Wertvolles hätte gestalten können.
.Wer aber aufnahmebereit vor ein wirkliches
Kunstwerk hintritt, der darf nur dann erwar‐
ten, daß es ihm seine reichsten Schätze schenke,
wenn er es vorerst ganz so betrachtet wie etwa
ein seltenes Naturphänomen, dem er ja auch
31 Das Reich der Kunst
erst bewunderungswillig naht, bevor er es nach
und nach zu ergründen versuchen wird.
.Man glaube doch ja nicht, daß alle die so
seltsam erscheinenden Werke neuerer Künstler
immer nur einer skurrilen Laune oder gar bloßer
Sensationslust ihr Entstehen verdanken, auch
wenn dies gewiß bei manchen Nachläufern der
echten Schaffenden die auslösenden Momente
sein mögen, die sie zum Produzieren extravagan‐
ter Erzeugnisse verleiten, obwohl kein inneres
Müssen sie zum Verlassen längstgebahnter Wege
zwingt!
.Bei den Echten, die aus innerem Müssen
heraus zu persönlichen Gestaltungsformen gelan‐
gen, sind wahrhaftig tiefer verankerte Kräfte am
Werk!
.Hier offenbart sich in menschlichem Schaffen,
‒ wenn auch oft noch durch irdisch Unzuläng‐
liches gehemmt, ‒ der ewige Geist, der ausge‐
gossen ist über allem, was Menschenantlitz trägt,
‒ der Geist des Lebens, der aus dem Ursein
strömt, ‒ und ein neues Pfingstwunder will auf
dem Gebiete menschlicher Gestaltungsfähigkeit
vor aller Augen Wirklichkeit werden.
.Eine Erneuerung des Angesichts der Erde be‐
reitet sich allenthalben vor, und die ersten Strah‐
len geistigen Lichtes, das allein diese Erneuerung
dereinst bewirken wird, sind bereits auch recht
32 Das Reich der Kunst
deutlich wahrzunehmen in dem Drange schöpfe‐
rischer Bildner, zu einer von allem Hohlen, Leer‐
gewordenen und Konventionell-Nichtssagenden
befreiten Darstellungsart.
.Mehr Ehrfurcht vor den Inspirationen des
Geistes, wie sie der wahrhafte Künstler kennt,
mehr Aufblick zu den Höhen, allwo der echte
Schöpferische heimisch ist, und mehr Gläubig
keit an geistiges Walten im Schaffen der wirk‐
lichen Bildner sind nötig, will man in dem Werke
der Neuerer die wahren Werte erkennen lernen,
‒ will man mit Sicherheit die Werte rein geisti
ger Ausprägung von den willkürlichen, ausgeklü‐
gelten Nachahmungsversuchen unterscheiden!
.Es ist, neben allen geschwinden Akrobaten
und Marktschreiern, unter den neueren Künst‐
lern heute auch wieder, ‒ vorerst noch in aller
Stille, ‒ ein Geschlecht am Werke, das mit einer
Inbrunst vor der Staffelei steht, wie einst Fra An
gelico in seiner Zelle von San Marco zu Florenz.
.Eine echte Frömmigkeit der Seele erfüllt
diese wenigen Gestalter, von der sich ein mo‐
derner Alltagsmensch, der dann lachend und
witzelnd vor ihren ihm so fremdartigen Werken
steht, gar keine Vorstellung bilden kann!
.Es läßt sich solche künstlerische Frömmig‐
keit sehr wohl mit dem rein religiösen Ver‐
halten der Menschen vergleichen:
33 Das Reich der Kunst
.So, wie sich wahrhafte religiöse Frömmig‐
keit niemals damit begnügen kann, von Anderen
vorgeformte Gebete gefühlsleer abzuleiern, so
kann auch der in wahrer künstlerischer Fröm‐
migkeit Empfindende nur in Formen schaffen,
die sein Innerstes erfühlt hat und die ihn bis
in sein Tiefstes erregen.
.Formen, die ihm „nichts mehr zu sagen” haben,
kann er auch nicht mehr gebrauchen, um zu sagen,
was er zu sagen hat.
.Und so, wie das tiefste Gebet der religiösen
Seele, die wirklich ihren Gott in sich fand,
zuerst immer nur ein Stammeln sein kann, bis
dereinst aus solchem Stammeln: Hymnen und
Psalmen werden können, so ist auch das Werk
des geistdurchglühten Künstlers oft erst nur ein
stockendes und des neuen Erfühlens noch nicht
gewaltiges Ausstoßen der Form, bis das Neue
dereinst klare Sprache wird, in der sich immer
Größeres und Erhabeneres darstellen läßt.
.Wer in solcher geistigen Erkenntnis der bil‐
denden Kunst dieser Tage gegenübertritt, dem
wird doch so manches Werk bald Tieferes zu
offenbaren haben als er vorher in ihm gesucht
hätte, ‒ und dann wird ihm sicherlich von
diesem Tage an auch die Frage beantwortet sein:
ob die bildende Kunst als „Luxus”, oder als
Lebensnotwendigkeit zu werten sei? ‒
34 Das Reich der Kunst
Kunst-„Erklärung”
.Es ist eine bemerkenswerte Erfahrung, die
jeder mit bildender Kunst Vertraute stets von
neuem machen kann, daß er von Menschen, die
erst tastend Bildnerwerk für sich deuten lernen
möchten, immer wieder gebeten wird, ihnen
Werke der Kunst zu „erklären”.
.Nirgends spricht sich die grundfalsche Auf‐
fassung weiter Kreise vom Schaffen und Werk
des bildenden Künstlers deutlicher aus als in
solchem Verlangen!
.Alle Lektüre „kunsterzieherischer” Schriften,
alles Anhören „einführender” Vorträge, ja selbst
das von Vielen so treugläubig betriebene Lesen
der Zeitungskritik, ‒ natürlich vor dem Besuch
der Ausstellungen! ‒ ‒ scheint den Irrtum
nicht angreifen zu können: Werke der bilden‐
den Kunst seien dem Erfassen näher zu bringen
durch eine „Erklärung” dessen, was doch nur zu
sehen und schauend zu erfühlen ist.
.Man hat den aufrichtigen Wunsch, das Le‐
bensgebiet der bildenden Kunst sich erschließen
zu lassen, aber man weiß noch nicht, daß man
37 Das Reich der Kunst
es sich nur selber erschließen kann, und so
mangelt es denn am Willen, es sich selber zu
erschließen, ja, man fühlt sich vorläufig wie ein
Eindringling, fühlt sich ohne wohlerworbene Be‐
rechtigung.
.Der Mensch dieser Tage ist so sehr an den
Gedanken gewöhnt, daß er bei gehörigem Fleiß
alles erlernen könne, wenn es ihm nur richtig
„erklärt” werde, daß es für alles Erdenkliche,
dem er nahekommen möchte, „Kurse”, Schulen
und Lehrstunden geben müsse, so daß er auch
den inneren Zugang zu Werken der bildenden
Kunst auf solche Weise allein zu erreichen hofft.
.Daß hier die Eröffnung des noch Verschlos‐
senen erlangt werden könne durch Anwendung
eigenen Einfühlungsvermögens, ‒ durch
eine Erweckung des eigenen Auges, ‒ kommt
nur Wenigen in den Sinn.
.Man betrachtet das Werk des bildenden Künst‐
lers als eine nur den Eingeweihten verständliche
Hieroglyphe, die etwas auszusagen habe, was
erst erklärender Worte bedürfe, solle es von
anderen Beschauern „verstanden” werden.
.So erzeugt man in sich eine durchaus un
künstlerische Einstellung, noch bevor man
sich auch nur an den Versuch heranwagt, das
38 Das Reich der Kunst
was ein Kunstwerk wirklich zu sagen hat, in
sich aufzunehmen.
.Diese falsche Einstellung hält viele, die
sich einst innerlich angetrieben fühlten, das Reich
der bildenden Kunst ihrem eigenen Seelenleben
zu erschließen, zeitlebens von jeder echten künst‐
lerischen Empfindung fern, und läßt die seeli‐
schen Organe allmählich verkümmern, die zu
künstlerischer Einfühlung nötig sind.
.Immer wieder werden Fähigkeiten als Vor‐
spann herangezogen, die wohl auf jedem an
deren Lebensgebiet gute Dienste leisten, auf dem
Wege zur Kunst aber versagen müssen.
.Kunst ist keine Verstandessache!
.Das Wort „Kunstverständnis” hat, streng ge‐
nommen, nur den Wert einer alten Scheide‐
münze, die man weiterhin kursieren läßt, weil
man sich an sie gewöhnte, aber was wirklich mit
diesem Wort gemeint ist, hat gar nichts mit
dem verstandesmäßig zu Erfassenden zu tun.
.Kunst kann man erfühlen und empfinden,
aber nicht mit dem Verstande erfassen!
.Das, was an einem Werke der bildenden Kunst
allenfalls dem Verstande zugänglich ist, ‒ was
eine Erklärung braucht, oder sich durch Worte
39 Das Reich der Kunst
näherbringen läßt, geht niemals die Kunst als
solche an, auch wenn das Technische des
Werkes zur Erörterung steht!
.Nicht Form und Farbe an sich machen ein
Werk, das aus diesen Grundelementen entstand,
zum Kunstwerk, sondern erst das innere,
gleichsam organische Leben, das die Formen‐
und Farbenkomplexe erfüllt und ihre Gesamt‐
masse zu einer im Werke beschlossenen Einheit
bindet.
.Ideen, die sich mit dem Verstande erfassen,
oder in Worten wiedergeben lassen, mögen see‐
lisch erheben und begeistern können, aber sie
sind niemals imstande, das innere Leben der
zu einem Kunstwerk vereinten Formen und
Farben zu ersetzen.
.Gerade hier aber läßt sich der in Dingen der
bildenden Kunst Unerfahrene am leichtesten täu‐
schen, und so mancher „Künstlerruhm” von vor‐
gestern beruhte lediglich auf dieser Täuschung.
.Man kann ein Mann sehr geistvoller, sehr
poetischer und sehr hoher Ideen sein, ‒ man
kann dabei auch Pinsel oder Meißel in akade‐
misch korrekter Art bis zur Bravour beherrschen,
‒ aber man braucht deshalb noch lange kein
Künstler zu sein.
40 Das Reich der Kunst
.Die Machwerke eines solchen, sonst vielleicht
ganz ehrenwerten Mannes, der das auch wirkli‐
chen Künstlern unentbehrliche Handwerk
des Malers oder Plastikers gründlich erlernt ha‐
ben mag, können in einer kunstfremden Epoche,
wie sie ja im großen und ganzen heute noch be‐
steht, über alle Maßen bedeutungsvoll und ver‐
ehrungswert erscheinen, ‒ können bestaunt wer‐
den und große Bewunderung erregen, ‒ und
haben dennoch mit wirklicher, alle zeitliche
Modeschätzung überdauernden Kunst nicht mehr
gemeinsam als das äußere Material der Dar‐
stellung: ‒ Farbe und Leinwand, Bronze oder
Stein.
.Ein solcher „Hochgeschätzter” seiner Zeit be‐
glückte mich einst mit seinem Urteil über Hans
Thoma, und meinte: „Der Mann ist ja ganz
bedeutungslos! Hat nicht einmal einen ge
bildeten Strich im Handgelenk!”
.Heute ist der Name des also Urteilenden eben‐
so vergessen, wie das was er machte, und was
noch vor ein paar Jahrzehnten von recht vielen
Leuten als „Kunst” gewertet, und weit höher
honoriert wurde als die Bilder Hans Thomas,
der damals noch ohne Titel und Würden war,
wenn er auch den Kundigen längst schon als
wahrhaft verehrungswürdig galt.
41 Das Reich der Kunst
.Die künstlerische „Idee” eines wahren
Kunstwerkes ist niemals verstandesmäßig zu
fassen, oder in Worten mitteilbar, wenn vielleicht
auch unter denen, die sie fühlend zu erfassen
wissen, ein Wort genügen kann, um auf sie hin‐
zuweisen.
.Sie beruht allein in jenem gleichsam „orga‐
nischen” Leben, das der Künstler seinem Werke
einzusenken wußte.
.Der beste „Erklärer” wird unvermögend sein,
die rein künstlerische „Idee” eines Werkes
aufzuzeigen, wenn das Einfühlungsvermögen des
Beschauers in bequemer Trägheit verharrt, ‒
wenn der nach „Erklärung” Verlangende der Mei‐
nung ist, Kunst „müsse” ihn „erheben”, „er‐
freuen”, dürfte aber keine Mitarbeit von ihm
verlangen.
.So sagte mir einst ein angesehener Hochschul‐
lehrer und nicht unbedeutender Spezialist seines
Faches bei Gelegenheit einer Hodler-Ausstel‐
lung: ‒ er müsse diese Kunst „prinzipiell
ablehnen, denn Kunst habe „die Aufgabe”, ‒
Genuß” zu vermitteln. Es sei ihm aber kein
Genießen, wenn er, aus anstrengender Berufs‐
tätigkeit heraus, sich entschlösse, eine Ausstel‐
lung zu besuchen und dort Kunstwerken begegne,
die erst Ansprüche an seinen Geist stellten,
42 Das Reich der Kunst
‒ womit er natürlich seinen Intellekt: sein ver
standesmäßiges Erkenntnisvermögen, meinte.
.Dabei gehörte aber dieser Gelehrte zu den
„kunstliebenden” Kreisen seiner Stadt, und wußte
allerlei holde Mittelmäßigkeit, auch als Käufer,
weit über Gebühr zu schätzen, so daß er sich
allen Ernstes für einen „Kunstfreund” hielt.
.Wer in solcher Gesinnung an die Werke
wirklicher Kunst herantritt, der darf ruhig alle
Hoffnung aufgeben, jemals seelisch zu erfahren,
was Kunst ist, ‒ jemals in ein lebendiges Ver‐
hältnis zur Kunst zu kommen.
.Lebendiges Verhältnis zur bildenden Kunst
läßt sich nur durch andauernde vergleichende
Übung im Kunst-Beschauen, im Kunst-Be
trachten gewinnen, nicht aber durch stetes Be‐
lehrtseinwollen, oder durch das Verschlingen von
allerlei Kunstliteratur, die nur für bereits „Se‐
hende” geschrieben ist.
.Sehen, sehen und wieder sehen, ‒ unbe
irrt durch eigene Vorurteile, eigene Vorliebe
oder Abneigung, ‒ nur geleitet durch das Be‐
streben, offenen Auges und mit allen Kräften des
Einfühlungsvermögens das innere „organische”
Leben im Kunstwerk entdecken zu wollen, ‒
das ist der einzige Rat, den man allen geben
43 Das Reich der Kunst
kann, die immer wieder fragen: warum gewisse
Werke großer Kunst, die dem Unkundigen viel‐
leicht gar, des dargestellten Gegenstandes oder
der Technik wegen, „scheußlich” erscheinen,
wirkliche Kunstwerke seien, während der
doch so viel „schönere” liebe Kitsch auf die mit
Kunst Vertrauten sichtlich wie ein Brechmittel
wirke?
.Jeder, der in ein inneres Verhältnis zur bil‐
denden Kunst gekommen ist, mußte einst auf die
gleiche Weise beginnen.
.So, wie das Kind in der Wiege, das nach dem
Mond greift, weil er ihm nahe erscheint, erst
sehen lernen muß, um Entfernungen abschätzen
zu können, so muß auch der Erwachsene erst
sehen „lernen”, bevor er imstande ist, den un‐
geheuren Abstand zu ermessen, der zwischen
einer mit Pinsel oder Meißel hervorgebrachten
Mache und einem wirklichen Kunstwerk
besteht.
.Es mag dabei ratsam erscheinen, immerhin
das Urteil solcher Menschen zu beachten,
deren entwickeltes Kunstgefühl keine Verwechs‐
lung von Kunst und Unkunst zuläßt, und die
zugleich ihre eigenen Vorlieben und Abneigungen
soweit meistern, daß sie zum Wertgebenden in
jeder Kunstrichtung vorzudringen vermögen.
44 Das Reich der Kunst
.Aber auch das Urteil eines Menschen, dessen
subjektiv unbeeinflußtes Kunstgefühl ganz außer
Frage steht, kann immer nur insoweit fördern,
als es lehrt, alles Unkünstlerische, alles Halbe
und Unechte auszuscheiden.
.Es kann nur den Kreis des „Studienmaterials”
auf das wirklich Wertvolle einschränken, und
dadurch ein Abirren vermeiden lehren.
.In dem Echten und Wertvollen dann die
wirklichen Kunstwerke zu entdecken, muß ei
gener Versenkung, eigenem Empfinden, eige
nem Suchen und Vergleichen anheimgestellt
bleiben.
.Nichts wäre verkehrter als das „Nachbeten”
auch des sichersten Urteils, dessen innere Be
gründung man nicht selbst empfunden hat.
.Wer aber bestrebt ist, diese innere Begrün‐
dung im eigenen Empfinden nachzuerleben, der
wird bei einiger Ausdauer entdecken, daß das
Urteil eines wirklich der bildenden Kunst kun‐
digen Menschen stets auf den gleichen Grund‐
lagen beruht, mag es sich nun um Kunst der
alten Ägypter, der Griechen und Römer, um
die Kunst Dürers oder das Werk eines als
ultramodern” geltenden wirklichen Künstlers
handeln.
45 Das Reich der Kunst
.Nicht die gedankliche Idee, nicht die ge‐
schickte Wahl des Gegenstandes und dessen ding‐
liche Schönheit oder Häßlichkeit, nicht die Art
der Naturauffassung und nicht die Technik ent‐
scheiden über den wesentlichen Kunstwert eines
Werkes und bestimmen dessen Höhe, sondern
einzig und allein der Grad des inneren „organi‐
schen” Lebens ist hier entscheidend, als Aus‐
druck und Widerschein jenes ursprünglichen
schöpferischen Lebens, das der wesenhafte, auch
den höchsten Intellekt hoch überragende Geist,
der „über den Wassern” des Chaos schwebt um
aus ihnen immer neues Leben zu zeugen, allein
in der Seele des wahren Künstlers sich ent‐
falten läßt, damit es eingehen könne in das reife
Werk.
46 Das Reich der Kunst
Künstlerisches Sehen
.Um künstlerisch „sehen” zu lernen, muß
man wieder und wieder beste Kunst vor Augen
haben, bis die Seele allmählich das optische Bild
deuten, und künstlerisch Beseeltes von Unbe‐
seeltem scheiden lernt.
.Entwickeltes Kunstgefühl ist nur eine Folge
des tiefen Eindringens in das künstlerisch We
sentliche, das in aller wirklichen Kunst zu
finden ist: ‒ in den Werken der einander fernsten
Zeiten und Völker, ‒ in allen Schöpfungen ech‐
ter Künstler, möge ihr Werk auch durch ganz
verschiedene, ältere oder neuere Kunstauffassung
bestimmt worden sein.
.Was auf Reisen, bei gelegentlichen Museums‐
und Ausstellungsbesuchen flüchtig betrachtet wird,
kann zwar dem schon urteilssicheren Kunst‐
Vertrauten allenfalls dazu dienen, sich einen
neuen Überblick zu verschaffen, hingegen wird
es den noch Kunst-Fremden eher verwirren
als belehren.
.Soll Kunstbetrachtung wirklich die Urteils
fähigkeit entwickeln, dann ist vor allem Zeit
zur Vertiefung in das Gesehene nötig.
49 Das Reich der Kunst
.Der ungeübte Beschauer, dem die Fähigkeit
zu objektiv richtiger Schätzung des Gesehenen
noch abgeht, wird niemals Gewinn von Kunst‐
besichtigungen „im Vorübergehen” haben, ‒
handle es sich um eine Galerie alter Meister
oder um eine Darbietung neuerer Kunstwerke.
.Die meisten Menschen, auch die auf anderen
Gebieten Gebildeten, sind immer noch gewohnt,
ein Werk der bildenden Kunst in erster Linie
um seinen gegenständlich gegebenen Inhalt zu
befragen, mögen manche das auch nicht immer
gern wahrhaben wollen.
.Der künstlerisch maß- und wertgebende
Inhalt” eines Werkes der bildenden Kunst ist
aber niemals das gegenständlich Dargestellte,
sondern die Darstellung an sich, als Äuße‐
rung der künstlerischen Begabung eines kunst‐
schöpferischen Menschen!
.Wer in einem Werke der Malerei oder der
Plastik nur das Dargestellte sieht, der sieht
zunächst lediglich den Anlaß, der einen Künstler
zu einer Äußerung seiner schöpferischen Bega‐
bung bestimmte.
.Nicht jedes Bildwerk, das dem Auge wohl‐
gefällt, und das wohl gar die Bewunderung des
50 Das Reich der Kunst
Betrachters erregt, weil der dargestellte Gegen‐
stand „zum Greifen natürlich” erscheint, ist
deshalb schon ein Kunstwerk.
.Um ein wirkliches Kunstwerk zu sein und
somit auch einen über den bloßen Arbeits- und
Materialwert hinausgehenden, tatsächlich gege‐
benen Kunstwert zu besitzen, muß eine Dar‐
stellung Zeugnis ablegen von der Intensität,
mit der ihr Darsteller die äußere Naturerschei‐
nung in sich aufnahm, dann in seinem Inneren
verarbeitete, und sie, nachdem er sie gleich‐
sam neu schuf, schließlich zum sinnenfälligen
Werke formte.
.Die individuelle Eigenart des Schaffen‐
den allein bestimmt, bis zu welchem Grade sein
Werk gleichzeitig auch noch als Abbild des
Naturvorbildes gelten kann.
.Wäre schon jede korrekte und das Auge über‐
zeugende Darstellung der Natur ein Kunst
werk, dann hätte man die höchste Vollen
dung der bildenden Kunst unstreitig von der
Optik und der Chemie her zu erwarten, denn
die endgültige Lösung des Problems der Farben‐
photographie müßte dann Werke hervorbringen
lehren, die alle mit Pinsel und Farbe manuell
geschaffenen Darstellungen weithin an Kunst‐
wert überragen würden.
51 Das Reich der Kunst
.Das Gleiche gilt von der Plastik, denn man
vermag ja bereits heute schon Plastiken auf
phototechnischem Wege herzustellen, die an „Na‐
turtreue” kaum mehr etwas zu wünschen übrig
lassen.
.Vielleicht am verständlichsten wird das hier
Gemeinte ersichtlich innerhalb der Architektur.
.Wohl kann auch der Architekt Anregung zum
Schaffen durch ein Gebilde der Natur empfangen,
‒ doch, welches abstruse Mißgebilde würde ent‐
stehen, wollte er etwa versuchen, in seinem Werke
ein Abbild der Naturerscheinung zu geben,
die sein Schaffen befruchtet hat!
.Aber auch nicht die handwerkliche Geschick
lichkeit, mit der etwa die Illusion des Gegen‐
ständlichen auf der Fläche oder plastisch her‐
vorgerufen wurde, erhebt eine Darstellung zum
Kunstwerk.
.Von wirklicher Kunst, von eigentlichem
Kunstwert darf erst dann gesprochen werden,
wenn das innerlich verarbeitete und aus schöpfe‐
rischer Kraft geformte Werk vorliegt, ‒ nicht
die bloße „Naturwiedergabe”, die eine vervoll‐
kommnete photochemische Technik dereinst weit
fehlerfreier liefern wird, als sie durch manuelle
Arbeit jemals gegeben werden könnte.
52 Das Reich der Kunst
.Der Schaffensvorgang im Künstler bedingt in
aller auf die sichtbare Welt bezogenen Kunst
gewiß zuerst eine besonders intensive Auf
nahme der optischen Eindrücke durch das
physische Auge.
.Aber hier schon beginnt eine Auswahl, die
allein vom künstlerischen Empfinden be‐
stimmt wird.
.Der Künstler wird Farben- und Linien
werte, Formen und räumliche Beziehungen
in dem Naturvorbild gewahren, die dem Nicht‐
künstler nur nach jahrelanger Vorbereitung, nach
unermüdlicher Schulung seines Auges, zu sehen
möglich wären.
.Dann aber erfolgt erst in der Seele des Schaf‐
fenden die innere Verarbeitung der durch phy‐
sisches Sehen aufgenommenen Eindrücke, bis
endlich der eigentliche Schöpfungsakt: ‒ das
Gestalten der künstlerischen Vorstellung,
sich ereignet.
.Dieses im Innern geschaffene Vorstel
lungsbild wird alles in sich enthalten, was
dem Schaffenden an der Naturerscheinung künst
lerisch wesentlich war: ‒ was sein Tempera‐
ment erregte, ‒ was den Anlaß zum Schaffen
bildete, ‒ und wird alles ausschalten, was bei
dem Naturerlebnis belanglos blieb.
53 Das Reich der Kunst
.(Den hier geschilderten Prozeß wird jeder Ma‐
schinenbauer leicht verstehen, wenn er daran
denkt, daß auch er in seiner Zeichnung alle
Schrauben, Hebel und Räder besonders hervor
heben wird, die ein Verständnis der Funk
tion seiner Maschine vermitteln, auch wenn das
solcherart Betonte dem Laien an der fertigen
Maschine kaum besonders auffallen würde, wäh‐
rend anderes, das dem Fachmann unwichtig ist
oder die Klarheit der Zeichnung beeinträchtigen
könnte, aus der Darstellung ausgeschaltet bleibt.)
.Der dritte und letzte Vorgang im Schaffen
des bildenden Künstlers ist dann erst die sinnen
faßliche Darstellung.
.Es versteht sich von selbst, daß sie nur in
einer den Gesetzen der Kunst entsprechenden
Verwendung der Darstellungsmittel erfolgen darf,
wenn ein wirkliches Kunstwerk entstehen soll.
.Die Darstellungsmittel selbst aber kann auch
jeder Nichtkünstler beherrschen lernen.
.Mit mehr oder weniger Begabung zum Zeichnen,
mit mehr oder weniger Farbengeschmack, wie ihn
schließlich auch der gute Schaufensterdekorateur
besitzen muß, läßt sich bei entsprechendem Fleiß
„Zeichnen” und „Malen” erlernen, ja bis zur
Virtuosität entwickeln.
54 Das Reich der Kunst
.Was dann ein solcher „geschickter” Zeichner
oder Maler hervorbringt, mag den „Laien” zu
staunender Bewunderung hinreißen, und es kann
auch am rechten Platz, ‒ etwa als Illustration,
oder dort, wo es sich darum handelt, eine Fläche
geschmackvoll zu schmücken, ‒ in seiner Art
vollkommen sein, so daß es hohe Anerkennung
verdient, aber mit wirklicher Kunst hat es nur
die gleichen Darstellungsmittel und das Erlern
bare gemeinsam.
.Der Schaffende gebraucht die Darstellungs‐
mittel, über die er, genau wie jeder andere,
nur dann frei verfügen kann, wenn er sie durch
langes Studium in sicheren Besitz brachte, um
sein inneres künstlerisches Vorstellungsbild, von
dem oben die Rede war, nach außen hin sicht‐
bar erstehen zu lassen.
.Es ist dabei einerlei, ob er, wie Böcklin,
nur aus der Erinnerung schöpft, wie Hodler,
die Zeichnung unerbittlich nach dem Modell
berichtigt, oder, wie der urdeutsche Leibl
keinen Pinselstrich macht, ohne seine Berechti‐
gung vorher scharfsinnig erprüft zu haben.
.In allem künstlerischen Schaffen handelt es
sich um die Wiedergabe des innerlich bereits ge‐
stalteten Vorstellungsbildes, nicht etwa um
ein „Abmalen” der äußeren Natur, und selbst
der scheinbar so ganz vom Naturvorbild ab‐
55 Das Reich der Kunst
hängige, ausgesprochene Impressionist Max Lie
bermann bestätigt das, indem er von seinem
eigenen Schaffen spricht als von einem steten
Komponieren aus der Phantasie”, wobei
dem Naturmodell nur die Aufgabe zufalle, diese
schöpferische Phantasie in lebendiger Erregung
zu erhalten.
.Aus den Darstellungsmitteln wählt jeder Künst‐
ler instinktiv aus, was ihm am ehesten gestattet,
das was er zu sagen hat, in der knappesten
und dabei vollkommensten Form zu sagen.
.Zeichnen ist die Kunst wegzulassen!” ‒
definiert der oben genannte Künstler.
.Auch Malen ist eine Kunst des „Weglassens!”
.Jeder Pinselstrich, der zur Darstellung des
künstlerisch geformten inneren Vorstellungsbil‐
des nicht unbedingt nötig ist, ergibt ein „Zu‐
viel”, verringert den Wert des Werkes in der
Wertung des Kunstkundigen.
.In der Plastik ist es nicht anders, wenn man
vom Merkmal des Meißels am Werke sprechen
will, und daß ein Überwuchern architektoni
scher Formen, die nicht durch den Zweck und
die künstlerische Struktur eines Bauwerks
bedingt sind, seinen Kunstwert verringert,
wenn nicht gar völlig in Frage stellt, weiß
heute doch schon mancher, der den Werken der
56 Das Reich der Kunst
Malerei und Plastik noch recht unsicher
gegenübersteht.
.Ausgeführt” oder „fertig” ist ein Werk
der bildenden Kunst, wenn es das innere künst‐
lerische Vorstellungsbild zum Ausdruck bringt,
sei es auch nur durch „skizzenhafte” Andeutun‐
gen, während es bei noch so detaillierter und
glatter Arbeit unfertig bleibt, solange es nicht
der vollendete Ausdruck des innerlich Ge
sehenen ist.
.Hier mag an das Wort Goethes erinnert sein:
.Ein jedes wirkliche Kunstwerk ist in
jedem Zustande fertig.”
.Ob Holbein seine Köpfe glatt und minutiös
malt, oder Frans Hals die seinen mit wuchti‐
gen, „skizzenhaften” Pinselhieben hinhackt, ist
für die Wertung beider Künstler absolut gleich
gültig.
.Wichtig ist allein, ob in der Darstellung un‐
bestreitbar das innere, nach immanenten künst‐
lerischen Gesetzen „komponierte” Vorstellungs‐
bild des Künstlers erfühlbar wird, indem es mit den,
seinem Temperament entsprechenden, sicher
beherrschten Darstellungsmitteln zum Ausdruck
kam.
57 Das Reich der Kunst
.Wichtig ist, ob die „Handschrift”, die das
Werk aufzeigt, wirklich ursprünglich, dem
Künstler wesensgemäß und sein eigen ist, oder
ob nur äußerliche Dressur und glatte Fleißarbeit
über den Mangel wirklichen künstlerischen Tem‐
peraments hinwegtäuschen sollen.
.Alles das muß man aber erst sehen lernen,
bevor man zu einem sicheren Urteil über Werke
der bildenden Kunst kommen kann, denn solches
Urteilsvermögen ist ebensowenig „angeboren”,
wie etwa die Sicherheit, mit der ein Juwelen‐
händler wertvolle von fehlerhaften Edelsteinen
oder gar von Fälschungen unterscheidet.
58 Das Reich der Kunst
„Das Schöne” im Kunstwerk
.Die Freude am Schönen ist dem Menschen
eingeboren, trotzdem bis heute noch niemand
imstande ist, eine absolut gültige Definition des
„Schönen” zu geben.
.Was dem einen Menschen als berückend
schön erscheint, wird von dem andern kaum
beachtet, und ein dritter mag es gar als un
schön empfinden.
.Wie verschiedenartig die Deutungen des
Begriffes „Schönheit” ausfallen können, zeigt
in klarster Weise die Geschichte der bildenden
Kunst.
.Gerade die größten Meisterwerke Rem
brandts fanden seine Zeitgenossen unschön,
ja häßlich, während sie den Kunstkundigen
unserer Tage eine Welt der Schönheit er‐
schließen.
.Bei den Zeitgenossen fanden die süßlichen
Malereien der späten Nachahmer Raffaels höchste
Bewunderung, während jeder Urteilssichere
heute nur mehr ein trauriges Dokument des
Niedergangs in diesen Bildern erblicken kann.
61 Das Reich der Kunst
.So wechselten die Meinungen hinsichtlich
dessen, was als das künstlerisch Schöne zu
gelten habe, nicht anders wie in Bezug auf das
gegenständlich Schöne in der Natur.
.Am deutlichsten zeigt sich vielleicht die Viel‐
deutigkeit des Schönheitsbegriffes in der neue
ren Kunst.
.Während der eine Betrachter berauscht ist
von der „Schönheit” eines Werkes, findet es
der andere „ekelhaft” und „abstoßend”.
.Jeder sucht eben nur die Darstellung seines
eigenen, recht subjektiv bestimmten Schön‐
heitsideals, ‒ aber auch dieses persönliche
Ideal ist keineswegs unwandelbar, sondern
wird im Laufe eines Menschenlebens gar oft
durch Modeströmungen, Zeitgeschmack und ei‐
gene Urteilsumbildung beeinflußt, so daß der
gleiche Mensch in den verschiedenen Zeitfolgen
seines Erdendaseins zu sehr verschiedenen
Definitionen seines Schönheitsideales gelangen
kann.
.Erfreulich wird solche Wandlung sein,
wenn sie aus einer tieferen Erkenntnis des
Wertgebenden in der Kunst hervorging.
.Während man lange Zeit hindurch nur die
Anekdote, den dargestellten Vorgang, oder die
62 Das Reich der Kunst
möglichst täuschende Natur-Imitation in einem
Kunstwerk, oder einem Gebilde das als Kunst‐
werk gelten wollte, bewunderte, fing man eines
Tages an, alles dieses unbeachtet zu lassen, um
fortan die Schönheit nur in der besonderen Qua‐
lität des Technischen: ‒ der Virtuosität
der Mache, ‒ in der „schönen Epidermis
des Werkes zu suchen und zu sehen.
.Heute noch gibt es genug solche begeisterte
Bewunderer des Pinselraffinements, und Manets
„Spargelbund”, der als Probe stupenden Kön‐
nens gewiß hervorragend bleibt, wird von vielen
nicht nur höher gewertet als seine wirklich
kunstbedeutsamen, aus gleichem Können erwach‐
senen Meisterwerke, sondern auch für weitaus
wertvoller angesehen als, beispielsweise, die Six
tinische Madonna.
.Aber die Zeit, in der solches Urteil genügte,
um sich als „Kunstkenner” zu erweisen, neigt
sich doch allmählich wieder ihrem Ende zu.
.Man fängt wieder an, im Künstler nicht nur
den kapriziösen Könner zu sehen, ‒ ja man
hat leider bereits eine ganz ungerechtfertigte
Geringschätzung für alles technische Können
bereit, und läßt sich selbst gewollt naiv-unbe‐
holfenstes Gebaren im Technischen gefallen,
63 Das Reich der Kunst
wenn nur der gesuchte geistige Inhalt dahinter
irgendwie zu erspüren ist.
.Hervorragende „Könner” unter den Künst‐
lern dieser Tage kennen kein heißeres Bemühen,
als die bewußte Unterdrückung auch des lei‐
sesten Anzeichens ihres Könnens, und gefallen
sich in einer Darstellungsart, die mehr oder we‐
niger den Kunstäußerungen der Naturvölker,
oder naiven Kinderzeichnungen angeähnelt ist.
.Nichts wird ärger gefürchtet als der Anschein
des Virtuosentums, oder die Merkmale einer ho‐
hen Kultur des künstlerisch-technischen Dar‐
stellens.
.Allerdings geht dieses Streben zum scheinbar
Allereinfachsten oft so weit, daß man schon wie‐
der von einem Virtuosentum des Naivsein
wollens sprechen könnte.
.Solche Erscheinungen wären aber ganz un‐
möglich, wenn man heute auch noch, wie vor
nicht gar langer Zeit, allen Kunstwert eines Wer‐
kes nur in der „geistreich” gemalten Oberfläche
sehen würde.
.Man beginnt heute wieder, im bildenden
Künstler, gleichwie im Dichter und im Kompo‐
nisten, den Seelendeuter, den Künder see
lischer Erlebnisse, den Schürfer in den
tiefsten Tiefen des noch Ungewußten zu
64 Das Reich der Kunst
sehen, und man erwartet vom Maler wie vom
Plastiker, daß er nur solchen Erlebnissen Aus‐
druck schaffe, die sich auf keine andere Weise,
als nur mit den Mitteln seiner Kunst ausspre‐
chen lassen.
.Es fragt sich also, welches die ureigenen Dar‐
stellungsmittel sind, über die der bildende Künst‐
ler verfügt?
.Da kommen wir denn, wenn wir hier in erster
Linie einmal die Kunst des Malers in Betracht
ziehen wollen, auf folgende:
.Helle und dunkle Massen, Farbflecken,
sowie deren Umgrenzungen, die sich als Linien
zeigen, wenn auch die Linie daneben ein Ei
genleben als Kunstmittel führen kann.
.Auch wenn der Maler eine Anekdote zur Dar‐
stellung bringen will, hat er keine anderen Mittel
zur Verfügung.
.Aber während er bei dem Versuch, den op‐
tischen Eindruck äußerer Gegenstände aufs Auge
zu imitieren, seine Mittel mehr oder weniger
vergewaltigen muß, gleich einem Musiker, der
die Stimmen von Tieren, oder andere Naturlaute
nachzuahmen trachtet, wird es sich bei einer
Darstellung die den künstlerischen Gesetzen ent‐
sprechen soll, stets darum handeln, daß alles was
zu sagen ist, mit den zur Verfügung stehenden
65 Das Reich der Kunst
Kunstmitteln gesagt wird, ohne ihnen Gewalt
anzutun.
.Man wird das gut an einem Beispiel verste‐
hen lernen:
.Wenn ein „Historienmaler”, in glücklich hin‐
ter uns liegenden Tagen, den tragischen Tod
einer allbekannten geschichtlichen Persönlichkeit
darstellte, dann benutzte er eine Menge seelisch
wirksamer Momente, die alle schon vor seinem
Bilde da waren, und die auch durch eine Dar‐
stellung in Worten, also durch den Dichter,
hätten vermittelt werden können, ja durch bloße
Kenntnis des historischen Vorgangs schon zum
Nacherleben kommen konnten.
.Das Werk eines solchen Malers ist zumeist
nichts anderes als eine gute oder schlechte Illu
stration, mag sie auch in gewaltigen Dimen‐
sionen gehalten sein.
.Die gleiche geschichtliche Begebenheit kann
aber in einem Maler, der sie erschauernd in sich
nacherlebt, auch Komplexe seelischer Empfin‐
dungen auslösen, die nur mit den Mitteln sei
ner Kunst darstellbar werden, aber niemals
durch eine gemalte Schilderung des historischen
Vorgangs allein, anderen Seelen zum Empfinden
kommen könnten.
66 Das Reich der Kunst
.Entweder wird sich dann ein Vorstellungs
bild des Geschehnisses in der Seele des Künst‐
lers gestalten, das die erzählbare Begebenheit
auflöst in künstlerisch „sprechende” Formen,
Farben und Linien, denen die Kraft innewohnt,
das vom Künstler Erfühlte auch der Seele des
Betrachters nahezubringen, oder aber, es wird
sich das innerlich Erlebte zu einem Werke kri‐
stallisieren, das mit der Wiedergabe des Vor‐
ganges nicht das mindeste zu tun hat.
.Solche neue künstlerische Form kann die
Wucht und tragische Größe eines Ereignisses
weit stärker zum Ausdruck bringen als die beste
Illustration, gerade weil der Künstler sich nicht
verleiten ließ, Wirkungen anzustreben, die den
ureigensten Mitteln seiner Kunst fremd sind.
.Das gleiche gilt von jeder Darstellung,
hinter der ein Schaffensvorgang steht, der durch
Natureindrücke ausgelöst wurde.
.Die mit feinster Naturbeobachtung erfüllte
Wiedergabe einer Tanne am Bergabhang kann
eine vorzügliche Illustration eines botanischen
oder landschaftsgeographischen Handbuches sein,
‒ rein künstlerisch betrachtet ist ein solches
Bild aber noch unverarbeitetes Rohmaterial,
solange es nur Darstellung bleibt, und nicht,
67 Das Reich der Kunst
darüber hinaus, auch durch die Komposition der
Hell- und Dunkelmassen, der Farben oder Linien,
einer rein künstlerischen Empfindung Aus‐
druck gibt.
.Es wäre geradezu möglich, daß ein Künstler
beim Anblick einer solchen, sehr „naturgetreuen”,
aber mit vergewaltigten Kunstmitteln hervor‐
gebrachten Darstellung ein ähnliches Erleben in
sich empfinden könnte, als stünde er vor dem
Vorbild der Darstellung in der Natur, und daß
er sich alsdann angeregt fühlen würde, das so
Empfundene nun mit den rein und ehrlich
benützten Mitteln seiner Kunst zum Ausdruck
zu bringen. (Utrillo, dessen Ruhm heute vielen
seiner Bewunderer alle Namen des französischen
Impressionismus verdunkelt, soll die meisten sei‐
ner Bilder nach Anregungen gemalt haben, die
ihm irgendwelche photographischen Ansichts
postkarten vermittelten.)
.Der Kunstwert einer Naturdarstellung wird
niemals durch die exakte Formtreue dem Vor‐
bild gegenüber bestimmt, ‒ auch wenn eine
„naturgetreue” Darstellung künstlerisch sehr wert‐
voll sein kann, ‒ sondern das allein „Kunst
wert” verleihende innere Leben eines wirkli‐
chen Kunstwerkes ist stets bedingt durch eine
Art der Aussprache, die streng den Gesetzen der
gegebenen Ausdrucksmittel folgt und diese Aus‐
68 Das Reich der Kunst
drucksmittel nicht durch eine kunstfremde Ver‐
wendung um ihre innere Kraft bringt.
.Das vollkommene Kunstwerk ist eine Welt
für sich, und in dieser, seiner Welt, ist nur
das von Wert, was wirklich erst durch das Werk
zur Existenz kam.
.Die besondere Schönheit eines Kunstwerkes
besteht darin, daß es ein in sich geschlosse
nes, formal und technisch einheitliches, gleich‐
sam organisch gewachsenes Gebilde voll in‐
nerer Harmonie ist, in dem sein Schöpfer nur
das aussagt, was durch die eigentlichen Mittel
seiner Kunst, ‒ und nur durch sie, ‒ ausge‐
drückt werden kann, was sich aber weder durch
das Wort der Dichtung oder Beschreibung, weder
durch eine Darstellung auf der Bühne, noch
durch ein Werk der Tonkunst ausdrücken läßt,
‒ am allerwenigsten jedoch durch die Illustra
tion einer Begebenheit oder eines Zustandes.
.Nur die innere Gesetzmäßigkeit, die hier
gemeint ist, löst in dem kunstkundigen Betrachter
das Wohlgefühl aus, das wir als Schönheitsemp‐
finden bezeichnen.
.Es handelt sich nicht darum, einer Empfin‐
dung irgend einen „wilden” Ausdruck zu
geben!
69 Das Reich der Kunst
.Kunst entsteht erst dann, wenn das künst‐
lerische Erleben zur Gestaltung einer in allen
Stücken kunstgemäßen Form führte.
.Auch eine neue Schönheit, als Bereicherung
unseres in so vielerlei Strebungen seiner Erfül‐
lung entgegentastenden Schönheits-Verlangens,
kann künstlerisch nicht anders erstehen.
.Nur darf man auch nicht dem Streben nach
neuer Schönheit den Weg verlegen mit den
schon bekannten Deutungen des so vieldeuti‐
gen Schönheitsbegriffes!
.Man füllt nicht „neuen Wein in alte Schläuche”,
und so soll man auch nicht das neue Schöne in
Formen erwarten, die es doch nur zersprengen
müßte, wollte es in ihnen erscheinen.
70 Das Reich der Kunst
Natur und Kunst
.Aus den Zeiten des klassischen Altertums her
hat sich eine Künstleranekdote erhalten, in der
erzählt wird, wie ein Maler Früchte so täuschend
darzustellen verstand, daß Vögel herbeigeflogen
kamen, um an gemalten Beeren zu naschen.
.Diese Anekdote spiegelt auch heute noch so
recht das Verlangen wieder, das die meisten kunst‐
fernen Bilderbetrachter durch die Kunst der Ma‐
lerei befriedigt sehen möchten.
.Das Vortäuschen der Greifbarkeit eines ge‐
malten Gegenstandes ist aber bestenfalls nur ein
scherzhaft erlaubtes „Kunststück”, das mit
„Kunst” nicht das mindeste zu schaffen hat,
und keinem sonderlich schwer fällt, der das Hand‐
werkliche der Malerei versteht.
.Wäre in solcher Spielerei die Kunst des Ma‐
lers beschlossen, dann läge wahrhaftig keine Be‐
rechtigung vor, den Künstler anders einzuschätzen
als den Verfertiger künstlicher Blumen und
Früchte, oder den Modelleur der Wachsfiguren
eines Panoptikums, was aber durchaus nicht hei‐
ßen soll, daß die oft sehr mühselige Arbeit solcher
73 Das Reich der Kunst
Spezialisten nicht sehr viel Können und Geschick‐
lichkeit erfordere.
.Im Reiche der bildenden Kunst wird Anderes
erstrebt, und wenn auch zuweilen Maler ihre
Freude daran hatten, das Gegenständliche einer
Darstellung „bis zur Greifbarkeit” herauszuarbei‐
ten, so wußten sie doch auch sehr genau, daß der
Wert ihres Werkes keineswegs in solcher Na‐
turspiegelung beschlossen war, ‒ ja, es ist wohl
anzunehmen, daß manches Werk dieser Art nur
entstand, weil Auftraggeber und Käufer die Künst‐
ler bedrängten und zu einer Darstellungsweise
nötigten, die sie aus freien Stücken kaum ge‐
wählt haben würden.
.Wer das Reich der bildenden Kunst betreten
will, der sollte den Zuruf in sich fühlen, den der
biblische Moses hörte vor dem brennenden Busch:
„Zieh' deine Schuhe von den Füßen, denn der
Ort den du betreten willst, ist heiliges Land!”
.Was auch ein wirklicher Künstler zu geben
haben mag, und sollte es dem Motiv nach noch
so nahe dem „grauen Alltag” stehen, wird immer
eine Botschaft der Seele sein, bestünde sie auch
nur darin, daß sie sehen lehrte, wie selbst das
Häßlichste noch einen Gottesfunken offenbaren
kann, der nur im Kunstwerk zu erlösen ist.
74 Das Reich der Kunst
.Um diese Botschaft der Seele handelt es
sich in aller Kunst!
.Die Malerei macht hier keine Ausnahme, so
sehr es auch den Anschein haben mag, als reize
den Maler in erster Linie die „Wiedergabe
farbiger Erscheinungen der Außenwelt, etwa um
ihr Abbild dauernd „festzuhalten”.
.Ich habe schon dargelegt, daß dieses Ziel:
‒ das „Festhalten” des Natureindruckes, ‒ in
vollkommenster Weise erreicht sein wird, wenn
es eines Tages gelingt, die Photographie in
natürlichen Farben von den Mängeln zu be‐
freien, die ihr derzeit noch anhaften.
.Daß der Maler handwerklich fähig ist, mit den
Mitteln seiner Kunst Gebilde hervorzubringen,
die durch ihre Wirkung auf das Auge ähnliche
Reizungen auslösen wie die Dinge der farbigen
Erscheinungswelt, betraut ihn nur mit der hohen
Aufgabe, das Wort der Seele in den Außen‐
dingen zu erlauschen, um sodann im Kunstwerk
auch Anderen von dem Erlauschten Kunde zu
bringen.
.Das, was ich hier das Wort der Seele nenne,
wird niemals optischen Apparaten und chemi‐
schen Verfahren zugänglich sein. Auch alle ge‐
schmackvolle „Regie” der Bildwirkungsmittel kann
75 Das Reich der Kunst
dem Wort der Seele, das hier gemeint ist, nicht
den ihm gemäßen Ausdruck schaffen.
.Der Künstler nur kann es in sich aufnehmen
und dann im Werke zum Wiederklang bringen!
.Der Wert eines Kunstwerkes wird niemals
abhängig sein von dem Grade der Täuschung,
die es auf der Netzhaut des Auges hervorbringt,
sondern bleibt stets im genauesten Verhältnis zu
der Intensität, oder auch der besonderen Innig
keit, mit der sein Schöpfer das „Wort der Seele”
in den Naturdingen erfaßte und dann im Werke
auszusprechen wußte.
.Der Mensch trägt in sich auf verschiedene
Weise die Elemente der gesamten Natur.
.Was nun im Äußeren zum Künstler „spricht
und ihm vernehmbar werden will, wird immer
gerade dem gleichen, was er, ‒ als einzigartige
Individualität, ‒ in besonders vollkommener
Form in sich trägt.
.Daher hat die Natur jedem Künstler Anderes
zu geben!
.Für jeden Schaffenden, der in Andacht und
Hingebung auf das „Wort der Seele” lauscht, wird
es sich in anderer, neuer Weise offenbaren. ‒
.Wie weit der Maler die ihm in seinem Hand‐
werk dargebotene Möglichkeit benutzen will,
76 Das Reich der Kunst
Dinge der Außenwelt „täuschend” und „greifbar”
darzustellen, wird stets davon abhängig sein, bis
zu welchem Grade die Erinnerung an Naturge‐
gebenes erweckt werden muß, um vor dem Kunst‐
werk empfinden zu können, was ein individuell
bestimmtes Künstlernaturell zum Ausdruck
bringen wollte.
.Ist das, was der Künstler innerlich als „Wort
der Seele” vernahm, schon durch knappe An
deutungen weiterzugeben, die ihre Ausgestaltung
in der Phantasie des Betrachters finden, dann
wäre es Sünde gegen den heiligen Geist der Kunst,
eine realistische Wiedergabe der Außendinge an‐
zustreben.
.Braucht es hingegen den sinnlich schönen
Reiz der Oberfläche jener Dinge, aus denen
einem Künstler das „Wort der Seele” sprach,
dann bliebe sein Werk unvollendet, wollte er
sich mit bloßen „Andeutungen” zufrieden geben.
.Die köstlichen Zeichnungen Wilhelm Busch's
würden keineswegs etwa vollkommener sein, wenn
sie bis ins letzte Detail plastisch durchgebildet
wären, ‒ hingegen würde einem Stich Chodo
wiecki's* die Vollendung fehlen, fehlte ihm die
minutiöse zeichnerische Behandlung aller darauf
dargestellten Dinge.
‒ ‒
* Maler und Kupferstecher, 1726-1801.
77 Das Reich der Kunst
.Die sogenannte „Ausführung” eines Bildes
ist also immer abhängig von dem seelischen Er‐
leben des Künstlers: ‒ von dem, was durch das
Bild von Seele zu Seele übertragen werden soll.
.Die Vollendung ist erreicht, wenn alles im
Werke, ‒ sei es größten Formates oder nur eine
winzige Zeichnung, ‒ wirklich ausgesprochen
wurde, was der Künstler aussprechen wollte.
.Nicht „das große Wollen” allein kann dem
Werke eines Künstlers Bedeutung verleihen!
.Erst dann verdient solches Wollen Beachtung,
wenn das Werk alles zum Ausdruck bringt,
was „gewollt” worden war! ‒
.Es gibt viele Menschen die künstlerisch zu
empfinden fähig sind, und viele, die gar Großes
„wollen”, ‒ den schaffenden Künstler macht
aber erst die Fähigkeit, Empfundenes und Ge‐
wolltes auch ausdrücken zu können, und zwar
in der Sprache seiner Kunst, ohne Anleihen in
kunstfremden Bezirken.
.Die Sprache der Kunst hat eherne Gesetze!
.Nicht anders als in der Musik, wo jede Ton‐
folge gesetzmäßig begründet sein muß, wenn
überhaupt von „Kunst” die Rede sein soll, wird
auch in der Malerei eine strenge Gesetzmäßig
78 Das Reich der Kunst
keit verlangt, deren Erfüllung jeder Betrachter
am Werke festzustellen vermag, sofern er selbst
die Gesetze der Darstellung in der Kunst des
Malens kennt, ‒ welches „Kennen” hier ein
Erfahrenhaben bedeutet.
.Entspricht ein Werk der Malerei diesen Ge‐
setzen nicht, dann ist es in keinem Falle ein
Kunstwerk, ‒ mag es auch eine sehr tüchtige
Arbeitsleistung sein, ‒ mag auch die Darstellung
im Beschauer tiefstes seelisches, aber nicht durch
Kunst bedingtes Erleben auslösen.
.Nur das gesetzmäßig vollendete Kunstwerk
kann das reine Kunsterlebnis vermitteln.
.Ein Beispiel aus der Lyrik möge das verdeut‐
lichen.
.Es gibt selbst in der reichen Fülle der Ge‐
dichte Goethes nichts Vollendeteres als die acht
Zeilen:
„Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.”
79 Das Reich der Kunst
.Jeder Zeitungsreporter kann mit Leichtigkeit
die Situation beschreiben, die in diesem Gedicht
geschildert wird.
.Keineswegs aber wäre durch solchen Bericht
etwa der Inhalt dieses reifsten Werkes der Poesie
wiederzugeben.
.Sein wesentlicher und den Kunstwert des
Gedichtes bedingender „Inhalt” ist vielmehr be‐
schlossen in der vollendeten Komposition der
Worte, die nur in dieser, immanenten Sprach‐
gesetzen entsprechenden Folge die seelischen
Schwingungen auslösen, die jeder Empfindende
beim Lesen des Gedichtes erlebt.
.Nichts ist hier nur „Form”, ‒ nichts nur
„Inhalt!”
.Form und Inhalt sind untrennbar zu vor‐
her nie gewesener Einheit verschmolzen!
.So nur ist reines Kunsterlebnis zu vermit‐
teln.
.In der Malerei lassen sich von dem Geübten
und der Kunst Kundigen ähnliche Beispiele in
Menge finden.
.Whistlers feingespielte Farben-„Adagios” wür‐
den auch in der besten farbenphotographischen
Wiedergabe ihrer Naturvorbilder niemals zu
80 Das Reich der Kunst
finden sein, und die beste photographische Auf‐
nahme einer Ballettprobe enthält nichts von den
sublimen künstlerischen Erlebnissen die Degas
in seinen fast nüchternen Pastellen vermittelt,
auf denen eine Bühnenecke, ein Stück Coulisse
und ein paar recht wenig „schöne” Ballerinen zu
sehen sind, alles aufgelöst in eine Symphonie so‐
norer Farbenmassen und distinkter Linien.
.Was ein wirkliches Kunstwerk an Seelischem
zu geben hat, wird ja nicht durch seinen beschreib‐
baren Schaffens-Anlaß bestimmt.
.Man muß ein Werk der Malerei als solches
sehen lernen, ohne sich durch das gegenständlich
Dargestellte und dessen Lebenswerte beirren
zu lassen.
.Den wahren „Inhalt” eines Kunstwerkes muß
man aus seiner inneren Gesetzmäßigkeit
erfühlen, und darf nicht glauben, die dargestell‐
ten Dinge allein machten den Inhalt aus.
.Auch die in den letzten Jahrzehnten so sehr
überschätzte „getreue Naturbeobachtung” gibt
einer Bildtafel noch keineswegs den Rang eines
Kunstwerkes.
.Wo Form und Inhalt nicht Eines wurden,
liegt noch kein Kunstwerk vor, ‒ und der
Inhalt” eines Werkes der Kunst kann immer
nur aus künstlerischen Werten bestehen!
81 Das Reich der Kunst
.Erst dort, wo ein seelisches Erleben das sich
nur mit den Mitteln des Malers übertragen läßt,
seinen kunstgemäßen Ausdruck fand, darf von
einem Kunstwerk der Malerei gesprochen wer‐
den, mag der optische Eindruck eines solchen
Bildes zugleich Natur-Erinnerungen wachrufen
oder nicht.
82 Das Reich der Kunst
Plastisches Empfinden
.Wenn auch das Verständnis der Kunst des
Malens, selbst bei vielen unserer Gebildeten,
noch manches zu wünschen übrig läßt, weil die
„Bildung” in diesen Tagen vornehmlich eine Bil‐
dung des Denkens, des intelligiblen Vorstellens
ist, und sich noch nicht wieder bis zu einer Bil‐
dung des Anschauens zu erheben vermochte,
so wird man doch noch weit eher der bewußten
und begründeten Freude an den Werken der
Malerei begegnen, als dem verstehenden und
genußfreudigen Einfühlungsvermögen vor den
Gebilden der Plastik.
.Es fehlt zwar unseren Großstädten nicht an
plastischen Denkmalen, und in den Wohnungen
findet sich mehr „Kleinplastik” als wünschbar
wäre, aber leider fehlt es in beiden Fällen gar
sehr am sicheren Instinkt für Qualität, am Sinn
für das wirklich Künstlerische und im Reiche
der Kunst Bedeutende.
.Ahnungslos füllt man seine Wohnung an mit
den übelsten Erzeugnissen fabrikmäßig herge‐
stellter, sogenannter „Kleinkunst”, und findet
85 Das Reich der Kunst
kaum einen Unterschied zwischen diesen künst‐
lerisch unmöglichen Bazarwaren und den voll‐
endeten Kleinplastiken unserer bedeutendsten
Bildhauer.
.Auf öffentlichen Plätzen stellt man erbärm‐
liche Gliederpuppen gigantischen Formates auf,
und meint damit der Nachwelt Werke zu hinter‐
lassen, die gewiß doch neben allem bestehen
könnten, was Griechen und Römer in ihren
besten Kunstzeiten geschaffen haben.
.Unsummen werden so im Kleinen wie im
Großen vergeudet, und gewaltige Mengen kost‐
baren Materials werden unbrauchbar gemacht, um
plastische Dinge hervorzubringen, die der Kunst
des plastischen Formens so fern sind wie der Zinn‐
soldat auf dem Pferdchen, den man in den Spiel‐
zeugschachteln der Buben finden kann.
.Ursache aller dieser irrenden Geschäftigkeit,
die Gutes zu schaffen glaubt und dabei nur das
Miserabelste zu Tage fördert, ist ein absolutes
Mißverstehen der Kunst des Plastikers.
.Der plastische Sinn des Auges ist ohne
jede Ausbildung und es fehlt jegliche Sicher
heit des Urteils.
.Was die meisten Nichtkünstler sich unter
einer „guten Plastik” vorstellen, ist, ‒ mit einem
Wort gesagt: ‒ Panoptikumskunst.
86 Das Reich der Kunst
.Wenn der neueste Raubmörder durch den
Modelleur des Panoptikums „verewigt” werden
soll, dann schwebt dem Darsteller kein anderes
Ziel vor Augen, als die möglichst naturge
treue Wiedergabe des Verbrechers, in recht er‐
schreckender Vortäuschung des Lebens.
.Sind die gläsernen Augen eingesetzt, Augen‐
brauen, Bart und Haar „recht natürlich” ein‐
geklebt, und ist die Bemalung der Hautflächen
gut gelungen, dann kann der wackere Nachbildner
des menschlichen Scheusals befriedigt auf das
Werk blicken, denn es ist kaum mehr von „der
Natur” zu unterscheiden.
.Der Künstler aber, der ein plastisches Kunst
werk schaffen will, steht himmelhoch über dem
Bestreben, derartige plastische „Naturähnlichkeit”
erzielen zu wollen.
.Er spricht die Sprache dreidimensionaler
Formen, und sein ganzes Wirken zielt einzig
daraufhin, in solchen Formen ein Werk zu ge‐
stalten, das als eine Symphonie im Reiche
plastischer Formschönheit gelten kann.
.Das Werk des Plastikers, der ein wirklicher
Künstler ist, stellt eine in sich geschlos
sene Welt dar, von der Welt naturgegebener
plastischer Formen streng gesondert durch den
künstlerischen Impuls, der hier zu einer Schöp‐
fung reiner Kunstformen führte.
87 Das Reich der Kunst
.Jede Kunst, die von den Formen der äußeren
Welt ihre Anregungen empfängt und sodann
zu Werken gelangt, die als Kunstwerke ange‐
sprochen zu werden verdienen, kann als eine
Art „Übersetzung” der Naturformen betrachtet
werden: ‒ eine Übersetzung in die persön
liche Sprache des Künstlers, die wieder be‐
dingt ist durch das Material, aus dem der
Künstler schafft.
.Es ist unmöglich, Naturformen sklavisch
kopieren zu wollen und dennoch ein Kunst
werk zu schaffen.
.Kunst ist die Ausdruck gewordene innere
Welt eines Künstlers, und steht als eine
Welt für sich, ‒ nicht mehr den Naturfor‐
men eingegliedert, innerhalb eigener Form‐
grenzen vor dem Auge des Beschauers.
.Sucht der Beschauer in einem Kunstwerk
lediglich die schöne Naturform, so fehlt ihm
eben noch der entwickelte Sinn für Kunst als
solche.
.Er würde besser tun, das, was er sucht, gleich
in der Natur zu suchen, wo es wahrlich zu
finden ist!
.Mehr noch als beim Werke des Malers, fühlt
sich der „Laie” versucht, im plastischen Kunst‐
88 Das Reich der Kunst
werk nach der Naturform, statt nach der Kunst
form zu suchen, denn während die Malerei auf
der Fläche nur die Anregung zu dreidimensio‐
naler Raumvorstellung geben kann, ist im pla
stischen Kunstwerk alles nach Höhe, Breite
und Tiefe gestaltet, und in dieser Hinsicht
der Naturform analog gebildet.
.Wenn man das Empfindungsvermögen für
plastische Kunst entwickeln will, muß man da‐
her vor allem von der Suggestion loszukommen
suchen, als habe man es mit einem Gebilde aus
Naturformen zu tun, nur weil plastische Kunst
ebenso wie jede plastische Form der Natur sich
im Raume auswirkt.
.Die Formensprache des Plastikers muß in
der gleichen Weise erkannt und gleichsam zu
„lesen” versucht werden, wie die Sprache der
Farben und Linien in der Malerei, unbeirrt
durch den kunstfremden Anreiz zu Vergleichen
mit den entsprechenden Naturformen.
.Zu solchem Eingehen auf das Wesentliche
der plastischen Kunst ist die Entwicklung eines
„Sinnes” vonnöten, den ich als „Tastsinn des
Auges” bezeichnen möchte.
.Das Auge muß lernen, alle die Flächen,
Wölbungen und Einbuchtungen: ‒ die
Buckeln und Höhlungen” des plastischen
89 Das Reich der Kunst
Kunstwerkes empfindend abzutasten, das Gefühl
für die Gegensätze und ihren Rhythmus zu ent‐
wickeln, die Harmonie der in die Tiefe gestal‐
teten Formflächen zu erspüren, um so allmäh‐
lich die persönliche künstlerische Sprache zu ver‐
stehen, die dem Bildhauer allein zur Verfügung
steht, will er seine innere plastische Welt nach
außenhin darstellen.
.Plastik ist die Kunst der Buckeln und
Höhlungen”, ‒ sagt Rodin, und dieses Wort
eines in der Neuzeit, dem künstlerischen Tempe‐
rament nach, jeden Vergleich ausschließenden
plastischen Bildners könnte schon allein genü‐
gen, auch den kunstfremden „Laien” zum Ver‐
ständnis und zum einfühlenden Erleben plasti‐
scher Kunst hinzuleiten...
.Er braucht ja nur ein plastisches Werk darauf
hin zu sondieren, ob diese „Buckeln und Höh‐
lungen” eine kraftvolle, eindringliche und
innerhalb des Werkes einheitliche Formen‐
sprache ergeben, ‒ ob sie seelischem Empfin
den Ausdruck schaffen, oder ob sie, leer und
glatt, nur eine konventionelle Scheinwiedergabe
der Natur erstreben, statt eine in sich geschlossene
Welt zu gestalten, der Natur nur Schaffens
anregung war.
.Während aber Rodin sich eine fast wie un‐
gebändigt erscheinende, nur seinem Bildner‐
90 Das Reich der Kunst
willen allein gemäße, persönlich eigene, leben‐
dige Sprache der Formen geschaffen hatte, um
seiner seelischen Bewegung Ausdruck zu geben,
‒ eine Sprache die allen zum leeren Pathos
wurde, die sie zu Lebzeiten oder nach dem Tode
des großen Meisters nachzuahmen suchten, ‒
erstand in Deutschland eine Bildhauerschule,
angeregt durch Erkenntnisse, die der wohl be‐
deutendste unter den deutschen Plastikern des
neunzehnten Jahrhunderts: Adolf von Hilde
brand, auf seine Schüler übertrug, und auch
in einem kleinen Werkchen: „Das Problem
der Form” ausführlich darlegte.
.Die Erkenntnisse Hildebrands waren Früchte
eines intensiven und von hohem Kunstverstand
geleiteten Studiums der Alten: ‒ der plastischen
Werke der Antike und der Renaissance.
.Die kleine Schrift: „Das Problem der
Form” versucht darzulegen, daß die Schöpfer
der bedeutendsten Werke plastischer Kunst, deren
sich die Welt zu erfreuen hatte, stets ihre For‐
mensprache zu bändigen strebten durch einen
Willen zu höherer Einheitsform, indem sie ihren
Werken eine ideale, nur zu ahnende stereo
metrische Form zu Grunde legten.
.„Malerisch” gedachte Plastik lehnte Hilde‐
brand ab, und vor allem bekämpfte er die „Rund‐
plastik” ‒ das plastische Gebilde das von allen
91 Das Reich der Kunst
Seiten eine gleich gute Ansicht bilden solle,
‒ und erbrachte auf seine Art den Beweis der
künstlerischen Unerfüllbarkeit solcher Forderung.
.Seiner Auffassung nach soll ein gutes pla‐
stisches Kunstwerk von einer Ansicht aus sich
entwickeln, und er machte das deutlich durch
den schon von Michelangelo gebrauchten Ver‐
gleich, daß das Werk in ähnlicher Weise aus dem
Steinblock erstehen müsse, wie eine Figur, die
man in einen gefüllten Wassertrog legt, beim
langsamen Abfließenlassen des Wassers mehr
und mehr zum Vorschein kommt, wobei hier
das allmählich verschwindende Wasser dem fort‐
gemeißelten Stein zu vergleichen wäre.
.Das fertige plastische Kunstwerk soll dann,
nach Hildebrands Forderung, in den plastischen
„Ausladungen”: seinen äußersten, in den Raum
hinausstrebenden Punkten, gleichsam wieder einen
ideellen Block darstellen. Es soll keine Form
des Werkes dem Beschauer entgegenspringen,
sondern der Blick soll stets von den erhöhtesten,
äußersten Punkten in die Tiefen der Gesamt‐
form geführt werden.
.Daß dieser Auffassung der künstlerischen,
plastischen Form eine hohe Weisheit innewohnt,
ergibt sich schon daraus, daß auch Plastik eine
Kunst fürs Auge ist, und daß das Auge nur
dort eine wohltuende Befriedigung erfährt, wo
92 Das Reich der Kunst
die ihm dargebotene Form sich mit einem
Blick im ganzen erfassen läßt, bevor die Glie‐
derung der einzelnen Teile zur Empfindung
kommt.
.Alles Doktrinäre aber ist im Reiche der bil‐
denden Kunst vom Übel, und so darf man denn
auch gewiß nicht glauben, seit Hildebrand sei
das Problem der künstlerischen plastischen Form
nun ein- für allemal gelöst.
.Es liegt hier, trotz allen Hinweisen Hilde‐
brands auf die große plastische Kunst der Alten,
doch nur eine individuell gültige Lösung vor,
und ihre blinde Übernahme durch ganz anders
geartete Naturen hat leider Bildwerk genug ent‐
stehen lassen, das hinter formaler „Geschlos
senheit” die ureigene Begabung des jeweiligen
Schöpfers in trister Bindung hält. Es führt lei‐
der nicht immer zu künstlerischer Entfaltung,
wenn die Schüler eines Meisters mit dessen ur‐
eigenen Kunstmitteln auszukommen trachten.
.Der Suchende auf dem Wege in das Reich
der bildenden Kunst, der erst sehen lernen
will, wird sich aber noch mehr wie der Künst‐
ler davor zu hüten haben, irgend einer Kunst‐
Theorie zu verfallen, sei sie auch verstandes‐
mäßig überaus einleuchtend und aufs beste be‐
gründet.
93 Das Reich der Kunst
.Die Selbsterziehung zum plastischen Sehen
im künstlerischen Sinne ist leichter als mancher
ahnen mag, der jetzt noch mit einer gewissen
Scheu einen Blick auf plastische Kunstwerke
wirft, im Gefühl der inneren Unsicherheit seines
Urteils, und dem Plastik ‒ wie er meint ‒
„nichts zu sagen” hat, weil er das Werk des
Plastikers noch nicht für sich zum klingenden
„Sprechen” bringen kann, wie allenfalls ein Werk
der Malerei, für dessen Farben- und Formen‐
sprache auf der ebenen Fläche ihn vielleicht
schon eine gewisse „Gewöhnung” des Auges eini‐
germaßen erzogen hat.
.Aber auch das Erschließen des kunstwertbe‐
stimmenden Inhalts von Werken der Plastik
verlangt vorerst reichliche Seh-Übungen und hin‐
gebendes Versenken im Betrachten guter plasti‐
scher Kunst.
.Man wird sich entschließen müssen, auch den
Museen plastischer Bildwerke das gleiche In‐
teresse entgegenzubringen, wie den Bildergale
rien, und man wird dort wie hier gut daran
tun, wenn man endlich die Betrachtung des
Dargestellten ablöst durch Vertiefung in die
künstlerische Art der Darstellung.
94 Das Reich der Kunst
Künstler und „Laie”
.In der Gebrauchssprache des Alltags gibt es
Worte und Wortverbindungen, die allgemeines
Übereinkommen ruhig gelten läßt, auch wenn
vielleicht zu fragen wäre, ob sie zu Recht be‐
stehen.
.Ein solches Wortklischee soll absichtlich den
Titel dieser kleinen Betrachtung bilden, weil hier
gut sein wird, einmal zu untersuchen, ob die Be‐
zeichnung aller Nichtkünstler als „Laien” sich
unter allen Umständen rechtfertigen läßt, oder
ob es auch künstlerisch begabte Menschen gibt,
die nicht ausübende Künstler und dennoch
keine „Laien” sind.
.Den etymologisch bekannten Ursprung des
Wortes „Laie”, allwo es einen Menschen aus
dem Volke meint, nur nebenher streifend, will
ich dieses Wort hier vielmehr in seiner heutigen,
landläufigen Bedeutung betrachtet wissen.
.Da bezeichnet man denn kurzweg jeden Men‐
schen, der in irgend einem, gewisse Kenntnisse ver‐
langenden Bereich menschlicher Tätigkeit nicht
fachkundig ist, als einen „Laien” auf diesem
97 Das Reich der Kunst
Gebiet, ‒ so, wie nach alter kirchlicher Übung,
jeder Gläubige als „Laie” gilt, gegenüber seinen,
der Gottesgelahrtheit kundigen Glaubenslehrern.
.Sofern es sich demnach im Reich der bilden‐
den Kunst um die schöpferische Kraft zur
Zeugung künstlerischer Gestaltungen han‐
delt, ‒ ja selbst dort, wo es sich nur um das
dem Künstler geläufige Handwerk dreht, ‒ läßt
sich die Unterscheidung zwischen Künstlern und
Laien gewiß mit guten Gründen rechtfertigen.
.Anders aber steht es, wenn wir vom künst
lerischen Fühlen sprechen, für das zwar der
Künstler von Natur aus mehr Eignung in sich
trägt als andere Menschen, und dem er allein nur,
kraft seiner Begabung, Ausdruck zu schaffen
vermag, ‒ das aber durchaus nicht etwa nur ihm
allein vorbehalten ist.
.Wäre nur dem Künstler allein die Möglich‐
keit erschlossen, künstlerisch fühlen zu kön‐
nen, dann würde er sich vergeblich unter Nicht‐
künstlern nach Menschen umsehen, die imstande
wären, sein Werk empfindend in sich aufzunehmen.
.Es gäbe dann wirklich nur eine Kunst für
Künstler, und alle künstlerische Schöpfung wäre
nur für die künstlerisch Schöpferischen
der Mit- und Nachwelt da.
98 Das Reich der Kunst
.Tatsächlich liegt die Zeit ja noch nicht lange
hinter uns, in der man resigniert auf das Kunst‐
interesse der „Laien” verzichten zu müssen meinte,
weil nur der Künstler Kunst erfassen könne.
.War solche Auffassung auch töricht, so lag
ihr doch die Erkenntnis einer Wahrheit zu‐
grunde: ‒ der Wahrheit, daß Kunst nur dem
künstlerisch empfindenden Menschen faßbar
werden kann.
.In der Welt der Musik ist man sich längst
über diese Wahrheit klar.
.Man spricht da von „musikalischen” und „un‐
musikalischen” Menschen, und man weiß sehr
genau, was auch den Hochbegabten unter den Mu‐
sikalischen immer noch vom berufenen Schöpfe
rischen: ‒ vom Komponisten, ebenso aber
auch vom nur reproduzierenden, zur konge
nialen Einfühlung in Schöpferisches berufenen
Künstler scheidet.
.Ja, man darf sagen: ‒ je begabter der mu‐
sikalische Mensch ist, desto weniger wird er in
Gefahr kommen, sich selbst für einen „Künstler”
zu halten, wenn er es nicht ist.
.Er wird kaum in Versuchung geraten, selbst
komponieren zu wollen, und wenn er wirklich
zu den Ausnahmen gehört, die auch da einmal
99 Das Reich der Kunst
einen Versuch wagen zu dürfen glauben, dann
wird es ihm doch gewiß nicht im Traume ein‐
fallen, zu erwarten, daß seine Kompositionsver‐
suche nun in den großen Konzerten aufgeführt
werden müßten. Ebensowenig wird er Klavier‐
konzerte geben wollen, auch wenn er imstande
ist, recht Schwieriges vorzüglich vom Blatt zu
spielen.
.Ein „musikalischer” Mensch ist innerhalb des
Bereiches der Musik keineswegs „Laie”, und
empfindet sich auch gewiß nicht als solchen.
.Der „Musikalische” ist der ideale Verstehende
für das schöpferische Werk des Komponisten, ‒
ist befähigt und genügend künstlerisch gebildet,
alle Werte und Schönheiten des Werkes empfin‐
dend in sich aufzunehmen.
.Auch die bildende Kunst hat solche ideale
Verstehende sehr nötig.
.Auch hier braucht der Schaffende die Lie
benden: ‒ Einfühlungsfreudige, Einfühlungs‐
fähige, die keineswegs „Laien” sind, sich aber
ebensowenig für „Künstler” halten.
.Es handelt sich nur um durch und durch künst‐
lerisch gebildete, feinempfindende Menschen, ‒
und wie die „Musikalischen” Begabte des Gehörs
100 Das Reich der Kunst
sind, so braucht die bildende Kunst Begabte des
Auges!
.Leider haben wir im Sprachschatz der bilden
den Kunst kein so sicher definierendes Wort,
wie es der Tonkunst zu Gebote steht, die ihre
begabten und künstlerisch gebildeten Empfinden‐
den „musikalisch” nennt.
.Der Mangel eines gleichwertigen Wortes im
Bereich der bildenden Kunst trägt sehr viel
Schuld daran, daß hier die entsprechende breite
Schicht künstlerisch erzogener Verstehender fehlt.
.Aber es fehlen nirgends die Menschen, die
einen solchen Kreis Kunstkundiger auch für die
bildende Kunst ergeben könnten, nur ‒ ver
stehen sie sich und ihre Begabung falsch!
.Sie mißverstehen ihre Begabung zu künst‐
lerischem Empfinden kurzerhand dahin, daß sie
wohl zum künstlerischen Schaffen berufen seien,
und geben diesem fatalen Mißverständnis gerne
nach, bis sie jeden Maßstab sich selbst gegenüber
verlieren und ihr belangloses Tun dann eitelfroh
dem Wirken wirklich schöpferisch Begnadeter
gleicherachten.
.Die Skala dieser „Künstlerischen” die sich
dem Irrtum ergeben, Berufene des Schaffens
zu sein, reicht sehr hoch hinauf.
101 Das Reich der Kunst
.Aus dem Mißverstehen ihrer selbst heraus
haben viele sich verleiten lassen, Akademien und
Kunstschulen zu besuchen, haben dort mancher‐
lei gelernt, und halten sich nun allen Ernstes für
schaffende „Künstler”, ‒ werden auch wohl zu‐
weilen von wirklichen Künstlern, ohne sonder‐
liche Neigung zu kritischer Wertung, gutmütig
als „Kollegen” betrachtet, und fühlen sich dann
sehr ungerecht beurteilt, wenn ein Kunstkundiger
in ihren Werken den Mangel an schöpferi
scher Kraft erkennt, auch wenn das Erlernbare
gut bewältigt ist.
.Nun ist es freilich sehr schwer für die solcherart
Selbstbetörten geworden, noch zu einer erbar‐
mungslosen Klarheit über sich selbst zu kommen,
denn aus dem anfänglichen Mißverstehen einer
Begabung resultierte ein Alltagsberuf, der auf‐
gegeben werden müßte, würde erkannt, daß er
nur einer Selbsttäuschung zu verdanken ist, daß
die eigentliche Berufung zum künstlerischen
Schaffen fehlt.
.Zu Anfang nur läßt sich hier das Verderben
einer Erdenlaufbahn noch verhüten, wenn der
künstlerisch Empfindende rechtzeitig erkennt, daß
ein kunstgebildeter, begabter Aufnehmender
für die Kunst wahrhaft bedeutsam werden
kann, während das Dasein eines unschöpferischen
Malers oder Bildhauers weder ihn selbst beglücken
102 Das Reich der Kunst
noch der Kunst in irgend einer Weise Förderung
bringen wird.
.Das Musikverständnis hätte nie die relative
Höhe erreicht, auf der wir es heute innerhalb
weiter Gesellschaftskreise antreffen, ohne die klare
Einsicht der „Musikalischen” in ihre Befähigung
und deren Grenzen.
.Bescheiden, aber dennoch seiner Begabung
wohlbewußt und froh, erfreut sich der „Musika‐
lische” seines Einfühlungsvermögens an den Wer‐
ken der wirklich zum Schaffen Berufenen, und
er wendet sein technisches Können lediglich an,
um solche Werke zu studieren und seinem Emp‐
finden näher bringen zu können.
.Vergleicht man die „Musikalischen”, wie es
hier geschieht, mit den zur Empfindung bildender
Kunst Begabten, so läßt sich wohl sagen, daß
unter den für Musik Empfindungsfähigen, weit
mehr Selbstkritik, weit mehr Ehrfurcht vor
der Kunst zu finden ist.
.Tausende von Konzerten würden nicht aus‐
reichen im Jahr, wenn alle „Musikalischen” die
auf ihrem Instrument gleichviel, wenn nicht mehr
leisten, wie die Überzahl der Füller moderner
Kunstausstellungen als Maler oder Plastiker, sich
ebenso vor dem Publikum produzieren wollten. . .
103 Das Reich der Kunst
.Es ist wahrlich an der Zeit, daß auch die für
das Empfinden der bildenden Kunst Begabten,
aber nicht zu schöpferischem Künstlertum Be‐
rufenen, sich ihres Eigenwertes als Kunst-Lie
bende bewußt werden, die ganz gewiß nicht mehr
als „Laien” zu bezeichnen sind.
104 Das Reich der Kunst
Künstler, Publikum und Jury
.Der Besucher periodischer Ausstellungen,
wie sie von den verschiedenen Künstlerkorpo‐
rationen von Zeit zu Zeit veranstaltet werden,
sieht mit mehr oder weniger Freude alle die zur
Beschauung dargebotenen Werke, er bewundert,
oder äußert sein Mißvergnügen, aber er denkt
kaum an die vielen Enttäuschten, die ihre Werke
zur gleichen Schau eingesandt hatten, deren Ar‐
beiten aber von der ihres undankbaren Amtes
waltenden Jury abgelehnt werden mußten. (Wie
bitter dem auswählenden Juror die Ablehnung
des notorisch Bedeutungslosen zuweilen werden
kann, da er doch die Enttäuschung voraussieht,
die er damit schaffen muß, weiß ich aus genü‐
gender eigener Erfahrung in dieser verantwort‐
lichen Tätigkeit.)
.Noch weniger kommt dem nicht mit dem
Werden einer Kunstausstellung Vertrauten zu
Bewußtsein, mit welchem Unbehagen so man‐
cher der Künstler, deren Werke an den Wän‐
den hängen, die von der Jury getroffene Aus
wahl konstatiert, indem er zwar eine oder die
andere seiner Arbeiten ausgestellt findet, aber
gerade das Werk vermißt, dessen Annahme ihm
besonders erwünscht gewesen wäre.
107 Das Reich der Kunst
.Die Verbitterung über solche gänzliche oder
teilweise Ablehnung ist nur zu begreiflich.
.Die Künstler selbst hielten ja doch ihre ein‐
gesandten Werke sicherlich für wertvoll genug,
um sie mit Ehren öffentlich zeigen zu können,
und mancher hatte vielleicht hohe Hoffnungen
gehegt, seines Erfolges in der Öffentlichkeit zum
voraus schon allzusicher.
.Man darf es den Zurückgewiesenen kaum ver‐
argen, wenn sie sich außerstande sehen, die von
der Jury getroffene Auswahl auf objektive
Gründe zurückzuführen, ‒ wenn sie statt dessen
persönliche Motive, oder Gegnerschaft ge‐
genüber ihrer eigenen Kunstrichtung als wahre
Ursache der Ablehnung zu erkennen glauben.
.Begreiflicher Ärger über die vermeintliche un‐
gerechtfertigte Kränkung tobt sich so gegen die
Jury aus und sieht in ihr nur ein böses Hemm‐
nis auf dem Wege zum Erfolg.
.Nun gibt es zwar gewiß Kunstausstellungen,
bei denen jeweils im voraus feststeht, wessen
Werke ausgestellt werden sollen, so daß auch das
beste Bild, die beste Plastik eines nicht zum
Kreise der vorbestimmten Aussteller gehörigen
Künstlers schonungslos refüsiert wird.
.Aber von derartiger Ausstellungsmache darf
man wohl im allgemeinen absehen, und in dieser
108 Das Reich der Kunst
Abhandlung hier soll uns nur die ebenso ver‐
antwortungsvolle wie undankbare Aufgabe einer
gewissenhaften und nicht durch kunstferne Ver‐
pflichtungen gebundenen Jury beschäftigen.
.Ein solches Kollegium kunstkundiger Beur‐
teiler wird nie ein anderes Ziel seiner Tätigkeit
kennen, als die Förderung wirklicher Kunst,
und bei Verfolgung dieses Zieles ergibt sich na‐
türlich die Pflicht, alle Scheinkunst, alles nur
halbgekonnte oder sonstwie Wertlose von den
Ausstellungen fernzuhalten.
.Soll die Einrichtung einer Jury bei Kunst‐
ausstellungen überhaupt Daseinsberechti
gung haben, dann müssen die Juroren kunst
erzieherisch wirken wollen.
.Um so zu wirken, müssen sie alles ablehnen,
was sich als „Kunst aus zweiter Hand” heraus‐
stellt, was die Ursprünglichkeit vermissen
läßt, die das Werk eines echten Künstlers unter
allen Umständen von der Mache unschöpferischer
„geschickter Maler” oder „virtuoser Modelleure”
unterscheidet.
.Eine solche Unterscheidung ist aber für das
geübte Auge so sicher zu treffen, wie Schwarz
von Weiß zu unterscheiden ist!
.Die Scheinkünstler werden jedoch immer
109 Das Reich der Kunst
die im Reiche der Kunst noch Unkundigen
auf ihrer Seite haben.
.Beide Kategorien glauben in ihrer Ahnungs‐
losigkeit, daß eine gewisse angelernte Fertigkeit
im Technischen und ein leidlicher Farbenge‐
schmack ausreichend seien, um ein gutes Bild zu
malen, oder daß ein anatomisch richtig model‐
lierter Akt schon ein Kunstwerk der Plastik sein
müsse, ‒ von dem Heer der Reißbrett-„Archi‐
tekten” nicht zu reden, die jedes originale Werk
wirklicher Baukünstler für vogelfrei halten, nur
dazu entstanden, um schwachen Nachempfindern
als Formenvorlage zu dienen.
.Bilder, die übermalten Photographien zum
Verwechseln ähnlich sehen, oder aller künstle‐
rischen Formgedanken bare Plastik im Stil der
Zuckerbäckerfiguren werden für „Kunst” gehal‐
ten, aber man steht vor Rätseln, wenn sich irgend‐
wo wirkliche Ursprünglichkeit, wirkliches
schöpferisches Künstlertum offenbart.
.Nur diese echte Ursprünglichkeit aber,
nur das künstlerische Bekenntnis der Seele,
gehört in eine Kunstausstellung, die mehr sein
will als ein Verkaufsbazar.
.Erzieherisch kann eine Ausstellung von Wer‐
ken der bildenden Kunst nur dann wirken, wenn
den im Reiche der Kunst noch Unkundigen Ge‐
legenheit geboten wird, Auge und Empfindungs‐
110 Das Reich der Kunst
vermögen an Schöpfungen zu schulen, die sichere
Beweise dafür sind, daß die Urheber keine an
deren Beweggründe zum Schaffen kannten, als
den Gehorsam gegenüber dem „Daimonion” in
ihrer Seele.
.Wer das nicht in sich trägt, der weiß natürlich
auch nicht, von was da gesprochen wird. Oder: er
hält gar seine Freude an seiner Geschicklichkeit
beim Hantieren mit Pinsel und Farbe, mit Ra‐
diernadel und Ätzwasser, mit Modellierholz und
Tonerde, für den „Gott” in seiner Brust.
.Wer aber nur malt, zeichnet, radiert oder
modelliert, weil er es nun einmal leidlich zu‐
stande zu bringen versteht, dessen Arbeiten ge‐
hören gewiß nicht in eine ernst zu nehmende
Kunstausstellung.
.Derartige Leute sind zahlreich wie Butter‐
blumen, aber man braucht in einer Ausstellung
die Wände viel zu nötig um wirkliche Kunst,
um das Erlesene und Seltene, oder doch das
zu respektierende Ringen nach höchsten Werten
vor Augen zu stellen, als daß man verantworten
könnte, bloße Geschicklichkeitsproben dort
zu zeigen.
.Es mag im Einzelfalle recht traurig sein, wenn
ein Mensch, der nicht den Beruf zum Künstler
empfing, sich mit dem Material und Werkzeug
des Künstlers sein Brot verdienen muß, und
111 Das Reich der Kunst
dann die herbe Enttäuschung der Ablehnung
seiner Arbeiten in den Kunstausstellungen er‐
fährt, in denen er die Anerkennung als „Künst‐
ler” zu erlangen hoffte.
.Aber es ist nicht gleichgültig, womit man
sein Brot verdient, und wenn man es durch
Täuschung seiner Mitmenschen zu erwerben
sucht, so ist das ethisch unbedingt verwerflich.
.Jeder, der ein Bild an seine Wand hängt
oder eine Kleinplastik in seiner Wohnung auf‐
stellt, möchte in diesem Besitz ein Kunstwerk
sein eigen nennen, auch wenn er nichts von
der Sache versteht, und irgend eine kunstleere
Fleißarbeit für „Kunst” hält.
.Dem Publikum zu zeigen, was wirkliche
Künstler-Tat ist, dem Unkundigen im Reiche
der Kunst die Augen zu öffnen, damit er
Kunst von Mache unterscheiden lerne, ‒ dazu
sind Kunstausstellungen berufen, und wenn sie
daneben den Verkauf der ausgestellten Werke
vermitteln, so schaffen sie zugleich die mate
rielle Basis für die Erhaltung echten künstle‐
rischen Schaffens.
.Eine Jury wird ihr Amt nur dann gerecht
verwalten, wenn sie in unerbittlich strenger Sie‐
bung von der ihrer Sorge anvertrauten Ausstel‐
lung alles fernhält, was nicht die Weihe echter
Künstlerschaft sichtbarlich dokumentiert.
112 Das Reich der Kunst
.Es soll gewiß nicht bestritten werden, daß
einem Künstler auch von einer nach gerechter
Wägung strebenden Jury aus menschlich versteh‐
baren Gründen irgendwelches Unrecht angetan
werden kann, aber solches Unrecht geschieht viel
seltener als die Halb- und Scheinkünstler meinen,
und ist es wirklich einmal geschehen, so läßt die
Korrektur des Fehlurteils gewöhnlich kaum lange
auf sich warten.
.Weit bedenklicher wirkt sich die allzuweit
herzige Liberalität einer Jury aus, was so
manche Kunstausstellung mit drastischer Deut‐
lichkeit zeigt, ‒ besonders dort, wo die Masse
der Darbietungen schon den erzieherischen Wert
der Veranstaltung in Frage stellt.
.So unabweisbar auch die Pflicht einer verant‐
wortungsbewußten Jury besteht, jede Kunst‐
richtung und jede persönliche Eigenart zu för‐
dern, sobald das zu beurteilende Werk schöpfe
rische Qualitäten aufweist, so sehr müssen die
für eine Kunstausstellung Verantwortlichen sich
davor hüten, aus Gründen, die mit der Kunst
nichts zu tun haben, Arbeiten mit aufzunehmen,
wie sie auch jede „juryfreie” Ausstellung in
Masse, und neben dem in ihr zu findenden
Echten, zeigt, weil sie da, wohl oder übel, ge‐
zeigt werden müssen.
.Wie der Künstler nur im Vertrauen auf die
113 Das Reich der Kunst
Urteilssicherheit einer Jury ihr sein Werk
vorlegen kann, so muß auch das Publikum sicher
sein, daß Werke, die eine Künstler-Jury passierten,
wahrhafte Kunstwerke sind, und wert, erwor‐
ben zu werden.
.Ich weiß sehr wohl, weshalb ich einer weit‐
aus ernsteren Auffassung des Jurorenamtes bei
der Vorbereitung von Kunstausstellungen das
Wort rede, umsomehr, als ich ja ausschließlich
für Andere spreche.
.Ohne hier irgend einer Künstlerkorporation
oder Ausstellungsleitung zu nahe zu treten, und
ohne damit ein Geheimnis preiszugeben, glaube ich
doch an die vielen schwächlichen Ausstellungs‐
stücke erinnern zu müssen, von denen jeder mit
den Verhältnissen Vertraute weiß, daß diese Bil‐
der und Plastiken nur darum in eine jurierte
Kunstausstellung gelangten, weil der Verfertiger
ein Schützling oder Freund eines der amtierenden
Juroren war, der wieder seinerseits die Stimmen
seiner Mitjuroren nur erlangte, weil die seine
bei der Beurteilung eingesandter Werke der
Freunde und Schützlinge anderer Juroren ge‐
braucht wurde.
.Mit solchen Gepflogenheiten sollte, wo im‐
mer sie noch bestehen, im Reich der Kunst end
gültig aufgeräumt werden, wenn jurierte Aus‐
stellungen noch daseinsberechtigt bleiben wollen.
114 Das Reich der Kunst
Das Kunstwerk und seine
„Technik”
.Unter den Besuchern einer modernen Kunst‐
Ausstellung kann man jeweilen eine ganz beson‐
dere Kategorie herausfinden, die meist schon zu
einem gewissen künstlerischen Empfinden gelangt
ist aber nun dunkel zu fühlen glaubt, daß ein
völliges Erfassen eines Kunstwerkes auch ein
genaues Wissen um seinen Werdeprozeß in sich
schließen müsse. Man fängt dann an, Belehrung
über das Technische zu suchen, liest Bücher
über die Technik der Malerei und der graphischen
Künste, ist schließlich beglückt, wenn man her‐
ausfinden kann, ob ein Bild in Öl- oder Tempera‐
farben gemalt ist, ob es sich bei einer Radierung
um eine Kaltnadelarbeit oder ein Aquatinta-Blatt
handelt, und bleibt zuletzt dennoch wieder un‐
befriedigt, weil man fühlt: ‒ es fehlt da immer
noch etwas, das man nicht aus Büchern lernen
kann und das einem auch die Künstler, wenn
man sie fragt, niemals so richtig erklären können.
„Man müßte halt öfters Gelegenheit haben, dabei
zuzusehen, wie so ein Werk entsteht!”
.Aber auch dieses Zusehen würde den Un‐
befriedigten nicht weiter bringen, denn was er
117 Das Reich der Kunst
eigentlich sucht, ist gar nicht das handwerklich
Technische an sich, sondern etwas, das hinter
diesem Handwerk steht, und das sich seiner nur
bedient, um sich Ausdruck zu verschaffen. Er
sucht den Geist der Technik im Werke und
meint ihn zu finden, wenn er über das Hand‐
werkliche Bescheid wüßte.
.In der bildenden Kunst ist aber Form
und Inhalt völlig identisch, und jeder etwa
vom Beschauer festzustellende, nicht in der Form
beschlossene „Inhalt” eines Kunstwerkes ist nur
Zugabe, hat mit dem eigentlichen Kunst-Inhalt
nichts zu tun! Die Form des Werkes bedingt
seine Technik, denn alles Technische an einem
Kunstwerk ist nichts weiter, als Gestaltung
seiner Form, mithin: Aussprache seines Inhalts.
.Es kann den Beschauer auf keinen Fall zu
einem tieferen Erfassen führen, wenn er auch
noch so genau Bescheid weiß über die handwerk‐
lich technischen Bedingungen, die der Künstler
bei Gestaltung der Form zu beachten hatte, da‐
gegen wird jeder Beschauer erst dann zu einem
eigentlichen Kunstgenuß kommen, wenn er von
allem gegenständlich faßbaren „Inhalt” ab
sieht und den Aufbau der Form, wie ihr in
neres Leben, zu ergründen sucht.
118 Das Reich der Kunst
.Das ist es, was jene vorhin geschilderten Aus‐
stellungsbesucher dunkel fühlen, wenn sie meinen,
ein Verständnis der „Technik” könne ihnen das
Kunstwerk näher bringen! Sie können nur noch
von dem begrifflich faßbaren „Inhalt” der
Kunstwerke nicht los und wissen nicht, daß sie
mit ihrer Frage nach technischem Wissen ‒ eigent‐
lich nur nach dem einzig wertgebenden Kunst
Inhalt suchen. Es äußert sich in ihnen ein ele
mentares Kunstgefühl, das auch durch den
schönsten gegenständlichen Nebeninhalt eines
Kunstwerkes niemals befriedigt werden kann. So
sehr auch dieser äußerlich erfaßbare Nebenin
halt die Seele, ‒ wie etwa bei den großen Mei‐
sterwerken der Alten, ‒ zu ergreifen, zu
erheben vermag, so wird doch der Beschauer,
solange er noch nicht bis zum Geheimnis der
Form vorgedrungen ist, das Gefühl nicht los
werden, daß ihm zur völligen Ergründung des
Werkes doch noch etwas fehle, und dieses Ge‐
fühl täuscht ihn nicht, nur täuscht er sich selbst,
wenn er glaubt, das, was ihm fehlt, sei das Ver‐
ständnis für die „Technik”.
.Ihm fehlt nichts weiter, als die Übung: For
men „lesen” zu können, und das will genau so
gelernt werden, wie man als Musiker Noten lesen
lernen muß, wenn es auch nicht ganz so schwer
119 Das Reich der Kunst
ist, denn Noten sind willkürliche Zeichen, deren
klangliche Erfassung vieles voraussetzt, wäh‐
rend die Formen eines Kunstwerkes durch das
menschliche Selbstempfinden bedingt sind
und durch bloße Einfühlung schon erfaßbar
werden.
.Sehr klar wird das, was Formen zu sagen
haben, wenn man nur an lineare Formen denkt.
.Aufrecht emporstrebende Linien lösen in uns
ohne weiteres die Empfindung stolzen Aufrecht‐
stehens aus, horizontale Linien geben uns das
Gefühl des Hingelagertseins, und so löst jedes
Lineament Bewegungsimpulse in unserem Kör‐
per aus, die eine offene Seele in ihre Empfindungs‐
Sprache überträgt.
.Aber auch Hell und Dunkel sprechen in dieser
Sprache, und wenn hier von dem Geheimnis der
Form die Rede ist, so darf man nicht etwa glau‐
ben, daß die Farben eines Bildes in diesem Sinne
nicht zur Form gehören würden!
.Wir reden hier nicht von gegenständlichen
Formen, sondern von der Kunstform, in der
allein die Intuition des Künstlers ihren Ausdruck
findet.
.Da steht bei einem Gemälde die Farbe in
allererster Linie, und jede Farbe, ganz gleich
auf welchen Gegenstand der Darstellung sie sich
120 Das Reich der Kunst
beziehen mag, ist in einem guten Kunstwerk
gleichsam eine gespielte „Note” der ganzen Sym‐
phonie und kann nur verstanden: also richtig
empfunden werden, wenn man imstande ist, ihre
Beziehungen zu sämtlichen anderen Farben des
Bildes zu entdecken und, losgelöst vom Ge
genstande, in sich nachzuerleben.
.Welches Bindemittel der Künstler für seine
Farben wählt, ob er sie dick oder dünn aufstreicht,
welche handwerklichen Bedingungen er beherr‐
schen muß, um dieses ganze Gebilde hervor‐
bringen zu können: das sind alles Dinge, die
sozusagen „hinter den Kulissen” vorgehen, wäh‐
rend es für den Beschauer einzig darauf ankommt,
‒ wenn wir hier den Vergleich beibehalten wollen,
‒ das eigentliche „Bühnenbild”, so wie es der
Künstler vor uns hinstellte, einfühlend zu er
leben, wobei ich allerdings gewiß nicht nur an
eine, dem Bühnenbild des Theaters ähnliche, oder
vergleichbare Bildgestaltung denke.
.Wer sich einmal klar darüber wird, daß es
beim „Kunstgenuß”, oder sagen wir doch lieber:
bei dem Erleben dessen, was Kunst ist, lediglich
auf das Erleben der Form des Kunstwerkes,
auf das Erfassen des inneren Lebens der Form‐
teile untereinander und in ihrer Beziehung zum
Ganzen ankommt, und daß hier allein aller
121 Das Reich der Kunst
eigentliche Kunstinhalt zu finden ist, ob es sich
nun um die Sixtinische Madonna, oder um die
Hille Bobbe von Frans Hals, um den Parthenon‐
fries, oder die Bürger von Calais von Rodin han‐
delt, der wird auch bald den richtigen Weg
finden, der ihn zum Erfassen neuerer Kunst‐
werke, zum Verstehen der noch fremdartig
wirkenden Bestrebungen in der bildenden Kunst
führt. Wenn er ein Mensch ist, der sich selbst
seine Irrtümer einzugestehen pflegt, dann wird
er vielleicht mit einer gewissen Beschämung
im Herzen nun wieder vor Werken stehen, die
er noch vor kurzem ahnungslos zu verlachen
wagte, und wird kaum begreifen können, daß
hier, wo ihn jetzt tiefstes Miterleben erfaßt, für
ihn früher nichts anderes zu sehen war, als ein
„unverständliches” Chaos, das ihm „wie das Werk
eines Irrsinnigen” erschien, nur weil er selbst
mit seinen Sinnen in der Irre war und die
Formsprache der Kunst auch dort noch kei‐
neswegs zu lesen verstand, wo er bedingungslos
Beifall spendete und die Kunstwerke längst zu
verstehen glaubte.
122 Das Reich der Kunst
Das Kunstwerk und sein Stil
.In den Auslagefenstern der Buchhändler fin‐
det der Vorübergehende neben all den Romanen
des Tages, neben aktuellen und klassischen Bü‐
chern, eine neuartige Literatur, die sich immer
mehr einzubürgern scheint. Sie handelt in man‐
cherlei Abwandlungen: von marktschreierischer
Geschäftigkeit bis zu stillem, ernsten Ethos,
von der weltbewegenden Kraft des Willens.
.Vielleicht ist es gut, daß solche Bücher ge‐
lesen werden, denn von tausend Menschen wissen
neunhundertneunundneunzig ihren Willen noch
nicht zu gebrauchen und halten sich für „wil‐
lensstark”, weil sie hypnotisierte Sklaven ihrer
Affekte sind.
.Wer möchte bezweifeln, daß ein geschulter
Wille das Leben besser zu leben lehrt, als
willenlose Schwäche, die weder befehlen noch
gehorchen kann?
.Und dennoch gibt es einen Bezirk des Le‐
bens, in dem der Wille die edelsten Blüten ver‐
nichtet, in dem er als Zerstörer auftritt, sobald
er gerufen wird.
125 Das Reich der Kunst
.Ich weiß, daß ich mich mit vielen in Wider‐
spruch setzen werde, aber jeder wahre Künstler
wird mich ohne weiteres verstehen, wenn ich
sage, daß das Reich des künstlerischen Schaf‐
fens dem Willen entrückt bleiben muß, soll
seelisch Tiefstes in der Sprache der Kunst zu‐
tage treten.
.Man spricht zwar vom „Kunstwillen” eines
Zeitalters, von dem, was einzelne Künstler „wol‐
len”, aber man sollte hier richtiger vom Kunst‐
Trieb sprechen, vom inneren Zwang des Müs
sens, unter dem ein jeder wahrhafte Künstler
steht, denn alles „Gewollte” bedeutet in der
Kunst Verfälschung, läßt bloßes Handwerk
übrig, wo das Werk mit heiliger Glut erfülltes
Priestertum fordert.
.Gewiß muß der Künstler das Handwerkliche,
das ihn erst zur Darstellung befähigt, von Grund
auf verstehen, allein, das ist allererste Vorbe
dingung und würde ihn, für sich allein be‐
trachtet, niemals zum Künstler machen.
.Als Künstler muß er seiner tiefsten see
lischen Erregung folgen und nicht den Im‐
pulsen seines Willens, wo immer sie ihre Aus‐
lösung gefunden haben mögen.
.Je rücksichtsloser er sich seinem inneren,
kunstgemäße Formgestaltung heischenden „Müs‐
sen” ohne Widerstand ergibt, desto reiner wird
das Werk der Kunst sein, das er schafft.
126 Das Reich der Kunst
.Deshalb kann auch ein wahrer Künstler nie‐
mals ein „Programm” aufstellen, nach dem er
zu schaffen gedenkt, ohne dadurch sein Werk
auf das Empfindlichste zu schädigen, ohne es in
seinem Besten zu verfälschen.
.Der Wille des Schaffenden muß stets be‐
schränkt bleiben auf das Gebiet des rein Hand
werklichen, in dem sein künstlerisches Müssen
Ausdruck finden soll. Er kann nur die Mittel
wählen, die seinem seelischen Gestaltungstrieb
am besten dienen werden.
.Sobald er das Mittel zum Zweck werden
läßt, sobald ihm Technisches mehr gilt als
Seelisches oder von ihm auch nur auf gleiche
Stufe erhoben wird, bringt er Attrappen statt
wahren Lebens, gibt er Steine statt Brot.
.Ich sehe die Kunst unserer Tage mehr denn
je in dieser Gefahr...
.Man spricht mehr denn je vom „Geiste” und
von „geistigem Ausdruck” in der Kunst, aber
man meint diesen Geist zu besitzen im Affekt
und seinem Ausdruck: der Geste. Man weiß
nichts mehr vom Geiste, der lebensschwanger
über dem Chaos schwebt und der allein in
der zum Leben drängenden Form das Leben ins
Dasein rufen kann.
.Der Wille der Künstler hat die Grenze über‐
127 Das Reich der Kunst
schritten, die ihm gezogen ist, und drängt sich
überlaut in das geheimnisvolle Flüstern der gött‐
lichen Stimme, die allein den Schaffenden leiten
kann, soll eine Schöpfung und nicht eine
Mache entstehen.
.Die Künstler selbst sehen ihren Irrtum nicht.
.Befangen im Affekt, nennen sie den Über‐
griff des Willens in ein Gebiet, das ihm ewig
verschlossen bleiben sollte, ihren Willen zu
einem neuen Stil.
.Ja, ihre Wortführer gehen so weit, diesen Stil
bereits zu definieren, und erklären aller Kunst den
Krieg, die nicht „die Zerrissenheit unserer Zeit
zum Ausdruck bringt”. (Das ist wörtliches Zitat!)
.Weiter läßt sich die Verwirrung kaum mehr
treiben, und so sehen wir denn Tag für Tag mehr
Hände und Gehirne am Werk, ein künstlerisches
Chaos zu gestalten, Hände und Gehirne, die,
zum Teil, vielleicht die Weihe in sich tragen, um
aus Chaotischem einen Kosmos schaffen zu kön‐
nen, vorausgesetzt, daß sie sich selbst ihrer der‐
zeitigen Versklavung an das Chaos bewußt wür‐
den und ihr zu entfliehen trachteten.
.All dies Unheil aber entsteht aus einem fol‐
genschweren Mißverständnis des Stil-Begriffes.
.Stil, als ein Lebendiges, entsteht ungewollt,
sobald die Triebkräfte eines Lebens in Harmonie
zusammenwirken.
128 Das Reich der Kunst
.Was man aber in unseren Tagen als „Stil”
bezeichnet, ist nur versteinerte Geste, ist uni‐
forme Konvention und nichts mehr.
.Gewollter Stil” ist ein Widerspruch in
sich selbst.
.Entweder, ein Mensch hat Stil infolge der
Harmonie seiner lebendigen Kräfte, und dann
wird sich dieser Stil auch seinen Werken mit‐
teilen, falls er ein Künstler ist, oder er hat ihn
nicht, er ist selbst „stillos”, dann wird all sein
„Wille zum Stil” auch seinem Werke nicht zum
Stil verhelfen, sondern bestenfalls eine leere
Form zu Tage fördern, eine Attrappe, die un‐
mündige Seelen täuscht durch ihre große Geste,
der das Leben fehlt.
.Sein Werk gleicht dann der Vogelscheuche,
die erst den Spatzen imponiert, bis sie schließ‐
lich doch merken, daß ‒ „nichts dahinter ist”.
.So ist denn auch alles große Getue, das
sich als Fundamentlegung zu einem neuen Zeit‐
stil gebärdet, eitel Torheit und aufgeblasenes
Gernegroßtum, denn was vom Einzelnen gilt, das
gilt hier auch von den vielen Einzelnen, die
eine Zeitgemeinschaft bilden.
.Wollen wir die Sehnsucht nach einem „Stil
unserer Zeit” befriedigt sehen, dann muß der
Wille zum Stil” verschwinden.
129 Das Reich der Kunst
.Dann muß der Wille zurückverwiesen wer‐
den in seine ihm zukommenden Grenzen, muß
dienen lernen, dienen wollen, wo er jetzt den
Herrn spielen möchte. Und wäre es nur immer
noch wirklicherWille”, der sich so gebärdet!
Es ist ja doch allermeistens nichts anderes als
ungezügelter Affekt, der seine Zeit gekommen
wähnt, sich auszutoben.
.Zu wahrhaftem Stil in der Kunst gelangen
wir nur, wenn jeder Künstler wieder in Ehr
furcht vor dem Gott in seiner Brust zu seinem
Handwerkszeug greift; auf nichts bedacht, als
seiner Seele Schöpfungsdrang zu folgen, und
seine Mittel zu treuem Dienste am Werk der
lebendigen Gestaltung zu erziehen.
.Mag dieser Stil dann „groß” genannt werden
oder nicht, er wird unser Stil sein, er wird der
Nachwelt zeigen, daß auch in uns etwas wirklich
Echtes lebte, nicht nur der Talmi-Firlefanz, auf
den allein sie schließen müßte, blieben aus un‐
serer Zeit keine anderen Werke der Kunst er‐
halten, als die verkrampften hohlen Ausdrucks‐
gesten und Kunst-Grimassen derer, die sich als
Pioniere einer neuen „stilvollen Kultur” gebär‐
den und selbst nicht fühlen, daß ihre ganze
Mache den Kapriolen der Clowns im Zirkus
zum Verwechseln ähnlich ist, ‒ nur leider nicht
so ernst zu nehmen bleibt, wie diese Arbeit
ehrlicher Artisten.
130 Das Reich der Kunst
Das Übersinnliche im
Kunstwerk
.Ich will hier nicht von Werken sprechen, zu
denen der Maler, wie etwa ehedem Gabriel von
Max, durch spiritistische Séancen angeregt
wurde, oder gar von den fragwürdigen Erzeugnis‐
sen „begnadeter” Mal-Medien und solcher Maler,
die sich gerne dafür halten lassen. Es wird viel‐
mehr die Rede sein vom Übersinnlichen im
Schaffensvorgang bei einem jeden wahrhaf‐
tigen Künstler, ‒ von dem geheimnisvollen
Etwas, das die treibende Ursache des Schaffens
bildet: von den in sinnlichen Formen Darstellung
suchenden Seelenkräften, die in manchen Men‐
schen, ‒ den echten „Künstlern”, ‒ in einer
nach Ausdruck drängenden Tendenz gegeben sind,
um dann durch die künstlerische Tat zu Tage zu
treten.
.Der Laie macht sich im großen und ganzen
meistens eine sehr irrige Vorstellung zurecht, wenn
er sich das Schaffen, das Schaffen-müssen eines
wirklichen Künstlers erklären will.
.Die fast allgemeine Annahme ist, daß ein sol‐
cher Mensch eben sein Métier „gelernt” hat und
nun bestrebt ist, es anzuwenden. Man verwechselt
das Künstlertum mit dem erlernbaren Beruf,
der ihm zur Schaffens-Äußerung verhilft, wäh‐
133 Das Reich der Kunst
rend es eine psycho-physisch begründete, ange‐
borene Eignung eines Menschen ausmacht, der
Vermittler sinnlich faßbaren Ausdrucks für sonst
unfaßbare Seelenregungen zu sein.
.Was sich für einen geborenen Künstler er
lernen läßt, ist nur die technische Handha
bung der Ausdrucksmittel seiner Kunst, was
sich üben läßt, ist die Beobachtung der in
seiner Kunst zu brauchenden Wirkungs
mittel im Schaffen der Natur.
.Hier, im Schaffen der Natur, findet der Künst‐
ler auch die ewigen kosmischen Gesetze ausge‐
sprochen, denen er selbst in seinem Schaffen sich
unterordnen muß, will er nicht seine Ausdrucks‐
kraft ins Chaotische strömen lassen und will er
wirklich den „tanzenden Stern” aus dem Chaos
gebären, von dem die Macht ausgeht, seine eigenen
Welten in ihren geordneten Bahnen zu erhalten.
.„Schaffen” im künstlerischen Sinne ist nicht
das Erscheinenlassen einer Form aus dem Nichts.
Künstlerisches Schaffen ist: Organisieren.
.„Formlose Kunst” ist ein Unding. Etwas, wie
das Lichtenbergsche „Messer ohne Heft und
Klinge”.
.Alle Kunst ist seelische Bewegung, die
zur Form gestaltet wurde.
.Wo also der durchgereifte Kristallisa
134 Das Reich der Kunst
tionsprozeß fehlt, wo seelische Bewegung nicht
zur Gestaltung, zur Form geworden ist, dort
darf man füglich nicht von „Kunst” reden, dort
handelt es sich lediglich um unvermögende Ver‐
suche, seelische Bewegung zu gestalten, oder um
die Bemäntelung dieses Unvermögens durch ein
neues oder altes Schlagwort.
.Unsere Zeit ist reich an solchen Erscheinungen,
und es fehlt ihnen allen nicht an begeisterten
Harfnern, die ihren fragwürdigen Göttern in allen
Tonarten, aus der eigenen Ekstase heraus, Lobes‐
hymnen zu singen wissen.
.Um Schlagworte ist man niemals verlegen.
Auch das berühmte: „Sprengen der Form”, durch
das man hilfloses Unvermögen als eine Überfülle
der Kraft zu deuten beliebt, ist ein schönes Schlag‐
wort.
.Wo ein wirklicher „Künstler von Gottes Gna‐
den” eine hergebrachte Form zu „sprengen” unter‐
nimmt, da ist längst seine eigenschöpferische
Form vorhanden, und der Edelguß seelischer,
klingender Glockenmetalle strömt nicht formlos
dahin, sondern wird umgegossen in eine erweiterte,
längst die alte umfassende neue Form.
.In der Kunst ist das „Gottesgnadentum” auch
heute noch nicht abgeschafft und wird auch
trotz aller bolschewistischen Agitationskunst sich
135 Das Reich der Kunst
nicht abschaffen lassen. „Ersatz” dafür ist zwar
reichlich vorhanden, aber das Hochland der Kunst
liegt unerreichbar für seine Usurpatorengelüste.
.Wer nicht von der Urnatur zum Künstler
gebildet, zum Schaffen gezwungen wurde, der
bleibe fern von ihrem Allerheiligsten!
.„Nimm deine Schuhe von den Füßen, denn
der Ort, da du stehst, ist heiliges Land” ‒ so
spricht Natur zu jedem, den sie zum Künstler
schuf, und wehe ihm, wenn er die Göttergabe
die ihm wurde, jemals profaniert. Er wird niemals
zurückfinden in das Reich des ursprünglichen
Schaffens, das ihm vorbehalten war.
.Die aber nicht berufen sind und dennoch
die Toga des Künstlers um ihre Schultern dra‐
pieren, betrügen nur sich selbst, indem sie an
dere betrügen.
.Gras bleibt Gras, so sehr es sich auch recken
mag, um zum Baume zu werden!
.Eine kleine Zeit hin mag es wohl gelingen,
alle Geister vor den Siegeswagen eines überschätz‐
ten Epigonen zu spannen, aber die ihn heute zie
hen, werden selbst ihn schon morgen stürzen.
.Die seelischen Kräfte, die im wahrhaften
„Künstler” sich offenbaren wollen, sind ‒ latent
und ohne Äußerungsdrang ‒ in jedem Menschen.
136 Das Reich der Kunst
.Würde sie jeder in sich erkennen, dann würde
die Menschheit im Künstler ihren berufenen Zei‐
chendeuter: den Seher ihrer geheimsten Regungen
verehren, und es wäre nicht möglich, daß sich
Abertausende durch allerlei Scheinwerk täuschen
ließen, das von wahrhafter „Kunst”: vom Werke
der geborenen „Künstler”, nur den Namen
stiehlt.
.Das Werk des Künstlers entsteht nicht durch
den Nachahmungstrieb der Natur gegenüber.
Der Künstler, auch wenn er sich selbst so wenig
kennt, daß er es etwa meint, will niemals die
Natur „wiedergeben”.
.Die Natur bringt ihm nur die Auslösung
einer seelischen Bewegung, und um dieser seeli‐
schen Bewegung nun Ausdruck in sinnenfälliger
Weise zu schaffen, kann er mehr oder weniger,
je nach der Sonderart seiner Begabung, die For‐
men oder Farben der Natur, ihre Erscheinung im
allgemeinen oder im einzelnen benutzen, er
kann in hohem Grade von dieser äußeren Er
scheinung der Natur abhängig bleiben, kann
aber, wenn er dazu fähig ist, auch in ihr Inneres
dringen und das Wirken ihrer Kräfte in
seinem Werke entschleiern.
.Der wahrhafte Künstler schafft immer eine
neue Welt aus seinem Innern, indem er die Be‐
137 Das Reich der Kunst
wegungen seiner Seelenkräfte zu Formen sinnen‐
fälligen Ausdrucks gestaltet, auch wenn diese neue
Welt der äußeren Erscheinungswelt auf das Ge‐
naueste zu gleichen scheint.
.Inwieweit sich diese neue, durch Eigenschöp‐
fung entstandene Welt mit den Formen der äuße‐
ren Natur deckt, das ist Sache der Begabungsart,
und keineswegs ist, wie ich schon sagte, „Natur‐
treue”, in diesem äußeren Sinn, ein Gradmesser
für die Höhe oder den Umfang einer Begabung.
.Diesen Gradmesser finden wir nur, wenn wir
in jedem Kunstwerk, das diesen hohen Namen
verdient, nach der Intensität des Erlebens
einer seelischen Bewegung forschen, und diese
gibt sich zu erkennen in der Intensität der daraus
entstandenen sinnenfälligen Ausdrucksform.
.Ich glaube klar genug gesagt zu haben, daß
diese Ausdrucksform wohl den äußeren Formen
und Farben der Natur entsprechen kann, aber
keineswegs ihnen etwa in jedem Falle entsprechen
muß.
.Ein Werk der Malerei oder Plastik kann ein
Kunstwerk höchsten Ranges sein, auch wenn seine
Formen und Farben nirgendwo in der Natur ihre
Entsprechungen haben, aber was immer es an
Formen zeigt, muß gestaltet, und innerhalb die‐
ser Formenwelt rhythmisch geordnet erschei‐
nen, oder es hört auf, ein „Kunstwerk” zu sein.
138 Das Reich der Kunst
.Welcher „Richtung” man einen „Künstler”
zuzählen will oder welcher er sich selber zuzählt,
ist für seine Wertung völlig gleichgültig. Die Frage
muß immer lauten: „ist seine 'Richtung' echt,
ist es wirklich seine 'Richtung' oder 'richtet'
er sich selbst”, ‒ das Wort hier im andern Sinne
verstanden, ‒ indem er zeigt, daß er selbst kein
eigenes „Müssen” in sich trägt, sondern sich
nach einem Anderen richtet?
.All diese „Richtungen” in der Kunstbeflissen‐
heit unseres an wirklicher „Kunst” so armen Zeit‐
alters sind ja nur möglich dadurch, daß stets ein
ganzer Klüngel solcher, die keine eigene Rich‐
tung haben, im Hinterhalt liegt und sich, sobald
einer kommt, der mit seiner eigenen Richtung
erfolgreiche Bahnen zieht, an sein Schlepptau
hängt.
.Und wer von denen, die heute über Kunst
zu schreiben wagen, fühlt denn die großen Zu‐
sammenhänge mit dem Ursprung aller Kunst aller
Zeiten und Völker so tief im Blute strömen, daß
ihm ein Recht daraus würde, über dieses Myste‐
rium schreiben zu dürfen??!
.An den Fingern einer Hand sind sie aufzu‐
zählen, die heute „berufen” wurden, das hohe
Amt des Sprechers für die Kunst zu verwalten.
.So kommt es denn, daß diese Hinterhältler,
139 Das Reich der Kunst
die sich ans Schlepptau eines „Echten” hängen,
massenweise beflissene und für alles mit Worten
gewappnete Anreißer auffischen, die dann dem
staunenden Publikum mit überlegener Geste den
endlichen Triumph der „Kunst” in der „neuen
Richtung” verkünden.
.Wäre Kunst, wie es heiß zu wünschen ist,
eine Angelegenheit der allgemeinen Bildung, dann
wüßte auch der gebildete Laie, daß jede große
Kunsterneuerung nur von Einzelnen ausging
und daß deren Mitläufer bald in wohlverdiente
Vergessenheit gerieten. Würde Kunst als Lebens
äußerung verstehen gelehrt, dann wüßte jeder,
daß echte Künstlerschaft stets und zu allen
Zeiten nur auf den Schultern Einzelner ruhen
kann und daß jedes „Programm” in der Kunst
den Tod alles ehrlich-wahren Schaffens bedeutet.
.Der wirkliche „Künstler” muß malen, muß
meißeln, wie es ihm der Gott in seinem In
nern befiehlt, einerlei welchen Namen man
seiner Ausdrucksart geben mag.
.„Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Amen!”
.Die aber sich zu „Richtungen” zusammentun,
zeichnen sich zumeist dadurch aus, daß sie auch
einmal anders konnten, bis sie aus suggestib‐
ler Schwäche sich umnebeln ließen von dem
Weihrauch, den man einem oder dem andern
144 Das Reich der Kunst
sonderlinghaften, aber echten Künstler, nicht
wegen seines Künstlertums, sondern wegen
seiner bizarren Darstellungsallüren dar‐
brachte, wenn sie nicht gar zu denen gehören,
die allerdings nicht „anders können”, weil
ihnen alles tatsächlicheKönnenfehlt.
.Wer den ganzen Kunstbetrieb ‒ Verzeihung,
aber man kann es nicht anders nennen, ‒ an
den heutigen Kunststätten auch nur einigermaßen
kennt, der weiß auch, daß noch ganz andere,
wenig erfreuliche Motive viele dazu bringen, ihre
eigene Richtung aufzugeben und sich einer „neuen
Richtung” zu verkaufen, die Erfolg verspricht.
.Es sind durchaus nicht immer unlautere Ele‐
mente, die so handeln. Aber wenn ein Maler
jahrelang sein Bestes zu geben sucht, und er muß
die Erfahrung machen, daß ihm die geschäftlich
erfolgreichsten Kunsthändler die Türen verschlie‐
ßen, während die „neue Richtung” mit ihrem
durchsichtig oberflächlichen Rezept auf allen
Wänden prangt, dann gehört schon eine seltene
Festigkeit und Charakterstärke dazu, weiter zu
darben, während sich die Herren der „neuen Rich‐
tung” mit dem leichtverdienten Gelde reicher
Kunst-Snobs gute Tage bereiten.
.Man sagt, daß Wohlleben das Schaffen so
manchen Künstlers untergraben habe. Es mag
141 Das Reich der Kunst
das in vereinzelten Fällen wahr sein, aber ich
glaube behaupten zu dürfen, daß die gemeine
materielle Not viel mehr Unheil im Bereiche
der Künstlerschaft angerichtet hat!
.Nicht alle von der Natur zur Künstlerschaft
Berufenen haben die nötige Ehrfurcht vor ihrem
eigenen Priestertum, die sie befähigen könnte,
jeder Not die Stirne zu bieten.
.Soll der wüste Indianertanz, der als modernes
„Kunstleben” auch vielversprechende junge Kräfte
in Massen für alles wahrhafte Künstlertum ver‐
dirbt und zu Grunde richtet, nicht noch weiter
ansteckend stets neue Reihen in seine Delirien
ziehen, soll nicht weiterhin eine Wertvernichtung
großen Stils am Nationalvermögen aller Länder
zehren, dann muß sich das kaufende Publikum
endlich einmal daran erinnern, daß wahrhafte
„Kunst” nur gedeihen kann, wenn das Volks
empfinden hinter ihr steht.
.Erst aber, wenn man sich erinnert, daß der
„Künstler” kein Dekorateur der leeren Wand‐
flächen unsrer Wohnräume, sondern ein Künder
und Deuter der Seele ist, wird auch das Volks‐
empfinden dem Schaffen seiner Künstler den er‐
forderlichen Rückhalt geben können.
.Ein jeder berufene echte Künstler ist ein
Brückenbauer, der das Reich der äußeren Sinnen‐
142 Das Reich der Kunst
welt mit den Gestaden des Übersinnlichen ver‐
bindet.
.Man muß nur über diese Brücke zu gehen
wissen, das heißt: man muß das stete Bewußtsein
in sich wach erhalten, daß in jedem Werke echter
Kunst eine seelische Bewegung, ein seeli
sches Erlebnis nach Ausdruck ringt, und muß
eben dieses „Erlebnis” in sich nachzuerleben
suchen.
.Eine solche Stellungnahme des Publikums
würde auch gar bald der leidigen Großmannssucht
der Mäßigbegabten, die sich so gerne „Künstler”
nennen hören, ein Ende bereiten.
.Es gibt ja so viele Gebiete, auf denen eine
erträgliche Begabung Ersprießliches leisten kann.
Nicht jede gute Veranlagung zum Malen oder
Modellieren, selbst nicht ein hervorragender Ge‐
schmack in den Bereichen der Farbe und Form,
ja nicht einmal die beste Beobachtungsgabe und
Treffsicherheit in der Darstellung, berechtigen
ohne weiteres einen solchen Könner, sich unter
die „Künstler” zu zählen.
.Hier tut eine Entwirrung der Begriffe bitter
not, wenn sich etwas zum Guten ändern soll.
.Es hat Künstler gegeben, Künstler aller
ersten Ranges, die bei jedem Werke mühevoll
mit den einfachsten Problemen der Darstellung
ringen mußten.
143 Das Reich der Kunst
.Von einem überaus feinkultivierten hollän‐
dischen Maler erzählt man, daß er oft lieber
eine Situation, die ihn künstlerisch anregte, in
Worten in sein Notizbuch schrieb, da ihm
das Zeichnen eine Qual war, das Zeichnenkönnen
nicht immer hinreichend zu Gebote stand. Seine
Werke aber sind echteste und tiefste „Kunst”.
Aus jedem seiner Bilder spricht eine im Inner‐
sten bewegte Seele.
.Man behauptet: „Das Publikum in seiner All‐
gemeinheit wird niemals fähig sein, große Kunst
aus sich heraus zu würdigen. Es sucht die Anek
dote, klebt nur am Gegenstand und ahnt
nichts von wirklichen künstlerischen Werten.”
.Wenn man damit das Publikum treffen will,
so wie es jetzt ist, irregeleitet durch das alle paar
Jahre in anderen Dissonanzen ertönende Feldge‐
schrei der „Richtungen”, irregeleitet durch eine
von mehr oder weniger Unberufenen geschriebene
oberflächliche Kunstliteratur, dann mag man Recht
haben.
.Aber die Kräfte der Seele, in denen alle Kunst‐
schöpfung ihre letzte Ursache hat, lassen sich
nicht auf die Dauer verschütten. Man muß nur
den Unrat lockern, der sich seit Generationen
angesammelt hat, und die Kräfte der Seele wer‐
den zeigen, daß sie noch am Leben sind.
144 Das Reich der Kunst
Kunst und Weltanschauung
.Den weitaus meisten Menschen sind die Werke
der bildenden Kunst, wenn nicht reine Schmuck
Objekte, so doch nur Abbildungen, Schilde‐
rungen, Darstellungen irgendeines Geschehnisses,
einer landschaftlichen Szenerie, einer Gestalt,
eines Menschen oder auch anderer Lebewesen,
‒ mitunter, wie bei Stilleben, auch der „leb‐
losen Dinge”.
.Spricht man daher von Kunst und Weltan‐
schauung, so setzt man sich leicht dem Mißver‐
ständnis aus, als rede man von dem möglichen
Darstellungs-Inhalt eines Kunstwerkes.
.Nun kann gewiß auch der dargestellte Gegen
stand, im weitesten Sinne, einer Weltanschauung
Ausdruck geben, wobei man nur an die religiöse
Kunst aller Zeiten zu erinnern braucht, ‒ allein,
nicht dieser, durch den Darstellungsgegen
stand erkennbare Ausdruck einer Weltanschau‐
ung ist hier gemeint, sondern die Weltanschau‐
ung, die sich in der Auffassungs- und Darstel‐
lungs-Art eines jeden Künstlers verrät, ganz
gleich, welchen Gegenstand der Außenwelt oder
147 Das Reich der Kunst
seiner Phantasie er durch sein Bildwerk vor
Augen stellt.
.Ich gehe sogar noch weiter, indem ich aus‐
drücklich betone, daß ein Bildwerk selbst auf
jede, noch so vage Anlehnung an Gegenständ‐
liches verzichten, daß es eine reine Symphonie
der Farben oder der Formen sein kann, und
dennoch ‒ dann erst recht, ‒ eine ausge‐
prägte Weltanschauung zum Ausdruck bringt.
.Wer die majestätisch feierlichen Grabmale
und die wie aus Schöpfungskräften kristallisierten
Brunnen des viel zu früh verstorbenen Schweizer
Bildhauers Hermann Obrist kennt, wird mich
ohne weiteres verstehen.
.Aber auch wenn ein Künstler in der Wahl
seiner Motive sich als Diener einer bestimmten
Weltanschauung zeigt, ist es noch lange nicht
ausgemacht, daß diese Weltanschauung auch wirk‐
lich die seine ist, und über alles Gegenständ‐
liche hinaus verrät er sich dem Kundigen durch
sein Werk als solches!
.Gar viele Maler haben, seit Giotto seine
Fresken in der Arena zu Padua schuf, die Mo‐
tive der christlichen Heilsgeschichte und mancher
Heiligenlegende behandelt, obwohl ihre wahre
Weltanschauung recht wenig mit dem Darge‐
148 Das Reich der Kunst
stellten harmonierte. Ihre Darstellungs-Ob
jekte sind „christlich”, ihre Linie und Farbe
ist Heidentum und Freigeisterei. Bei Giotto
aber ist jede Linie Ausdruck reinster Religiosi‐
tät, jeder Pinselstrich ein Gebet eines gläu‐
bigen Herzens.
.Es sind Imponderabilien, die so zu Ver‐
rätern der wahren Geistesart eines Künstlers
werden, die uns sagen, ob er ein seichter, hohler,
äußerlicher Könner, oder ein wirklicher Be
gabter des Herzens ist, ob er nur darstellt, was
seine Zeit ihm als Motiv übergibt, oder ob er
wahrhaft innerlich Erfühltes aus den Tiefen
seiner Seele holt und sichtbar macht.
.In heutiger Zeit ist es sehr beliebt geworden,
wieder die Episoden des Alten und Neuen Testa‐
mentes als Vorwurf zu künstlerischen Werken
zu wählen, aber die Künstler, die hier nun bald
eine „Verkündigung”, bald „Isaaks Opferung”
malen, ahnen es kaum, wie sehr man ihren Wer‐
ken jene müde Skepsis anmerkt, die im Grunde
längst den Glauben an sich selbst verloren hat.
Sie sehen nicht, was Rembrandts inbrünstig
erfühlte Geisteswelt von der ihren trennt, und,
ewig unzufrieden, suchen sie ein unbestimmtes
Ziel, erwarten Schöpfungs-Schauer, wie sie alle
Großen kannten, ohne sich bewußt zu sein, daß,
149 Das Reich der Kunst
allen „Könnens” spottend, Großes nur aus einem
großen Geiste keimen kann.
.Jeder will mehr sein als er ist und verläßt
so, vom Ehrgeiz gejagt, den sicheren Platz, den
ihm die Natur vorbehielt, um dann wie ein
Heimatloser durch die Gefilde der Kunst zu
hetzen, ohne sich und seine Stätte je zu finden.
.Es gibt viel mehr solcher geplagter Künstler‐
Existenzen als man glaubt, und mancher recht
berühmte Name wird aus diesen Gründen nie‐
mals seines Ruhmes froh!
.Die wirklich religiösen Bilder unserer Zeit
werden selten unter denen zu finden sein, die
durch den religiösen Vorwurf sich als Werke
hoher Geistigkeit erweisen möchten. Ein Still
leben oder eine Landschaft können höchste
Geisteswerte in sich tragen, können erfüllt sein
von tiefster Religiosität und so zu wahren An
dachtsbildern werden, während daneben Bil‐
der aus der heiligen Geschichte, trotz aller großen
Geste nichts als matte Anempfindung zu verraten
brauchen. Es bleibt dabei völlig gleich, ob eine
Begabung älteren Ausdrucksformen folgen zu
müssen glaubt, oder ob sie in neuen und neuesten
Formen den ihr gemäßen Ausdruck findet, ja
sich selbst erst neue Formen schaffen mag, da
150 Das Reich der Kunst
alle, die sie um sich findet, ihrem Ausdrucks‐
drang sich nicht bequemen können.
.Es gibt ein Wort von Goethe, in dem er
Stellung nimmt zu der Frage: wer als „der
Größere” zu betrachten sei, ‒ er oder Schiller
‒ und in dem er zu dem Schlusse kommt, die
Menschen sollten froh sein, daß sie „zwei solche
Kerle” hätten. ‒ Dieses Wort ließe leicht sich
variieren und auf die verschiedenen großen Strö‐
mungen anwenden, denen unsere heutigen Künst‐
ler folgen.
.Der ganze Streit über die „Berechtigung”
dieser oder jener Auffassung der Kunst ist ebenso
töricht wie überflüssig. Ja selbst die Bezeich
nungen verwirren nur, statt zu klären, denn
bald geht ein „Expressionist” notorisch von reiner
Impression aus, bald werden einem „Impressio‐
nisten” seine Darstellungsmittel nur zu Zeug‐
nissen seines reinen Ausdruckswillens: Expres
sion! Nicht anders geht es zu in der „neuen
Sachlichkeit”, im „Surrealismus”, oder der „Neu‐
romantik”. Auch wenn die Künstler sich mit
einem wahren Eigensinn ihren „Richtungen” ver‐
schrieben haben, begehen sie ungewollt bei der
Gestaltung jedes neuen Werkes neue Grenzver‐
letzungen.
.Gewiß wurde die Kunstrichtung, die man mit
dem Namen „Impressionismus” bezeichnet, zu
151 Das Reich der Kunst
einer Zeit geboren, die in einer steril-materia‐
listischen Weltauffassung fast erstickte, und
wurde darum auch zum Spiegelbild jener ma‐
terialistisch orientierten Zeit, allein darin liegt
keine unabänderliche Naturnotwendigkeit, und es
wird stets darauf ankommen, ob der jeweilige
„impressionistische” Künstler Geistiges zu sagen
hat oder nicht.
.So überzeugt auch die Freunde „expressio‐
nistischer” Kunst dieser Auffassungsart künstle‐
rischen Schaffens den Ausdruck des Geistigen
in Erbpacht gegeben haben, so sehr auch unsere
Zeit wieder nach Geistigem verlangt, so dürfte
es dennoch nicht schwer fallen, auch unter „ex‐
pressionistischen” Werken gerade genug Zeug‐
nisse banalster Ungeistigkeit zu finden.
.Es ist eben immer und immer wieder die
innerste Weltanschauung eines Künstlers, die
seinen Schöpfungen das unverwischbare Siegel
aufprägt, und im Grunde lassen sich Kunst und
Weltanschauung niemals trennen.
.Ein Kunstwerk ist nicht nur ein Schmuck
der Wand, nicht nur eine Darstellung irgend‐
welcher Art, sondern stets das ‒ oft unfreiwil‐
lige ‒ tiefste Seelenbekenntnis seines Schöp‐
fers, weit über alle „Richtungs”-Angehörigkeit
hinaus.
152 Das Reich der Kunst
„Moderne” Kunst
.Statt sich über die Erscheinungen, die sie be‐
trachten, in eingehender Weise Rechenschaft ab‐
zufordern, sind die meisten Menschen schon zu‐
frieden, wenn sie dafür ein mehr oder weniger
treffendes Schlagwort finden, und glauben einen
geistigen Besitz errungen zu haben, während sie
nur dessen halbwegs zureichende leere Hülle
nach Hause tragen.
.Eine solche leere Hülle ist auch das Wort
von der modernen Kunst.
.Soll damit nur eine Zeitbestimmung ge‐
troffen werden, soll das Kunstschaffen heute
Lebender als „moderne Kunst” sein Rubrum
finden, dann ist gegen die Bezeichnung nichts
zu sagen, aber das Schlagwort will anderes
ausdrücken, will eine Wertung sein.
.Als Wertung wurde es auch stets gebraucht,
von jeder der einander ablösenden neueren
Kunstrichtungen, die seit fünfzig Jahren als
Symptom neuen ernsten Kunstwillens auftauch‐
ten, und jede dieser Richtungen machte An‐
spruch darauf, die „moderne” Kunst zu sein
oder ‒ wie man jetzt lieber sagt ‒ „die neue
Kunst”.
155 Das Reich der Kunst
.Es gibt aber in der wahrhaftigen Kunst
zwar ein Früher oder Später, aber niemals
ein Alt und Neu, denn echte Kunst ist zeit
los, entströmt ewigen Forderungen der Psyche
und kann, auch wenn Jahrtausende seit ihrem
Erstehen im Werk dahingegangen sind, niemals
unmodern werden.
.Insofern ist also die Bezeichnung „moderne
Kunst” entweder auf alle echte Kunst aller
Zeiten anzuwenden, oder man hat es hier nicht
nur mit einem Schlagwort, sondern mit einer
bedenklichen Phrase zu tun.
.Gewiß gibt es auch Modeströmungen in
der Kunstübung einer Zeit, und selbst die Werke
der Eigenartigsten und Besten unter den
Schaffenden können von solchen Modeströmun‐
gen berührt sein, aber ihre Symptome sind für
den echten Kunstfreund, der seinem Fühlen ver
trauen kann, entweder eine stärkere, mitunter
auch nur leise irritierende Beeinträchtigung
seines Kunstgenusses, oder sie werden von ihm
als ein sublimer Reiz empfunden, der ihn das
Wesen der Entstehungszeit des Werkes mit‐
empfinden läßt, der aber außerhalb aller ei‐
gentlichen Wertung des Kunstwerkes liegt.
.Wenn man also mit dem Schlagwort: „mod‐
derne” oder „neue” Kunst nur das bezeichnen will,
156 Das Reich der Kunst
was an einem Werke etwa der neuesten Zeit
mode entspricht, so berührt man damit in keiner
Weise das Werk als ein Werk der Kunst.
.Echte Kunst entsteht aus dem innersten,
quellenden Grunde der Seele! Die tiefen
Brunnen, aus denen der wahrhafte Künstler
schöpft, reichen hinab, weit unter das Reich
des im Alltag Bewußten, weit unter die tief‐
sten Tiefen des „Stromes der Zeit”, empfangen
ihre stets sich erneuernde Fülle durch tief ver‐
borgene Quelladern ewig sich selbst gleichenden
Lebens.
.Nur das Gefäß: der Eimer, mit dem der
Künstler schöpft, kann modische Form tragen,
und wie Wasser, stets die Formen des Gefäßes
ausfüllend, in dem es gefaßt wird, gleichsam
auf diese Weise die Form des Gefäßes darstellt,
und dennoch in jeder Form immer Wasser
bleibt, so nimmt auch echte Kunst zwar äußer‐
liche Formen an, die ihr die Zeit ihres Ent‐
stehens zur Sichtbarkeit gibt, und bleibt doch
zu jeder Zeit die gleiche ewige Kunst.
.Sofern es sich nur um wirkliche Kunst han‐
delt, nicht um einen Versuch, die Natur zu
imitieren, im Sinne des Panoramas oder des
Panoptikums, ist die Kunst aller Zeiten stets
„modern”, weil das Ewige aller Zeit Gegen
wart ist und niemals „unmodern” werden kann.
157 Das Reich der Kunst
.Es wird nun begreiflich erscheinen, wenn ich
sage, daß dem Glauben jeder neuen Kunstrich‐
tung, ihre Werke seien nun allein berechtigt,
sich als moderne oder als die neue Kunst zu
bezeichnen, eine tiefe Sehnsucht zugrunde
liegt, zugleich ein unruhig gewordenes Ahnen
von der ewigen Moderne aller echten Kunst.
.Man will sagen, daß man wieder echte
Kunst zu schaffen willens sei, und man um‐
schreibt das, indem man von moderner oder
neuer Kunst redet.
.Nach den großen Kunstperioden des Mittel‐
alters und der Renaissance waren allmählich die
Brunnen echter Kunst immer mehr überwuchert
worden von dem üppig emporschießenden Un‐
kraut bloßen Imitationswillens, und nur ver‐
einzelt fanden einige Wenige ihre Zugänge,
schöpften daraus und wurden von ihren Zeitge‐
nossen gering gewertet, weil ihre Zeit nichts
mehr von den Quellen der Tiefe ahnte, und
es bequemer fand, ihren Durst an den säfterei‐
chen Stengeln und Früchten des Unkrautes über
den Brunnenrändern zu stillen.
.Am Anfang des neunzehnten Jahrhun
derts erst begann wieder ein reges Suchen nach
den Quellen der Kunst. Junge, begeisterte
deutsche Künstler glaubten diesen Quellen wie‐
158 Das Reich der Kunst
der näher zu kommen, indem sie sich in der
äußeren Form den Künstlern des Mittelalters
und der Renaissance anschlossen. Sie erstrebten
das Höchste, aber zu den Quellen fanden sie
nicht zurück. In der Geschichte der Kunst
sind sie unter dem Namen der „Nazarener”,
einer ursprünglich als Spottname gebrauchten Be‐
zeichnung, bekannt.
.Näher den Quellen kamen schon die „Ro
mantiker”, die durch Wackenroders „Ergießun
gen eines kunstliebenden Klosterbruders
mächtig angeregt, beinahe als seelische Vorläufer
des Expressionismus betrachtet werden können,
so fern sie auch in formaler Hinsicht der
expressionistischen Methode stehen.
.Wirklich zu den Quellen zurück fanden
erst gegen die Mitte des neunzehnten Jahrhun‐
derts einige französische Künstler, in deren Lande
die Tradition nie ganz abgerissen war, vor allem
Manet und Cézanne, und so ist die Bewegung,
die alle zur künstlerischen Vollendung streben‐
den Künstler aller Nationen einmal nach Frank‐
reich führte, keineswegs als eine „üble Auslän‐
derei”, als ein Vergessen eigenen Wertes aufzu‐
fassen, sondern entsprang einer Naturnotwen
digkeit, die vor keinen nationalen Grenzen
Halt machen durfte.
159 Das Reich der Kunst
.Tatsächlich zeigten auch die beiden genann‐
ten Künstler dem Kunstschaffen der ganzen
Welt wieder den Weg zu den Quellen, so sehr
auch dann die Künstler verschiedener Nationen,
oder starke eigenschöpferische Begabungen, wie
etwa Hodler, oder Edvard Munch, in ihren Wer‐
ken voneinander abweichen mögen. Sind doch
selbst Künstler, wie der bewußt aus tiefster Seele
deutsche Hans Thoma, oder der an mittelalter‐
liche deutsche Frühkunst erinnernde Leibl, ohne
ihre Pariser Zeit überhaupt nicht zu denken.
.Einmal auf die ewig strömenden Quellen
hingewiesen, glaubte aber die neuere Generation
der Künstler mit allem Recht in den Werken
Manets und Cézannes noch keineswegs die tief
sten dieser Quellen wirksam, und so entstand das
bohrende Suchen nach neuen, tieferen Quellen.
.Es ist in nicht wenigen Fällen eine heilige
Sehnsucht, die diese jüngeren Künstler erfüllt,
die lieber am Wege ermattet umkommen wollen,
als daß sie je das Ziel ihrer Sehnsucht preis‐
geben möchten.
.Daß allerhand Mitläufer ohne inneren Be‐
ruf ihnen „abgucken, wie sie sich räuspern und
spucken” nimmt den wenigen Echten nichts
von ihrem Wert.
160 Das Reich der Kunst
.Verderben bringt nur das beflissene Kunst
schreibertum unserer Tage, das im Jargon der
Jahrmarktsausrufer hinter jeder derartigen Er‐
scheinung her ist, mag sie echt oder unecht sein,
und ihr „Räuspern und Spucken” unter totaler
Verkennung der wirklichen Wertmaße mit Em‐
phase anpreist, als ‒ die „neue” Kunst.
.Statt dem Laien überzeugend darzulegen, daß
es sich hier um ein verzweifelt ernstes Ringen
um das Höchste und zugleich im Allertiefsten
Begründete handelt, daß aber alles, was bis
jetzt vorliegt, nur aus glühender Sehnsucht ge‐
borene Versuche sind, zu tieferen Quellen vor‐
zudringen, Versuche, auch wenn sie schon in
manchen Fällen den Sieg versprechen, wird
ihm alles, was irgend eine neue Richtung her‐
vorbringt, mag es das Werk eines Echten, oder
durchsichtige Charlatanerie sein, in Bausch und
Bogen aufgeredet, oder aufzureden versucht, als
die einzige Kunst, die fürderhin noch in Be‐
tracht kommen könne.
.Kein Wunder, wenn da viele, die noch ge‐
sunde Instinkte in sich spüren, aber doch auf
dem Gebiet der Kunst nicht erfahren genug
sind, das Kind mit dem Bade ausschütten, und
das, was sie als ernsthafte Versuche allenfalls
verstehen könnten, als aufgedrungenes letztes
Ziel der Kunst rundweg ablehnen.
161 Das Reich der Kunst
.Die Zeit wird zeigen, daß die Ernsten und
Echten unter den neueren Künstlern eines Ta‐
ges ihr Ziel, den unmittelbarsten Ausdruck ihres
geistigen, künstlerischen Fühlens zu geben, er
reichen werden, wenn auch das Endresultat
ganz anders aussehen mag, als man das jetzt
noch, nach den vorliegenden Versuchen, erwarten
oder gar fürchten möchte.
.Was so zutage gefördert werden wird, ist
dann keineswegs moderner als die Werke Giot
to's, Dürers, Holbeins, Rembrandts oder des
Frans Hals.
.Es wird, wenn es das letzte Ziel erreicht
hat, ewige Kunst sein, wie die Kunst des
Mittelalters, die Kunst der alten Chinesen
und ihrer Schüler, der Japaner, die altgrie
chische oder die beste ägyptische Kunst:
es wird, wie jedes echte Kunstwerk, von Lio
nardo und Michelangelo bis zu allem Echten
unserer Tage, niemals unmodern werden kön
nen, und so ist es nur freudig zu begrüßen,
daß auch unsere ‒ nicht immer den Jahren
nach ‒ „Jüngsten” einer echten, modernen
Kunst entgegen streben, wenn sie ihr Ziel auch
heute noch keineswegs erreicht haben, was ja
die Besten unter ihnen willig zugeben.
162 Das Reich der Kunst
Expressionismus
.Expressionismus” ist, ‒ fast muß man
schon sagen: „war”, ‒ eine der vielen modernen
Künstlerbestrebungen und wird von den Laien
meistens mit Kubismus, Futurismus, Sphä
rismus und wie die schönen Worte alle heißen,
in einen Topf geworfen.
.Das Wort „Expressionismus” will aber als
künstlerische Bestrebungs-Bezeichnung nichts
weiter besagen, als daß die Anhänger dieser Be‐
strebung zum unmittelbarsten Ausdruck, zur
Expression” ihres seelischen Empfindens drän‐
gen, im Gegensatz zum „Impressionismus” der den
intensiven Eindruck wiedergestalten will, den
ihm die Außendinge vermitteln. „Expressionis‐
mus” will also zu einer vergeistigten Kunst,
und einerlei, ob die zur Zeit unter diesem Namen
gepflegten Bestrebungen in der Malerei, der Pla‐
stik, Literatur und Musik jemals ihr Ziel durch
ihre heute schon zur Mode und Manier gewordenen
Methoden erreichen werden oder auch nur
erreichen können, so hat doch solches Ringen
um den heiligen Geist, solches Streben um die
165 Das Reich der Kunst
Weihe des heiligen Gral, wahrhaft Anspruch auf
ernsteste Beachtung.
.Daß die Nachläufer zur Negerkunst, zum
kulturlosen Lallen des Urzeit-Menschentieres ent‐
arten, darf nicht davon abhalten, in den wenigen
echten Künstlern dieser Art das Ringen um
höchste Ziele anzuerkennen.
.Etwas ganz anderes ist es, ob man die Me
thode für tauglich halten wird, zu dem erstrebten
hohen Ziele zu gelangen, und hier fehlt es meines
Erachtens auch den besten Künstlern, die auf
diesen Wegen wandeln, an philosophischer
Durchdringung des Wesens aller Kunst. Sie
möchten eine neue Kunst erschaffen, auf We‐
gen, die sie niemals konsequent zu Ende zu
denken willig sind.
.Sie fanden einen Anfang, der eine gangbare
Straße verspricht, und sind davon derart begei‐
stert, daß ihnen die Ruhe fehlt, das Ende zu
erschließen in logischer Folge, zu dem diese Straße
schließlich führen muß.
.Beliebt ist es heute, für jede neue „Kunst‐
richtung” sich unter den großen Meistern der
Vergangenheit die Ahnen zu suchen.
166 Das Reich der Kunst
.Aber die hier ihre Ahnen zu finden meinen,
verkleinern sich selbst, gleichen Parvenus, die
sich mit ihrem Gelde Schlösser bauen im Stil
der Großen der Vergangenheit.
.Wenn für die expressionistische Malerei
im Ganzen „Ahnen” gemacht werden sollen aus
allen großen Künstlern, die einem stark bewegten
seelischen Ausdruck in ihrer Kunst zustrebten,
und wenn sich beflissene Kunst-Snobs finden, die
für alles, in dem sie Hautgout wittern, begeistert
sind und die den auf expressionistischer Bahn
wandelnden Künstlern in suggestiv übersteigerter
Sprache diese Ahnen einzureden, aufzuschwatzen
suchen, so ist das, gelinde gesagt: ‒ „Grober
Unfug”.
.Auch die Künstler selbst, die auf diese, nur
durch ihre unbewußte Komik etwas versöhnende
Ahnenmacherei hineinfallen, sind sich leider
nicht bewußt, welche Blößen sie sich damit
geben, denn hätten sie jemals einen dieser Großen
wirklich gründlich studiert, nicht eingeengt
in ihrem Gesichtsfeld durch das Sehrohr ihrer
eigenen Wünsche, dann hätten sie finden müssen,
daß zwar in den Werken eines jeden nach beweg‐
tem Ausdruck strebenden Künstlers Elemente
der expressionistischen Methode zu finden sind,
aber niemals losgelöst und für sich bestehend,
167 Das Reich der Kunst
sondern eingegangen in das Werk, darin ver‐
borgen, wie das Knochengerüst im Körper.
.Wie im Werke eines jeden guten Künstlers
auf die eine oder die andere Art „Ornament
verborgen sein muß, ja wie sein Werk erst da‐
durch Halt und Ausdruck findet, so war auch zu
allen Zeiten in jedem Werke, nach starkem be‐
wegtem Ausdruck strebender Künstler, die ex
pressionistische Methode latent enthalten,
und es wird auch in den Werken, die erst nach
Jahrtausenden entstehen, nicht anders sein.
.Das, was die expressionistische Methode jetzt
isoliert und nackt zutage schafft, ist wie ein
Mensch ohne Haut, ein anatomisches Präparat,
aber ‒ kein Leben, so sehr sich auch die Ver‐
treter dieser Methode zugute halten, daß erst sie
dazu gekommen seien, das Leben selbst auf‐
zuzeigen.
.Expressionistische Methode muß in einem
auf seelisch bewegten Ausdruck angelegten Kunst‐
werk sein, wie Perspektive oder Anatomie in
jeder Landschaft, jedem guten europäischen Fi‐
gurenbilde der letzten Jahrhunderte stecken: ‒
latent darin enthalten, aber nicht losgelöst,
gleichsam herauspräpariert aus der lebendigen
Neuschöpfung einer inneren, der äußeren zwar
168 Das Reich der Kunst
mehr oder weniger ähnlichen, doch stets für sich
bestehenden Welt, die das Werk eines jeden ech‐
ten Künstlers darstellt, mag es ein Werk der Ma‐
lerei, eine Plastik, ein Werk der Literatur oder
eine musikalische Schöpfung sein, bei welch letz‐
terer allerdings der Fall insofern etwas anders
liegt, als die „Außenwelt”, der sie entspricht, das
Reich der rhythmischen Intervalle, der
kosmischen Bewegung kleinster Energie
zentren ist, die dem Nichtmusiker erst in ihren
Wirkungen, innerhalb der uns umgebenden
Erscheinungswelt, bewußt werden.
.Es ist darum scharf zu unterscheiden
zwischen „Expressionismus” als Willens-Im
puls, und expressionistischer Methode.
.Der expressionistische Willens-Impuls stellt
eine Reaktion dar, auf die vorausgegangenen
künstlerischen Aspirationen, deren letzte Ziele
ein Ersticken im Ungeistigen, im Nur-mate
riellen bedeuteten.
.Insofern ist er in hohem Maße begrüßens
wert.
.Aber Geist läßt sich nicht von Materie
scheiden, und das wirklich vergeistigte Kunst‐
werk kann nur entstehen, wenn es in der inneren
Welt eines Künstlers Gestalt findet, ‒ auch
169 Das Reich der Kunst
da aus subtilster Materie geschaffen! ‒ aber den
ewigen kosmischen Gesetzen aller Gestaltung,
sowohl in der sinnlich wahrnehmbaren Außen‐
welt, als auch in allen metaphysisch ergründ‐
baren Welten, entsprechend.
.Als Durchgangs-Station für einen innerlich
bewegten, echten Künstler mag der expressioni‐
stischen Methode der gleiche Wert beigemessen
werden, wie dem Studium anderer künstlerischer
Hilfsmethoden, und in diesem Sinne sollte sie
nebenbei, zum Nutzen der Studierenden, auf
unsern Akademien betrieben werden, aber im
Werke des Künstlers kommt ihr nur dienende
Bedeutung zu.
170 Das Reich der Kunst
Sinnlose Kämpfe
.Schlagworte haben in der Welt schon den
übelsten Schaden angerichtet. Wer das nicht
weiß, der sehe sich nur im Leben des Alltags
um. Er wird da genug Beispiele finden!
.Verhängnisvoll wird aber auch die Herrschaft
der Schlagworte auf den Gebieten des mensch‐
lichen Geisteslebens, und besonders dort, wo
sie das Empfinden einer Erscheinung verfäl‐
schen, weil sie die Seele des Empfindenden in
irriger Weise „einstellen”.
.Zu der Kategorie solcher verderblicher Schlag‐
worte gehören die Bezeichnungen, die von ein‐
zelnen Künstlergruppen aufgegriffen wurden,
um ihrer Art der Auffassung des künstlerischen
Schaffens zu einem Namen zu verhelfen.
.Der Laie, ohnehin schon konfus gemacht und
verärgert durch dieses unruhige, ihm ganz un‐
begreifliche Drängen der Künstler nach „neuen”,
immer wieder überneuerten Zielen, weiß sich
schließlich keinen andern Rat, als je nach Nei‐
gung und Kunstgefühl die Kunstauffassung, die
ihm unter einem solchen Schlagwort entgegentritt,
173 Das Reich der Kunst
und die ihm stets wieder und wieder als das
Alpha und Omega aller wahren Kunst aufgeredet
wird, für das endgültig aus diesem Wirrwarr
Erlösende zu halten, und verschreibt sich so seinem
Schlagwort, wütend, und außer sich geratend,
wenn es eines Tages wieder gestürzt werden soll.
.Längst ist der „Impressionismus” noch nicht
auf allen Linien Sieger geworden, aber lange
schon treten immer neue, ihn verwerfende an‐
dere „Richtungen” zutage, Richtungen, die zwar
zum Teil weiter nichts als eine entsprechend
modernisierte” Auflage des seligen „Jugend‐
stils” unglückseligen Angedenkens darstellen,
zum anderen Teil aber wirklich auf ihre Art
zu hohen, neuen Zielen weisen, wenn man auch
noch auf den Wegen zu diesen Zielen bald da‐
hin, bald dorthin abirren mag.
.Nun soll der Laie, der eben erst kaum dabei
war, halbwegs zu begreifen, um was es sich ei‐
gentlich beim „Impressionismus” handelt, schon
wieder umlernen, weil ‒ der „Impressionismus”
angeblich „überwunden” sei.
.Kein Wunder, wenn man sich sträubt, und
was sich nicht sträubt, und mit wildem Gesti‐
kulieren schleunigst dabei ist, mitzulaufen, weil
es „etwas Neues, noch nie Dagewesenes” gibt,
das hat den „Impressionismus” ganz sicher
174 Das Reich der Kunst
noch nicht überwunden”, weil ‒ es ihn ebenso‐
wenig verstand, wie es das einzig Wesentliche
dessen begreift, was ihm unter dem Namen „Ex‐
pressionismus” in einem Sammelsurium der ver‐
schiedensten Strebungen entgegentritt.
.Die Wahrheit ist: daß weder das Wort „Im‐
pressionismus”, noch die Bezeichnungen „Expres‐
sionismus”, „Surrealismus”, „Kubismus”, „Neue
Sachlichkeit”, oder wie immer die Etikette einer
neuen Kunstrichtung lauten mag, sei es der
reinen Wortbedeutung nach, sei es in bezug auf
die darunter verstandenen praktischen Bestre‐
bungen, irgendwie gerade das bezeichnen, auf
was es den ernst zu nehmenden Künstlern aller
Zeiten allein ankam, und auf was es auch
allen wirklich Wertvollen in heutiger Zeit an‐
kommt: den Bekenntnistrieb ihrer Seelen‐
kräfte im Schaffen auszuleben!
.Dazu aber gibt es die verschiedensten Mög‐
lichkeiten, und das ist gut so, sonst würde die
Kunst das langweiligste Gebiet menschlichen
Geisteslebens.
.Es gibt allenfalls gute und schlechte Kunst,
‒ streng genommen überhaupt nur Kunst,
denn ein wirkliches „Kunstwerk” ist niemals
schlecht.
.Was man so landläufig als „schlechte” Kunst
bezeichnen mag, ist die Talmiware, die sich für
175 Das Reich der Kunst
Kunst ausgibt und dem Publikum Sand in
die Augen bläst, damit es ihre Erbärmlichkeit
nicht sehe.
.Gewiß tauchen in jeder Zeitperiode neue
Ziele aus kosmischen Urtiefen auf, die dann die
Kräfte der Besten magnetisch an sich fesseln:
die erreicht sein wollen, ob auch der einzelne
Künstler auf seinem Wallfahrtswege zu Grunde
geht, oder mit Spott und Hohn übergossen wird.
Aber immer wieder handelt es sich um die gleiche
Frage: „Zeige mir, ob Du zu Deinem Streben
auch berechtigt bist, ‒ ob man Dich innerlich
berufen hat, oder ob Du nur ein Nachläufer
bist auf den Wegen, die nie und nimmer von
Dir betreten werden wollen, weil Du sie ent‐
weihst!?!”
.Der wahrhaft von seinem Gott getriebene
echte Künstler kann nie im Zweifel sein über
seinen Weg, sobald er einmal die ersten Anhöhen
im Lande der Kunst erklommen hat, die ihm
das ausgebreitete Gefilde weithin zeigen.
.Er wird still seine Straße ziehen, und nur,
wenn ihm sein Gott eines Tages befiehlt, ur‐
plötzlich seine Wegrichtung zu ändern, wird er
ihm gehorsam folgen, auch wenn Ruf und Namen
durch den neuen Weg gefährdet werden, den der
176 Das Reich der Kunst
Künstler dann erst mühevoll sich selber bahnen
muß.
.Niemals aber kann er zum „Nachläufer”
entarten!
.Ein wahrer Künstler hebt die Hand nicht
zum Werke ohne inneren, verpflichtenden
Befehl, und es wird ihm stets völlig gleich‐
gültig sein, ob man sein Werk dieser oder
jener Kategorie künstlerischen Schaffens zu‐
zählen mag.
.Ob er nun auf den Grundlagen aufbaut, die
man speziell dem „Impressionismus” verdankt,
oder ob er eine Form der Aussprache pflegt, die
irgendwo in den Sammelnamen „Expressionis
mus” miteinbezogen werden kann, das ist ja
auch so unsäglich nebensächlich, ‒ viel
nebensächlicher noch, als ob er diese oder jene
Farben bevorzugt, ob er überhaupt die Farbe
braucht, oder aus Schwarz und Weiß die Skala
der Töne bildet, die ihm zur Aussprache dienen
müssen, ‒ ob er große oder kleinste Formate
für sein Schaffen wählt.
.Stets wird es darauf ankommen, ob das, was
er schafft, echte Kunst, ursprünglichstes
Seelenbekenntnis ist, und aller Wert, auch
in materieller Hinsicht, wird allein nur von
177 Das Reich der Kunst
dieser Voraussetzung her bestimmt, alle Dauer
dieses Wertes ruht nur in der überzeugen
den Kraft, die dem Bekenntnis seiner Seele
innewohnt.
.Man hat allzulange den „Laien” betrogen,
indem man ihn glauben machte, das Wesentliche
der echten Kunst sei Dokumentierung der Ge‐
schicklichkeit. „Kunst kommt doch von Kön‐
nen”, lautet das läppische und so triviale Wort,
das man heute noch im Munde besonders Klu‐
ger findet!
.Gewiß, ‒ aber hier handelt es sich um ein
„Können”, das aus der Seele strömt, ein Ver
mögen des schöpferischen Entfaltens, ‒
und nicht um eine durch „Erlernen” zu erwer‐
bende Geschicklichkeit!
.Ein Künstler „kann” etwas, weil er schaf
fen kann, weil er nicht nur „produziert” und
Gelerntes auf mehr oder weniger geschickte Art
zur Anwendung bringt.
.Nicht die „stupende Technik”, die „korrekte
Zeichnung”, die „fabelhafte Differenzierung der
Valeurs”, und wie die schönen Lobestitel alle
heißen, durch die man geschickte Mache als
Kunst” vorzutäuschen sucht, geben jemals
einen Gradmesser ab zur Bewertung eines wahren
Kunstwerkes.
178 Das Reich der Kunst
.Die schöpferische Kraft und die ursprüng
liche Bekenntnisfreudigkeit des Künstlers
zu dem Ausdrucksdrang seiner Seelenkräfte, ent‐
scheiden ganz allein über den Wert seines
Werkes, und sie allein verleihen dem Wert des
Werkes Dauer.
.Kein Mensch wird in hundert Jahren dar‐
nach fragen, ob es mehr dem „Ex”- oder dem
„lmpressionismus” zuzuzählen sei, wenn ein
Kunstfühlender seinen Wert bestimmt.
.Zur Zeit Rembrandts gab es eine Menge
Maler, die herrlich und in Freuden lebten und
die Gunst des Publikums genossen. Heute greift
man sich an den Kopf und faßt es nicht, daß
diese traurigen Tröpfe ihren Markt hatten, wäh‐
rend Rembrandt stets mehr im Elend versank,
je ungehemmter er dem Gott seiner großen Seele
diente.
.Als Kuriositäten, nicht ganz ohne Lieb‐
haberwert, betrachtet man nunmehr diese Mach‐
werke seiner Nebenbuhler, während das beschei‐
denste Bildchen von Rembrandts Hand heute
fast unbezahlbar ist.
.So war es und so wird es immer sein, mag
auch die Meute hinter allen Großen kläffen, die
anderes zu offenbaren haben, als das ihr Alt‐
bekannte.
179 Das Reich der Kunst
.Stets wird die Zeit zu richten wissen, und
niemals wird sie danach fragen, durch welches
Schlagwort man die Werke eines Künstlers ein‐
mal einzuengen suchte, oder welcher „Richtung”
er sich selbst vielleicht verschrieben glaubte.
.Was an Echtem ans Licht will, kommt aus
den Tiefen der menschlichen Seele, aus
göttlich klaren Brunnen, wenn es auch heute
noch manche Trübung durch das Erdreich zeigt,
das erst durchbrochen werden muß.
.Wer darf es denen, die diese Quellen rauschen
hören, heute verargen, wenn sie nun alles Heil
allein von ihren Brunnen her erwarten?!
.Die Echten, die Schaffenden, werden gar
bald erkennen, daß deshalb die vor ihnen von
Früheren begründete Kunstrichtung noch lange
nicht „überwunden” ist, werden im Gegenteil
sehen lernen, wie sie selbst nur fest auf dieser
Erde Boden stehen, wenn sie alles in sich sau‐
gen, wie die Wurzeln eines Baumes, was an
echten Werten in jedem echten, künstlerischen
Streben aufzufinden ist.
180 Das Reich der Kunst
Die „Grenzen” der Malerei
.Es gibt sehr feinsinnige Kunstfreunde, die
durchaus nicht allem Neuen abhold sind, und
dennoch den neueren Bestrebungen in der Malerei
scharf ablehnend gegenüber stehen.
.Man kann das wohl begreifen, denn was bis
jetzt an Resultaten vorliegt, ist zwar reich an
einzelnen guten Ansätzen, aber das meiste Gute
erstickt fast im üppigen Unkraut abstruser Ge‐
bilde, deren wilde Geste oder idiotenhafte, naiv
sein wollende Grimasse wahrlich jedem geläu‐
terten Geschmack ein gelindes Grausen abnötigen
muß.
.Es geht eben hier wie überall: ‒ wer Kultur
werte schaffen will, muß selbst ein gerüttelt Maß
hoher Kultur in sich tragen, und die, von denen
man solches behaupten darf, sind und waren zu
allen Zeiten selten.
.Wenn aber die wirklich wertvollen Stilele‐
mente, die bereits da und dort zu ersehen sind,
zu einem neuen Stil in der Malerei ausreifen
sollen, dann darf der Kunstfreund, für den doch
alle Kunst geschaffen wird, trotz aller wohlbe‐
183 Das Reich der Kunst
gründeten Abneigung gegen das mitunterlaufende
Chaotische, seine Mitarbeit nicht versagen.
.Diese Mitarbeit aber verlangt in erster Linie
eine vorurteilslose, willige Einstellung des eigenen
Einfühlungsvermögens gegenüber den neuen,
und auf den ersten Blick befremdenden Formen.
.Man darf sich, will man zu einem sicheren
Urteil kommen, nicht selbst den Weg dazu ver‐
sperren durch theoretische Erwägungen, die von
ganz andersartigen Strebensäußerungen im
Reiche der Kunst ihre Sanktion empfangen.
.Unsagbar viel ist zu allen Zeiten darüber ge‐
schrieben worden, was die Malerei als höchste
Kunst sein „soll”, sein „kann” und sein „darf”.
.Künstler stellten die Forderungen, die ihr
eigner Genius an sie stellte, als allgemein
gültige Normen auf, und gelehrte Kunstfreunde
suchten das, was sie selbst am stärksten beein‐
druckte, mit allem psychologischen und philoso‐
phischen Apparat emporzuschrauben, damit es
den kommenden Zeiten als hohes Vorbild leuchte.
.Aber das Schaffen-„Müssen” echter Künstler
spottet aller gutgemeinten Ermahnungen, spottet
des grimmigsten Tadels und der überschwäng‐
lichsten Lobeserhebung, weil jeder wirklich be‐
rufene, starke Künstler, allen Theorien entrückt,
184 Das Reich der Kunst
stets wieder nur nach den ihm innewohnenden
Gesetzen allein gestalten kann.
.Sein Werk dient dann vielleicht zum Aus‐
gangspunkt für eine neue Theorie, die ebenso‐
wenig auf allgemeine Gültigkeit Anspruch hat,
wie die früheren Theorien.
.Selten nur macht sich der Kunstfreund klar,
welcher Kunsttheorie seine Liebe zur Kunst und
sein Urteil unterworfen ist.
.In den meisten Fällen sind seine Kunstfor‐
derungen hergeleitet von einem Sammelbecken
aller erdenklichen Kunst-Theorien, die im
Laufe der Jahrhunderte entstanden, und deren
tatsächliche Befolgung durch schaffende Künst‐
ler stets nur eine matte und kraftlose Epigonen‐
kunst zutage förderte.
.Er hat vielleicht viele große Museen alter
Kunst durchwandert, viele der modernen Aus‐
stellungen gesehen, und allerhand kunstgeschicht‐
liche Studien hinter sich, so daß er sich nur allzu‐
gerne ein gewisses „Kunstverständnis” zutraut,
und es auch, vielleicht, in gewissem Maße besitzt.
.Nun ist aber Kunst etwas Lebendiges, etwas,
das in stetem Wandel seiner Formen begriffen
ist, so daß man, auf das bekannte Wort Nietzsches
anspielend, wohl sagen könnte: „Nur wer sich
185 Das Reich der Kunst
wandelt, ist mit ihr verwandt”: ‒ nur wer sich
in seinem Einfühlungsvermögen stets wandlungs‐
fähig zu erhalten weiß, tritt in ein inneres,
lebendiges Verhältnis zur Kunst.
.Der in seine, ihm von außen her überkommene
Kunst-Theorie verrannte Eigensinnige wird es
dagegen dulden müssen, daß die Kunst lächelnd
ihre Bahn weiter schreitet, ob er sie nun erken‐
nen mag oder nicht.
.Das Gebiet der freien Kunst läßt sich nicht
mit Staketenzäunen abgrenzen, und seine Straßen
sperren keine Schlagbäume.
.Die sich vermessentlich berufen dünkten, seine
Ausdehnung bestimmen zu dürfen, glaubten
noch zu allen Zeiten, die Kunst überschreite
ihr eigenes Gebiet, wenn sie sich nicht an
jene Grenzlinien kehrte, die diese Neunmalklugen
ihr fürsorglich gezogen hatten.
.So spricht man denn auch jetzt noch, gelassen
und von keinem Zweifel beirrt, zuweilen den
Satz aus, das Bestreben der neueren Malerei sei
„eine Überschreitung der Grenzen” dieser Kunst.
.Wenn man aber auch wahrlich nicht in Ver‐
legenheit gerät, sobald man ernstlich nach kriti‐
schen Waffen sucht, um die heute allerwege aller
neueste Malerei zu bekämpfen, wenn auch
186 Das Reich der Kunst
Expressionismus und Kubismus keineswegs so
unangreifbar sind, wie ihre Anhänger in schöner
Begeisterung glauben, so ist doch gerade der Vor‐
wurf der „Grenzüberschreitung” diesen Rich‐
tungen gegenüber eine recht ungeeignete Waffe,
denn sie fliegt unfehlbar zurück wie ein Bume‐
rang, aber durchaus nicht in die Hände dessen,
der sie geworfen hat.
.Abgesehen davon, daß man nur im Banne
einer bestimmten Ästhetik diesen Vorwurf als
Tadel auffassen kann, daß er aber ebensowohl,
‒ ich erinnere hier nur an die Entwicklung der
Musik seit Beethoven, ‒ von anderem Stand‐
punkt her gesehen, höchstes Lob in sich schließt,
ist ja gerade die puritanisch strengste Selbstbe‐
schränkung auf das allerengste Gebiet maleri‐
scher Ausdrucksmittel, das Kennzeichen der
neueren Malerei.
.Gerade weil sie in der bisherigen Auffassung
der Kunst des Malens eine Menge von Kunst‐
mitteln in Anwendung sahen, die im allerstreng
sten Sinne nicht mehr den Wirkungsmitteln
zuzurechnen sind, über die nur der Maler allein
verfügt, sehen sich ja die Neueren veranlaßt, nach
Wegen zu suchen, auf denen sie sich, im engsten
Gebiet ihrer Kunst bleibend, dennoch aussprechen
können.
187 Das Reich der Kunst
.Sie erstreben ja nichts Geringeres, als die
absolute Malerei” zu schaffen: ‒ ihr Bild soll
ein Gebilde sein, frei von jeder Tendenz der
Naturnachahmung, soll nur durch sich selbst,
durch seine freien Farben und Formen, zu der
Seele des Betrachters sprechen.
.Man kann die Grenzen der Malerei schlecht‐
hin nicht enger ziehen, denn die Kunstmittel,
mit denen es die Malerei unter allen Künst‐
lern allein zu tun hat, sind verschieden ge
formte Farbflecken, die, wenn das Gebilde
überhaupt zur Kunst zu zählen sein soll, in ge‐
wisse rhythmische Verhältnisse zueinander
gebracht werden müssen.
.Daß man diese Farbflecken auch so gestalten
kann, daß durch ihre Anordnung auf der Netz‐
haut des beschauenden Auges ähnliche Eindrücke
hervorgerufen werden, wie wir sie vom Sehen
der Dinge in der Außenwelt her gewohnt sind,
ist eine Sache für sich, und gehört in das Gebiet
der möglichen Anwendungsarten der primä‐
ren Kunstmittel des Malers.
.Schließlich kann man ja auch Farbflecken
ohne jede Gesetzmäßigkeit nebeneinandersetzen,
oder ihre Anordnung, wie bei gewissen Batik‐
stoffen, dem Zufall überlassen und nur durch ge‐
schmackvolle Auswahl der Farbtöne nachhelfen.
188 Das Reich der Kunst
.Den allerstrengsten Vertretern gewisser
neueren Richtungen in der Malerei erscheint nun
jede Anwendungsart der primären Mittel des
Malers „unrein” und kunsthemmend, bei der das
Endresultat noch etwas anderes aussagen will,
als was sich allein durch die rhythmische Ver‐
teilung und gegenseitige Beziehung der Farb‐
flecken und ihrer Formen aussagen läßt.
.Die weniger strengen lassen wohl Reminiszen‐
zen an die Dinge der greifbaren Welt noch zu,
jedoch nur in einer Umformung, die aus den
Gesetzen der primären Mittel und ihrer Aus‐
drucksfähigkeiten an sich hergeleitet wird.
.Es liegt eine zwingende Logik in diesen Rei‐
nigungsbestrebungen, mag man die Art, wie sie
der Einzelne auffaßt, erfreulich finden oder nicht,
und dieser Logik unterliegen die meisten der
jungen Maler unserer Tage, so daß sie sich scharen‐
weise den neuen Richtungen zuwenden.
.Diese Reformer sind es, die von ihrem
Standpunkt aus mit vollem Recht fast aller seit‐
herigen Malerei „Grenzüberschreitung” vorwerfen
können!
.Demgegenüber bleibt nun aber die Frage
offen, ob wir uns nicht eines unschätzbaren Reich‐
tums in freiwilliger Askese begeben, wenn wir
189 Das Reich der Kunst
auf allen Sinnenreiz der Außenwelt verzich
ten, und, uns nur in den engen Grenzen der
ureigensten Mittel einer Kunst bewegend, nichts
als lediglich abstrakt formalen Ausdruck geben
wollen?
.Sollen wir uns denn wirklich nur auf ein
Gestikulieren und auf eine Kunst, die nur das
aussprechen kann, was ihre Mittel an sich schon
erschöpfen, beschränken, oder wird es nicht höher
führen, wenn wir unsere Mittel dazu erziehen,
uns in allen ihren möglichen Anwendungsarten
zu dienen, auch wenn strengstens dabei ver‐
mieden werden muß, sie zu vergewaltigen?
.Ist es dem Maler möglich, seine primären
Mittel: die verschieden geformten Farbflecken,
in rhythmische Beziehung zu setzen, was das
erste Grunderfordernis des Kunstwerkes aus‐
macht, und kann er, ohne diese rhythmische
Gestaltung zu gefährden, darüber hinaus auch
andere Saiten in der Seele des Beschauers durch
subtilere Verwendung seiner Mittel zum Erklin‐
gen bringen, so ruft er zweifellos eine Verstär
kung des Erlebens wach, ohne den zugewiesenen
Bereich seiner Kunstmittel verlassen zu müssen,
und ohne Anleihen in fremdem Gebiet.
.Die Mitwirkung dieser, nicht mit den pri
mären Mitteln seiner Kunst erreichbaren Vor‐
190 Das Reich der Kunst
stellungen darf nur nicht auf Kosten der Kunst
gestaltung, durch ein Umgehen ihrer Gesetze,
erschlichen werden, darf nicht etwa nur dazu
dienen, das mangelhafte Beherrschen der primä‐
ren Mittel zu verschleiern.
.Jedes wahre Kunstwerk entsteht in einem
seelischen Zentrum, in dem durchaus keine scharfe
Scheidung der einzelnen Kunstarten getroffen ist.
.Erst zur Mitteilung bedarf der Künstler ge‐
sonderter Mittel in der Außenwelt.
.Der Ring aber schließt sich, indem das so
entstandene Werk vom Genießenden wieder in
dem gleichen seelischen Zentrum empfunden
wird, aus dem es in der Seele des Schaffenden
hervorging.
.So dürfte also der eigentliche bleibende Wert,
den die neueren Bestrebungen auf dem Gebiete
der Malerei zu erlangen fähig sind, nicht dort
liegen, wo ihn die Verfechter dieser Bestrebungen
suchen.
.Was diese Künstler, soweit es sich um be‐
rufene Schöpfer handelt, mit elementarer Gewalt
in neue Bahnen zwingt, ist nichts anderes als
jene Urgewalt der Seele, die sich uns, in dafür
eigens geschaffenen Gebilden, als Kunst offen‐
baren will, aber die im Laufe der Jahrhunderte
191 Das Reich der Kunst
erwachsenen Darstellungsformen durch allzu große
Überfeinerung kraftlos geworden findet, und sie
nun zurückschneidet, wenn es sein muß, bis auf
den Stamm, damit neue, kräftigere Äste, vollere
Blüten und reichere Früchte sich bilden können.
.Wir haben also von den neueren Richtungen
in der Malerei zwar keine neue Kunst, wohl
aber reinere und stärkere Ausdrucksmittel zu
erwarten, und weiterhin neue Symbole, die man
zwar erst deuten lernen muß, die aber weit über
den engen Bezirk der primären Mittel der Male‐
rei hinausführen werden, als Bildzeichen der
Seele.
.Man rede uns daher nicht ein, daß ein vom
Gärtner zurückgeschnittener Obstbaum der In‐
begriff aller Schönheit sei, aber man werte diesen
Baum auch deshalb nicht etwa gering, sondern
warte erst die Entwicklung seiner neuen, stär‐
keren Triebe ab, warte, bis der Frühling Blüten
bringt und der Sommer schließlich reife Früchte
zeitigt!
192 Das Reich der Kunst
Primitive
Kunst und Archaismus
.Wenn man die Anfänge bildnerischen Ge‐
staltens bei Naturvölkern und in den Malereien
der Urzeitmenschen betrachtet, lassen sich sehr
verschiedene Impulse feststellen, die solches
Schaffen bewirkten.
.Fraglos verdanken die bewegten Darstellun‐
gen der Tierwelt, die den Urzeitmenschen um‐
gab, wie auch die lebendigen Buschmann-Zeich‐
nungen, rein künstlerisch der Freude am Wieder
gebenkönnen der Augeneindrücke ihr Da‐
sein, auch wenn es daneben ihr Nützlichkeits‐
zweck war, über die dargestellten Tiere einen
Jagdzauber auszusprechen, während die Malereien
an einem Fetisch-Tempel im Urwald als reinste
Ausdruckskunst anzusehen sind.
.Wie hoch sich auch die Kunstübung der Kul
turvölker über die genannten primitiven
Kunstleistungen erheben mag, so lassen sich
dennoch diese beiden Hauptimpulse künstleri‐
schen Schaffens immer wieder feststellen, bis
auf den heutigen Tag.
195 Das Reich der Kunst
.Man hat die bildende Kunst gar oft auf ein
Schmuckbedürfnis zurückzuführen gesucht
und es scheint tatsächlich, als ob der Wunsch,
sich selbst oder einen Gegenstand, ein Bauwerk,
mit Schmuck zu versehen, vielfach der erste
Anlaß zu künstlerischer Betätigung gewesen
sei, aber wir gehen zweifellos fehl, wenn wir in
diesem Schmuckbedürfnis auch die innere Ur
sache zu sehen vermeinen, die den Menschen
auf die Bahn des Gestaltens in Form und Farbe
führte. Zwar geht sicherlich das Schmuckbe‐
dürfnis mit den bereits genannten Impulsen
vielfach Hand in Hand, aber es ist nicht, für
sich betrachtet, Ursache künstlerischer Ge‐
staltung, auch nicht in deren primitivster Form.
.Es Iäßt sich überdies die Frage aufwerfen,
ob der primitive Mensch jemals ein reines
Schmuckbedürfnis ohne symbolische Beiwerte
empfand?
.Ich glaube diese Frage verneinen zu dürfen
und möchte eher behaupten, daß jeglicher
Schmuck des primitiven Menschen für ihn einen
symbolischen Wert besitzt. Sobald dann der
Kunsttrieb in Erscheinung tritt, um das Schmuck‐
bedürfnis auf eine höhere Stufe zu erheben, dient
er in irgend einer Weise zur Ausdeutung sym‐
bolischer Werte, wird er Ausdruckskunst: „Ex
196 Das Reich der Kunst
pressionismus”, ‒ oder aber, er benützt den
zu schmückenden Gegenstand lediglich als Folie,
als Unterlage, um seiner Darstellungsfreude zu
genügen: um als reiner „Impressionismus” die
Wiedergabe des Augeneindrucks zu versuchen.
.Expressionismus tritt immer als eine Art
Geheimsprache auf.
.Wir können die seltsame Ornamentik ma‐
layischer oder afrikanischer Fetischtempel nie‐
mals recht verstehen, wenn wir nicht wissen,
welcher Gefühlswert sich für den Menschen
dieser primitiven Kulturkreise mit den einzelnen
Formen und Farben verbindet.
.Auch unser Expressionismus, soweit er ech‐
tem Empfinden entstammt, strebt einer solchen
„Geheimsprache” zu, nur fehlt ihm die sichere
Tradition primitiver Völkerschaften, die einheit‐
liche Gebundenheit durch allgemein verbreitete
Glaubensform, so daß die Gefahr besteht, eine
babylonische Kunstsprachen-Verwirrung
statt einer hieratischen Sprache zu erreichen.
.Im Gegensatz zum expressionistischen Kunst‐
Impuls liegt es dem Impuls zum Impressio
nismus völlig fern, Unsagbares sagen, Urgefühle
aufregen und Geheimnisse der Seele deuten zu
wollen.
197 Das Reich der Kunst
.Der Urzeitmensch, wie der afrikanische Busch‐
mann, ist bei seiner Wiedergabe bewegten Le‐
bens von keinem anderen Trieb beherrscht, wie
der moderne Impressionist, den seine Freude
an der bewegten Erscheinung mit so viel voll‐
kommeneren Mitteln und unvergleichlich größe‐
rem technischen Können zur Darstellung sei‐
nes Augeneindrucks führt, mag auch dem primi‐
tiven Menschen schon jedes Darstellenkönnen
an sich wie die Ausübung einer magischen
Kunst erscheinen.
.Aus dieser kurzen Betrachtung ergibt sich,
daß wir im Grunde alle menschliche Kunstübung
auf expressionistische und impressioni
stische Impulse zurückführen können, ‒ beide
Worte freilich nicht in dem engen Sinne ver‐
standen, der ihnen durch neuere und aller‐
neueste Künstlergruppen zuteil wurde, ‒ und
daß beide Impulse im menschlichen Kunst‐
schaffen am Werk waren von Urzeittagen an.
.Es wird auch in Zukunft nicht anders sein,
und damit erübrigt sich der Streit, welcher
der beiden Impulse der wertvollere sei, denn
beide entstammen der gleichen Urtiefe der
Menschenseele.
.Wohl mag Jahrhunderte lang der eine Im‐
198 Das Reich der Kunst
puls im kunstbegabten Menschen stärker zur
Auswirkung kommen als der andere, wohl mö‐
gen gewisse Kulturströmungen dem Impressio
nismus, andere wieder dem Expressionis
mus günstig sein, doch niemals wird einer der
beiden Kunst-Impulse völlig verschwinden, und
dem aufmerksamen Beobachter zeigt sich das
Wirken beider zu allen Zeiten, auch wenn
es auf den ersten Blick scheinen möchte, als sei
nur der eine vorhanden gewesen.
.Eine verhängnisvolle Verirrung aber ist es,
wenn nun moderne Künstler, in denen der ex
pressionistische Impuls wieder stark nach Ge‐
staltung drängt, ihre Anregungen bei der Kunst‐
übung primitiver Völkerschaften holen zu
müssen meinen, oder deren Werke gar als Eides‐
helfer heranziehen, um eigene abstruse Gebilde
zu rechtfertigen.
.Es gibt bekanntlich moderne Künstler, deren
höchstes Ausdrucks-Ideal in der Negerplastik
oder in gewissen Malereien der Südseeinsu
laner sich noch übertroffen fühlt.
.Wenn nun ein derartiger Künstler es glück‐
lich soweit gebracht hat, daß sein Werk, dem
äußeren Anschein nach, seinem Kunstideal an‐
nähernd entspricht, dann hat er nichts anderes
199 Das Reich der Kunst
getan, als ein Geldfälscher, der eine Banknote
schlecht nachmacht. Er frage einmal einen
jener primitiven Menschen des Urwaldes und
der Koralleninseln, ob dieser sein Gebilde etwa
für echt nimmt, ob er es verstehen kann,
was doch der Fall sein müßte, wenn das, was
der moderne Europäer der Kunstsprache des
Primitiven willkürlich entlehnt hat, wirklich die
Elemente einer, dem nicht durch moderne
Kunstüberfeinerung verdorbenen Menschen ei‐
genen Ausdruckssprache in sich enthielte.
.Dem primitiven Menschen ist seine Kunst‐
sprache etwas genau Bestimmtes, und er würde
in dem Werk des Europäers nur Willkür sehen,
während ihm das schlechteste Kunstdruckbild‐
chen wenigstens verständlich bleibt. Ich weiß
von einer Erfahrung dieser Art, die mir sehr zu
denken gab.
.Will der moderne Künstler, der von expres
sionistischen Impulsen ausgeht, wirklich Wert‐
volles schaffen, dann darf er nicht die Balken‐
kontur malayischer Malereien oder die plump
dekorative Roheit afrikanischer Götzenbilder als
Vorbild seiner Kunstsprache wählen, sondern
muß sich eine Ausdrucksform schaffen, die un
serer europäischen Kultur entspricht, wie
zu allen Zeiten die expressionistische Kunstbe‐
200 Das Reich der Kunst
tätigung dem künstlerischen Status der Zeit ent‐
sprach.
.Archaistische Tendenzen zeigten noch immer
Zeiten des Niederganges an, besiegelten den Ver
fall der Kunst.
.Man kann aber mit seinen archaisierenden
Stilübungen gewiß nicht gut weiter gehen, als
wenn man glaubt, hohe Kunstwerke zu schaffen,
indem man die primitiven Kunstäußerungen der
Urwald- und Höhlenmenschen im Stil zu imi‐
tieren versucht, wie das viele der als „Expres‐
sionisten” heute auftretenden Künstler tun, wäh‐
rend gleichzeitig allerdings auch zugleich expres‐
sionistische Werke entstehen, die erhoffen lassen,
daß ihre Urheber den Weg zur Kunst, wie sie
allezeit war und sein wird, wiederfinden werden.
.Die Verirrungen neuerer Künstler ins Archa‐
ische und Exotische sind nicht etwa, wie man
irrigerweise annehmen könnte, vom expressioni‐
stischen Impuls, sondern nur von einem Miß‐
brauch ihrer eigenen ‒ von diesen Künstlern
selbst geschaffenen ‒ expressionistischen Dar‐
stellungs-Methode ausgegangen!
.Es ist die Überschätzung der expressionisti‐
schen Methode durch die dem expressionisti‐
schen Impuls ergebene Künstlerschaft, die den
201 Das Reich der Kunst
verirrten Schaffenden in eine Art Selbsthypnose
zwingt, und ihn dann glauben läßt: das, was er
zum Ausdruck zu bringen habe, könne nur in
der Weise primitivster Kunstausübung zur rech‐
ten Darstellung gebracht werden.
.Die wirklichen „Primitiven” aber, die er
aus solcher Verwirrung seiner Einsicht heraus
nachahmt, würden nur kindische Unbeholfen
heit in seinem Werke ausgedrückt finden.
202 Das Reich der Kunst
Kunst und Artistentum
.Als Cimabues Madonnenbild im Triumph‐
zug aus seiner Werkstatt geholt und durch Florenz
getragen wurde, bevor es an seinen Bestimmungs‐
ort kam, konnte keinen Augenblick in dem Künst‐
ler ein Zweifel nisten, für wen er eigentlich sein
Werk geschaffen habe.
.Wohl lag auch ihm an der Bewunderung, die
ihm seine Berufsgenossen zollten, aber in
erster Linie wußte er, daß er sein Werk dem
Volke gab. Allen denen, die es sehen konnten,
wollte er Bewunderung entlocken.
.Die Maler späterer Tage sind weniger an‐
spruchsvoll geworden.
.Als Böcklin einst ein Heft der damals neu‐
gegründeten Zeitschrift: „Kunst für Alle” sah,
ärgerte er sich an dem Titel, weil es eine Kunst
für alle nicht geben könne, und Cézanne sprach
es unverhohlen aus, daß Kunst nur immer eine
Angelegenheit sehr weniger Menschen sei.
.Böcklins Stellungnahme muß heute Verwun‐
derung erregen, denn seine Kunst will uns
205 Das Reich der Kunst
Heutigen so verständlich erscheinen, daß sie wirk‐
lich die Charakterisierung als eine Kunst „für
alle” vertragen könnte.
.Weniger verwunderlich ist uns die Auffassung
des französischen Malers, denn so hoch er auch
heute gefeiert werden mag, nachdem er sein
Leben in relativer Armut verbrachte, so sind es
verhältnismäßig doch nur sehr wenige, die seine
Kunst gebührend zu schätzen wissen. Gleich
ihm aber gibt es heute eine große Anzahl von
Künstlern, deren Werke nur von sehr wenigen
verstanden werden, weil ‒ sie eben nur für
sehr wenige ihre Bilder und Statuen schaffen.
.Wie frei der Künstler auch an die Gestaltung
seines Werkes herantreten mag, immer steht ein
idealer Auftraggeber vor seinem Geiste, mag er
auch dessen irdische Personifikation nur in seiner
eigenen Persönlichkeit finden. Es ist natur‐
gemäß, daß er für andere Augen schafft, auch
wenn nur er selbst, als Betrachtender, vor
seinem fertigen Werke diese „anderen Augen”
repräsentiert.
.Die Künstler früherer Tage wollten ganz
bewußt, daß ihr Werk von allen verstanden
würde, und sie fanden darum in sich die Auf‐
gabe gestellt, ihr inneres Müssen, den überintel‐
lektuellen Trieb zum künstlerischen Schaffen, in
206 Das Reich der Kunst
Einklang zu bringen mit den Erfordernissen, die
das allgemeine Verständnis heischte.
.Wer aber wollte behaupten, daß Phidias der
Menge „unkünstlerische Konzessionen” gemacht
habe, oder daß Giotto auf die von ihm er‐
kannten Kunstgesetze nicht geachtet hätte, nur
um der Masse zu gefallen, ‒ und doch sind die
Werke der alten Kunst durchweg selbst dem in
Kunstdingen Ungebildetsten verständlich,
wenn sie auch das, was ihre höchste Schön
heit ausmacht, erst einem reichentwickelten
Kunstgefühl offenbaren.
.Die Künstler neuerer Zeit hingegen haben
sich immer mehr und mehr Sonderinteressen zu‐
gewandt: Darstellungsproblemen, die zwar im
Bereich der Werkstatt sehr „interessant
bleiben, die aber niemals das echte Interesse der
Allgemeinheit finden können, eben weil es
sich nur um Experimente handelt, deren Wert
bestenfalls nur in der eigenen Förderung
des Künstlers liegt. Ich stehe nicht an zu be‐
haupten, daß drei Viertel (wenn nicht mehr)
unserer ganzen heutigen Kunstproduktion aus
solchen Werkstatt-Experimenten besteht, denn
die Künstler haben das Interesse, das man diesen
Studienmitteln entgegenbrachte, derart zu ihrem
eigenen Schaden umgedeutet, daß sie zumeist
207 Das Reich der Kunst
gar nicht mehr über das Experiment hinaus
wollen. Es genügt ihnen um den Schaffenstrieb
oberflächlich zu befriedigen, und sie verlangen
nun von ihren Zeitgenossen, daß sie mit dem
Gegebenen sich abfinden und darin die höchste
Leistung der Künstler sehen sollen.
.Daß hier eine grenzenlose Verirrung vorliegt,
wird nur dem nicht klar, der bereits bis zum
Rausch von den Weihrauchwolken umnebelt ist,
die durch zahllose, selbst in tiefer Hypnose
redende Wortführer dieser Experimentier-Me‐
thode, der neueren Kunst dargebracht werden.
.Die Sammelnamen für die neueren Kunst‐
bestrebungen besagen nichts Zwingendes, denn
jede „Richtung” teilt sich wieder in zahllose
Unter- und Seitenrichtungen, weil das Experi
ment, auf dem alles ruht, bis ins Unendliche
variabel ist. In jedem Künstler kann es andere
Formen finden, und doch macht jeder im Grunde
das Gleiche, so daß für den Beschauer, der ein‐
mal über das erste Sensationsgefühl hinaus ge‐
langte, nichts Langweiligeres existiert, als die
Ausstellungen dieser allezeit Aller-Modernsten,
die jetzt in allen Kunstzentren haufenweise zu
sehen sind.
.In einzelnen solcher Arbeiten finden sich hie
und da noch Spuren einer fast gewaltsam be‐
208 Das Reich der Kunst
haupteten Individualität Einzelner, aber bei den
meisten Werken könnte man ruhig die Namen
vertauschen, denn es handelt sich ja kaum mehr
um Schaffensprodukte bestimmter Persönlich
keiten, sondern nur um Mitarbeit an den Be‐
strebungen eines Kollektivwillens zum bloßen
Experiment.
.Als Durchgangs-Phase könnte dieses Aus‐
toben in Experimenten den Künstlern gewiß
von Nutzen sein, denn sie lernen dadurch die
unendlichen Möglichkeiten kennen, die ihnen
ihr Ausdrucksmaterial bietet, aber der Leid‐
tragende bei der heutigen Verhimmelung der‐
artigen Tuns wird der in die Hypnose mitgeris‐
sene Kunstfreund, der Käufer, bis er ent‐
weder selbst eines Tages zur Einsicht kommt,
daß er Werkstatt-Experimente teuer bezahlte, wo
er höchste Kunst zu erwerben vermeinte, oder
bis seine enttäuschten Erben einst die betrübliche
Entdeckung machen müssen, daß kein Mensch
mehr auch nur ein Zehntel der einst gezahlten
Summen für diese Kuriosa geben mag.
.Kunst ist und bleibt, trotz andersartiger Auf‐
fassung Einzelner, eine Sache der seelischen
Gemeinsamkeit.
.Aus dem allgemeinen Fond an Kultur eines
209 Das Reich der Kunst
Volkes, eines Landes, einer Stadt selbst, zieht
sie ihre Nahrung, und rückwirkend beeinflußt,
hebt und fördert sie wieder diese Kultur, oder
drückt sie hinab ins Banale und Gemeine.
.Im wünschenswerten günstigen Falle be‐
deutet das Kunstschaffen einer Zeit eine Wert
steigerung der aus der Gesamtkultur gezogenen
geistigen Kräfte, wie es zur Zeit der alten Grie‐
chen, zur Zeit der Renaissance in Italien war,
‒ im ungünstigen Falle aber, und der liegt
im großen und ganzen heute vor, bedeutet die
künstlerische Produktion geradezu eine Vernich‐
tung geistiger Werte.
.Wer daran zweifelt, der lese die exaltierten
Ergüsse moderner Kunst-Snobs, allwo sie vor
Negerplastik und vor Malereien, die tief unter
der Malerei der Urzeitmenschen stehen, einen
wahren Veitstanz der Begeisterung aufführen,
während sie deutlich zu verstehen geben, daß
die göttlichen Werte höchster Kunst ihrem per‐
versen Empfinden längst nicht mehr zugänglich
sind.
.Es gibt kein Mittel, gegen diese Verirrungen
anzukämpfen, als das eine, daß sich der Kunst‐
freund wach erhält, sich ganz entschieden wei
gert, der heutigen Kollektiv-Hypnose auf künst‐
lerischem Gebiet zu verfallen, trotz all der Flut
210 Das Reich der Kunst
neuer Bücher und Zeitschriften, die ihn einen
„Banausen” schelten, wenn er nicht schleunigst
sich bekehre und zu den neuen Göttern bete.
.Wir müssen wieder zu einer Kunst kommen,
die wirklich eine Kunst für alle ist.
.Kunst muß wieder Angelegenheit des
ganzen Volkes werden.
.Freilich nicht in dem Sinne, daß sie ihre
heiligen Gesetze verleugnet, um dem Unge‐
schmack der Menge zu gefallen, denn eine so‐
genannte „Kunst” dieser Art, die sich ja leider
noch an allen Straßenecken breit macht, ist viel
verwerflicher als selbst die zum Ideal erhobene
Hottentottenkunst.
.Die Kunst, die wir brauchen, muß aus dem
Besten schöpfen, was in der Volksgemeinschaft
lebt, und dieses Beste dem Volke in geläuterter
künstlerischer Form darbieten, als Spiegel seiner
Seele.
.Experimente gehören in die Werkstatt des
Künstlers, und wenn er sie schon zeigt, sollen
sie auch als Experimente, und nur als solche,
bezeichnet werden! Darüber hinaus aber brauchen
wir Werke, die wie in jeder großen Kunst- und
Kulturperiode allen verständlich sind, wenn
211 Das Reich der Kunst
auch immer nur die künstlerisch Gebildeten ihre
höchste Schönheit zu fassen vermögen.
.Was die marktschreierische Experimentier‐
kunst unserer Tage aber bei ihren Anhängern
finden will, ist nichts weniger als wirkliches
„Kunstverständnis”. Sie braucht nur halbzer‐
rüttete Nervenbündel, die sich widerstandslos
jeglicher Suggestion durch die brutalsten sinn‐
lichen Mittel unterwerfen.
.Ihre Anhänger gebärden sich, als ob sie allein
über das rechte Kunstverständnis verfügten, sie
schwatzen von der Befreiung des Geistes, wäh‐
rend sie vor Idolen knien, die ebenso tief unter
den erhabenen Werken vom Geiste erfüllter
Kunstperioden stehen, wie der Fetisch eines Wil‐
den tief unter dem Kultbild steht, das einst im
Parthenon Verehrung fand.
212 Das Reich der Kunst
„Dilettantenkunst”
.Das Wort „Dilettantismus” ist bei uns sehr
in Mißkredit gekommen. Man hört zum mindesten
lieber die Verdeutschung und spricht von „Lieb‐
haberkunst”. Aber „im Deutschen lügt man, wenn
man höflich ist”, und unsere deutsche Sprache
ist immerhin kräftig genug, um ein paar Fremd‐
worte vertragen zu können, die schlechthin
Begriffe bergen, mit denen sich das deutsche
Wort nicht deckt, wie das nun einmal bei
der Verdeutschung des Wortes „Dilettantismus”
der Fall ist.
.Liebhaberkunst” besagt mehr als „Dilettan‐
tismus”, denn „Liebhaberkunst” kann wirkliche
Kunst sein, ‒ nur wird mit dem Worte gesagt,
daß ihr Schöpfer nicht zu den Berufskünstlern
zählt, ‒ während es völlig ausgeschlossen ist,
daß das Werk eines „Dilettanten” jemals den Rang
eines wirklichen Kunstwerks beanspruchen darf.
.Ich habe mit Absicht diese Erörterung mit dem
Worte „Dilettantenkunst” überschrieben, nicht,
weil ich etwa hier von der „Kunst” reden will,
215 Das Reich der Kunst
die in dem Erzeugnis eines „Dilettanten” stecken
könne, sondern: ‒ weil ich diesem bösen Wort
den Garaus machen möchte.
.So wenig nun aber auch durch dilettantische
Betätigung jemals „Kunst” entstehen kann, so
sehr ist es Unrecht, allen „Dilettantismus” in
Bausch und Bogen geringschätzig anzusehen. Ver‐
werflich ist „Dilettantismus” lediglich dort, wo er
nicht hingehört, und man kann einem Berufs‐
künstler keinen schlimmeren Vorwurf machen,
als wenn man sagt, sein Werk sei „dilettantisch”.
.Man drückt damit aus, daß es als Kunstwerk
unzulänglich ist, daß es sich nur mit den glei‐
chen Handwerksmitteln hervorgebracht er‐
weist, mit denen man auch ein wahres Werk der
Kunst hätte schaffen können, daß es aber besten‐
falls nur Geschmack und Fleiß verrät, keineswegs
jedoch die spezifisch künstlerische Begabung.
.Das „dilettantische” Werk eines Berufskünst‐
lers wird jeder Kenner ablehnen, wohl aber
wird er unter Umständen seine Freude an dem
liebevollen Erzeugnis irgend eines „Dilettanten”
haben können.
.Das Erzeugnis des Dilettanten ist nur dann
schlecht, wenn es selbst unter der mäßigen
Begabungsgrenze bleibt, die überhaupt erst zu
216 Das Reich der Kunst
irgend einer dilettantischen Betätigung ein Recht
gibt, oder aber, ‒ wenn es zeigt, daß sich der
Dilettant gern als „Künstler” gewertet sehen
möchte, ‒ wodurch es auch als Dilettantismus
unzulänglich wird.
.Es gibt ganz reizende Dilettantenarbeiten aus
der Zeit unsrer Groß- und Urgroßeltern, und diese
gezeichneten oder aquarellierten Blättchen bilden
heute das Entzücken eines jeden Sammlers, so
wie sie auch damals schon allenthalben Freude
bereitet haben, und sehr sorglich in Ehren ge‐
halten wurden.
.Eine ganze Reihe von illustrativ begabten
Künstlern unserer Tage hat den eigenartigen Reiz
solcher preziösen Blättchen zum Ausgangspunkt
für einen oft recht ansprechenden Illustrations
Stil genommen. Wahrlich die beste Anerkennung,
die sich ein „Dilettant” nur wünschen kann!
.Ich bezweifle aber sehr, daß in hundert Jahren
kommende Illustratoren irgend etwas unter den
Erzeugnissen heutiger Dilettanten finden wer‐
den, das ihnen in irgend einer Hinsicht stilistische
Anregung geben könnte.
.In jenen alten, bedächtigeren Zeiten freute
man sich, wenn man etwas geschmackvoll Sinni‐
ges in zierlicher Art mit Bleistift aufzuzeichnen
217 Das Reich der Kunst
wußte, und wenn es hoch kam, suchte man mit
zarten Wasserfarben eine gewisse „Stimmung”
zu erzielen. Aber es gelang! Es wurde stets etwas
Rechtes draus, weil keiner dieser „Dilettanten”
sich heimlich für einen „Künstler” hielt, und
weil keiner etwas versuchte, was über seine
Kräfte hinausging.
.Zum Teil lag das auch an der damaligen
Kunst.
.Man sah viel zu deutlich, daß man es mit einem
„Künstler” nicht aufnehmen könne.
.Als dann später das Handwerk des Malers ro‐
bustere Züge annahm, als schließlich die pastose
„Prima”-Malerei, das Malen Naß in Naß, und in
einer skizzenhaften, mehr andeutenden als durch‐
führenden Art, in der Künstlerwelt Einzug hielt,
da glaubte der Dilettant nicht mehr recht Grund
zu haben zu seiner früheren Bescheidenheit. Die
Sache schien ihm „gar nicht so schwer”, er sah
nur das Alleräußerlichste, und so versuchte er
nun frischweg und mit einer durch keinerlei
künstlerische Bedenken gedämpften Courage „in
Öl” draufloszumalen und verlor auf diese Weise
jeden festen Halt, verlor das Beste, ‒ den guten
Geschmack.
.Aber muß das so bleiben?
218 Das Reich der Kunst
.Können wir nicht diesem Strom des Unrats
endlich Einhalt tun und den Tätigkeitstrieb des
Dilettanten wieder in gesunde, seiner Art gemäße
Bahnen lenken??
.Tun wir es nicht, dann bildet die eben er‐
keimende neue Sonderkunst seelischer Ausdrucks‐
werte für den Dilettanten eine neue Gefahr, die
nicht unterschätzt werden darf.
.Das rechte Material des Dilettanten, ‒ zumeist
dürfte ja die weibliche Form des Wortes in
betracht kommen, ‒ wird stets nur aus „Formen
und Farben” bestehen können, die er selbst
intensiv in seiner Umwelt erlebt.
.Alle Reminiszenzen an vorhandene Kunst
sind ihm gefährlich!
.Die Weite der Landschaft an einem Aussichts‐
punkt, der Feldstrauß, den er sich von einem
Ausflug mitbringt, die Innenräume seines Hauses,
und vielleicht auch, soweit Porträtbegabung vor‐
liegt, die Züge der Menschen, die ihm nahe und
vertraut sind, ‒ das sind die Gebiete, auf denen
ein gesunder, berechtigter und erfreulicher
Dilettantismus gedeihen kann.
.Will er sich dort, wo er selbst in der Dar‐
stellung nicht weiter weiß, einmal Rat und Hilfe
suchen, so bergen Museen und Sammlungen ge‐
nügend Material, an dem er lernen kann, wie
219 Das Reich der Kunst
etwas darzustellen ist, ‒ aber nur, wenn er sich
an Meister der allereinfachsten Darstellungs‐
arten halten will, wird er Ersprießliches nach
Hause bringen.
.Mit keinem Worte scharf genug zu brand‐
marken ist natürlich alles Malen oder Zeichnen
nach „Vorlagen”. Hier muß zuallererst gebro‐
chen werden! Der Dilettant, der etwas auf sich
hält, muß wissen, daß ein simpler Halm, den er
empfindend wiederzugeben weiß, hoch über der
farbenbuntesten „Vorlage” steht, die er in mühe‐
voller Arbeit nachzupinseln unternimmt.
.Das Wecken der Empfindungsfähigkeit
des Auges ist der höchste Zweck, den er ver‐
folgen muß.
.Wer so an Formen der Natur sein Auge
bildet, der wird auch für die Werte, die im Kunst
werk ruhen, sich empfänglich machen, und seine
Ehrfurcht vor der Kunst wird ihm verbieten,
jemals noch von Kunst zu reden, wo nur heiteres
Spiel in anmutfrohen Formen vorliegt, wenn das
Beste wurde, was der „Dilettant” zu geben hat.
220 Das Reich der Kunst
Die Kunst Raffaels
.Raffael von Urbino, geboren am 26. März
(Karfreitag) 1483 zu Urbino, gestorben am 6.
April (Karfreitag) 1520 zu Rom.” So überschreibt
der berühmte Maler-Biograph der Renaissance,
Giorgio Vasari, in seinem „Leben der Maler”
die Lebensbeschreibung Raffael Santis, und
er legt sichtlich Wert darauf, daß dieser, wie
eine Erscheinung aus einer Überwelt wirkende
Künstler-Genius, der nur ganze siebenunddreißig
Jahre auf dieser Erde lebte, geheimnisvollerweise
an einem Karfreitag sein Erdendasein begann
und an einem Karfreitag wieder von der Erde
genommen wurde.
.Für jene Zeit, in der die fortgeschrittensten
Geister die Mysterien der Astrologie zu ergrün‐
den suchten, konnte dieses seltsame Zusammen‐
treffen beider Tage kein „Zufall” sein, zumal
für ihre Anschauung alles, was am Karfreitag
geschah, von seiner geglaubten tiefen mystischen
Bedeutung im Hinblick auf das Geschick dieses,
unsres Planeten, erfüllt sein mußte.
.Die bezaubernde Wirkung der Erschei‐
nung Raffael Santis aus Urbino auf seine
223 Das Reich der Kunst
Zeitgenossen spiegelt sich in den Worten Vasa‐
ris, wenn er schreibt: „Gewiß kann man sagen:
wen so reiche Gaben schmücken, der sei nicht
nur schlechthin ein Mensch, sondern wenn der
Ausdruck erlaubt ist, ein sterblicher Gott zu
nennen”... „Niemals ging er zu Hofe (dem
Hofe der Päpste), ohne daß er, vom Ausgehen
aus seiner Wohnung an, ein Gefolge von fünfzig
Malern gehabt hätte, ‒ alles gute und tüchtige
Maler, ‒ die ihm das Ehrengeleite gaben; er
lebte überhaupt nicht als Maler, sondern als
Fürst.” Und Vasari wird nicht müde, die hin
reißende Liebenswürdigkeit, wie den Adel
dieser Seele zu betonen, die es jedem unmög‐
lich machten, in Raffaels Gegenwart auch nur
ein „ungeziemendes Wort” zu gebrauchen.
.Aber dieser bewunderungswürdige Mensch,
dieser unvergleichliche Künstler war zugleich
ein geborener Organisator, der es vorzüglich
verstand, alle die reichen Kräfte seiner Zeit dem
Werke dienstbar zu machen, das er der Welt
hinterlassen sollte.
.Die prachtliebenden Päpste Julius der Zweite
und Leo der Zehnte schaffen, in Bewunderung
gebannt, die nötigen Mittel und Gelegenhei
ten zur Betätigung seiner großen Kunst, seine
zahlreichen Schüler beugen sich willig seiner
Leitung, um den weit über die Kräfte eines
224 Das Reich der Kunst
Einzelnen umfangreichen Plänen ihres jungen
Meisters sichtbare Gestaltung zu verleihen, und
bis nach Griechenland schickt er seine Zeichner
aus, die ihm das Studienmaterial, dessen er be‐
darf, zu verschaffen haben. Unablässig ist er
bemüht, zu lernen und das Gelernte in seiner
Weise zu verwerten. Jede Quelle der Anregung
muß sich ihm erschließen.
.Man kannte zu jener Zeit in der Kunst noch
nicht das ängstliche Bestreben unserer Tage, das
jeden Künstler dazu zwingt, von allen, die vor
ihm schufen und neben ihm wirken, möglichst
weit abzurücken, damit man nur ja seiner
Originalität gewahr werde. Man wollte nicht,
gleich den Heutigen, das Einmaleins der Kunst
stets wieder von neuem erfinden.
.Bewußt des eigenen Wertes, stand man fest
auf den Schultern seiner Vorgänger, und es
wurde einem Künstler zum höchsten Ruhme
angerechnet, wenn er das Beste seiner Zeitge‐
nossen in sein Werk zu übernehmen verstand.
.Man kann nicht sagen, daß diese Art Gemein‐
samkeit in der Kunst ihr zum Schaden gereicht
hätte!
.Auch das Genie Raffaels war nicht „vom
Himmel gefallen”, und sein Biograph zählt mit
225 Das Reich der Kunst
Stolz die Namen aller derer auf, von denen er zu
lernen, denen er „nachzueifern” suchte, um sie
schließlich alle durch seine eigene Anmut und
Vollkommenheit zu übertreffen.
.Nur so aber konnte auch jene abgeklärte
Harmonie erstehen, die aus den Werken die‐
ses Künstlers strahlt, die sein eigenes Jahrhun‐
dert überstrahlte und die den Werken seines
Geistes jene göttergleiche Heiterkeit verleiht
für alle Zeiten, jene Heiterkeit, die ein kleines
und allzu erdgebundenes Geschlecht als „Leere”
und „Mangel an seelischer Tiefe” auszulegen
suchte.
.Doch darf man nicht etwa glauben, der Künst‐
ler, der in einer solchen Welt der idealen Schön‐
heit geistig heimisch war, sei erdenfern, der
Welt, die ihn umgab, entrückt gewesen! Er
stand mit beiden Füßen fest auf dieser Erde
Boden! Seine eigenen Briefe beweisen aufs
deutlichste, wie sehr er, ‒ darin seinem an ge‐
waltiger Kraft überlegenen Zeitgenossen Michel
agniolo Buonarotti nur allzu ähnlich, ‒ auch
den Wert des Geldes zu schätzen wußte, und
wie wichtig ihm seine glänzende Stellung,
seine äußeren Ehren waren.
.Allerdings strömten ihm Gold und Ehrungen
in so reichlicher Fülle zu, daß es ein Wunder
226 Das Reich der Kunst
gewesen wäre, hätte der Sohn eines armen klei‐
nen Malers aus der Provinz diese Anerkennung
seiner Begabung nicht mit hohem wertbewußtem
Stolz empfunden.
.Wenn man nun heute der Kunst Raffaels
gerechten Sinnes gegenübertreten will, ‒ nicht
viele wollen es! ‒ dann ist zuerst die üble
Wirkung jener grauenhaften Popularisierung zu
überwinden, die sein Werk im letzten Jahrhun‐
dert erfahren mußte. Vom Bierglasdeckel, der
die „Madonna della Sedia” profanierte bis hin‐
auf zu so manchem „raffaelesken” Kirchenbild
der alten Düsseldorfer Schule, war alles dazu
angetan, das Werk eines Unvergleichlichen zu
schänden, und das Auge für die wahre Schön‐
heit seiner originalen Bilder stumpf und un‐
empfänglich werden zu lassen.
.Es ging ihm hier mit seinen Madonnen,
wie es manchem der romanischen Komponisten
mit Opern-Melodien ergeht: man kann sie in
jenen Ländern nicht mehr unbefangen hören,
weil sie in jeder Gasse eine andere Drehorgel
in stets wieder neuer Verzerrung dem Fremdling
in die Ohren kreischt.
.Für viele der heutigen Menschen hat auch
der Zeitgeschmack ein reines und hingege‐
227 Das Reich der Kunst
benes Genießen raffaelischer Werke fast unmög‐
lich gemacht.
.Rembrandt sagt ihnen mehr, weil sie selbst
dem Leben nicht als souveräne Beherrscher,
sondern als ringende Beherrschte gegenüber
stehen und darum die allerwege mit dem Le
ben ringende Kunst Rembrandts tiefer be
greifen.
.Es wird einer kommenden Zeit vorbehalten
bleiben, jene überweltliche Region wieder
geistig zu erobern, aus der das Genie Raffaels
seine unsterblichen Intuitionen empfing, jene
göttliche Klarheit wieder empfinden und lie‐
ben zu lernen, in der seine Gestalten ein Dasein
über aller Erdenschwere führen, jene formgewor‐
dene Mathematik der Seele zu erfassen, die
in den Kompositionen dieses übermenschlich
klaren Geistes, dem zu ihrer Ergründung Be‐
fähigten, ihre tiefsten Geheimnisse enthüllt.
.Er strebte, wie die Antike, absoluter Voll
kommenheit zu. Er gab die abgerundete Ge
schlossenheit seiner innerlich geschauten Welt.
.Der Mensch der heutigen Zeit aber haßt
beinahe das „Vollkommene”, weil es ihm „un
wahr” erscheint, gegenüber der eigenen bruch
stückhaft empfundenen Natur.
228 Das Reich der Kunst
.Die Menschen der Renaissance waren gewiß
von Natur aus nicht anders als wir, aber ‒ sie
strebten über diese ihre Naturgegebenheit hin‐
aus, empor zu einer nur geahnten Höhe mensch‐
licher Größe und Kraft. Sie wollten mehr
sein, als sie „von Natur aus” waren, und so er
schufen sie sich selbst, wie wir sie staunend
und bewundernd in der Kunst ihrer Zeit ge‐
wahren.
.Was die Natur ihm mitgegeben hatte, war
dem Menschen jener Zeit nur rohes Material,
aus dem er selbst sich erst zum Kunstwerk
zu gestalten suchte.
.Wir aber sind genügsamer und auch ‒ be‐
quemer geworden. Wir sind schon froh, wenn
wir uns recht „natürlich” geben können, und
alle Form ist uns stets mehr und mehr ent‐
schwunden. Jedoch die unterdrückte Fähigkeit
zu formen, was der Form bedarf, läßt sich nicht
dauernd binden.
.So mag es leicht möglich sein, daß unsere
späten Enkel eine neue Renaissance erleben,
wie jene zu der Zeit der großen Päpste, und
daß dann die Vollkommenheit, nach der das
Leben damals strebte, mit neuer Kraft zum
Lebensideal erhoben wird. Dann wird aber ge‐
229 Das Reich der Kunst
rade die Kunst Raffaels den spätern Geschlech‐
tern wie ein hoher Meilenstein erscheinen, der
wie die Kunst der Antike, den Weg in die
Unendlichkeit bezeichnet, aber nicht den
Weg ins Chaos, ins „Grenzenlose”, den heute
noch die meisten gehen.
.Kunst ist Manifestation einer Weltan
schauung.
.Wir Heutigen aber leiden alle mehr oder
weniger an einer Weltbilderklärung, die das
Grenzenlose” als Axiom aufstellte und es
mit dem Unendlichen verwechselte.
.Wir müssen erkennen lernen, daß das Welt
bild der Renaissance, aus dem Raffael seinen
Formen-Kanon schuf, einem Wellenberge der
Entwicklung menschlichen Denkens sein Dasein
dankte, während wir, von der überragenden Ge‐
stalt Goethes in ihrer erhabensten Selbstdarstel‐
lung abgesehen, die letzten Jahrhunderte hindurch
in einem Wellental verharrten, so sehr wir auch
auf unseren „Fortschritt” pochten.
.Doch, endlich werden auch wir wieder auf
eine Wellen-Höhe gelangen, denn alle geistige
Entwicklung geht in stets belebten Krümmun
gen voran, und nicht in jener schnurgeraden‐
Linie, die sich die Apostel des „ewigen Fort‐
schritts” irrtümlich erträumten.
230 Das Reich der Kunst
.Wer Raffaels Kunst als Ausdruck einer
wahreren Erkenntnis, als es die unserer Zeit
ist, betrachten mag, wer erkennt, daß sie der
wirklichen geistigen Weltstruktur entspricht,
und wer dann von diesem Ewigkeits-Standpunkt
aus ein Originalwerk, wie etwa die von den
Kunst-Snobs so verächtlich gering geschätzte „Six
tinische Madonna” auf sich wirken läßt, der
wird vielleicht mit einiger Ergriffenheit in sich er‐
fahren, daß diese Größe, der in Anmut und Ge‐
schlossenheit sich selbst begrenzenden Kraft einer
Kunst ‒ Urewiges enthält, das leben bleiben
wird, wenn längst „Titanenkraft”, wie wir sie
heute so bedenklich höher schätzen, ‒ ‒ auf‐
gelöst in Götterdämmerung und Chaos-Nacht ver‐
sunken ist.
.Ihm wird vielleicht ein leises Ahnen eine Zeit
verkünden, die nicht Madonnen malen wird und
dennoch wieder auf den Bahnen dieses abge‐
klärten, harmonieerfüllten Überwelt-Be‐
reiches zu wandeln weiß, weil sie die Welt als
homogenes Ganzes faßt, wie sie in anderer
Form das frühere Geschlecht erfaßte, dessen
schönste Blüte „Raffael von Urbino” war.
231 Das Reich der Kunst
ENDE
GEISTIGE
RELATIONEN
Nebst einem Anhang:
REGISTER
der in den Büchern des Lehrwerkes enthaltenen
EINZELSTÜCKE
Verlagslogo
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
ZÜRICH
2. Auflage
©
Copyright 1967 by
Kober'sche Verlagsbuchhandlung AG Zürich
Alle Rechte vorbehalten
Offsetdruck: Jordi, Belp
INHALT Seite
Was gemeint ist 7
Zum Thema 15
Das erste Kapitel 21
Das andere Kapitel 57
Kapitel III 77
Anhang 93
Originalscan
WAS GEMEINT IST
.Es handelt sich um die rein geistigen
Beziehungen, die nur mich allein angehen.
Aber das einfühlende und die Erkenntnis
fördernde Miterleben ist auch Anderen
seelisch in hohem Grade erreichbar. Um es
den dazu Berechtigten möglich zu machen,
muß ich jedoch diese an sich verborgenen
Relationen: ‒ die realen und bewußtseins‐
gegenwärtigen „Beziehungen”, in denen ich
mitten im Irdischen zu allem Ewigen stehe,
den geistig zu ihrer Zeit „Erwachenden”,
denen allein meine Worte gelten sollen,
immer erneut aufweisen: ‒ immer erneut
für ihre und die Erdentage Kommender
präzisieren.
.Gewiß ist das auch mehrfach schon in
den Schriften meines geistigen Lehrwerkes
9 Geistige Relationen
geschehen ‒ zuweilen nur andeutungsweise,
zuweilen auch besonders deutlich das zu
Sagende bezeichnend ‒, aber vielen ist das
alles, wie ich immer wieder gewahre, ja
noch viel zu wenig, und wenn sie auch aner‐
kennenswerterweise ihre persönliche Frage‐
lust zur Not zurückzuhalten wissen, so tragen
sie doch sichtlich Sorge um jedes Wort, das
etwa in meinen Erdentagen über diese meine
Relationen zum Unvergänglichen von mir
noch mitgeteilt werden könnte.
.Sie sorgen sich wahrhaftig nicht um Über‐
flüssiges, denn nichts ist überflüssig, wo die
suchende Seele noch Not leidet in ihrem
Streben, sich selbst aus dem Geistigen her
durch sicherste Zeugenschaft über-zeugen
lassen zu wollen! Und wo fände sie siche
rere Bezeugung! ‒
.Es handelt sich aber nicht darum, mir
und meinen Worten zu „glauben”, oder
irgend etwas von mir Formuliertes, nur weil
10 Geistige Relationen
es von mir stammt, für „wahr” zu halten!
Auch muß es mir aus geistigen Gründen
gänzlich gleichgültig bleiben, ob man
das, was mein geistiges Lehrwerk ausmacht,
im Ganzen oder in seinen Teilen für eine
vertrauenswürdige Darstellung des geistig
Wirklichen hält oder für eine Ausgeburt
meiner Phantasie! Irrt man sich, so ist der
Irrende gewiß zu bedauern und zudem auch
allein an seinem schnellfertigen leicht ver‐
meidbaren Irren schuld! ‒ Für alles, was
ich jemals vor der Welt bekundet habe, trage
ich ewige Verantwortung, aber unmöglich
kann ich auch jeglichen Irrtum und jede
Fehldeutung verantworten, die ihre Stützen
aus meinen Worten erwachsen wähnen, oder
gar noch die so billig leichtfertige Meinung,
meine Worte seien wohl doch nur verstiegene
Ergüsse eines religiös gebundenen Lyrikers.
.Wenn ich hier wieder bezeuge, wie meine
eigenen Relationen zum Ursprung meines
urewigen geistigen Wesens, von dem mein
11 Geistige Relationen
irdisches Lebenswerk ‒ ja, mein bloßes Da‐
sein ‒ objektiv sicherstes Zeugnis gibt, tief‐
innerlich beschaffen sind, ‒ soweit das, trotz
aller Schwierigkeit, eine Darstellung davon
in Worten zu geben, möglich ist, ‒ so ge‐
schieht das auch, um wirklich nichts ver‐
säumt zu haben, was noch dazu dienen
könnte, aller irrigen Auslegung meines Lehr‐
werkes den letzten Scheingrund abzugraben.
.Wesentlich bestimmend für diese Nie‐
derschrift war mir jedoch die vorher er‐
wähnte Bereitschaft und Berechtigung der
für den Empfang meiner Lehrworte wirk
lich Auserlesenen: ‒ möglichst nahe mit
erleben zu wollen und zu können, was
mein geistiges, vom Erdenleib unabhängiges
und durch seinen Hinschied unberührbares
ewiges Leben ausmacht.
.Ich betrachte den Titel dieses Buches
jedoch keineswegs als einen selbstauferlegten
Zwang, von nichts anderem, als von meinen
12 Geistige Relationen
eigenen Relationen innerhalb der Struktur
des ewigen Geistes zu sprechen, sondern
werde, sowohl im Haupttext wie im Anhang,
ausdrücklich auch noch Anderes zur Sprache
bringen, was mir in Verbindung mit dem
zuvörderst zu Sagenden als erörterungs‐
bedürftig erscheint. Ich trage ja nicht Sorge,
literarischen Ehrgeiz zu befriedigen, son‐
dern: ‒ seelisch reifen Erdenmitmenschen
mitzuteilen, was ich allein mit ihnen
teilen kann, da ich es real und unum‐
schränkt als unendlichfältiges Ganzes be
sitze, das durch keine Weitergabe jemals
an sich vermindert wird oder für mich
gemindert werden könnte! ‒ Alles heute
im Äußeren so wichtig Erscheinende wird,
‒ viel eher als man vermuten möchte, ‒
zu Berichten aus längst überwundenen Zeiten
werden, während das, was durch meine
Schriften zu gleicher Zeit den Seelen dar‐
gebracht wurde, Unzähligen seelisch un‐
verlierbares Allgemeingut geworden sein
wird: ‒ ewige Befreiung aus Irrtum und
13 Geistige Relationen
innerer Not! ‒ Keine Macht der Erde kann
an diesem Ablauf der Dinge auch nur das
Mindeste ändern, ‒ ja, ich selbst vermöchte
es nicht, auch wenn ich dem kommenden
Geschehen mit allen Kräften der Ewigkeit
andere Wege weisen wollte, ‒ gesetzt im
Geiste wäre solcher destruktive Wille jemals
möglich. ‒
Joseph Schneiderfranken         Signatur
14 Geistige Relationen
ZUM THEMA
Die höchste „Anrufung”
im innersten Selbstbegegnen

.Mein Ur-Sein! ‒ Meines Seins ewiges
Sein! ‒ Ewig im tiefsten Dunkel wesen
de Urkunft ewigen geistigen Lichtes! ‒
Ewig in deiner polaren Spannung verharrend!
‒ Innesein aller Weltenkälte! ‒ Ewige Nah‐
rung aller geistigen Glut! ‒ Durchdringe
dieses Vergängliche, das Dir hier Ausdrucks‐
werkzeug ist, wie immer es von Dir durch‐
drungen werden muß! Sei ihm eisige
Kühle! ‒ Sei ihm brennende Glut! ‒
Sei aller Überhelle heilendes Dunkel! ‒
Allem klirrenden Tage samtweiche hüllende
Nacht!”
.Strahlendes Ur-Licht! ‒ Aus dem un‐
durchdringlichen Dunkel meines Ur-Seins
immerdar hervorbrechend gleich Myriaden
17 Geistige Relationen
mittäglicher Sonnen um Mitternacht! ‒ Licht
allem ewigen Geiste! ‒ Aller Seele unver‐
gängliches Leuchten! ‒ Leuchte in dem,
was durch Dich bestimmt, zur Lichtempfäng‐
nis in meinem Irdischen zubereitet ist! ‒
Erstrahle in mir, ‒ dem Irdischen, ‒ aus
Deinem Leuchten!”
.Ureinziges Ur-Wort, ‒ nur Dich
selber sprechend in allem, was in Dir
aus Licht zu Worte wird, ‒ aus der Urkraft
meines Ur-Seins erklingend in meinem Ur
Licht: ‒ In allen geistigen „Vätern” der
ewige „Vater”! ‒ In allen geistgeborenen
„Söhnen” ewiger „Sohn”! ‒ Urewige „Gott‐
heit” aller Götter! ‒ In allen mir geistig
Gebrüderten, mir geistig „Bruder”! ‒ Ewiger
Lebendiger Gott”! ‒ Nur dort dem Irdi‐
schen offenbar, wo Du Dich selber formst
als „Wort”! ‒ Dir „Wort” geworden: ‒
spreche ich Dich selbst in mir auf erden
hafte Weise, wie Du dich selber sprichst
18 Geistige Relationen
in Dir! Du in mir urgesprochenes „Wort”
aus dem Licht aller geistigen Selbstoffen‐
barung!”
‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒ ‒
.In sich solchen Inhalt bergend, ‒ in
solchem Inhalt lebend, betet wortelos mein
seelisches Empfinden Tag um Tag, was hier
in Worte irdischer Sprache übertragen
ist, auf daß danach miterlebt werden kann,
was der Suchende seelisch mitzuerleben ver
mag! Im großen Alleinsein im ewigen
Geiste ist solches „Beten” dem Irdischen
des Leuchtenden Lebensbedingnis.
.Es ist schwer, zu sagen, was es heißen
will: im Ewigen allein zu sein. Allein,
nicht nur „mit sich selbst”, sondern absolut
allein, ‒ : All-Ein! ‒ Alles dort allein
lebend, seiend, wo vordem nur erdenhaft
bedingtes Vorstellen war!
.Alleinsein in dem hier gemeinten Sinne
geistigen Lebens kann einer nur im innersten
19 Geistige Relationen
„Innen”, denn das, was im vergänglichen erd‐
bestimmten Dasein Alleinsein genannt wird,
ist nur Absonderung ohne Aufhebung der
tausendfachen Zusammenhänge alles Irdi‐
schen in seinem äußeren Bereich.
.All-Einsein im ewigen Geiste aber
schafft eine Schranke, die nichts aus dem,
was „Außen” ist, zu übersteigen vermag.
Nichteinmal das hochentwickeltste Denken!
.Schwer ist es dem Irdischen, dieses
Alleinsein zu ertragen, denn es ist zu reich,
um in irdisches Bewußtsein eingeschlossen
werden zu können!
.Alles was ist und was nicht ist, ‒ alles
Sein und Nichtsein, ‒ wird von diesem
Alleinsein umfaßt, das alle Vielheit in
sich ver-eint, und alles, was über Sein
und Nichtsein verharrt!
.Hier ist die „Armut im Geiste”, die so
reich ist, daß sie „das Himmelreich” be‐
sitzt! ‒
20 Geistige Relationen
DAS ERSTE KAPITEL
.Alle sprachliche Verständigung zwischen
Mensch und Mensch braucht auf dieser Erde
eine Übereinkunft, eine Konvention, wie
die Worte der Sprache verstanden werden
sollen, und in jeglicher Sprache kann man
verschiedenen Sonderkonventionen begeg‐
nen, die wieder nur in gesonderten Kreisen
der diese Sprache Sprechenden Gültigkeit
besitzen. Wo aber, wie in meinem geistigen
Lehrwerke von Un-Beschreiblichem zu
künden war, mußte jede Sprachkonvention
versagen. Was die wenigen mir gebrüderten
und arthaft gleichen Geistesmenschen auf
dieser Erde unter sich seit Jahrtausenden als
ihre und damit nun auch mich bestim‐
mende Konvention aufgerichtet haben, ist
keiner Erdensprache unterstellt, sondern auf
eine unveränderliche Empfindungswertung
23 Geistige Relationen
des geistig gegenwärtigen Wirklichen ge‐
gründet. Diese Konvention ist Geheimnis
für die außerhalb Stehenden und wird über
alle Erdenzeit hin Geheimnis bleiben, denn
sie ist nicht mitteilbar, und somit durch
sich selbst geschützt. Ihre Inhalte können
nur von Menschen aufgenommen und „ver‐
standen” werden, in denen der Geistesmensch
der Ewigkeit die Bewußtseinseinung mit dem
Irdischen vollzogen hat: ‒ den „Leuchten‐
den im Urlicht”!
.Da ich aber in meiner Muttersprache
Verständigung zu schaffen hatte, mußte ich
alles, was mir durch die Artung meiner
geistigen Wesenheit zu eigen ist, in eben‐
diese irdische Muttersprache „übersetzen”.
.Das bedingte notgedrungen, daß ich ihre
Worte oft genug in einem alltagsfernen
Sinne gebrauchen mußte, um durch solche
neue Sinngebung dem von mir Mitzuteilen‐
den sprachlich einigermaßen nahezukommen.
24 Geistige Relationen
Ich mußte gleichsam eine Konvention mit
mir unbekannten Partnern: ‒ den Lesern
meiner geistigen Lehrschriften ‒ eingehen.
Alle ursprüngliche, echte geistige Offen‐
barung ist aber zu ihrer Zeit auf solche
Weise erfolgt, sei es in gesprochener oder
aber geschriebener Sprache! Dennoch war
Jeder, der sich der Offenbarung des Ewigen
darbot, dabei jedesmal nur dankbar für jedes
Wort, das Zeit und zeitlich bedingtes Ver‐
stehen ihm bereits brauchbar entgegen‐
hielten, wenn er die jeweils gängigen Sprach‐
worte abfragte, ob sie ihm Diener seiner
Verkündung werden könnten, obwohl auch
die als brauchbar vorgefundenen Worte
dann von dem Erneuerer, der sie seiner
Sprache einbezog, mit neuer Bedeutung
erfüllt wurden. Nicht anders mußte auch
ich verfahren.
.Im ewigen Geiste besteht eine erden‐
menschlich ganz unvorstellbare Mannig
faltigkeit, zu der die empirisch und ver‐
25 Geistige Relationen
standesmäßig erkannte Vielheit irdischer und
materiell kosmischer Art nur einen sehr vagen
Vergleich bilden kann. Nur im Zustand des
All-Ein-Seins ist es möglich, die im sub‐
stantiellen Geistigen gegebene Mannigfaltig‐
keit ohne Irrtum zu erkennen. In solcher
Erkenntnis allein ist das Geheimnis enthüllt
zu gewahren, warum Unendlichfältigkeit
die ewige geistige Seinsform absoluter Ein
heit ist! ‒ Um aber diesen unbeschreib‐
baren Zustand während des irdischen Lebens
kontinuierlich aufrechterhalten zu können,
müssen Menschen meiner Wesensart ‒ also
auch ich ‒ in einer steten geistigen „Klau‐
sur” leben, wenn diese Sonderung auch keine
außenweltliche Einsiedelei verlangt. Die mir
Gleichgearteten leben allerdings zur Zeit die‐
ser Niederschrift nur noch in solcher außen
weltlichen Abschließung, aber das hebt auch
bei ihnen die strikte Notwendigkeit der gleich‐
zeitigen geistigen Klausur keineswegs auf.
Dieser geistig bestimmten Klausur kann
das weltfernste Einsiedlerleben keine För‐
26 Geistige Relationen
derung, und das Leben mitten im Lärm der
Außenwelt keine Störung schaffen. Wo uns
Leuchtenden im Urlicht äußere Einsamkeit
unumgänglich nötig ist, dort ist solche Not‐
wendigkeit zwar durch triftige Gründe, aber
niemals durch Forderungen unserer geistigen
Klausur bestimmt, die auf der Fähigkeit be‐
ruht, allen uns nahenden Gedanken- und
Vorstellungskomplexen, die unser Bewußt‐
sein von dem uns eigenen geistigen Leben
ablenken könnten, wo immer das drohen mag,
auf geistige Weise den Zutritt zu sperren.
.Wenn ich jetzt von meinen geistig be‐
stehenden „Relationen” Kunde geben soll,
so ist an erster Stelle von den unzählbaren
Beziehungen zu den unendlichfältigen Selbst‐
darstellungen des ewigen Geistes zu sprechen,
die nur im All-Ein-Sein auf geistige Weise
wahrgenommen werden können, in streng
ster Isolierung der Seele innerhalb un
erbittlich distanzierender Abschlie
27 Geistige Relationen
ßung von den Vorstellungswelten irdi
scher Gehirne.
.Die Art dieser höchsten geistigen Rela‐
tionen für das irdische Verständnis zu charak‐
terisieren, ist fast unmöglich, da keinerlei
Beziehungen zwischen Erdenmenschen be‐
stehen, an die man hier zum Vergleich er‐
innern dürfte. Nur durch den wohl sehr
befremdlichen Hinweis auf das Gebiet der
Chemie und die dort zu findenden Affini‐
täten zwischen den einzelnen Grundstoffen
und dem was aus ihnen hervorgeht, läßt
sich ‒ zur Not ‒ wohl ein gewisses Ahnen
der hier bestehenden geistigen Zusammen‐
hänge erwecken. Aber auch da handelt es
sich nur um ein aus weiter Ferne gesehenes
„Bild” der Sonderart geistig substantieller
Relationen, die ja Verbindungen darstellen
zwischen jeweils distinkt ihrer selbst und
ihrer Stellen im geistigen Kosmos bewußten
Emanationen des ewigen Urwortes, in dem
diese allein sich gegenseitig erkennen.
28 Geistige Relationen
.Die Vorstellungen von „Göttern” und
„Heiligen” zeigen noch Spuren einer ur‐
alten erdenmenschlichen Einsicht in Ewiges,
die hier nicht übersehen werden dürfen,
und noch bedeutsamer ist das Mysterium
der „Engel”, ‒ in allen ihren Stufen ‒,
als das höchste Symbol der unendlich‐
fältigen Selbstdarstellungen des ewigen gött‐
lichen Geistes, das trotz allem frommen
Glauben an „himmlische Engelchöre”, in
diesen Tagen der Erdenmenschheit hoch
entrückt und irdischer Erkenntnis kaum
noch erreichbar ist. ‒
.Verstandesmäßig „erklären” läßt sich da
nichts! Wer sich aber einzuleben trachtet
in diese nur seinem Empfinden erreich‐
baren geistigen Regionen, der wird sein Welt‐
bild eines Tages in einer ihm heute noch
unmöglich erscheinenden Weise plastisch
vertieft gewahren!
.Mir aber ist, in meiner ewigen Wesens‐
art, dieses Leben im Bewußtsein aller gottes‐
29 Geistige Relationen
geistlichen Selbstdarstellung aus ewiger Er‐
fahrung artgemäß, so, wie es dem nur
Irdischen artgemäß ist, seinen eigenen Körper
und die Dinge seiner Umwelt ‒ insbesondere
Seinesgleichen in ihrem Bereich ‒ einfüh
lend zu er-leben. Das wesentliche Unter‐
scheidungsmoment bei solchem Vergleich er‐
gibt sich jedoch daraus, daß der Irdische das
Leben seiner „Außenwelt”, zu der ja schon
sein ihm zeitweilig eigener Leib gehört, nur
miterlebt, während mein geistiges Leben
im Ewigen uneingeschränktes Innesein ist.
Was das zu bedeuten hat, vermag nur der
im Irdischen verkörperte Leuchtende des
Urlichtes zu beurteilen, in dem beide Be‐
wußtseinsformen vereinigt sind.
.Jedes individuelle Leben ewigen Lebens ist
an seiner Stelle, in seiner sich in ihm darstel‐
lenden Eigenart, „vollkommen” und im völli‐
gen Bewußtsein aller, in allen unendlichfälti‐
gen Selbstdarstellungen ewigen substantiellen
Geistes bestehenden Vollkommenheit!
30 Geistige Relationen
.So sagte einer wahrhaftig Großes, als
er den Satz aufstellte, daß „der Geist”
Alles „erforsche”, selbst „die Tiefen der
Gottheit”! ‒
.Nun sind aber auch jene Relationen
hier aufzuzeigen, in denen ich zu meinen
im Urlichte leuchtenden und mir geistig in
unirdischer Liebe vereinten geistgeborenen
Brüdern stehe, deren einer mir geistiger
Meister während meiner geistigen Unter‐
weisung war, bevor ich ihm und allen
anderen wissend zum geistig geeinten ‒
Bruder ‒ werden konnte. Diese, mir gleich‐
zeitig erdnächsten geistigen Beziehungen
umfassen jedoch nicht nur die so wenigen
der Leuchtenden des Urlichtes, die noch
wie ich selbst im zeitlichen sichtbaren
Körper leben, sondern auch alle, zu anderen
Tagen jemals im Erdenleben verborgen ge‐
wesenen, ‒ und ‒ darüber hinaus, ebenso
auch die äußeren Erdenleibsinnen unerkenn‐
baren ewigen Geistesmenschen, die niemals
31 Geistige Relationen
der Erde körperlich verhaftet waren, ‒
auf Erden auch niemals verkörpert werden
könnten, weil sie den Drang in die Materie
in sich nicht bestimmend werden ließen.
.Obwohl ich von Anfang an immer wieder
betonte, daß es sich bei diesen, von mir viel‐
fach erwähnten Relationen um rein seelische
Gemeinsamkeit Ewiger (in dem, was an
ihnen unvergänglich ist, bewußter Men‐
schengeister) im substantiellen ewigen
Geiste handelt, mußte ich es doch erleben,
daß man aus meinen Worten den Schluß
zog, es sei da von einer, „geheimen Gesell‐
schaften” ähnlichen irdischen Institution
die Rede, und bei meinem aus ewigem Geiste
her rein geistig bestimmten Lehrwerk
handle es sich um eine aus irdischer Quelle
hervorgegangene, oder gespeiste Lehre. Das
war ein arger Irrtum! Wenn ich von meinen
„Brüdern” im Geiste sprach, so hatte ich wahr‐
haftig nichts anderes im Sinn, als der Ge
meinsamkeit Ewiger im Ewigen ein Bild
32 Geistige Relationen
zu schaffen. ‒ Wo ich aber den allbekannten
rein symbolischen Terminus: „Weiße
Loge” hinweisend gebrauchte, dort galt es
ausschließlich, bestimmte törichte Meinungen
zu berichtigen. Kategorisch strenge, un‐
übertretbare geistige Gesetze, die mich aus
meinem Ewigen her verpflichten, hätten
allein schon alles, was hier an Irrigem so
superklug vermutet wird, sachlich unmög
lich gemacht!
.Mein sichtliches Wissen über viele, sym
bolischer irdischer Lehrweise zugehörige
Dinge aus längst vergangenen Zeiten, stammt
weder von Angehörigen heutiger geheimer
Gesellschaften, die von alledem nur gar ge‐
ringe Kenntnis haben, noch aus einer ‒
mir wahrhaftig nicht nötigen ‒ geheimen
Literatur zumeist lediglich phantastischer
Erfindung, sondern ist auf rein geistige
Art erlangt, wie das allermeiste, was mir
im Laufe meines Erdenlebens an Ungewöhn‐
lichem und nicht durch äußere Belehrung
33 Geistige Relationen
zu Erfassendem bekannt worden ist. Ich
habe an vielen Stellen meiner Schriften dar‐
auf verwiesen, daß uns Leuchtenden des
Urlichtes zugänglich wird, was uns offenbar
sein muß, und habe den zur Frage Berech‐
tigten mehr als genug davon gesagt, wie
solches Wissen, durch „Selbstverwandlung”,
oder ‒ gesetzt, es eigne sich zu solcher Auf‐
nahme nicht, ‒ auch durch Übertragung
erlangt werden kann. Die „babylonische”
Sprachzerspleißung, die aller Erdenmensch‐
heit zeitliche Geißel ist, wird wirkungslos,
wo Einsichten an sich ‒ ohne Worte ‒
vermittelbar sind, so daß sie naturnotwendig
der, dem sie zuteil wurden, nachher in den
Formen seiner Muttersprache sich und
Andern zu Verständnis bringt. Nicht
anders sind auch viele Namen und Be
zeichnungen in meinem geistigen Lehr‐
werk zu ihrer Gestaltung gekommen.
.Die Worte, auf die ich hier verweise,
finden sich hauptsächlich, wo die gebrauchs‐
34 Geistige Relationen
geläufige Sprache mir das Wortbild nicht
gab, das ich brauchte, wollte ich auch nur
annäherungsweise in dem verständlich sein,
was zu berichten war. Wo es anging, waren
bereits vorhandene Worte für philosophische
oder religiöse Begriffe willkommene Hilfe,
wie etwa, ‒ wenn auch in anderer Bedeutungs‐
weise, ‒ in den Worten „Ursein”, „Urwort
und „Urlicht”, während für die Wirklich‐
keit der geistigen Artung, der ich zu‐
sammen mit Denen zugehöre, die sich um
ihrer Gleichartigkeit willen als gleichen
Stammes aus dem Geiste geborene „Brüder”
empfinden, kein Wort meiner Muttersprache
gegeben war, so daß ich das, was in jedem
aus uns das Wirkliche ausmacht, wie es
von uns gemeinsam empfunden wird,
nur mit den Worten: „Leuchtender im Ur‐
licht” umschreiben konnte. Daß auch das
Wort: „Strahlender” die gemeinte Wirklich‐
keit richtig bezeichnet haben würde, und in
der holländischen Ausgabe des Buches vom
lebendigen Gott durchaus zu Recht gebraucht
35 Geistige Relationen
ist, sei für alle gesagt, die allzusehr an Worten
hängen, ohne zur Vorstellung dessen zu
kommen was das jeweilige Wort bezeichnen
will, denn alles geistige „Leuchten” ist ‒
eo ipso ein „Strahlen”.
.Man ist sehr weit davon entfernt, das
ewige geistige Urgut in meinen Schriften
aufnehmen zu können, wenn man das, was
ich in freier Wortgestaltung der Aufnahme
durch den Lesenden bereithalte, in der Art
durchforscht, wie etwa die wissenschaftliche
Darbietung eines Gelehrten oder gar eine theo‐
logische Abhandlung gelesen werden will!
.Wäre solches gewollt, so hätte man wahr‐
lich aus dem ewigen Geiste her einen Theo
logen oder prominenten Gelehrten mit
der mir gewordenen Aufgabe betraut. Ich
aber bin als Gestalter der Sprache ebenso
wie als Darsteller von Werken der Linie
und Farbe, meiner irdischen Veranlagung
36 Geistige Relationen
nach, durchaus von meiner künstlerischen
Begabung her bestimmt, so daß alles, was
durch mich seine Formung erhält, die Spuren
dieser Naturveranlagung aufzeigen muß. Ich
rede hier nicht von technischer Fertigkeit,
die ich mir mühsam erwerben mußte, oder
gar „genialischer” Leichtigkeit des Gestaltens,
die mir durchaus fremd ist, sondern ledig‐
lich von angestammtem Künstlertum der
ganzen menschlichen Artung, das auch bei
gänzlichem Mangeln aller Gestaltungsfähig‐
keit irgendwie zum Ausdruck kommen müß‐
te, wollte ich es auch noch so behutsam
verbergen.
.Mir ist die Sprache somit keineswegs
nur konventionelles Verständigungsmittel,
sondern nach Maßgabe ihrer rein geistig
gegebenen Formwerte, ein Gestaltungsmate‐
rial, das künstlerische Behandlung fordert,
‒ sei es auch keineswegs im Sinne des
Poeten, ‒ wenn es dem Aufnehmenden dar‐
bieten soll, was es aus sich selber darzubieten
37 Geistige Relationen
hat nach erfolgter Gestaltung. Das soll mit
aller Eindeutigkeit besagen, daß in allem,
was ich sprachlich gestalte, der Form die
gleiche Bedeutung zukommt, wie dem In‐
halt. Man wird die Form erfühlen lernen
müssen, wenn man ihren Inhalt aufnehmen
will! ‒
.Der Lesende wird also nicht damit an‐
fangen dürfen, die von mir neugebildeten
Worte oder Wortverbindungen möglichst
ein für allemal begrifflich starr definieren
zu wollen, wie das wissenschaftlich üblich
und wahrhaftig im Bereiche der Wissenschaft
berechtigt ist, denn bei mir ist das Wort
überall in sich mit Leben erfüllte Wieder‐
gabe einer Wirklichkeit, ‒ lebendig
beweglich in sich selbst, ‒ kein starres,
wenn auch philologisch wertvolles Präpa
rat! Will man beginnen, unter der Lupe
zu sezieren, um ein solches daraus zu
machen, dann wird man dem von mir
belebten Wort ‒ das Leben nehmen...
38 Geistige Relationen
Ein lebloses Wort aber vermag kein Leben
in den Bereichen der Seele zu erwecken,
sondern zerstört alles Leben durch sein ‒
„Leichengift”! Worte, die ihr Leben verloren
haben, lassen sich freilich sehr bequem hand‐
haben, und es gibt nichts, was durch sie
nicht zu „beweisen” wäre. Ich aber will
nichts beweisen, sondern das lebende Wort
sich selber aussprechen lassen!
.Wem es darum zu tun ist, das, was ich
ihm geistig zu geben habe, wirklich aufzu‐
nehmen, dem wird zu raten sein, daß er sich,
‒ nachdem seine allererste Neugier befrie‐
digt wurde, ‒ in die seelische „Stimmung
des ihm jeweils vorliegenden Buches einzu‐
fühlen suche. Diese Einfühlung kann öftere
Lektüre notwendig machen, als vorher ver‐
mutet worden sein dürfte, aber jedem neuen
Einfühlungsversuch wird auch eine neue Ver‐
tiefung der eigenen Aufnahmefähigkeit ant‐
worten, und zuletzt wird man gerade die
39 Geistige Relationen
vorher allenfalls nicht „verstandenen” Worte
liebgewinnen, weil man ihr Leben erfühlen
lernte. ‒ Dann erst mag der soweit in das
Buch Eingedrungene an die Befolgung der
ihm von mir erteilten Ratschläge gehen!
.Es ist durchaus ernsthaft gemeint, wenn
ich hier vergleichsweise dem Besitzer der
von mir geschaffenen Bücher den Rat gebe,
sich dem Einfühlen in ihre „Stimmung” in
ganz ähnlicher Weise zu widmen, wie ein
Kunstsammler sich in die von ihm erworbe‐
nen Gemälde versenkt, deren künstlerische
Werte er bis ins Tiefste erfassen möchte. ‒
Ohne den Vergleich damit etwa zu Tode zu
hetzen, darf dabei gesagt werden, daß schließ‐
lich mein ganzes geistiges Lehrwerk aus einer
Reihe von künstlerisch gestalteten sprach‐
lichen Wiedergaben meiner Einblicke in
die Lebensbereiche der Seele und die Wel‐
ten des ewigen, substantiellen Geistes besteht,
so daß gewiß nur die innere Aufnahme er‐
leichtert werden kann, wenn jedes Einzel‐
40 Geistige Relationen
stück als „sprachliches Gemälde” ‒ im
Sinne einer Darstellung ‒ aufgefaßt wird.
.Ich habe von Anfang an deutlich ausgespro‐
chen, daß ich keinem Wort meine Formung
gebe, ohne dabei in unbedingter Einigung mit
meinen geistigen Brüdern zu sein. Die Art
unserer Vereinigung ist leider durch keiner‐
lei irdischen Vergleich dem irdischen Vorstel‐
lungsvermögen darzustellen, denn es handelt
sich um seelische Verbindung individuell
sehr verschiedener geistiger Wesenheiten,
mögen sie noch im sterblichen Leibe dieser
Erde leben wie ich, oder ausschließlich in
irdisch unsichtbarer Geistesgestaltung! Ob‐
wohl jeder für sich eine von allen andern
verschiedene Individualität bleibt, ist in sei‐
nem All-Ein-Sein jeder aus uns Leuchten‐
den im Urlicht mit jedem anderen, auch im
strengsten Sinne, „identisch”.
.Die gegenseitige Mitteilungsmöglich
keit über die wir aber in unserer indivi
41 Geistige Relationen
duellen Geistigkeit, als hier distinkt Un‐
terschiedliche außerdem jederzeit verfügen
können, darf man sich beileibe nicht als eine
Art „Telepathie” vorstellen! Viel eher könn‐
ten die Radiowellen Vergleichsdienste leisten.
Aber auch die hier allenfalls, gesprächsweise
dilettierend, zulässigen Vergleiche können
sehr leicht auf gänzlich abwegige Vorstel‐
lungspfade führen, denn auch diese unsere, ‒
wenn man so sagen will ‒ „private” Kom‐
munikation erfolgt ja ebenfalls in der Re
gion des ewigen substantiellen Geistes,
und nicht etwa durch irgendwelche mysteri‐
öse Kunststücke des leiblichen Gehirns oder
okkulte Yogipraktiken.
.Auf gleiche, geistige Art, stehen wir
auch in bestimmten Relationen zu einzelnen
Menschen, die zwar nicht in gleicher geistiger
Situation sind wie wir ‒ also nicht Leuch‐
tende im Urlicht! ‒ aber in einer von Land‐
schaft zu Landschaft verschiedenen, religiös
überlieferten Schulung eine geistige Wahr‐
42 Geistige Relationen
nehmungsfähigkeit erlangten, die solche
Kommunikation ermöglicht. Diese Wenigen
leben in steter allertiefster Unzugänglichkeit
und Weltferne, aller Neugier absolut entrückt.
.Wir sind Menschen des um sich
selber wissenden ewigen substantiellen
Geistes! Keiner aus uns duldet irgend‐
welchen seiner Persönlichkeit geltenden
„Kult”, oder erstrebt für sich irdische Ehren!
.Es leben zwar zu jeder Zeit einige aus
uns auch gleichzeitig das Leben des Menschen
irdischer Bindung, aber die Natur läßt Aus‐
nahmen unserer Art jeweils nur in ver
schwindender Anzahl zu. Allen anderen
Erdgebundenen ist es während ihres Erden‐
daseins unmöglich, zugleich in den Reichen
substantiellen, realen ewigen Geistes bewußt
zu sein. Keine Macht des Himmels und der
Erde vermag hier etwas zu ändern! Jeder
Versuch, anderes zu erreichen, schafft nur
Selbsttäuschung.
43 Geistige Relationen
.Daß man, ‒ als substantiell geistiger,
ewig im Urlichte Leuchtender, ‒ dann glück‐
lich ins Erdenleben eingewohnt, von diesen
Dingen vorerst gehirnlich irdisch noch
nichts weiß, und einstweilen nur der Erde
gehören möchte, sei immerhin nochmals er‐
wähnt, obwohl es vielen meiner Schriften
leicht schon zu entnehmen ist. Es kostet
harte Jahre, bis der Irdische dem Ewigen
gehorsam wird!
.Das mit diesen Worten Gemeinte be‐
zieht sich auf die reingeistigen Tatsachen,
die erfüllt sein müssen, soll ein hier auf
Erden in sein irdisches Dasein gebunde‐
ner Leuchtender des Urlichtes seine ihm ge‐
stellte Erdenaufgabe zur Lösung bringen.
Diese „Aufgabe” wird ihm klar und deut‐
lich im normalen Erdenleben durch seine
geistgeeinten Brüder zu Bewußtsein ge‐
bracht, nicht etwa auf mysteriöse Weise
zuteil!
44 Geistige Relationen
.Er ist irdisch vor allem da, um seinen
zeitlichen Mitmenschen, die dem geistigen
Erwachen nahe sind, zu diesem Erwachen‐
können zu verhelfen und ihnen durch seine
geistige Hilfe nahezubringen, was sie dabei
bedürfen.
.Es ist aber eine Torheit, etwa zu glauben,
ein Leuchtender des Urlichtes müsse das, was
er seinen Mitmenschen bringt, notwendiger‐
weise „Allen” bringen! Das wäre nicht nur
unmöglich, ‒ so, wie man ja auch nicht
„Alle” wirklich „lieben” kann, ‒ sondern
auch, wenn es möglich wäre, für Unzählige,
die noch nicht dem Erwachen nahe sind,
durchaus schädlich. Es ist aber dafür ge‐
sorgt, daß der jeweilige Weckrufer und Helfer
beim geistigen Erwachen nur von Denen
erkannt und verstanden wird, die ihn bereits
brauchen. Allen Anderen bleibt er in all
seinem Rufen unverständlich oder sie kön‐
nen in ihm nur einen unerwünschten Störer
ihrer Tagesträume gewahren. Das ist so, seit
45 Geistige Relationen
diese Erde den Menschen aufnahm, und wird
niemals anders sein, solange der Mensch noch
auf Erden im Tiere sich selbst zu erleben
vermeint.
.Nur um der Relationen zu den ihn brau
chenden zeitlichen und späteren Mitmen‐
schen willen, wird zu seiner ihm vorbehal‐
tenen Zeit dem Leuchtenden des Urlichtes
ein ihm zubestimmter Irdischer, als bereits
vor unfaßbaren Zeiten ihm Verpflichteter
und Vereinigter, geboren. Die erste und
dringlichste Notwendigkeit ist sodann, daß
der im Urlicht Leuchtende den Irdischen,
dem er sich vereinigt findet, allmählich fähig
macht, ihn in das erdenhafte Bewußtsein auf
zunehmen. Die verschiedenartigen äußeren
Lebensumstände, die dazu vorbereiten, sind
zuweilen, von außen her gesehen, scheinbar
eher Hindernisse, und gewiß nicht immer
so geartet, daß man eine geistige Leitung aus
der Ewigkeit in ihnen vermuten möchte.
Dennoch läßt sich nichts aus dem vorberei‐
46 Geistige Relationen
tenden Leben des dem Leuchtenden im Ur‐
licht geeinten Irdischen entfernen, wenn er
zu dem haarscharf geschliffenen universalen
Werkzeug werden soll, dessen der Leuchtende
zur Erfüllung seiner irdischen Aufgabe bedarf,
da er Former sein muß im Dienste des hohen
geistigen „Domes”, den seine Mitbrüder im
Ewigen „bauen”, ‒ als unvergängliches
Denkmal des zeitlichen Erdenmenschen!
.Auch während dieser Vorbereitungszeit
schon weiß der ewige Leuchtende des Ur‐
lichtes bereits sich seines irdischen „Werk
zeuges” zu bedienen, allein, die vollendete
Brauchbarkeit erlangt es erst dann für ihn,
wenn es endlich zweckentsprechend scharf
„geschliffen” ist und keinerlei „Scharte” mehr
in seiner Schneidefläche aufweist. Wie aber
auch der härteste und aufs schärfste geschliffe‐
ne Stahl beim Gebrauch eines Werkzeuges
mit der Zeit stumpf wird, so daß er neue
Härtung und neues Schleifen braucht, soll
er dem Meister der Kunst bildnerischer For‐
47 Geistige Relationen
mung weiter dienen können, so muß auch
der Irdische immer wieder von neuem als
Werkzeug, das geistigem Wirken dienen
soll, „gehärtet” und „geschliffen” werden.
An Gelegenheiten, sich „Scharten” zu holen,
fehlt es bei diesem Wirken wahrhaftig nicht!
.Doch das Bild soll hier abgeschlossen sein
mit der trockenen Feststellung, daß es ganz
gewiß keine irdische „Bevorzugung” bedeu‐
tet, all sein Erdenmenschliches dem Leuch‐
tenden im Urlicht in sich geeint zu sehen.
Es ist dem irdischen Menschen vielmehr
harte, unabwendbar im Ewigen begründete
Pflicht, auf sich selbst für immer zu ver
zichten um sich allein im Bewußtsein des
im Urlichte Leuchtenden fortan zu erleben,
ganz gleich, welche Ambitionen der Erd‐
mensch für die Dauer seines irdischen Le‐
bens gehegt haben mochte. ‒
.Aus selbsteigener Gesetzlichkeit im sub‐
stantiellen Geiste war vor irdisch unvorstell‐
48 Geistige Relationen
barer Zeit geistig bestimmt, daß in diesen
heutigen Erdentagen der Leuchtende im Ur‐
licht in einem Menschen erscheinen müsse,
der mit der Mentalität des Europäers ver‐
traut sei von Jugend auf. Meine wahrhaf‐
tigen, mit mir gleichzeitig auf dieser Erde
sichtbar lebenden geistigen Brüder im ewigen
Urlicht, tragen nicht den Auftrag sich in
ihren asiatischen Muttersprachen dem Westen
mitzuteilen, ganz abgesehen davon, daß sol‐
ches Begehren an sie, ihnen als wunderliche
Anforderung erscheinen müßte, da sie eben
in der Mentalität des nichteuropäisierten
echten Asiaten leben. Es sind aber so my‐
steriöse, tolle und abgrundtief unsinnige
Meinungen über uns Leuchtende des Ur‐
lichtes, ‒ willkürlich als „Weiße Loge” be‐
zeichnet, ‒ in der Welt des Westens und
selbst unter manchen phantastischen Orien‐
talen ausgestreut worden, daß nur ein Leuch‐
tender, der als irdischer Mensch dem euro
päischen Kulturkreis angehört, und um alles
das weiß, was hier westlichem Wissen wichtig
49 Geistige Relationen
zu wissen ist, die so dringend notwendige
Scheidung aller der Wahrheit entsprechen‐
den, von notorisch irrigen Vorstellungen
vornehmen konnte.
.Außerdem ist diese heutige Zeit wahr‐
haftig dazu reif geworden, wieder eine Stimme
zu vernehmen, die nicht ihre gedanklichen
Spekulationen vorbringt, sondern aus ewi‐
ger Erkenntnis zu sprechen berechtigt ist.
Die Wahrheit wollte ihr Wort, und dieses
Wortes Sprecher war schon bestimmt, ehe
der Weltkörper wurde, auf dem es zu der
ihm angeordneten Zeit gesprochen werden
mußte. Was ihr noch nicht aus euch selber
wollt, kann auch ich euch freilich nicht
sagen, aber ich kann jedem Hilfebedürftigen
geistig helfen, der schon in sich erkannte,
daß er dessen bedürfe, was ich ihm zu
bringen habe. Ich bin nicht der einzige, der
aus ewiger Kraft euch zu helfen vermag,
aber der einzige, heute hier auf Erden „in
der Welt” lebende Erdenmensch, der als
50 Geistige Relationen
Verbindender zwischen zeitlich Vergäng‐
lichem und Ewigem im Dasein ist! All mein
geistiges Tun, ‒ das nicht etwa aus irgend‐
welchen okkultistischen oder sonstigen my‐
steriösen Praktiken besteht, sondern aus
schließlich im ewigen Geiste erfolgt, in
dem ich auch zu Lebzeiten meines mir ge‐
borenen irdischen Körpers immerdar be‐
wußt und tätig bin, ‒ hat vor allem das
primäre Ziel: ‒ überall, wo das vonnöten
ist, diese in mir bestehende Verbindung
Anderen als „Brücke” darzubieten und ihnen
aus ihrem eigenen geistigen Allerinnersten
her das Überschreiten dieser Brücke zu er‐
möglichen.
.Das geht jedoch ebenso die mit mir gleich‐
zeitig auf Erden Lebenden, wie die weiter‐
hin Kommenden und die bereits Abgeschie‐
denen an, betrifft aber Keinen, der diese,
durch mich mögliche Hilfe nicht will, denn
Geistiges drängt sich keiner Seele auf, sondern
ist nur in gänzlicher Freiwilligkeit auf‐
51 Geistige Relationen
nehmbar. ‒ Ich kann und will Keinen
gegen seinen Willen in das Bewußtsein
des ewigen, substantiellen Geistes aufnehmen,
in dem Jeder, auch der seines Geistigen Un‐
bewußte, seinen letzten Lebensgrund hat.
Ganz ohne mein Zutun scheidet sich, was
zu mir gehört, von allem, was meine gei‐
stige Hilfe auch in Aeonen noch nicht auf‐
zunehmen vermag! Ich selber „richte” nicht,
aber mein bloßes Dasein in dieser irdischen
Sinnenwelt hat Jedem durch die Art, wie
er sich selber mir gegenüber zu verhalten
weiß, die Möglichkeit geschaffen, sich selbst
sein Urteil zu sprechen. ‒
.In meiner Verkündung durch das Wort
der Sprache, hebe ich jedoch keineswegs auf,
was vor meiner Erdenzeit jemals durch Men‐
schenmund aus dem ewigen Geiste ge‐
sprochen wurde! Ich weiß nur darum, wie
man es meistens mißverstand, und zeige in
meinen Lehrworten auf, wie es in Wahr‐
heit zu verstehen ist, ‒ als der Einzige,
52 Geistige Relationen
der in dieser Zeit „in der Welt” lebt und
noch dazu westlichem Empfinden vertraut,
aus Denen, die allein hier berichtigen
können. ‒
.Vielleicht aber könnte jetzt einer auch
noch fragen, wie denn die geistigen Rela‐
tionen beschaffen seien, in denen ich zu
meinen gleichzeitigen Mitmenschen im äus
seren gesellschaftlichen Leben des ir
dischen Alltags stehe? ‒ Darauf aber ist
kaum viel anderes zu sagen, als daß natur‐
gemäß auch der irdische Außenmensch
an mir immer unfraglich durch meine geistig
substantielle Wesensart bestimmt ist! Diese,
meine allerinnerst gegebene geistige Sonder‐
art ist aber so diskret und distinkt in sich
mit ihrer eigenen Sphäre wesenhaft identisch,
daß es ihr ganz unmöglich wäre, sich in den
Formen des äußeren irdischen Alltags gleich‐
sam „reproduzieren” zu wollen, ‒ gesetzt,
ein zugleich im Irdischen, wie in seinem
Ewigen bewußter Geistesmensch könnte so
53 Geistige Relationen
etwas erstreben. Wo ich geistig zu helfen
vermag, dort bedarf es keiner äußeren
Geste, die mich vielmehr nur an meinem
Helfen hindern würde! Alle äußere Geste
ist ja nur Scheinbild geistigen Geschehens,
und vornehmlich dort im Gebrauch, wo
solches selbst nicht in Wirklichkeit verur
sacht werden kann. ‒
.Der Stil meines äußeren Alltagslebens
ist darum auch durchaus verschieden von
dem Lebensstil, den würdegierige, selbst‐
betonungslüsterne Menschen sich gerne zu
schaffen trachten, um ihre Durchdrungenheit
von dem hohen Erdenwert ihres Daseins sich
selber und Anderen gegenüber stets wirksam
erhalten zu können.
.Jegliche Art der Selbstbetonung im äuße‐
ren Leben ist mir derart fremd und fern,
daß ich Alle, die bei mir feierliches Geha‐
ben voraussetzen, schwer enttäuschen müßte.
Nichts ist mir lächerlicher als betonte Würde.
54 Geistige Relationen
Wie sollte ich gar selbst mich derart ent‐
würdigen wollen?!
.Wirkliche Würde stellt sich niemals zur
Schau, und niemals fand man einen Men‐
schen, der im ewigen Geiste lebte, aber zu‐
gleich Sorge darum trug, wie er sich wohl
wirkungsvoll in Szene zu setzen vermöchte.
.Ich bin für jeden der mit mir Lebenden,
mag er um meine Relationen zum Ewigen
wissen oder nicht, ein irdischer Mit- und
Nebenmensch, der nach keinerlei „Weih‐
rauch” für sich Verlangen trägt. Wohl aber
sehe ich mich in meinem Außenleben stets
mit Freude unbefangener, herzlicher, wahr‐
haft „echter”, humordurchtränkter und
wirklich „freier” Natürlichkeit gegenüber,
die ja allein schon stets gute Lebens- und
Umgangsformen schafft, mögen sie sich auch
noch so einfach äußern. Es ist mir in dieser
Hinsicht noch zu allen Zeiten meines Erden‐
daseins entschieden wichtiger im Interesse
55 Geistige Relationen
meines Nebenmenschen gewesen, daß er auf
gute Manieren und wohlangemessene Leibes‐
pflege hielt, als daß er möglicherweise wie
ein „Lexikon der Mystik und des Okkultis‐
mus” über vermeintlich „Geistiges” zu ora‐
keln wußte!
.Was aber äußere Fragen um wirklich
geistige Dinge angeht, so habe ich alles, was
ich an Antwort aus dem Geiste zu geben
vermag, in meinen Schriften so weitreichend
dargeboten, daß ich mich mit wahrlich gutem
Recht für immer davor bewahrt sehen will,
mich selbst zitieren zu müssen...
.Nimm und lies!”
56 Geistige Relationen
DAS ANDERE KAPITEL
.Um euretwillen und nur für euch ge‐
schieht es, daß ich euch immer noch neue
Aufschlüsse gebe!
.Ich brauche mein Reden und Lehren
wahrhaftig nicht! Ich gehöre nicht zu
denen, die sich „gerne reden hören”, son‐
dern weiß mir zu schweigen, denn nur
im Schweigen bin ich mir vernehmbar.
.Gibt es denn noch Törichte, die meinen
mögen, ich spräche wie ein lyrischer Dichter,
um von mir zu erzählen?!...
.Gibt es noch Kindische, die wähnen kön‐
nen, in mir den Sprecher Anderer zu ver‐
nehmen, so, wie sie selbst zumeist die Worte
Anderer reden, wenn sie von sich selbst
her zu reden glauben!? ‒
59 Geistige Relationen
.Ich könnte zwar vieles und wieder vie‐
les von mir erzählen, ‒ von mir, aus dem
ich euch leben lehren muß, ‒ wenn euch
es vonnöten wäre. Unmöglich aber könnte
ich „Anderen” zum Sprecher werden, und
wo sollten „Andere” sein, deren Wort ich
aufnehmen könnte, da ich selbst im Ur‐
licht „Wort” aus dem Urwort bin!
.Oder sollte ich gar mich als einen füh‐
len, der meine Mitteilung noch brauchen
würde oder meiner Rede Hörer zu sein
verlangte, da ich doch selber „bin”, was
ich zu sagen habe!? ‒
.Allein bin ich in mir selbst, wie jeder
derer, die meine geistigen „Brüder” sind,
allein in sich selbst ist, und in All
Ein-Sein allem, was ist und nicht ist,
ge-eint!
.Wie solltet ihr das aber verstehen, ‒
ihr, die ihr kaum erst das Allerwenigste
60 Geistige Relationen
in euch zu einen wußtet, und immer wie‐
der ängstlich fragt, ob es denn wirklich so
dringend nötig sei, eure Seelenkräfte
zu einen!?
.Aber es wird ja auch nicht erwartet,
daß ihr hier „verstehen” lernen sollt, denn
was hier gemeint ist, liegt himmelhoch über
dem Verstehen und kann nur erreicht wer‐
den im Erleben! ‒ ‒
.Das „Reich”, von dem der in seinem
Irdischen „größte Liebende” aus allen Leuch‐
tenden des Urlichtes sagte, es sei „nicht von
dieser Welt”, ist auch euch erreichbar,
aber nur dort, wo ihr in euch selber nicht
„von dieser Welt” seid, und nicht ihrer
Scheinerkenntnis unterworfen!
.Auch ihr seid in ganz bestimmten Re‐
lationen zu allem Unendlichen, aber nur
in dem, was in euch selbst unendlich ist,
könnt ihr bewußt Unendliches erfahren!
61 Geistige Relationen
.Gehirn und Herz sind aber „Außen
welt”, und gewichtige Wahrheit sprach der
Anatom, der bekannte, er habe noch nie
in einem Leichnam auf dem Seziertisch ein
Organ entdeckt, das als Träger der Seele
in betracht kommen könne...
.Nur Aufnahmeorgan der Seele ver‐
mag euer Körper zu werden, denn eure
Seele wird allein „getragen” von ihren ei‐
genen, außensinnlich unsichtbaren Seelen‐
kräften, die niemals in ein erdenräumlich
wahrnehmbares Körperorgan zu binden
wären.
.Doch, was man im Alltag der „Seele”
zuzuschreiben pflegt, ist allermeist noch das
bloße Funktionsergebnis erdenkörperlicher
Organe, so daß wir diese Art Seele wahr‐
haftig auch in den Tieren wiedererkennen
können. Ich rede aber oben allein von der
ewigen, der unendlichen Seele, die nicht
„von dieser Welt” ist, und die vergeblich
62 Geistige Relationen
im Tiere gesucht werden würde, weil nur
der Mensch imstande ist, seine tierhaften
Organe zu Aufnahmeorganen der ewigen
Seele aufzuschließen.
.Dieses „Aufschließen” und Bereithalten
ist aber Folge einer daraufhinwirkenden
ständigen Willens-Haltung und ganz von
ihrer Kraft und Ausdauer abhängig. Ohne
eigenes Zutun des Menschen wird ihm die
Eignung seiner irdischen Körperlichkeit,
zur Aufnahmeantenne der ewigen Seele wer‐
den zu können, nie und nimmermehr er‐
schlossen. Er bleibt dann nur ein bis zu
den raffiniertesten Denkerarbeiten aufge‐
züchtetes verfeinertes höheres „Tier”, dem
die ewige Seele ebensowenig zugänglich
wird wie irgend einem anderen bloßen
Tiere...
.Nur über die ewige Seele, die ihren
zentralen Urlebenspunkt in sich trägt: ‒
den ewigen Geistesfunken aus dem Urlicht,
63 Geistige Relationen
‒ ist es uns Leuchtenden des Urlichtes
möglich, unseren erdenhaften Mitmenschen
geistige Hilfe zu bringen.
.Die ergreifenden und erhaben schönen
Bekundungen der großen Mystiker sind ge‐
wiß Zeugnisse erlebter, im Tiefsten erschüt‐
ternder Gottesempfindung, aber die Ein
heit, die so erlebt wurde, war im aller‐
höchst Möglichen nur die jedem Erden‐
menschen potentiell erreichbare Erlebens‐
einheit in dem ewigen Geistesfunken seiner
eigenen ewigen Seele. Das ist gewiß an sich
hoch erhobenes Erleben, aber nur das Er‐
leben der bloßen Einheit seiner selbst
im ewigen Geiste!
.Das All-Ein-Sein in dem wir Leuch‐
tende im Urlicht leben, umfaßt jedoch alles
auf solche mystische Art geschehende Ein‐
heitserleben zugleich mit allen unend‐
lichfältigen anderen Einheiten innerhalb
64 Geistige Relationen
der Struktur des ewigen substantiellen Gei‐
stes. Es ist kein subjektives Er-leben
eines Einen, sondern das objektive Leben
des ewigen substantiellen Geistes selbst, und
aller irdischen Auffassung entzogen. Es
wird geistig gelebt, ‒ nicht er-lebt! Das
ist ein himmelweiter Unterschied, den
alle sehr beachten müssen, die sich in Be‐
kenntnisse der Mystik und Gnosis, wie sie
heute in großer Anzahl vorliegen, nacher‐
lebend zu vertiefen suchen! Die Empfin‐
dung muß da sehr distinkt zu unterschei‐
den wissen, sonst wird Inkommensurables
in bedenklich fragwürdigen Meinungen ver‐
mengt, auch wenn es sich nur darum han‐
delte, erst die „Stimmung” des betreffenden
Buches aufzunehmen. Es ist auch nicht zu
vergessen, daß nur recht selten und nur
von sehr wenigen Menschen, die der My‐
stik ergeben waren, der hohe Aufstieg zur
„Einung”: ‒ zum Sich-selbst-erleben im
ewigen Geistesfunken, ‒ bekundet wird,
während das weitaus meiste als „mystisch”
65 Geistige Relationen
gedeutete Erleben Frommer, sehr irdi
scher Art und ganz im erdenkörperlichen
Nervensystem begründet ist, dessen Er‐
regungszustände als „geistige Erlebnisse”
aufgefaßt werden, obwohl in Wahrheit nur
ein Wahrnehmen vorliegt, der Lichtempfin‐
dung des Sehnervs vergleichbar, wenn auf
das geschlossene Auge ein heftiger Druck
erfolgt.
.Aber die wahrhaftig zuweilen in ihre
geistige „Einung” gelangten echten Mystiker
wußten genau, daß ihr Gotterleben trotz
allem ein subjektives Erleben war, und
wenn einer ihrer Größten den Rat erteilt,
einem bittenden Armen an der Klosterpforte
erst die Suppe zu bringen, auch wenn er zur
Unzeit käme, weil der Gebetene mitten in
seiner Beschauung sei, so ist hier nicht nur
die Nächstenliebe in besonderer Weise an‐
empfohlen, sondern zugleich die Subjek
tivität des mystischen Erlebens betont, das
66 Geistige Relationen
nicht in selbstsüchtiger Weise fortgeführt
werden dürfe, während ein Mitmensch, den
der Schauende zu sättigen vermöge, Hunger
litte. Zahllos sind denn auch überall wo echtes
mystisches Erleben eingetreten war, nachher
die Klagen darüber, daß man es nicht fest‐
zuhalten vermochte und nun nach der Einung
im Innersten sich wieder im Alleräußersten
finde: ‒ dem kaum noch ertragbaren Gegen‐
satz...
.Gerade hier läßt sich irdischem Verständ‐
nis am ehesten vermitteln, was das geistige
Leben des Leuchtenden im Urlicht so hoch
über alles mystische Erleben erhebt! Wir,
die wir aus dem Urlichte leben und aus ihm
in seinem Strahlen leuchten, sind nicht nur
zeitweise in diesem geistigen Leben, son‐
dern selbst im Alleräußersten sind wir
gleichzeitig ohne Unterbruch in unserem
Allerinnersten, aus dem uns auch das sinnen‐
hafte Erleben der wildesten Außenwelt nicht
zu lösen vermöchte. Und im Gegensatz zu
67 Geistige Relationen
dem, was der große Meister der Mystik seinen
Schülern anrät, wäre es für den Irdischen,
der das Werkzeug des ewigen Leuchtenden
im Urlicht ist, ein Hohn auf alle Nächsten‐
liebe, wenn er während des ihm obliegen‐
den objektiven geistigen Wirkens für Un
zählige, dem einen Armen zuliebe das All
Ein-Sein auch nur für eine Sekunde auf‐
geben wollte, solange die geistige Notwen
digkeit verlangt, daß in ihm zu verharren
ist! Der arme Hungernde wird alsbald von
anderer Hand gesättigt werden, ohne zu
ahnen, daß diese andere Hand nur spendet,
was ihm der in seinem All-Ein-Sein tätige
Leuchtende des Urlichtes im Äußeren dieser
Welt zugedacht hat. Das ist kein holder Aber‐
glaube, sondern beruht auf nüchternem Ab‐
lauf eines Geschehens, das streng gesetzlich
geregelt ist und fast „automatisch” sich aus‐
wirkt, indem es stets da sich durchsetzt, wo
es den geringsten Widerstand zu über‐
winden hat. Es gibt mancherlei Möglich‐
keiten solchen Geschehens, denen allen frei‐
68 Geistige Relationen
lich auch präzise Grenzen zubestimmt sind,
die nicht überschritten werden können. Hier
regelt sich alles nur von der inneren Welt
der Ursachen her, die uns Leuchtenden
im Urlicht erschlossen ist.
.Warum ich von allen diesen so verschie‐
denen Relationen in denen der irdische
Mensch zu ewigem Göttlichen stehen kann,
hier rede? ‒
.Auch wieder nur um euretwillen!
.Ich sehe manche aus euch in ernster
Gefahr, sich selbst Hindernisse zu bereiten
durch Versuche, Unvereinbares zu vereinen.
Und es ist wahrhaftig Gefahr für das kon‐
krete Innewerdenkönnen der Struktur des
ewigen substantiellen Geistes, wenn man um
des eigenen Verstehens willen der Mystik
oder gar der vor- und frühchristlichen Gnosis
einordnen zu können meint, was so hoch
69 Geistige Relationen
über höchstem mystischen Erleben innerer
Einheit, im Urlicht selbst gelebt wird, daß
keine astronomische Zahl imstande wäre,
die hier trennende Distanz vergleichsweise
auch nur anzudeuten. Wohl können die Be‐
kundungen wahrhaft echter Mystiker das
Vorstellungsvermögen „stimmen”, so daß es
fähig wird, die reinen Akkorde aus dem
Ewigen wiederzugeben, die auf „den Harfen
des geweihten Berges” für das Ohr der Seele
zum Erklingen kommen, aber Beides ist sehr
bestimmt zu trennen, so, wie man gewiß zu
unterscheiden weiß zwischen dem bloßen
Anschlagen der Töne beim Stimmen des
Instruments, und der dann auf ihm erklingen‐
den Sonate. ‒
.So ist denn auch wahrhaftig jeder Leuch‐
tende des Urlichtes ein „Philos” der ewigen
„Sôphia”: ‒ ein Freund der göttlichen
Weisheit, aber die Genesis der Lehren und
Aufschlüsse, die er zur Offenbarung bringt,
schließt kategorisch aus, das, was er dar‐
70 Geistige Relationen
bietet, als „Philosophie”, im wissenschaft‐
lichen Sinne, zu bezeichnen. Er gibt ja nicht
etwa Resultate seines Denkens, und nicht
aus Schlußfolgerungen besteht sein Er‐
kennen! ‒
.So schafft jeder aus uns, die wir im
ewigen Urlicht Leuchtende sind, in Wahrheit
„Religio”: ‒ Verbindung des „Außen” mit
dessen allerinnerstem Ursprung, und zeigt
die Relationen zwischen Zeit und Ewigkeit
auf, aber die Spur der historischen Wahr‐
heit wird verwischt, sobald man einem aus
uns die persönliche Gründung eines von ihm
geschaffenen, vorher unbekannten Reli
gionssystems und eines, sodann es erhalten‐
den Kultes zuschreibt!
.Auch ist mir gewiß bewußt, daß wissen‐
schaftlich bestimmter Sprachgebrauch mit
dem Worte „Metaphysik” recht wesentlich
Anderes bezeichnet, als was dieses Wort bei
mir bedeutet, der ich seinen Sinn dahin
71 Geistige Relationen
verstanden wissen will, daß es die erden‐
sinnlich unwahrnehmbaren Dinge meint,
die hinter der Physik des Universums ver
borgen sind. ‒ Wenn ich also von meinem
„metaphysischen” Lehrwerk spreche, so will
das gewiß nicht besagen, daß seine Aufschlüsse
einen Platz im Bereich der besonderen Be‐
tätigung des Denkens beanspruchten, die
man als „Metaphysik” von rein philosophi‐
schem Denken zu scheiden sucht. Mir ist
das Wort „Metaphysik” im etymologi
schen Verstande zu einem Notbehelf ge‐
worden.
.Kurzum: ‒ es gibt kein „Rubrum” unter
dem sich die Aufschlüsse ewiger Dinge, ‒
die Offenbarungen der Struktur ewigen sub‐
stantiellen Geistes, ‒ die ich, meiner gei‐
stigen Wesenheit nach, meinen Mitmenschen
und denen die nach meiner Erdenzeit kom‐
men werden, zu bringen vermochte, als ein
Spezielles, in Allgemeines einreihen ließen.
Wer daher für alles was ihm begegnet, ein
72 Geistige Relationen
Rubrum: ‒ eine Inhaltsdeklarierung und
Einordnung in ihm schon Bekanntes, braucht,
der wird zwangsweise meinem ganzen Lehr‐
werk eine irrige Ausdeutung geben und
gerade an dem, was in meinen Worten
wesentlich ist, achtlos vorübergehen oder
das ihnen Fremdeste in sie hineininterpre‐
tieren. Ich vermag das nicht zu ändern, aber
ich will nicht unterlassen haben, darauf
hinzuweisen, daß man so in eine dunkle,
stickichte und arg verwinkelte Sackgasse gerät,
aus der durchaus nicht Jeder später noch
wieder herauszufinden weiß! ‒
.Und immer wieder muß ich daran er‐
innern, daß ich, meiner erdbedingten Natur
nach: ‒ Künstler bin! Nicht Gelehrter,
nicht Forscher, nicht Angehöriger irgend
eines Glaubenskreises, und nicht Bekenner
erdverhafteter Bekenntnisformen, auch wenn
ich manchen wohlverstehend zugetan bin,
weil ich um den Erdensegen weiß, den sie
Irdischen heranzuziehen imstande sind. ‒ ‒
73 Geistige Relationen
.Auch das ist nur um euretwillen ge‐
sagt, denn als Künstler „hänge” ich nicht
‒ wie der Dilettant ‒ an dem, was ich
hervorgebracht habe, und es bleibt mir glei‐
chen Wertes, einerlei ob man es achtet oder
mißversteht. Nur um euretwillen emp‐
finde ich Freude, wenn ich gewahre, daß
euch mein Lehrwerk fehlen würde, wäre es
nicht vorhanden! Um euretwillen allein
bin ich besorgt, euch alle Relationen auf‐
zuzeigen, die zusammenwirken mußten, da‐
mit mein geistiges Lehrwerk für euch und
die Kommenden entstehen konnte.
.Nichts liegt mir ferner, als Menschen für
meine Worte etwa „gewinnen” zu wollen,
aber wohl ist mir daran gelegen, vor mir
selbst zu wissen, daß alles durch mich ge‐
schehen ist, was nötig war, um denen, die
sie brauchen, die Aufschlüsse der Struktur
des ewigen substantiellen Geistes, die ich in
meinem geistigen Lehrwerk gebe, in höchst‐
möglichem Grade seelennahe zu bringen.
74 Geistige Relationen
.Ich will jeden Derer, denen zubestimmt
ist, was ich hinterlasse, in der Lage wissen,
sich selbst von der ewigen Wirklichkeit über‐
zeugen lassen zu können, die ich ihm in
sprachlichem Bilde vor Augen stelle!
.Aber in allem, was ich durch mein
geistiges Lehrwerk bewirken „will”, bin ich
immer nur Vollbringer des ewigen Willens,
aus dem ich lebe und dem ich mich ein‐
gefügt weiß für alle Ewigkeiten geistigen
Willensbewußtseins.
.Ich gebe nur weiter, was ich selbst geistig
besitze, will aber gewiß nicht den mir Ver‐
trauenden zur Annahme dessen, was ich
ihm bringe, überreden! Er selbst wird
vielmehr entscheiden lernen müssen, was
ihm vonnöten ist und was nicht, denn was
ich als homogenes Ganzes in den Schriften
des geistigen Lehrwerkes dargeboten habe,
umfaßt viel zu Vieles, als daß der Einzelne
für sich allein Alles in sich aufzunehmen
wüßte.
75 Geistige Relationen
.Jeder kann zwar von Allem was ich be‐
zeuge, Überzeugung herleiten, aber nach‐
her muß er wählen, sichten und suchen,
was seiner Eigenart zubestimmt ist, ohne
das für Andere Bestimmte ebenfalls sich
zueignen zu wollen!
.Im ewigen Geiste kann keiner eines
Andern Stelle einnehmen, und jeder bleibt
davor gesichert, daß seine Stelle von einem
Anderen eingenommen werden könnte! ‒
76 Geistige Relationen
KAPITEL III
.Wem es noch Schwierigkeiten bereiten
sollte, einzusehen, daß eine „allgemeine
Menschenliebe” nur das Postulat der Selbst‐
täuschung bleiben muß, ‒ so, wie auch
der Begriff der „Menschheit”, wenn er im
quantitativen Sinne gebraucht wird, keine
Wirklichkeit umfaßt, solange er den Einzel‐
menschen übersehen wissen möchte, der al‐
lein die Einheit ist, aus der erst die Ge
samtheit einer Erdenmenschheit ihr reales
Dasein hat, ‒ dem ist zu raten, das „Buch
der Liebe” zu befragen, damit er unter‐
scheiden lerne, zwischen der durch ach so
viele Bedingtheiten bestimmten Form der
Liebe, die ohne Gegenstand des Liebens
ganz unmöglich wäre, und jener höchsten
Form der gleichen Lebensdarstellung, von
der ich dort, als von der „Urfeuerkraft” der
Liebe spreche, die keines Gegenstandes be‐
79 Geistige Relationen
darf, da sie nichts im Dasein sieht, das
außer ihr Bestand haben könnte.
.Ich lebe wahrhaftig in dieser höchsten
Form der Liebe „ohne Gegenstand”, und
dennoch ist mein ganzes irdisches Dasein für
jene erdbedingte Form, die stets eines
Gegenstandes zur Entfachung bedarf, wie
ein Probierstein, an dem zutage tritt, was
in solcher Art Objekt meiner Liebe sein
kann, oder was von ihr ausgeschlossen blei‐
ben muß. ‒
.So sind meine Relationen zu Irdischem,
das Gegenstand der Liebe in dieser ihrer
gegenständlich bedingten Form zu sein ver‐
mag, ‒ ob es sich nun um Menschen, Tiere,
Pflanzen, Mineralien, Landschaften als Er‐
gebnissen geologischen und meteorologischen
Zusammenwirkens, handle oder um Formen
die menschlicher Arbeit, Gestaltungskraft und
Kunst entstammen, ‒ denkbar verschie
dener Art.
80 Geistige Relationen
.Anders ist es freilich in meinem rein
geistigen All-Ein-Sein!
.Alle Elenden dieser Erde trage ich in
meinem Alleinsein im ewigen substanti‐
ellen Geiste in mir, ob sie darum wissen oder
nicht. Ich helfe ihnen ihr Elend tragen, Tag
und Nacht! Die meisten aus ihnen meinen,
alle Hilfe habe sie verlassen, denn sie sind
fühllos gegen alles, was sich nicht tasten läßt.
Aber es gibt auch Gesammelte in sich sel‐
ber, die sehr wohl fühlen, daß ihnen einer,
den sie nicht sehen und nicht finden kön‐
nen, wahrhaftig tragen hilft!
.Die Mächtigen dieser Erde trage ich
hier ebenso in mir, und sie ahnen es noch
weniger. In einigen ist wahrhaftig der in‐
dividuelle ewige Geistesfunke gegenwärtig
und sie fühlen ihn als ihr Gewissen. An‐
dere hat er verlassen, weil er nicht mehr
Wohnstatt in ihnen fand, und eine schau‐
rige Leere ist daher in ihnen entstanden.
81 Geistige Relationen
So haben sie sich selbst ein künstliches
„Gewissen” gemacht, das wie ein Uhrwerk
täglich aufgezogen werden muß von ihnen,
und immer „JA!” sagt, wenn sie es befra‐
gen. Ich aber erleide mit ihnen die heim‐
lichen Qualen, die sie dennoch in ihrer Leere
fühlen, wo es wütet wie ein fressender Brand,
und jeder Augenblick den nicht die Außen‐
welt verschlingt, sie gewahr werden läßt, daß
sich da etwas vom Mark ihres Lebens nährt.
Ich muß die Einen wie die Anderen irren
oder rechttun sehen, und Beides muß mir
gleichen Wertes sein, denn ich bin keines
Erdenmenschen Richter. Und wenn ich auch
mit aller Macht vermöchte, Anderes zu er‐
wirken, dürfte ich doch niemals die Impulse
aufzuhalten trachten, die geschaffen wurden
ohne Geisteshilfe schon im Willen zu er‐
bitten, ehe Auswirkung erlangte, was die Ab‐
sicht aus sich selbst erstrebte. Doch gilt das
in gleicher Weise auch dort, wo jene Form
der Liebe, die des äußeren Gegenstandes
bedarf, mir durch mein eigenes Ent
82 Geistige Relationen
scheiden Relationen zu dem mir Gemä
ßen in den Außenwelten schuf.
.Es ist hier wie dort aber immerhin noch
möglich, selbst ohne ausdrücklichen Willens‐
ruf nach Hilfe, bedingungsweise doch geistig
helfen zu dürfen, ‒ niemals jedoch darf gei‐
stige Hilfe auch nur versucht werden, gegen
den Willen eines Menschen! Doch ist keiner‐
lei Abhängigkeit von menschlichem Gegen‐
willen im Wege, wo es sich um Hilfsobjekte
handelt, deren Dasein außerhalb der irdi‐
schen Erscheinungsform des Menschen steht.
Das soll freilich nicht etwa heißen, daß dann
dem Hilfswillen des im Urlicht Leuchtenden
keinerlei Hinderung entgegenstünde! Die
Möglichkeiten, geistige Hilfe zuzuleiten, sind
vielmehr auch hier, wo kein erdenmensch‐
licher Gegenwille in Betracht kommt, doch
überaus vielbedingt umgrenzt. Es kann, bei‐
spielsweise, einer Landschaft meine tiefste
Liebe gehören, und es mag mir oft genug
83 Geistige Relationen
gelungen sein, Gefahr ihres Gedeihens von
ihr abwenden zu lassen, ‒ trotzdem aber
kann es sich ereignen, daß ich ganz außer‐
stande bin, durch Zuleitung geistiger Hilfe
sie vor einer Katastrophe zu bewahren, weil
deren Veranlassungen bereits auf irdischem
Gebiet zu suchen sind, dem substantiell gei
stigen „Reich der Ursachen” entwunden!
Ebenso könnte mir persönlich Unwieder‐
bringliches entzogen werden, obwohl wahr‐
lich liebende Sorgfalt es umgab, und ich
müßte ganz aus dem gleichen Grunde tatlos
zusehen, ohne durch geistige Hilfe etwas an
dem für mich selbst so verhängnisvollen Ge‐
schehen ändern zu können.
.Ich kann unmöglich alles schützen, was
ich geschützt wissen möchte, sondern nur
das, dessen Schicksal sich noch im geistigen
„Reiche der Ursachen” mir erreichbar und
zu Besserem wandelbar erweist! Ein einziger
Augenblick kann genügen, um ein Schicksal,
das seit Jahrzehnten ‒ oder gar seit Jahr‐
84 Geistige Relationen
hunderten ‒ unentschieden geblieben war,
für bestimmte Erdenzeit, sei sie kurz oder
lang bemessen, oder für alle Ewigkeiten zu
entscheiden. Es ist der Augenblick, in dem
es sich den geistigen Bezirken, die ich unter
der Bezeichnung „das Reich der Ursachen”
verstanden wissen will, zu entwinden wußte,
um in der äußeren Sinnenwelt seine Auswir‐
kung zu erfahren!
.Unter vielem anderen ist mir aus dem
ewigen substantiellen Geiste her aufgetragen,
als Erdenmensch, in den Tagen meines Da‐
seins allhier, das dieser Erde entstammende
Leid zu „entwerten”. Das ist leichter ge
sagt, als getan! Wenige nur wissen, wessen
es bedarf, um auch nur die irdische Mög
lichkeit dazu schaffen zu können und alle
Voraussetzungen zu erfüllen, die erst erfüllt
sein müssen, wenn das hier geforderte
geistige Werk, als fortzeugender und bis in
fernste Zeiten weiterwirkender Dauerimpuls
gestaltet, gelingen soll...
85 Geistige Relationen
.Man spricht auf Erden noch immer von
der „läuternden Kraft” des Leiderduldens.
Aber das Leid dieser Erde ist an sich nicht
„Klärung”, sondern Trübung, und seine
quälende Gewalt ist nicht „Kraft”, sondern
zerfrißt wie eine ätzende Säure alle wirkens‐
trächtige Kraft, wenn sie sich nicht aus
Eigenem zu schützen weiß! Was der Erden‐
mensch an Kraft besitzt in seinem Leibe,
ist aber nur dann zu schützen, wenn die
Gewalt alles erdentstammten Leides erkannt
wird als fressende und Zerstörung verlangen‐
de, zeitlich befristete ‒ Lüge. ‒ So muß
ich denn in meinem eigenen Verhalten gegen‐
über irdischer Leideserfahrung im Leid die
Lüge sehen lehren. Anders könnte ich mei‐
nen geistgegebenen Auftrag niemals erfüllen!
Die geistigen Relationen aber, die auch hier
auf Erden zwischen allen sich hier im zeit‐
lichen Dasein gewahrenden ewigen Menschen‐
seelenkräften bestehen, lassen das, was ich in
meinem Erdenleibe zur Auswirkung bringe,
unzähligen Menschen, ‒ nicht nur meiner
86 Geistige Relationen
irdischen Tage, sondern auch unbemessener
kommender Zeiten, ‒ erfühlbar werden,
wozu durchaus nicht vonnöten ist, daß sie
um den Ausgangspunkt der in ihnen emp‐
findbar werdenden Wirkungen wissen.
.Auch dieses Geschehen kann nur er‐
folgen, durch Aufnahme des hier im Irdi‐
schen von mir geschaffenen Dauerimpulses
in das geistige Reich der Ursachen, das ihn
benötigt, sollen die Schicksale der Menschen
auf Erden für die er erwirkt wurde, so ge‐
staltet werden können, daß nicht nur die
geistigen Relationen der Seelenkräfte unter‐
einander die Übertragung möglich machen,
sondern auch das Übertragene zu neuer
Auswirkung kommt.
.Der eigene Erdenkörper jedoch ist mir
zur Schaffung dieses hier bezeichneten Dauer‐
impulses unbedingt notwendig, und ohne
ihn hätte ich, auch aus dem Reiche der Ur‐
sachen her, die mir mitgegebene geistige
87 Geistige Relationen
Verpflichtung niemals erfüllen können, wie
denn auch noch andere geistige Hilfeleistung
der Mitwirkung des Erdenkörpers bedarf,
aus dem her allein bestimmte Schwingungen
erweckt werden können, die nötig sind, um
Geistiges in irdisch Einwirkendes zu trans‐
ponieren. Auch bei dem geistigen Vorgang
der Übertragung eines wirklichen ‒ nicht
nur in Worten bestehenden ‒ Segens ist
die Körperlichkeit des Segnenden überaus
beteiligt.
.Alle diese Formen geistiger Hilfe, ‒ so‐
weit es sich nicht um aus meinem All-Ein
Sein zugeleitete Geisteshilfe handelt, ‒ sind
ausschließlich durch jene Form der Liebe
bestimmt, die unmöglich wäre, ohne den
Gegenstand, dem sie sich darbringt. Sie
umfaßt alles, was ich in dieser Welt der
Erdensinne wirklich zu lieben vermag, weil
es mir gemäß ist und weil ich es lieben
will, oder weil es auch mir seine Liebe von
sich aus übereignet.
88 Geistige Relationen
.Fern von dieser mir aus meinen Rela‐
tionen zum irdischen Daseinsbereich erwach‐
senen Liebe die ihres Gegenstandes bedarf,
lasse ich jedoch alles liegen, was ich irdisch
ablehnen muß als ein mir Ungemäßes oder
unwandelbar Entgegengesetztes, und ich bin
auch wahrhaftig in mir selbst davor gesichert,
Gefühle des Erbarmens und des verzei
henden Verstehens schon der Liebe zu‐
ordnen zu wollen, gleichviel von welcher
ihrer Äußerungsweisen die Rede sein mag.
.Seid sicher, geliebte Freunde, daß nichts
außerhalb meiner erdbedingten geistigen
Liebe bleibt, was irgendwie dazu geeignet
und fähig ist, sie aufnehmen zu können, ‒
aber erwartet auch nicht von mir, daß ich
mich selbst zu täuschen suchen möge, als
sei ich dort etwa schon in der Liebe, wo
ich nur aus Erkenntnis erdenmenschlicher
Unzulänglichkeit heraus zu verstehen und
verstehend zu verzeihen weiß!
89 Geistige Relationen
.Ich muß, ‒ ob ich will oder nicht, ‒
sehr präzise Trennungslinien für meine
Liebe hier im Erdendasein beachten, getreu
der Weisung, daß „das Heilige” nicht „den
Hunden” vorgeworfen werden dürfe, und
„Perlen” nicht „den Schweinen”... Womit
ja wahrhaftig kein Urteil über diese Tiere
ausgesprochen, sondern vielmehr auf die
unumgängliche Notwendigkeit hingewiesen
wird, das Untaugliche nicht zum Empfänger
Dessen werden zu lassen, womit es nichts
anzufangen weiß, sodaß nur mißbraucht
würde, was die zum Empfang Berechtigten
nicht hoch genug zu werten wissen.
.Hingegen erreicht die strahlende Ur
feuerkraft der Liebe in ihrer höchsten,
himmlischen Form, die mir Daseinsbedin‐
gung auch in meinem irdischen Leben bleibt,
mit ihrer freien strömenden Wärme alles,
dem ich meine erdbedingte Liebe darbringen
kann! Handelt es sich um Menschen, so
wird die innere Sammlung des einzelnen ent‐
90 Geistige Relationen
scheidend dafür sein, ob er diese strahlend
wärmende geistige Strömung auch in sein
Gehirnbewußtsein aufzunehmen vermag, ja
auch darüber, ob er sie überhaupt in sich
empfindet. Selbstgefälligen aber, die „Be‐
dingungen” stellen, da sie nur etwas in sich
gesehen wissen möchten, was sie nicht sind,
und was ich darum unmöglich in ihnen zu
„lieben” vermöchte, kann auch meine sor‐
gendste Liebe nicht fühlbar werden, ‒ wäh‐
rend es sein kann, daß selbst in nicht
bewußt empfindungsfähigen Dingen, die
Gegenstand meiner Liebe wurden, dem auf‐
merksamen Beobachter von außenher
schon die Auswirkung der Förderung wahr‐
nehmbar wird, die ihnen der Zustrom meiner
Liebe bringt. ‒ Ich bin kein „Magier”, der
‒ wie allzu hemmungslose Gläubigkeit gar
gerne wahrhaben möchte ‒ die Gesetze
dieser Erde mißachten und aufheben könnte!
Ich mühe mich nur, sie auch dort zu be‐
achten, wo man um ihr Bestehen nur aus
dem ewigen Geiste her wissen kann.
91 Geistige Relationen
.Ich rühme mich aber hier nicht etwa
besonderer „Verdienste”.
.Alles, was nach „Verdienstlichkeit” riecht,
riecht faul!
.Wer sich im Geistigen „Verdienste” auf‐
häufen zu können glaubt, steckt noch tief
im Irdischen. Er weiß noch nicht, daß das
einzige „Verdienst” was im ewigen Geiste
zu erlangen ist, nur erreicht wird durch
Verzicht auf alle Anrechnung eigener „Ver‐
dienste”!
.Wer im Geiste Gottes bewußt ist, wurde
das ohne alles eigene irdische „Verdienst”
und ist in sich selbst davor gesichert, sein
Tun für „verdienstlich” zu halten.
92 Geistige Relationen
ANHANG
Nach Nummern geordnetes
REGISTER
der in den Büchern des Lehrwerkes
enthaltenen
Einzelstücke
.An „Inhaltsverzeichnissen” der meinem
geistigen Lehrwerk zugehörigen Schriften
fehlt es gewiß nicht, und wo es darum ging,
eindeutig zu bestimmen, was diesem Lehr‐
werke zuzuzählen sei und was nicht, dort
mochte dem Endzweck Genüge geschehen,
wenn neben den Buchtiteln auch die „In‐
haltsverzeichnisse” angeführt wurden, wie
das denn auch in dem Schlußabschnitt des
letzten, dem Lehrwerk zugehörigen Buches:
Hortus conclusus”, geschehen ist.
.Hier aber ist es mir nicht darum zu tun,
nochmals zu bestimmen, welcher „Inhalt”
dem einzelnen Buche zugerechnet wer‐
den dürfe.
.Ich zeige vielmehr in diesem Register
erstmals den Zusammenhang des ganzen
geistigen Lehrwerkes an seinen Einzel
95 Geistige Relationen
stücken auf, und die Nummer, unter der
ich das Einzelstück einreihe, läßt zugleich
erkennen, daß sein Erscheinen in einer der
Lehrschriften aller Willkür entrückt war,
wie ich das ja auch schon in meinen „Hin‐
weisen” auf die Bücher der Lehre kurz dar‐
gelegt habe.
.Vom ersten Wort an, das ich für meine
Mitmenschen auf Erden niederschrieb, zeigte
sich mir ja alles gegenwärtig, was erst später
noch zu besonderer Erörterung kommen
konnte. Dafür sollen dem geistig erwachen‐
den Leser meiner Schriften im Folgenden
die Augen geöffnet werden! ‒
Anm.: Es folgt im Buch nun die Auflistung des gesamten
Lehrwerkes samt Unterkapitel, wie im Inhaltsverzeichnis von
Buch Nr.1 bis zu Buch Nr.32. Auf eine nochmalige Darstellung
wird an dieser Stelle daher verzichtet.
96 Geistige Relationen
112 Geistige Relationen
.Diese Aufzählung der Titel, die ich je‐
weils den Einzelstücken des durch mich
gestalteten geistigen Lehrwerkes gegeben
habe, kann freilich nicht dazu dienen, einen
auch nur einigermaßen ausreichenden Ein‐
blick in den weiten Bereich der Themen
zu schaffen, die in den benannten Einzel‐
stücken Erhellung aus dem Lichte des ewigen
substantiellen Geistes her fanden. Nur der
mit dem Inhalt des gesamten Lehrwerkes
bereits ein wenig Vertraute, der sich beim
Wiederlesen der einzelnen Titel an den dazu‐
gehörigen Inhalt des jeweiligen Einzel
stückes erinnert fühlt, mag vielleicht er‐
messen können, was dieses Register um
faßt! Es erscheint noch dazu unter mehre‐
ren Nummern nicht weniges nur summa
risch bezeichnet, was wohl auch im Einzel
nen hätte angeführt werden dürfen. Ich habe
113 Geistige Relationen
darauf verzichtet, um dieses Titelregister auf
den engsten Raum zu bringen.
.Mancher der hier registrierten Titel, ‒
deren bloße Zahlenfolge schon dem wirk‐
lichen Willen zum Eindringen in das Lehr‐
werk den Weg weist, ‒ wird jedoch denen,
die den Inhalt des bezeichneten Einzel‐
stückes noch nicht in sich aufgenommen
haben, vorerst nur wenig bedeuten können.
.Dennoch durfte ich den Einzeltitel an
seiner Stelle nicht fehlen lassen. Er steht
also im Zusammenhang da für alle, die
bereits einmal den unter ihm bezeichneten
Inhalt kennenlernten.
.Die Wiederholungen, die sich in diesem
Titelregister natürlich ganz ebenso wie in
den Schriften selbst finden, ergaben sich
daraus, daß die Erörterung der Themen
im Umkreis eines jeden einzelnen Buches
aus einem andern Gesichtspunkt her
114 Geistige Relationen
erfolgen mußte. Aus dem Zusammenhang
dessen, was das einzelne Buch umschließt,
läßt sich leicht die an bestimmter Stelle
gemeinte Bedeutung des Einzeltitels er‐
kennen, auch wenn er an anderer Stelle
in veränderter Gebrauchsweise erscheinen
mag. Das Gleiche gilt für einzelne Worte,
die innerhalb verschiedener Titelformungen
gelegentlich wiederkehren. Es liegt auf der
Hand, daß z.B. das Wort „Mysterium” in
dem Titel „Das Mysterium von Golgatha”
naturnotwendig etwas recht wesentlich Ande‐
res meint, als dort, wo ich vom „Mysterium
Mann und Weib”, oder vom „Mysterium der
künstlerischen Ausdrucksform” spreche!
.Ebenso löst sich jede andere, etwa einem
der Titel gegenüber auftauchende Frage
mühelos durch den jeweils gegebenen Zu‐
sammenhang im Ganzen des Buches, dem
das Einzelstück entstammt.
.Auch der gänzlich ununterrichtete oder
den geistigen Aufhellungen, die ihm durch
115 Geistige Relationen
die Schriften des Lehrwerkes zuteil werden
können, noch recht fernstehende Suchende
wird bei der Durchsicht dieses Registers
ohne jede Schwierigkeit gewahr werden,
daß es sich hier um ein vom Anfang bis
zum Ende ineinander verflochtenes Ganzes
handelt. Dieses in sich geschlossene Gesamt‐
werk umfaßt ebenso die Darstellungen
der Struktur des ewigen substantiellen
Geistes wie die Ratschläge und Weisun
gen, die sich aus dieser her für alle Gebiete
des irdischen menschlichen Lebens ergeben,
und ist vom ersten bis zum letzten Satz da‐
zu bestimmt, dem Aufnehmenden zu zeigen,
wie er in Wahrheit in sich selbst die un‐
bestreitbare Überzeugung vom Zusammen‐
hang seines irdisch begrenzten Daseins mit
dem unvergänglichen Seinszustande der
Ewigkeit erlangen kann.
.Begreiflicherweise mußte dabei erden‐
menschlicher Irrtum berichtigt werden,
der als Hindernis auf Wegen liegt, deren
116 Geistige Relationen
Markierungen dem Suchenden zu Unrecht
versprechen, ihn dem ewigen Geiste zu‐
leiten zu wollen. Es war mir dabei wahr‐
haftig in keinem Falle um irgendwelche
„Polemik” zu tun, immer aber um den
Schutz des ehrlichen Suchenden vor den
Irrwegen, die ihn nur zu leicht dazu be‐
stimmen können, seine Kräfte zu vergeuden,
im Wahn, seinem wirklich gewollten Ziele
zuzustreben.
.Gebe der Himmel, daß es mir auch ge‐
lungen sei, alle Suchenden vor Wegen zu
bewahren, die einem gütigen Humor ver‐
wehrt sein würden! ‒ Die ewige Weisheit
kann denen nur erschlossen werden, die
über alles Törichte noch herzhaft ‒ lachen
können!
Geschrieben in sehr ernsten Tagen,
aller Weltnöte wahrlich bewußt.
Signatur
117 Geistige Relationen
.Die Lautefolge Bô Yin Râ ist eine Verbindung
von sieben Lauten zu drei Silben, in denen sich
der Autor um den es sich hier handelt, nach
geistigen Lautwertgesetzen, mit mathematischer
Ausschließlichkeit substantiell bezeichnet fühlt.
An ein sogenanntes „Pseudonym” ist hier schon
deshalb nicht zu denken, weil der bürgerliche Name
des Mannes, der den geistigen Namen Bô Yin Râ
trägt: ‒ Joseph Schneiderfranken, ‒ nirgends
von ihm verborgen gehalten wird, auch wenn er
ihm als ein Akzidens gilt, während ihm die drei
Silben Bô Yin Râ seinen wirklichen urverbun‐
denen „Namen” ausmachen. Was wir hier nur
andeuten können, findet sich in den Schriften
selbst authentisch dokumentiert.
.Diese Schriften ‒ vom Autor selbst als „gei‐
stiges Lehrwerk” gemeint ‒ bilden ein Schrifttum
für sich, dem man unseres Erachtens kaum ge‐
recht wird, wenn man es, wie das schon gesche‐
hen ist, einfach den „heiligen Schriften” der ver‐
schiedenen irdischen Glaubenskreise zuzählt, in
einer Reihe mit „Bibel”, „Upanishads”, „Bhaga‐
vadgita”, „Dhammapadam”, „Tao te king” und
Anderem. Wir glauben hingegen sagen zu können,
119 Geistige Relationen
daß dieses Lehrwerk Religion an sich ist; das
Wort in überzeitlich freier Wertung und losge‐
löst von jeder zwangsmäßigen Bekenntnisbindung
verstanden.
.„Wer einmal nur vom lebendigen Strahl dieses
Geistes getroffen wird, der sich Bô Yin Râ nennt,
dem wird ein Gewinn zuteil, dessen tragenden
Gehalt er auch in seinen kühnsten Träumen kaum
erahnen kann”. So lautet eine vor Jahren schon
ergangene öffentliche Bekundung zu Bô Yin Râs
Schriften, die wir durchaus bestätigen können.
KOBER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
ZÜRICH
120 Geistige Relationen
ENDE
IN EIGENER SACHE
EINE RICHTIGSTELLUNG
VIELER
FEHLMEINUNGEN
Verlagslogo
KOBERSCHE
VERLAGSBUCHHANDLUNG AG
BERN
2. Auflage
Unveränderter Nachdruck der Erstausgabe 1935
© 1935 und 1990 by Kobersche Verlagsbuchhandlung AG, Bern
ISBN 3-85767-027-4
UM DEN FORDERUNGEN DES URHEBERRECHTES
ZU ENTSPRECHEN, SEI HIER VERMERKT, DASS
ICH IM ZEITBEDINGTEN LEBEN DEN NAMEN
JOSEPH ANTON SCHNEIDERFRANKEN FÜHRE,
WIE ICH IN MEINEM EWIGEN GEISTIGEN SEIN
URBEDINGT BIN IN DEN DREI SILBEN:
BÔ YIN RÂ
2 In eigener Sache
Foto des Autors
IN
EIGENER
SACHE
Ich habe mich zwar nur wenig zu bekla‐
gen über mangelndes Verständnis bei
denen, die meinen geistigen Lehrbüchern
lange schon zugetan sind, aber ich beklage
um so mehr die noch immer bei anderen
verbreitete Auffassung, als hätte ich tö‐
richterweise im Sinn, einer neuen Glau‐
benskonvention den Weg zu bahnen oder
etwa subjektiv gefärbten Phantasien
und Spekulationen über Dinge, die unse‐
ren irdischen, tierhaften Erkenntnis‐
organen nicht zugänglich sind, einen
wundergläubigen, in seiner Glaubens‐
bereitschaft aller kritischen Hemmun‐
gen ledigen Anhängerkreis zu sichern.
Wenn ich es denn wirklich noch aus‐
drücklich sagen muß, so sei es hier aufs
deutlichste gesagt: ‒
.Beides liegt mir unendlich fern!
.So fern, daß mir jegliches Verständnis
für die seelische Kurzsichtigkeit fehlt,
5 In eigener Sache
die Ursache dazu werden kann, mir noch
derlei Absichten zuzutrauen, nachdem
man auch nur eines meiner Bücher wirk‐
lich gelesen hat.
.Ich muß mich aber auch auf das
schärfste dagegen verwahren, einer Sorte
von Bücherverfassern urteilslos zuge‐
zählt zu werden, denen der Trieb kritik‐
unfähiger Massen nach Erklärung des
ihnen Unerklärlichen nur allzusehr ge‐
legen kommt, um sich in Szene setzen zu
können, und sich auf Grund frivoler, das
wirklich Geheimnisvolle auch nicht in
leisester Ahnung erspürender Spekula‐
tionen, den Nimbus eines Sehers oder
‒ aus hintergründiger Pseudowissenschaft
orakelnd ‒ eines Kenners geheimer Welt‐
gesetze zu verschaffen.
*
.Meine Bücher lassen überall, wo sie
hingelangen, aus resignierenden, ver‐
6 In eigener Sache
quälten Seelen glückliche Menschen wer‐
den.
.Dieser naturnotwendige Erfolg eines
konsequenten Lebens nach den aus mei‐
nen Lehren sich ergebenden Folgerungen
ist der einzige „Beweis”, den ich für die
Wirklichkeitsentsprechung meiner Dar‐
stellungen gebe, ‒ aber auch der allein
vollgültige. Ich trachte nach keinem an‐
deren! Mir liegt es ferne, „Beweise” zu
erbringen für das, was derer Leben, die
nach meinen Worten leben, jederzeit be‐
weisen kann.
.Jeder Versuch, meine Bekundungen,
Lehren und Erklärungen in die Gedan‐
kenreihen und Empfindungsgefüge alt
orientalischer oder späterer, christlich
orientierter Mystik einordnen zu wollen
‒ nur weil ich das Sprach- und Begriffs‐
gut dieser Bezirke gebrauche, da es sich
mir nun einmal darbietet und zuweilen
7 In eigener Sache
unersetzlich ist, wenn ich mich versteh‐
bar machen soll ‒, muß unbedingt zu
einem wirren Mißdeuten meiner Bücher
führen.
.Auch der findigste und belesenste Kopf
kann dem, was ich geschrieben habe,
nicht näher kommen, solange er noch
mit Maßstäben an meine Lehrworte
herantritt, die von den ihm naheliegen‐
den Glaubensmeinungen oder philoso‐
phischen „Systemen”, das Geistige in
der Welt zu erklären, mitgebracht oder
aus ihnen hergeleitet sind. Am aller‐
wenigsten aber wird man zu dem ge‐
langen, was man finden könnte, wenn
man sich durch ein vorschnelles Urtei‐
lenwollen verleiten läßt, mich gar unter
die modernen „Theosophen” oder „Ok‐
kultisten”, und wie sich das alles nennen
mag, zu rechnen, da ich auch die in die
sen Kreisen gängige Terminologie durch‐
8 In eigener Sache
aus nicht ängstlich gemieden habe, wo
sie mir als Verständigungshilfe in den
Weg gelaufen kam.
.Wir sind in den europäisierten Teilen
der Welt durchaus nicht so reich an Be‐
griffen und Benennungen, die sich zur
Darstellung des Lebens im Bereiche
ewiger Geistsubstanz gebrauchen ließen,
als daß der Berichter auch nur auf ein
einziges vorgefundenes Wort verzichten
dürfte, wenn es ihm Verständigungs‐
möglichkeit zu schaffen scheint und sub‐
jektiver Irrdeutung einigermaßen ent‐
rückt ist. Selten genug sind solche Worte
zu finden!
.Alle altorientalische und später die
christliche Mystik war aber in der Mensch‐
heit nur darum möglich, weil das, wovon
ich zu berichten habe, seit dem ersten Er‐
wachen des ewigen geistigen Funkens in
den Seelen weniger Erdenmenschen ferner
9 In eigener Sache
Urzeit ununterbrochen auf Erden gegen
wärtig war, ‒ und ein wirkliches Ver‐
stehen des Werdens religiöser Vorstel‐
lungen setzt voraus, daß man um diese
stete Gegenwart wisse, wie man um das
Gesetz der Schwerkraft weiß.
.„Mystik” ist nichts anderes als sub‐
jektive Fehldeutung jenes inneren Er‐
fahrens, das gemäß der gegebenen
Struktur substantiellgeistigen Lebens
zuweilen einzelnen, besonders gearteten
oder vorbereiteten Menschen möglich
wird. Das gleiche Erfahren bei ausge‐
sprochener Veranlagung zu rein histo‐
risch anschauendem Erkennen und daher
ohne die Fehldeutung des Mystikers, steht
am Anfang aller geistig begründeten Reli
gionen, in denen ewige Wahrheiten „dra‐
matisiert” zum Ausdruck gelangen.
.Das „Dogma”: der die Anhänger ver‐
pflichtende Glaubenssatz, ist nur die
10 In eigener Sache
endgültige Formulierung der dem Re‐
ligionsgründer innerlich zuteil geworde‐
nen Erfahrung in äußerlich ausgespro‐
chener Behauptung. Es ist nur folge‐
richtig, daß jedes Religionssystem für
solcherlei Behauptung Zustimmung ver‐
langt.
.Nicht dadurch aber, daß man alle
diese verpflichtenden Behauptungen, wie
sie in den Dogmen der recht wenigen,
auf geistiger Erfahrung Einzelner be‐
ruhenden Religionen vorliegen, zu ver
einigen sucht, gelangt man zu dem, was
Ursache aller höheren Religionsbildung
war, ‒ sondern hierhin führt einzig und
allein nur das Wissen um die Struktur
des Lebens im ewigen substantiellen Geiste.
.Es ist nicht zu ändern, daß um diese
Struktur nur solche Menschen primär
aus eigener Erfahrung wissen können,
die ihrer ewigen Geistnatur nach in
11 In eigener Sache
diesem ewigen Leben des substantiellen
Geistes von Ewigkeit her lebendig sind,
und es daher in sich selber, in allen
seinen Schichtungen, bewußt wahrzu‐
nehmen vermögen.
.Das waren aber zu jeglichen Zeiten so
unfaßlich wenige, daß sie jeweils unter
den Millionen, die auf Erden leben,
scheinbar verschwanden, wie ein paar
Milligramm Radium im Sande des Mee‐
res für das Auge verschwinden würden,
ohne daß die von ihnen ausgehende Strah
lung tatsächlich verschwunden wäre...
.Allen anderen Erdenmenschen kann
aber das Wissen um die Struktur des
geistigen Lebens nur von seiten dieser
wenigen übereignet werden.
.Kriterium der Wahrheit solcher Mit‐
teilung ist nur das allmähliche Bewußt‐
werden der Seele in jenem Bereich des
geistigen Lebens, der den Fähigkeiten
12 In eigener Sache
und der seelischen Hingabe des Be‐
lehrten entspricht, und die damit er‐
langte Gewißheit der eigenen Eingliede
rung in unvergängliches, auf allen seinen
Stufen individuell bewußtes, geistigsub‐
stantielles Leben.
*
.Das Wort „Geist” umfaßt im alltäg‐
lichen Sprachgebrauch recht Verschie‐
denartiges.
.Die Tätigkeit des menschlichen Ge
hirns: das Denken, Erschließen und Be‐
griffebilden, wird als „geistiges” Arbei‐
ten bezeichnet, und man spricht in die‐
sem Sinne vom Menschengeiste.
.Man steigert das, was der Menschengeist
vermag, naiverweise ins Unendliche, und
gelangt so zum Begriff göttlichen Geistes.
.Aber man spricht auch innerhalb der
christlichen Dogmatik vom „Heiligen
Geiste” als einer „Person”: einer Selbst‐
13 In eigener Sache
darstellung in Gott, wobei das Wort
„Geist” nicht mehr von einem Tun her‐
geleitet ist, sondern eine distinkte Be
stimmtheit innerhalb der göttlichen Sub
stanz bezeichnet.
.In diesem rein substantiellen Sinne
wird überall in meinen Büchern von mir
das Wort „Geist” gebraucht.
.Ich „berufe” mich aber nicht etwa auf
das christliche Trinitätsdogma, sondern
habe es hier nur um der Verständigung
willen herangezogen, weil ich nur von
ewigem Gottesgeist künde, wenn ich die
Struktur des geistigen Lebens faßbar zu
machen suche, in dem ich selber im höch‐
sten Bewußtsein lebe, das einem Erden‐
menschen erfahrbar werden kann.
.Zugleich verwahre ich mich auf das
eindringlichste gegen jede Vermutung,
als wolle ich etwa um „Glauben” an
meine Worte werben.
14 In eigener Sache
.Was ich zu lehren komme, wird nicht
durch gläubige Zustimmung, sondern
einzig und allein durch eigene Erfahrung
der konsequent danach Handelnden be‐
zeugt, und ich muß jeder Instanz hier
jegliches Urteil über die von mir ge‐
brachten Lehren verweisen, solange der
Urteilende sich nicht dazu bequemen
kann, längere Zeit hindurch nach den
Anweisungen dieser Lehren zu leben.
*
.Im Grunde verstanden, kann man
jedes Buch, das ich geschrieben habe,
ein Geheimbuch nennen, denn in jedem
sind geistige Wahrheiten niedergelegt,
nur den wenigen Lesern erkennbar, die
bereits dort zu fragen begonnen haben,
wo meine Bücher die Antwort bringen.
.In diesen Büchern finden Wahrheiten
ihren Ausdruck, die von dem ersten Er‐
klingen menschlicher Sprache an bis auf
15 In eigener Sache
meine Erdentage nie in solcher Offenheit
in Worten mitgeteilt werden konnten.
Was da gesagt wird, war immer Ge‐
heimnis weniger Wissenden, wie es auch
weiterhin allen geheim bleiben wird, die
nicht für solches Wissen geboren sind.
Ihnen werden diese Bücher nur Anlaß
des Widerspruchs, und die Geheimnisse,
die den Berufenen Erlösung bringen,
werden denen, für die Erlösung noch
nicht bestimmt ist, unlösbar bleiben.
.Es sind hier Bücher entstanden, die
sich selber öffnen oder sich selber ver‐
schließen, je nach dem geistigen Zu‐
stand des Menschen, der die Seiten ab‐
fragt. In keiner Felshöhle unwegsamer
Gebirge und in keinem Versteck der
Wüsten Asiens wären diese Bücher bes‐
ser verborgen als auf den Tischen der
Buchhändler und in den Händen un‐
berufener Leser!
16 In eigener Sache
.Geheimnisse, die man auch jenen
weitergeben könnte, vor denen sie ge‐
heim bleiben sollen, sind gar schlecht
behütet. Was jedoch in meinen Büchern
öffentlich ausgesprochen ist, hütet sich
selbst vor allen, denen es Geheimnis
bleiben soll.
*
.Leidig und bemühend ist es, daß ich
hier nun auch noch irrige Meinungen
erwähnen muß, denen gegenüber es mir
recht schwer fällt, anzunehmen, daß sie
ehrlichem „guten Glauben” ihre Ent‐
stehung verdanken.
.Da soll ich denn, neben anderen phan‐
tastischen Behauptungen, einer Kolpor‐
tage nach, in meinem so dogmenfernen
Verkündungswerk die Sache „der Je‐
suiten” besorgen, während ein anderes
Gerücht mich, allen Ernstes, „Frei‐
maurern” ‒ ja, der „Weltfreimaurerei” ‒
17 In eigener Sache
verpflichtet wissen will. Natürlich im‐
mer: ‒ um des Geldes willen!
.Diesem törichten Flüstern und Rau‐
nen gegenüber sei nun aber ein- für alle
mal ausdrücklich gesagt, daß ich zu
keinem Zeitpunkt meines Lebens der‐
artigen oder ähnlichen Korporationen
irgendwie verpflichtet war oder gar selbst
angehörte (denn auch das wird be‐
hauptet!), ebensowenig, wie ich jemals
irgendeiner politischen Partei irgend‐
eines Landes direkt oder indirekt irgend‐
welche Gefolgschaft leistete.
.Ich gehörte auch niemals einer „theo‐
sophischen” oder „okkultistischen” Ver‐
einigung an, und war niemals gar „Schü‐
ler” eines Mitgliedes oder Verbundenen
solcher Vereine und Gemeinden, noch
irgendeines Menschen, der etwa ähn‐
lichen Konventikeln nur freundschaft‐
lich nahestand. Es ist mir auch niemals
18 In eigener Sache
eingefallen, irgendeine derartige Ver‐
einigung zu „gründen”, wenn ich auch
allen ehrlich nach seelischer Entfaltung
Strebenden gerne den Rat und die
Hilfe bot, die ich allein geben konnte.
Und niemals bin ich irgendwo ‒ auch
nicht in vertrautestem Kreise ‒ „als
Redner” aufgetreten.
.Auch das muß eindeutig ausgespro‐
chen werden, da Leute, die mich in
ihrem Leben nicht zu Gesicht bekommen
haben, unverfroren von ihren „Ein‐
drücken” erzählen, die sie empfangen
haben wollen nach „Reden”, die ich
niemals hielt, bei „Tagungen” von Ge‐
sellschaften, die mir absolut fremd sind,
in Städten, die ich bis heute noch nicht
ein einziges Mal betreten habe. ‒
.Mich selbst kann das unverantwort‐
liche Herumbieten all der Unwahrheiten,
die sich mit mir beschäftigen, gewiß
19 In eigener Sache
nicht berühren oder gar bewegen, aber
es würde mir durchaus nicht erstaunlich
erscheinen, wenn dadurch Menschen,
denen mein Lebenswerk geistige Hilfe zu
bringen hat, recht unsicher werden könn‐
ten, ob sie dieser Hilfe vertrauen dürften.
.Da ich mich aber vom ersten Wort
meines öffentlichen Lehrens an zu mir
selbst bekannte und keinen Zweifel offen
ließ hinsichtlich meiner geistigen Be‐
rechtigung und Verpflichtung, zu lehren
was ich lehre, so blieben die durch un‐
wahre Berichte über mich unsicher Ge‐
wordenen nicht ohne eigene Schuld, wenn
sie lieber irgendwelchen phantasievollen
Zuträgern glauben wollten, statt meinem
verantwortungsbewußten Bekenntnis.
*
.Daß mein Bekenntnis ‒ fast möchte
ich hier ironisch sagen: leider! ‒ in heu‐
tigen Tagen und innerhalb westlicher
20 In eigener Sache
Kulturkreise etwas Befremdliches dar‐
stellt, weiß ich und kann ich nachfühlen.
.Wenn man nur auch nachfühlen
wollte, wie schwer mir von Anfang an
dieses Wissen um das Befremdende in
jedem Bekenntnis zu mir selbst und
meiner geistigen Herkunft auf der Seele
lag, wann immer bittere Notwendigkeit
solches Selbstbekennen von mir ver‐
langte!
.Was ich auch, bis auf den heutigen
Tag, über meine geistige, im Ewigen
gründende und wieder ins Ewige füh‐
rende Wesenheit zu bekennen schuldig
wurde, so ahnt doch wohl kein Mensch,
der solches Bekennen vernimmt, was
ich dennoch vorenthalten muß, weil
irdischem ‒ und zumal westlichem ‒
Denken die Begriffe mangeln, durch die
man hier zur wirklichen Verständigung
gelangen könnte.
21 In eigener Sache
.Wohl fand ich mich zuletzt, unter
dem Bewußtsein eindringlichster körper‐
licher Ankündigungen der physischen
Möglichkeit plötzlicher Abschiedsforde‐
rung, drastisch bewogen, das, was ich
als singuläres Bekennen zu hinterlassen
habe, noch zu vertiefen, aber auch hier
blieb die Grenze der Mitteilung fest ge‐
zogen, und es war auch keineswegs etwa
mein erdenmenschlicher Wunsch, sie
irgendwo zu überschreiten.
.Was ich von der Eigenart meines vom
Mittelpunkt absoluten ewigen Geistes
bis in die irdische menschliche Tierheit
schwingenden, webenden und mannig‐
fach verwobenen geistgeborenen Lebens
zu bekennen schuldig bin, ist bestimmt
durch die Notwendigkeit, die Menschen,
zu denen ich spreche, auf festes, unwandel‐
bares geistiges Urgestein zu führen: ‒ auf
einen Standpunkt, der niemals brüchig
22 In eigener Sache
werden kann, und von dem aus jeder
einzelne selbst, aus unbedrohter Sicher‐
heit her, Einblick erhält in die ewige
Struktur göttlich-geistigen All-Lebens,
das auch eines jeden irdischen Menschen
Daseinsursache ist.
*
.Wenn schon mein ganzes Verkün‐
dungswerk nur gestaltet werden konnte
im steten Kampf gegen eine beispiellose
angeborene Scheu vor jeder Offenbarung
eigenen inneren Erlebens: ‒ vor jedem
Sprechen über rein geistige Dinge ‒, so
ist mir bis zum heutigen Tage das Be‐
kennenmüssen zu dem, was meiner gei‐
stigen ewigen Natur zugehört, eine erden‐
menschlich kaum zu ertragende Tortur ge‐
blieben, der ich mich gewiß nicht unter‐
ziehen würde, wenn ich nicht vom Geiste
her dazu bedingungslos verpflichtet, ‒ fast
möchte ich sagen: ‒ verurteilt ‒ wäre.
23 In eigener Sache
.Und kaum einer unter tausenden, für
die meine Bücher geschrieben sind,
dürfte ahnen, welche Selbstpeinigung es
ist, den gewohnten, Ewigem allein ent‐
sprechenden Horizont, dessen Weite
irdischem Vorstellungsvermögen uner‐
reichbar ist, derart zu verengen, daß
man in Begriffen und Wortbildern sich
zu bewegen vermag, die allgemeiner
irdischer Auffassungsfähigkeit erreich‐
bar bleiben, deren Weite natürlich nicht
etwa von dem Grade der Gelehrsamkeit
des Auffassenden abhängig ist, sondern
allein durch die Stufenhöhe seiner see‐
lischen Bewußtheit bestimmt wird.
.Aber die Erörterung aller dieser Dinge
schwebt in bedenklicher Gefahr, für eine
Äußerung unglaublichen Hochmuts, ja,
womöglich gar für ein Anzeichen aus‐
gebrochenen Größenwahns gehalten zu
werden, denn keiner weiß, woran er ist,
24 In eigener Sache
wenn ihm selbst das Urteilsvermögen
fehlt.
.Urteilsfähig sein in Dingen, die das
ewige Leben des Geistes betreffen, heißt
jedoch: ‒ die Struktur dieses durch und
durch substantiellen Geistes kennen, ‒
und meine Bücher haben keinen anderen
Zweck, als diese geheimnisvolle Struktur
bis in ihre tiefsten Verborgenheiten
sehen zu lehren. So ergibt sich aus dem
vorurteilsfreien Aufnehmen meiner Lehr‐
texte zugleich das sicherste Kriterium
für die Bedeutung ihres Inhaltes und für
die Berechtigung des Autors, lehren zu
dürfen, was ich lehre.
*
.Die innere und äußere Gewißheit im
ewigen substantiellen Geiste, die meine
Schriften vermitteln, ist jeder historisch
entstandenen religiösen Glaubensformu‐
lierung sachlich übergeordnet, aber
25 In eigener Sache
wahrhaftig unersetzbar als gesicherter
Halt für jede auf Göttliches bezogene
Lehre jeder Glaubensgemeinschaft, die
auf ein „Fürwahrhalten” der von ihr
aufgestellten Glaubenssätze den ihr aus‐
schlaggebenden Wert legt.
.Religiöse Glaubensgemeinschaften sind
Seelenstaaten, einerlei, ob sie republika‐
nisch oder monarchisch verwaltet wer‐
den, ‒ einerlei, ob sie sich in ihrer Aus‐
dehnung mit einem politischen Staate
decken oder den Bereich ihres Geltungs‐
willens über alle politischen Gebilde der
Erde ausdehnen.
.Die einzelne Seele, die sich einem sol‐
chen Seelenstaat zugetan fühlt oder in
ihm gerade die erhebenden Kräfte, die
sie braucht, in einer besonders wirk‐
samen Form sich dargeboten sieht, soll
wahrhaftig zu ehren wissen, was sie emp‐
fängt, aber sie wird das kontinuierlich in
26 In eigener Sache
solcher Seelengemeinschaft Empfangene
nicht höher ehren, als wenn sie es im
Ewigen so zu sichern weiß, daß weder
anderes Fürwahrhalten noch Zweifel das
Glaubensgut bedrohen kann.
.Ich rate aber weder einem Menschen,
sich der religiösen Gemeinschaft, der er
sich lebendig zugetan fühlt, zu ent‐
ziehen, noch stehe ich irgendeiner, die
Förderung seelischer Entfaltung als ihre
Aufgabe betrachtenden religiösen Or‐
ganisation als ein sie Nichtwollender
gegenüber, denn Mannigfaltigkeit ist ein
Charakteristikum göttlich-geistigen Le‐
bens, und so ist auch Mannigfaltigkeit
seelischer religiöser Formen und Auf‐
fassungen ewiger göttlicher Ordnung ge‐
mäß.
.Die Wahrheit von der einen ewigen
Wirklichkeit kann in den verschiedensten
Glaubensformeln zum Ausdruck kom‐
27 In eigener Sache
men, denn diese ewige eine Wirklichkeit
ist nicht nur selbst unendlichfältig, son‐
dern läßt sich auch aus zahllosen Aspek‐
ten betrachten.
.Gerade darum aber ‒ und das muß
offenbar aufs deutlichste betont werden ‒
richten sich meine Bücher an alle Men‐
schen und nicht nur an die in verschie‐
dene Seelenstaaten Eingegliederten. Ja,
ich muß hier entschieden erneut darauf
hinweisen, daß ich mich in erster Linie
an diejenigen meiner Nebenmenschen
wende, die sich aus irgendwelchen Grün‐
den von den ihnen angestammten Glau‐
bensgemeinschaften losgelöst haben und
nur auf eigene Verantwortung gestellt,
zu dem von ihnen geahnten ruhegeben‐
den seelischen Ziele zu gelangen suchen.
.Ich glaube, daß ihnen die Aufschlüsse,
die sie durch meine Bücher erhalten, am
nötigsten sind, denn sie sind ja Suchende
28 In eigener Sache
aus eigenem Willen und eingeständig,
nicht selbst des zielbewußten Weges
kundig zu sein.
*
.So bin ich denn von Anfang an, dem
Sinn meiner Sendung gehorsam, an den
Türen der religiös Gebundenen und der
Meinung ihrer Lehrtradition Verhafteten
mit leisem Schritt vorbeigegangen, um
keinen vorzeitig zu wecken, dem die
Stunde seines Erwachens noch nicht
geschlagen hat.
.Es gibt ja genug der Wachen und
Überwachen, denen das, was ich brachte,
Labsal wurde und aufrichtende Er‐
quickung.
.Ich hege Ehrfurcht vor der mir wesens‐
gleichen Wahrheit ewiger geistiger Her‐
kunft, auch wenn ich sie mumienhaft
umschnürt finde mit den Byssusbändern
hieratischer Überheblichkeit.
29 In eigener Sache
.Ich bin aber nicht gekommen, solcher
erdenmenschlich bedingten Selbstüber‐
hebung Hilfsdienste zu leisten.
.Wohl achte ich alles, was ich nicht
verachten muß, aber meinem erden‐
menschlichen Drang, alles dulden zu
wollen, was erdenmenschlich ist, sind
geistig gegebene Grenzen gezogen.
.Ich bin in diesen Tagen der einzige,
der mir im ewigen Geiste Gleichenden,
von dem der Welt Kunde werden kann
über alle Dinge, die das Denken über‐
dauern.
.Bresthafter Erdmensch, der sich in
seinen vielverlangenden überhellen Tagen
mannigfacher körperlicher Peinigung an‐
heimgegeben sieht, ‒ gehöre ich wahr‐
haftig nicht zu denen, die ihr körperliches
Behagen verleitet, sich über die Le‐
bensbezirke anderer Irdischer erhöht zu
wähnen.
30 In eigener Sache
.Keine einzige geistige Erfahrung im
Ewigen gelangte in mein irdisches Be‐
wußtsein, bevor sie durch das knöcherne
Sieb erdenhaft bedingter Peinigungen
durchgestoßen war.
.Das ist nicht anders möglich, denn
ewige, substantielle Geistigkeit kann in
der irdischen Sphäre sich nur dann zur
Erscheinung bringen, wenn der nunmehr
Irdische, der sich voreinst ‒ bevor die
Erde Lebendes erzeugte ‒ im Ewigen
dazu dargeboten hatte, auch im irdi
schen Willen bereit ist, alles körperliche
Leid zu ertragen, das um seiner über‐
nommenen Bereitschaft im Geiste willen
auf ihn gelegt werden muß, auf daß er es
der Seele entwerte.
.Kein Sprichwort ist so irrtumsbela‐
den, wie jenes grobmaterielle, allem See‐
lischen so fremde, das da in seiner Ah‐
nungslosigkeit meint, nur in gesundem,
31 In eigener Sache
tierhaft bedingten Körper wohne eine
gesunde Seele.
.Fast könnte man sagen, das Gegenteil
entspreche der Wahrheit, und sicher ist,
daß es gesunde Körper mit kranken oder
längst „getöteten” Seelen zu Millionen
gibt, auf allenfalls einen einzigen kranken
Körper, der Ausdrucksorganismus einer
ebenfalls kranken Seele ist. Man sollte
viel eher fragen, wie es möglich sein
könne, daß in einem physisch gesunden
Körper dennoch eine gesunde Seele
wohne?
.Das hier nun gewiß unmißverständ‐
lich Ausgesprochene sei allen denen ge‐
sagt, die sich an meinem irdischen Da‐
sein stören, weil es ihren phantastischen
Vorstellungen nicht entspricht, nach de‐
nen jeder im ewigen substantiellen Geiste
lebendig Bewußte allem Erdenleid hoch
entrückt sein müßte.
32 In eigener Sache
.Wie aber hinter dem angeführten, so
fragwürdigen Sprichwort dennoch die
Wahrheit steht, daß das Gehirn gesund
sein muß, wenn die Seele sich ihm an‐
vertrauen können soll, ohne in ihrem
Ausdruck verzerrt zu werden, so steht
auch eine Wahrheit hinter solchen phan‐
tastischen Vorstellungen, denn wahr‐
haftig vermag kein irdisches Leid eines
in seiner ewigen Geistigkeit Bewußten
ihn jemals im geistigen Bewußtsein zu
erreichen, so sehr auch sein irdisches
gehirnbedingtes Bewußtsein durch see‐
lische und körperliche Qual bedrängt
sein mag.
.Es gibt zwar auch für den im ewigen
Geiste seiner selbst Bewußten eine Mög‐
lichkeit, die Hellhörigkeit des Gehirn‐
bewußtseins für jede Schmerzmeldung
der Körpernerven wesentlich abzudämp‐
fen, aber die Ausübung solcher Praktik
33 In eigener Sache
ablenkender Konzentration ‒ die neben‐
bei gesagt, in asiatischen Ländern von
sehr vielen und keineswegs im ewigen
Geiste bewußten Menschen bis zur Vir‐
tuosität ausgebildet wird ‒ müßte not‐
wendigerweise sofort das gleichzeitig im
Irdischen, im Seelischen und im Geisti‐
gen sich erlebende Bewußtsein auf‐
heben, womit naturnotwendig die mir
obliegenden geistigen Pflichten im Irdi‐
schen unerfüllbar würden.
*
.Endlich muß ich hier nun noch vielem
Irrtum in bezug auf die Art meines
geistigen Erfahrens einiges aus der Wirk‐
lichkeit entgegenstellen.
.Ich denke nicht daran, solchen Irrtum
etwa zu bekämpfen, finde mich aber ver‐
pflichtet, soviel zu sagen, daß mich nicht
Schuld treffen kann, wenn Fehlmeinun‐
gen sich weitererhalten wollen.
34 In eigener Sache
.Obwohl ich längst genug Hinweise ge‐
geben zu haben glaube, sehe ich immer
erneut aus Äußerungen mancher Leser
meiner Bücher, daß man sich von dem
Gedanken nicht trennen kann, auch
mein Weg zur Erkenntnis müsse doch
vom irdischen Fragen und Erkennen‐
wollen ausgegangen sein, um zuletzt
zum Ewigen hinzufinden.
.Der Wahrheit entspricht aber das
Gegenteil!
.Mein geistiger Weg führte aus dem
Allerinnersten des Ewigen zum Seeli‐
schen und zuletzt ins Irdische.
.Es handelte sich auf diesem Wege
einzig und allein nur darum, seelisches
Erfühlen und irdisches, gehirnbedingtes
Erkennen allmählich aufnahmereif und
verständnisfähig für mein Geistiges zu
machen.
.Ich war niemals in meinem Irdischen
35 In eigener Sache
ein Suchender im Sinne gehirnlichen
Drängens nach Aufschluß eines dem
Denken Verschlossenen.
.Wohl aber war ich im Irdischen vor‐
einst sehr belehrungsbedürftig, bis mein
gehirnbedingtes äußeres Verstehen in
der Lage war zu erkennen, was von ihm
aufgenommen werden wollte.
.Noch heute habe ich nicht aufgehört
in dieser Art belehrungsbedürftig zu
sein, und wenn ich noch hundert Jahre
im Irdischen wäre, müßte mich mein
letzter Tag in gleichem Bedürfen finden.
.Freilich handelt es sich um sehr ver
schiedene Belehrungsbedürftigkeit, aber
gemeinsam ist ihr, daß sie nur vom ewi‐
gen substantiellen Geiste her befriedigt
werden kann und nur von meinem
ureigenen Geistigen, auch wenn mir
dabei gleichgeartete Hilfe vom Beginn
meines irdischen Verstandeserwachens
36 In eigener Sache
an zur Seite stehen mußte. Auch heute
würde mir jederzeit gleiche Hilfe, wenn
ich ihrer nicht entraten könnte.
.Man möchte nun wohl sagen, daß
jegliche Intuition und Erleuchtung von
dem Empfänger als aus dem Geistigen
kommend empfunden werde und see‐
lische oder gehirnliche Aufnahmemög‐
lichkeit voraussetze. Es handelt sich in
meinem Falle aber um anderes.
.Der Mensch, der einer Intuition teil‐
haftig wird, ist ebenso wie der Erleuch‐
tete, im Irdischen nur zum Teil auch des
Seelischen bewußt. Was er empfängt,
wird ihm von anderer Wesenheit her
dargeboten, wie immer auch das Dar‐
bietende empfunden und benannt wer‐
den möge.
.Ich aber war im ewigen Geiste mei‐
ner selbst bewußt, unvorstellbare Zeit
eher, bevor mir im Irdischen der Leib ge‐
37 In eigener Sache
boren wurde, der hier meiner auch ir‐
disch bewußt werden sollte.
.Dieses irdische Gehirn durfte nicht
das Suchen und Drängen über sich hin‐
aus kennen und mußte doch dem Ewigen
gegenüber aufnahmebereit sein, wenn
ich in ihm bewußt werden sollte, wie ich
heute meiner in ihm bewußt bin. Ich kann
in ihm allerdings nur insoweit bewußt
sein, als es mich bewußt aufzunehmen
vermag ohne seine Kräfte zu sprengen.
.Darüber hinaus bin ich meiner in mei‐
nem Seelischen und ‒ urbedingt ‒ in
meinem ewigen Geistigen allerdings ohne
alle Einschränkung bewußt.
.Die mir wahrhaftig bis ins kleinste
offenbaren irdischen Unvollkommen‐
heiten meines in Worten gestalteten
Lehrwerkes haben ihre hauptsächliche
Ursache einesteils in der Begrenzung,
der mein Bewußtsein innerhalb der Ge‐
38 In eigener Sache
hirnkräfte sich einordnen muß, anderen‐
teils in der Verschiedenfarbigkeit zeit‐
licher Perioden der Ausdruckskraft, und
müssen hingenommen werden, wie sie
sind, wenn man nicht kurzerhand auf
alles verzichten will, was ich aus dem
ewigen Geiste ins Irdische bringe.
.Mein Werk wäre unecht, würde es
neben den Merkmalen aus dem Ewigen
nicht auch die Spuren irdischer mensch‐
licher Unvollkommenheit zeigen!
.Was wahrhaft aus dem innersten
Mittelpunkt ewigen geistigen Lebens
in seiner überkosmischen Vollendung
stammt, hat niemals die Mängel irdi‐
schen Ausdrucksvermögens zu scheuen.
.„Gott hat es so gewollt” ‒ : gab Fra
Angelico den anderen Malern seiner Zeit
zur Antwort, wenn sie ihm vorschlugen,
etwas an seinen Bildern zu ändern, da‐
mit diese vollkommener würden. ‒
39 In eigener Sache
ENDE
ÜBER
MEINE
SCHRIFTEN
Verlagslogo
FLUGSCHRIFT DER
KOBERSCHEN VERLAGSBUCHHANDLUNG 1930
Anmerkung: Diese Flugschrift ist auch im Sammel‐ 00
band „NACHLESE” (1.Auflage 1953, erweiterte Auf‐ 00
lage 1990) enthalten, der vom Verlag NACH dem Tod 00
des Meisters herausgegeben wurde mit der Absicht, 00
VERSCHIEDENSTE Schriftzeugnisse des Meisters vor 00
dem Vergessen zu bewahren.
ÜBER MEINE SCHRIFTEN
DASS es zu allen Zeiten Menschen gab, die in
geradezu bewunderungswürdigem Glauben an
sich selbst und die Unfehlbarkeit ihrer Gesichte,
vermeintliche «Wahrheit» Anderen fanatisch auf‐
zudrängen suchten, ‒ daß es niemals an macht‐
lüsternen Spekulanten auf die willige Leichtgläu‐
bigkeit frommer Seelen fehlte, ‒ weiß jeder, der
das Sehnen der Menschheit kennt, die Mauern zu
überfliegen, die physisch-sinnlichem Erkennen un‐
übersteigbar sind.
.Das darf aber nicht davon abhalten, Mitteilung
menschlicher Erfahrung in überirdischen Gebieten
stets wieder aufs neue zu prüfen, denn wenn auch
hier auf tausend Irrtümer, ‒ auf tausend Bekun‐
dungen bloßen Geltungstriebes, ‒ nur ein ein‐
ziger Einblick in übererdensinnliche Wirklich
keit käme, so wäre die Aufmerksamkeit schon
reichlich belohnt.
1 Über meine Schriften
Ich bin in der wenig beneidenswerten Lage, solche
prüfende Aufmerksamkeit für meine eigenen Be‐
kundungen fordern zu müssen.
.Es handelt sich hier nicht etwa um eine «Welt‐
anschauung», sondern um die Mitteilung meiner
Erfahrungen, die in jeder Form religiöser
Überzeugung ihren Platz finden können, sofern
nur die Möglichkeit übererdenhafter Erfah‐
rung nicht a priori weggeleugnet wird.
.Aufs beste vertraut mit den guten Gründen zur
Skepsis gegenüber der von mir behaupteten Mög‐
lichkeit solche Erfahrungen zu machen, bestreite
ich gewiß keinem Menschen das Recht, fürs erste
den in meinen Schriften gegebenen Berichten über
die geistige Wirklichkeit, die uns alle trägt, mit
äußerster Vorsicht und mit mancherlei Zwei
fel zu begegnen.
.Aber auch ich muß das Recht erwarten, die
Bekundungen meiner geistigen Erfahrung davor
bewahrt zu sehen, daß man sie unbedacht zu einer
Kategorie menschlicher Äußerungen zähle, die mir
zum mindesten gleich fatal und glaubensunwürdig
ist, wie dem hartgesottensten Skeptiker unter mei‐
nen Lesern.
2 Über meine Schriften
.Ich muß ferner darauf hinweisen, daß es sich in
allen meinen Schriften immer um zwei voneinan‐
der sehr verschiedene Mitteilungskomplexe han‐
delt: ‒ um das, was mir evident wurde als Allen
erreichbares menschliches Erfahrungsgut, auch
wenn Weite und Tiefe der möglichen Erfahrung
hier stets von individueller Eignung abhängen, ‒
und sodann um Mitteilung aus gesonderter, nur
mir selbst eröffneter Erfahrungsweise, soweit
solche Mitteilung möglich und nötig ist.

Ich rede in meinen Büchern nur von Dingen, die
mir Inhalt eigenen Erlebens sind.
.Gerade darum aber war ich zuweilen genötigt,
auch von der Art und Weise dieses Erlebens
Bekenntnis abzulegen.
.Wie es sich aber, beispielsweise, in den Schrif‐
ten eines Botanikers gewiß nicht in erster Linie
um das individuelle Erleben des Forschers in der
Landschaft handelt, die ihm sein Studienmaterial
an die Hand gab, sondern um die Bereicherung
seiner Spezialwissenschaft, so will ich auch in
meinen Büchern alles, was ein nicht allen zugäng‐
3 Über meine Schriften
liches individuelles Erleben betrifft, lediglich als
erklärende Beigabe betrachtet wissen, und ich lege
Wert darauf, daß meine Leser sich zueignen, was
ihre Fähigkeit zu eigener Erfahrung im inner‐
sten Seinsbereich des Menschen zu fördern sucht.
.Jeder, der sich einmal eingefühlt hat in meine
Darstellungsweise und dann Wort und Silbe in
sein Inneres dringen läßt, wird aus seiner eigenen
innersten Tiefe empfangen, wessen er bedarf.

Nichts aber wäre verkehrter, als wenn man sein
Interesse mir, als dem Mitteilenden, zuwenden
wollte, statt es allein auf die Mitteilung zu
konzentrieren!
.Mit allem Nachdruck muß ich mich hier denn
auch dagegen verwahren, etwa eine neue «geistige
Bewegung» oder eine neue Religionsform ins
Leben rufen zu wollen.
.Die Menschheit dieser Tage hat wahrlich eine
reiche Auswahl an Religionsgemeinschaften zur
Verfügung, und jedes Gemüt kann die Formen
wählen in denen seinem Verehrungsbedürfnis, dem
Göttlichen gegenüber, Genüge geschieht.
4 Über meine Schriften
.Wir brauchen gewiß keine «neue Religion» und
noch weniger neue Sektenbildungen!
.Was hingegen bitter nottut, ist ein Erwecken der
lebendigen geistigen Kräfte, die der Erdenmensch
auch heute noch in sich selber finden kann, genau
wie sie jene früheren in sich fanden, die als erste
Gläubige sich um die heute jahrtausendealten reli‐
giösen Symbole scharten.
.Was da in unseren Tagen so vielen als «veraltet»
und nicht mehr «der Zeit gemäß» erscheint, steht
immer noch erst am Anfang seiner realen gei‐
stigen Auswirkung, und wenn diese Zeit das Alt‐
gegebene als ihr nicht mehr «gemäß» empfindet,
so ist sie nur insofern im Recht, als ihr der Maß‐
stab fehlt für die Höhe und Tiefe der verborgenen
Wahrheit, die sie in ihren überlieferten religiösen
Symbolen finden könnte, forderten die Gläubigen
nicht einen Glauben an Worte, wo alles «Wort»
nur als Symbol begriffen werden kann...

Gewiß sind die Mitteilungen meiner Bücher in
erster Linie für Menschen bestimmt, die vergeb‐
lich versuchten in den überkommenen religiösen
5 Über meine Schriften
Formen zur wahren Gottverbundenheit zu gelan‐
gen, und die dennoch das Bedürfnis in sich fühlen,
ihr Dasein im Einklang mit dem geahnten, ewigen
Lebensgrunde zu empfinden.
.Darüber hinaus aber wollen die gleichen Mit‐
teilungen aus den Erfahrungsbereichen ewiger
Wirklichkeit auch jene Menschen erreichen, die
zwar in den altehrwürdigen Formen religiöser
Überlieferung verharren, aber aus einer Gewissens‐
not in die andere geraten, weil konventionelle
Wortgebundenheit sie hindert, die ewigen Kräfte
der Seele in sich zu lösen, die ursprünglich durch
das Aufnehmen der Glaubenssymbole erweckt und
gelöst werden sollten.
.Was ich an Mitteilungen über geistiges Erfah‐
ren gebe, soll nicht etwa die alten religiösen Fas‐
sungsformen urständiger Wahrheit «überflüssig»
machen, sondern ihren kostbaren Inhalt für das
Bewußtsein wieder erkennbar werden lassen.
.So gewiß dieser verborgene Inhalt zu finden ist,
so gewiß ist es ein verhängnisvoller Irrtum, zu
glauben, daß neue Gemeinschaftsbildung nötig sei,
um das Verborgene dem inneren Sinn zu ent‐
hüllen.
6 Über meine Schriften
.Auf solche Weise gerät man nur in erhebliche
Gefahr, wirkliches Weisheitsgut, das man uner‐
kannt besaß, endgültig zu verlieren, um für sol‐
chen Verlust dann die fragwürdigsten Idole ein‐
zutauschen, die jemals irrende Gehirne sich er‐
schaffen haben.
.Es gab allezeit reichlich Beispiele, die das be‐
stätigten, und wenn man sie in unseren Tagen
sucht, wird man nicht weit zu gehen brauchen.

Wer in den Symbolen seiner angestammten Reli‐
gionsform die ewige Wahrheit finden will, der soll
in Vertrauen bei diesen Symbolen verharren, bis
sie sich ihm erschließen.
.Was ich in meinen Schriften niederlegte, ist
nicht in allen Stücken für ihn bestimmt, ‒ aber
gar vieles wird er sich zu eigen machen können,
auch wenn er sich genötigt sehen mag, die Weise
meiner Mitteilung in die gewohnte Formel seiner
religiösen Lehrmeinung zu «übersetzen».
.Er wird genug der Worte finden, die seinen
Glaubenswillen neu beleben, und wo er nur im
7 Über meine Schriften
Kampfe gegen schwere Zweifel sich noch Glauben
zu erringen suchte, dort wird er durch die Mittei‐
lungen die ich ihm zu geben habe, erst wieder zur
inneren Sicherheit kommen.
.Aber auch dort, wo man nicht mehr gewillt
ist sich religiöser Leitung anzuvertrauen, wird
dennoch manche vordem verdunkelte Lehre aus
altem Religionsgut aufzuleuchten beginnen, so daß
sie, auch ohne Bindung an irdische Bekenntnis‐
form, in der Seele Eingang findet.

Was ich mitzuteilen habe, steht jenseits von
Glaube und Unglaube!
.Jede Religionsform hat ihre Apologeten und
jede Apologie hat ihre Widersacher.
.Es gibt kein unfruchtbareres Zeitvergeuden, als
das Gezänk um religiöse Meinungen.
.Nichts liegt mir darum ferner, als die törichte
Absicht, irgend einem Glauben, oder irgend einer
Glaubensablehnung als Eideshelfer dienen zu
wollen.
8 Über meine Schriften
.Der Leser meiner Bücher mag zusehen, wie sich
das, was ich ihm zu sagen habe, in seine «Welt‐
anschauung» einfügen läßt, aber er darf nicht an
meine Schriften herangehen in der irrigen Mei‐
nung, als stünde ich im Dienste irgend einer Reli‐
gionsform, oder deren Gegner.
.Obwohl ich versuche, allen Bezirken mensch‐
lichen Erlebens gerecht zu werden, kann man
doch von einem Hauptinhalt meiner Schriften
sprechen, der sich vielleicht auf folgende Formel
bringen läßt:

Ich gebe Mitteilung von der mir erfahrungsgemäß
bewußten Verwurzelung des Erdenmenschen in
einem mit physischen Sinnen unfaßbaren, aber
gleichwohl nur «sinnenhaft» durch geistige
Sinne erfahrbaren, substantiellen «geistigen»
Kräftebereich, in dem das individuelle Bewußt‐
sein des Menschen schon während dieses erden‐
körperlichen Lebens zum Erwachen kommen
kann, ‒ in dem es aber unweigerlich nach dem
Aufhören physisch-sinnlichen Daseins zum Er‐
wachen kommen muß.
9 Über meine Schriften
.Ich gebe Mitteilung von der mir erfahrungs‐
mäßig bewußten Hierarchie individueller geistiger
Helfer, die ausgeht aus dem innersten Urkern des
genannten geistigen Kräftebereiches, und herab‐
steigt bis in das Menschentum auf diesem Planeten,
allwo sie in einzelnen, vor ihrem irdischen Wer‐
den dazu vorbereiteten Menschen zur Auswirkung
kommt.
.Ich gebe Mitteilung von der mir erfahrungs‐
mäßig bewußten Möglichkeit, in geistigen Konnex
mit dieser Hierarchie zu kommen, und zeige den
Weg, wie das zu erreichen ist.
.Ich gebe endlich auch Mitteilung, wie ich selbst
zu der mir zugänglichen Erfahrung kam, und wes‐
halb ich dazu kommen mußte.

Die Benennungen in denen ich von dem mir
erfahrungsmäßig bewußten «geistigen Kräftebe‐
reich» und seinem innersten «Urkern», sowie von
den Gliedern der von ihm ausgehenden «geistigen
Hierarchie» zu reden pflege, entstammen keiner
sprachlichen Willkür, sondern entsprechen der
10 Über meine Schriften
Fassungsform, die allen auf Erden ausmündenden
Gliedern dieser Hierarchie gemeinsam ist.
.Das schließt jedoch nicht aus, daß jeder Auf‐
nehmer meiner Mitteilungen diese Benennungen
in die ihm gemäße oder liebgewordene Redeweise
übertragen kann, möge er die Worte aus dem
Begriffschatz seiner angestammten Religionsform
wählen, oder sich selbst seine individuellen Be‐
zeichnungen schaffen.
.Es kommt nur darauf an, daß er das geistig
Wirkliche erfühle, auf das meine Benennun‐
gen hindeuten.
.Wenn man bei einem gewissen religiös bestimm‐
ten Sprachgebrauch verbleiben will, so darf man
wahrlich sagen, daß ich von «Heilstatsachen»
Mitteilung gebe, ‒ allein, ich kenne «Heilstat‐
sachen» nicht nur als einmaliges Geschehen,
sondern als immerwährenden Vorgang.

Wohl bin ich mir des Mangels bewußt, daß ich
nicht an allen Stellen meiner Mitteilungen, und
nicht zu allen Zeiten der Niederschrift, die gleiche
11 Über meine Schriften
Eindeutigkeit des Ausdrucks zu erreichen ver‐
mochte, aber der Leser, dem es nur um den Wahr
heitsgehalt des Gesagten zu tun ist, wird gewiß
dennoch bald erkennen lernen, wie ich meine
Worte verstanden wissen will.
.Die Weise des sprachlichen Ausdrucks ist eine
Angelegenheit erdenmenschlicher Vervollkomm‐
nung, und überdies handelt es sich in meinen Mit‐
teilungen, soweit sie das nur auf innere, geistige
Art Erkennbare betreffen, um Dinge, die in Worten
kaum darstellbar sind.

Es ist mir nicht «Bedürfnis» sondern unumgäng‐
liche Pflicht, das geistig Erfahrene meinen Mit‐
menschen mitzuteilen, und ich muß hier gestehen,
daß mir die Erfüllung dieser Pflicht von allem
Anfang an wahrlich nicht leicht geworden ist.
.Mit der erfolgten Niederschrift ist jedoch meine
Pflicht getan, so daß ich dann gerne höherem
geistigen Wirken überlasse, den dargebotenen Sa‐
men in geeignetes Erdreich zu versenken, damit
er lebendige Frucht hervorbringe, wo immer es
möglich werden kann.
12 Über meine Schriften
Gewiß gewahre ich mit Freude, daß so manches
Samenkorn schon aufgegangen ist, aber diese
Freude äußert sich in mir nur als ein Mitempfin‐
den geistigen Geschehens, dem ich hier auf Erden
dienen durfte.
.Peinlich aber berührt mich stets die gutgemeinte
Zusicherung mancher Leser meiner Schriften, daß
sie durch nichts mehr sich abwenden lassen wür‐
den von dem, was sie durch mich empfingen.
.Ich höre aus solchen Worten ein Treuegelöbnis,
das ich weder erwarte noch gutheißen kann, denn
wer wirklich erfaßte, was ihm meine Mitteilungen
geben wollen, der weiß, daß er nur sich selber
die Treue zu halten braucht um fortan gesichert zu
sein vor allem Irrtum, und geborgen zu bleiben
in seinem lebendigen Gott.

Was meine Schriften übermitteln, soll nicht etwa
«geglaubt», sondern sachlich aufgenommen wer‐
den, so daß es Erweckung eigenen innersten Er‐
lebens bewirken kann.
13 Über meine Schriften
.Ich bin kein Prophet, der «Bekenner» braucht,
‒ kein Kämpfer, der nach «Anhängern» hinter
sich blickt, ‒ sondern nur ein Vermittler geistiger
Einblicke in die ewige Heimat des Menschen.
.Wer meiner Führung sich vertrauen mag, den
führe ich nicht zu mir, sondern auf den Weg zu
seinem eigenen innersten, ewigen Lebensgrund, der
mir erfahrungsgegenwärtig ist zu jeder Zeit, weil
ich selbst in ihm bewußt geworden bin.
.Das Ungewohnte solcher Bekundung lasse der
Leser meiner Bücher getrost auf sich beruhen, bis
er durch Benützung der gegebenen Hinweise selbst
zur Einsicht in seine ewige Natur gelangte, und
damit zu eigener Urteilsgewißheit.
.Dann werden ihm meine Worte nur noch Be
stätigungen seines Selbsterlebens sein!
*
14 Über meine Schriften
ENDE